Der Nußbaum gegenüber vom Laden in dem du dein Brot kaufst - Peter Kurzeck - E-Book

Der Nußbaum gegenüber vom Laden in dem du dein Brot kaufst E-Book

Peter Kurzeck

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Beschreibung

Wer bin ich? Wo und in welchem Jahr? Fragen treiben den Erzähler um, während er in einer nicht genannten Kleinstadt von Eckkneipe zu Eckkneipe wandert und sich dabei Erinnerungen an seine Vergangenheit – und Gegenwart? – hingibt. Er schildert die Alltäglichkeiten und Schwierigkeiten seines und des Lebens im Allgemeinen und macht sich Gedanken über den Säufer Plaschko und die Vergeblichkeit eines Bankraubs. Mit dem Roman "Der Nußbaum gegenüber vom Laden, in dem du dein Brot kaufst" mit dem kämpferischen Untertitel "Die Idylle wird bald ein Ende haben!" gab Peter Kurzeck 1979 sein literarisches Debüt. Bereits hier ist sein später legendär gewordener suchender Erzählstil unverkennbar. Lustvolle Abschweifungen in Klammern und Fußnoten machen den Roman in seinem Œuvre einzigartig.Die Neuausgabe enthält ein Nachwort des Schriftstellers und Kurzeck-Kenners Andreas Maier.

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Seitenzahl: 503

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Inhalt

[Cover]

Titel

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

Engel

Autorenporträt

Mit einem Nachwort

Kurzbeschreibung

Impressum

DER NUSSBAUM GEGENÜBERVOM LADEN, IN DEMDU DEIN BROT KAUFSTDIE IDYLLE WIRD BALDEIN ENDE HABEN!

1

»Hätte man seinen Verstand nicht beisammen, so könnte man an ein Fatum glauben!« (Blanqui, bevor ihm sein gehässiges Schicksal endgültig aufs Haupt fiel, 1861)

Woher, wohin? Eine lange Reise, Tag oder Nacht, die ewige fahle Dämmerung meiner Träume, in jedem Fall ist es die Vergangenheit, wenn ich mich wiederfinde: Namen vergessen! (Schon jahrelang auf der Flucht – wer bin ich doch gleich?)

Es ist Hamburg (Hamburg ohne Dich: kalter Wind und die Möwen schreien), Tag oder Traum? Noch einmal der 24.12. nachmittags, spät – ich bin vor einer Stunde aus dem Gefängnis entlassen worden, 1971: fing schon an dunkelzuwerden, zähl dein Geld: achtzehn-zwanzig-einundzwanzig – nachher weitersehn! Zigaretten, Kaffee und Cognac am überkonfessionellen Dammtorbahnhof, bis er mit all seinen vorweihnachtlichen Lichtern und Stimmen langsam-nachdrücklich um mich zu kreisen begann, Vorhölle, Sinnestäuschungen und – wohin jetzt? (fast verschüttet!) auf meinem Weg in die Innenstadt1 – alle Läden längst zu; die wenigen Passanten wie Schatten, Ertrunkene, geistesabwesende Gespenster, ihrer Bestimmung enthoben, stumm (sie können mich nicht hören). Es wird anfangen zu schneien, bald, im Lampenschein, sacht und lautlos, immer mehr, immer dichter schneien die Flocken zur Erde, blind taumelnd: Nacht sinkt herab, Schnee fällt und deckt alles zu. Sag doch! Wer waren, wer sind sie, die umständlichen schwarzgekleideten Begräbnisgestalten in meinem (verstörten) Gedächtnis? Wie sie da übern gestrigen Schnee hilflos und unwiderruflich davonwankten, untröstlich! Und die Nacht sank herab – wie für immer.

Wiederholungen! In Frankfurt und in Gießen/Lahn ist es immer der gleiche leere stille Tag Vorweihnachtszeit, wenn sie (ewig-gestern) sachkundig fluchend (220 Volt) ihre lächerlich-prunkvolle Festbeleuchtung an den ausgemessenen, trüben, städtischen Himmel nageln, jedesmal – woher komme, wohin gehe ich? (eine große Stille! Zimmermannsnägel! und bald wird der erste Schnee fallen!) –, jedesmal hab ich schicksalhaft verschlafen, meinen Namen vergessen, finde den Weg nicht, hätte schon seit fünf Stunden wenigstens gottweißwo sein müssen, vor Gericht, auf dem Friedhof, jemand ganz anders: längst abgereist und (– wohin jetzt? wohin?) Dämmerung, eine große Stille zieht befangen die Straßen entlang, während ich am äußersten Rand des Tages (direkt überm Abgrund) panisch mein ganzes vergebliches Gedächtnis durchsuche (in meiner schlimmsten irdischen Katastrophenstimmung), verzweifelt, wieder und wieder, nach einer ruhigen abgelegenen Gruft oder Kneipe, wo ich schon mal war, wo mich keiner kennt und ich in Ruhe (wie zum letzten Mal) meinen stundenlangen Morgenkaffee mit Rum – obwohls inzwischen schon stundenlang vier Uhr nachmittags (verschlafen: Zeit hat ein Loch! Keine Erlösung in Sicht und nichts wird je wieder so sein, wie es war).

Ewigkeiten! Zum Aufwärmen eine ruhige stille Zwischenstation ohne Namen, mit bunten Glasfenstern (außerhalb der Zeit), und alle Dezember zeitlebens sind mir immer vielzulang geworden, Winter, Zeit-zu-fahren: eine lange Reise! und nächstens (bald!) werden wir – seit Jahren verschollen, wie jetzt noch den Weg – Alles wiederfinden in der riesigen leeren ausgebreiteten Zeit, Schneewüsten: die transsibirische Eisenbahn (neun Tage, um die Zeit wiederzufinden): Stationen, eine lange Reise!

»Sich wiederfinden!« Sehr sonderbar (von einer zur andern Minute plötzlichst so konfus, daß ich nichtmal meinen Namen noch wußte), wie Einer, der (haltmichfest!) soeben im 20. Stock ausm Fenster fiel und diesen Absturz, wie es scheint, völlig unverletzt überlebt hat! Und kann das vorerst kaum oder gar nicht fassen, denn da ist Keiner da, dem er davon erzählen könnte –: Mensch! eben aus dem zwanzigsten Stock aus dem Fenster – ganz unbeabsichtigt, Herrgott, ging blitzschnell und »hier steh ich«, beschwörend, »scheints völlig unverletzt!«

Scheißfahrstuhl war ja sowieso schon seit Oktober defekt! Nie mehr zurückkehren! usw. hier ließen sich meisterhaft aktuelle Dialoge über Zeiten, Mieten und Hausbesitzer …, aber da schleicht sich das taube Fußvolk (lauter ungewollte Kinder!) feucht und grau in fadenscheiniger Dämmerung und Keiner hat hingehört: »Tausendfüßler! Heuchler! Ameisenpack!« Alle tun, als wüßten sie ganz genau, was jetzt und jederzeit überall vorgeht, Kaspar Hauser, lautlos die blutleeren Lippen bewegend (kalt war es auch, mich friert, mir ist kalt, wohin gehen?) – kann es nicht kapieren, solang ich-du-er es nicht formuliert (»Hier steh ich, wahrhaftig!« und insgeheim: auch scheints die falsche Stadt!), denn Sprache ist Leben-Wirklichkeit-Gegenwart, die du unentwegt manisch halluzinierst: »Schon jahrelang Einzelhaft: Ich will nicht verrückt werden!«

Steht da und hat seine abgetragene Identität verloren, seinen Namen vergessen – WER bin ich doch gleich? – und kanns nicht begreifen. Und die Nacht sinkt herab: es wird Zeit!

(Ich ging weiter, Jahre. Ich gehe noch immer.)

1* Frohes Fest! – (auch der Einzelhandel ist gegen steigende Preise!)

2

Schäbiges Seitenstraßenlokal, klass. dt. Eckkneipe, spätes 19. Jahrhundert, ganz leer jetzt am Morgen, Bierhahn tropft, ganz leer jetzt im fahlen gealterten Spülwasserlicht hinter trüben Scheiben: »Zum Grünen Kranz!« Eine alltägliche Eckkneipe, drei Treppen davor und irgendwie paralytisch, am Rande des Abends, in Bahnhofsnähe oder wo es sonst ist, wenn du dich wiederfindest (was fürn Tag ist denn heut?). Eins dieser zahlreichen bescheidenen Seitenstraßenlokale, die Jeder kennt, die noch aus der Kaiserzeit stammen und die letzten fünfzig Jahre, beide Weltkriege einschl. sämtl. zugehör. Vor- und Nachkriegs- und Friedenszeiten – bestenfalls Waffenstillstand, Ersatz und wohlfeile amtl. Lügen – und sogar den Fortschritt mit allem Zubehör nahezu unverändert überlebt haben, soundsoviele Generationen vom Dienst am lfd. Band, Alle nickten – und jetzt (wir schreiben so das Jahr sechzig, so ungefähr, wir erinnern uns) alle nach und nach umgestaltet, renoviert oder zugemacht werden.

Eckkneipen seinerzeit, sie hießen: Zur Linde, Deutsches Eck, Lorelei, schon ganz verblichen, Beim Louis, Walhalla-Bierstuben (nebendran eine ungeheuerliche Zementfabrik – wie ein gestrandetes Riesenschiff: Sirene heult, März, sechs Uhr abends und es regnet, regnet in Strömen), Zum Löwen meinetwegen oder wie sie sonst hießen. Nur nicht pedantisch werden!

Z.B. in Aachen/Nordrhein-Westfalen, Kaiserstadt, Heilbad, Hauptstadt des gleichnam. Reg.bez.s, ehemalige Reichsstadt, einst uralt: Kaiserdom, Gruft, Beinhaus Karls des Großen und Wasnichtalles, angestammter Hauptsitz der soliden deutschsprachigen Tuchweberei usw. (»Wir wollen uns nicht verzetteln!«): da war ich mal Sonntagmorgen (noch früh: Zeit unvermessen, leicht, hellblau und leer) rein zufällig in erstbester Eckkneipe und die hieß wahrhaftig und ernstgemeint: »Wirtshaus Zum Friedhof« (zwei Straßen weiter). Drei steile Stufen davor, kein einziges Fremdenzimmer, zieml. bürgerl. Küche m. fließ. Wasser! Sonntagmorgen in aller Frühe, Sonne scheint! Mein Glück, ich bin fremd hier, kam erst gestern spätabends aus dem Ausland zurück, in Gedanken noch nicht ganz da, Juni, lauter Umwege: nach vier Stunden trunkenem Schlaf (kaum, daß ich mich wiedererkannte), wie in einer tiefen Gruft, sodaß ich gleich nach dem ersten halluzinatorischen Erwachen, wie betäubt noch, unverzüglich zwanghaft »das Weite« suchte (wo suchen?):

Also gut: eine sonntägliche Eckkneipe, die grad erst aufgemacht hat. »Cognac!« Wirt (letzte Nacht gings hier hoch her bis drei Uhr früh!) todmüde, unrasiert, blinzelt, reibt sich fäustlings die triefenden Augen, blinzelt mit aller Kraft, blickt drein, als hätt er – zwischen trüben Spiegeln – zwei (scheint draußen schon wieder die Sonne?) Glasaugen, oder wie ein Ertrunkener. Kein Napoleon, kein Remy Martin, nur Asbach Uralt. Bierhahn tropft. Schon seit Jahren zuwenig Schlaf und keinen klaren Gedanken. Er lallte auch mehr, als er sprach. (Morgenvögel lärmten!) Er hat grad erst aufgemacht und zwar aus Versehen, grad erst aufgewacht und kam eigentlich bloß runter, um für sich selbst Zigaretten zu holen: naturmilde Filterzigaretten. Gedachte zu rauchen, zu husten, zu rauchen und anschließend – Tag vorbei: Tag wartet – unverzüglich weiterzuschlafen, wies (zum Beweis) gleich die abgelatschten scharlachroten Nachtpantoffeln an seinen grausigen nackten Füßen vor (bzw. selbige in denselben: alle vier auf die gleiche abgeschmackte Art abgelatscht).

Schön: trinken wir also seinen Cognac zusammen, er nickt, gähnt, seufzt, stellt für sich und mich Gläser zurecht (ich vergaß, nach dem Preis zu fragen. Seine Frau im ersten Stock schläft noch!) und sucht – »Herrgott!« fluchend, pedantisch, sich überall hartnäckig anstoßend, wie blind (lauter fühllose Ecken und Kanten, die in mein-dein-sein unverständliches Leben eisenhart, fremd und gehässig hineinragen) – und findet und schwenkt triumphierend, na endlich: hier, sie ist echt, riesengroß, eine neue Flasche!

Sonntagmorgen! Letzte Nacht haben die Säufer mir wiedermal fast Alles weggesoffen, sagt er trübsinnig hinterdrein (und wird nachher gleich weiterschlafen). Hier im Viertel gibts massig Säufer, wogegen ja nix zu sagen sei, im Prinzip, lauter ehrliche Arbeiter, Samstagabend, und dann ist es wieder vielzuspät geworden! (Wir nickten bescheidwisserisch, Jeder für sich.)

Beim Öffnen der Flasche (zwischendurch zünden wir uns erwartungsvoll neue Zigaretten an; Mensch bin ich mühüd, sagt er gähnend, schon jahrelang) bricht ihm unversehens der Kunststoffdeckel mit rotgoldrotem Wappenlöwen ab und der Korken natürlich noch drin, nein ich hab auch keinen Korkenzieher mit, Anfang Juni, bin fremd hier, mein Hotel zwei Straßen weiter: sonnige Morgenstraßen. Scheiße, passiert ganz selten, sagt er trübsinnig zu seinem unsichtbaren Schutzengel, kopfschüttelnd, höchstens so zirka jede hundertste Flasche mal, versichert er, wie für sich selbst (als vermöchte Statistik je Trost zu bieten).

Dann, nachdem wir – in endlose separate Selbstgespräche vertieft (muß-doch-hier: ir-gend-wo) – alle Schränke und Schubladen hinter der Theke nochmal erfolglos abgesucht (kein Korkenzieher! auch in der Kasse: ist auch keiner drin! sagten wir enttäuscht zueinander, mehrfach, und: könnten Scheißkorken zur Not natürlich auch reindrücken, klar! jedoch widerstrebte uns das), gehen wir, machen uns hoffnungsvoll auf den Weg, mit der vollen Flasche, die immer noch zu (schließlich hat er doch noch seufzend seine eselfarbene Wirtshose zugeknöpft, Jammertal hier!), begaben uns über den leeren sonnigen Sonntagmorgenbürgersteig vor bis zur nächsten Ecke, wo ein Taxistand –: klopften nachdrücklich an die geschlossenen gläsernen Seitenfenster der (wartenden) Taxis und fragten von hinten nach vorn, die ganze Reihe entlang, jeden einzelnen (manche mit künstlichem Buckel) dösenden Taxifahrer höflich nach leihweisem Korkenzieher, ging grad auf zehn! Jeder begriffsstutzige Taxifahrer hat eine neue Bild-am-Sonntag, aber erst beim vierten fand sich einer im Handschuhfach, neben Handschellen, Revolver, Gaspistole, Knebel, Stilett, Familienfotos, Totschläger, Doppeltotschläger, Hansaplast, Jerry-Cotton-Heftchen (mit fürstlichem Lesezeichen) und Munitionslager, bitte-danke! Was den gefährlichen Korkenzieher betraf, war er selbst ganz verblüfft, abstinenter Familienvater und Fuhrunternehmer, das Land ist still, doch stellte ihn bereitwilligst zur Verfügung.

Auf dem Rückweg, so kurz er auch war, tranken wir (um den Himmel nicht aus den Augen zu verlieren) mehrfach ausgiebig aus der Flasche, Prost, Cognac, Sonntagmorgen! Halbzehn oder zehn, Himmel wolkenlos, paar spärliche Uhrwerkbürger mit Renommierhunden, die ihnen ähnlich sehen, oder (mindestens jeder dritte ist ein Agent, auch wenn er es nicht weiß!) gutwillig unterwegs in ihre verhalten bimmelnden Stammkirchen, gotisch oder nicht – Aachen ist eine fromme alte Stadt, die meiste Zeit Sonntagmorgen. Hier im Viertel, sagt er, gibts viele Säufer, weißgott, aber natürlich, die schlafen jetzt alle noch! Sonntags, da macht er nie vor drei Uhr nachmittags auf, für gewöhnlich: meistens wirds vier. Das Geschäft geht gut, naja, aber vor lauter Zahlungsverpflichtungen und nächstes Frühjahr mit Gott (was das kostet!) will er alles nagelneu streichen lassen, wenn nicht gar radikal renovieren auf neudeutsche Art, wir nickten uns tiefsinnig zu, weitergehen! (Ergiebige Fünf-Liter-»Familien«-Flasche, die wir abwechselnd achtsam trugen.)

– bleibt stehn, klopft seine zahlreichen konvexen Taschen ab, sagt: hoffentlich hab ich eben beim Rausgehn nicht abgeschlossen, weil: hab scheints keinen Schlüssel nich einstecken! Wir sind schon ganz nah, er sagt Alles doppelt (sagt er Alles). Seine Frau im ersten Stock schläft noch. Er auch, er wird nachher gleich weiterschlafen, oder wir trinken die Flasche aus und er erzählt mir sein ganzes Leben (obwohl ich nicht zuständig bin). Seine kleine blonde Frau im ersten Stock heißt Elisabeth. Klar liebt sie ihn, aber klar! »Kaum haste mal bißchen Kohlen, hast kaum deine paar Kröten im trockenen, schon hält dir gleich Jeder die Klauen auf oder drauf!« Hat er abgeschlossen oder nicht? Keiner von uns (Erde sachtschwankend, Sonnenschein, Glastüren unbewegt) konnte sich dran erinnern, doch gottlob war die Kneipe offen. Er ist bei der Legion gewesen, mehr als vier Jahre lang Tag und Nacht, Kamerad, kannst Louis zu mir sagen! Licht grell und allgegenwärtig, ein Fiebertraum, noch ein Schluck: »Vergessen? kann ich das nie, Kam-rad!«

Sonntagfrüh, Juni 58, Aachen, »Wirtshaus Zum Friedhof«. Da war ich fünfzehn, vorher wochenlang unterwegs und grad aus der Schule geflogen. Notizen, Skizzenbücher und Alles, was ich mithatte. Der Sommer und Alles fing eben erst an!

… Eckkneipen, wo das hiesige Volk, ziemlich vollzählig: all die vielen kleinen Leute aus Nachbarschaft und nächster Umgebung (Kleinbürger, die ihrerseits lang schon tot sind, nie gelebt haben, eine Generation nach der andern, jetzt auch langsam aussterben, zieht sich aber doch ziemlich hin, ihr Sterben, ein Vorgang der andauert, ihr Sterben verzettelt sich: Alltag), aus den paar umliegenden Straßen, aus Eigenheimen, Asylen und Mietskasernen, die harmlosen Leutchen nach Feierabend eben mal immer so hingehn Inallenehren, in Hemdsärmeln, fünfzig Jahre lang jeden Tag, jeden Abend, ganz vergilbt schon: »Hier ist jetzt die meiste Zeit Abend!« (Montag Ruhetag!)

Einwohner, Seßhafte (der dritte oder vierte Stand, »wo leben wir denn?«), zeitlebens – Jeder hat, um die Wirklichkeit zu erschlagen, seine eigenen handfesten Wahrheiten, wie aus Gußeisen –, alle Abende: »Grüßgott!« Jeder brachte seinen eigenen unabänderlichen unveräußerlichen stummen Schatten mit (Tür knarrt, die Zeit ein verwaschener Flickenteppich. Nächstens wird hier renoviert); brach der Abend herein, fanden Alle sich ein … oder in aller Eile auchmal kurz an ihrem freien leeren geräumigen Samstagmorgen, wenn er grad erst hat angefangen: ihr freier Samstag (der so verheißungsvoll vor ihnen liegt, wie ein frisches Blatt Papier, so rein, so weiß, wie eine neue leere Leinwand, wenn du dir, ganz erfüllt von Bildern und Licht, deine Farben zurechtlegst), zwanzig Minuten bevor sie endlich anfangen – Hoffnungen, alle guten Vorsätze, ein ganz heller Moment, neues Leben –, anfangen und sich dareinschicken:

Wasweißich? Z.B. noch ein Kind, Zukunft, Suff, Garten, Wochenende-wie-gehabt, Schwarzarbeit, Überstunden, Berufsleben, Alter, Einkäufe, Umzüge, Alles nochmal, neue Tapeten, Sparvertrag, Fliegentod, Gastarif, Morgenzeitung, Zaunstreichen, wie-die-Zeitvergeht, Alter und Tod – »wir werden Alle sterben!« – auf ihren Gesichtern der spukhafte Glaube an das, was sie tun!

Z.B. ausschweifende Wochenendeinkäufe, wahre Einkaufsorgien, damit sie die ganze lange leere freudlose Woche lang nicht ganz umsonst oder wenigstens wissen, wofür sie gearbeitet haben (die ganze Woche lang Fremde in ihrem eigenen Leben, das ihnen nicht gehört), z.B. Autowaschen, ihr heiliges Auto, mit dem sie jeden Tag wie ferngelenkt an die Arbeit fahren-schweben, ganz dösig, wie besoffen, die ganze Strecke im zwoten Gang und abends retour. Horizontblau, rubinrot, saharabeige, gift-gras-gallen-bergsee-beryllgrün, nebelfarben, neuer Gebrauchtwagen, halbbezahlt, Gelegenheitskauf, steht grinsend im Hof. (Zeit stockt, bläht sich! Bequeme Teilzahlung!)

Der Tag wartet, der leere hoffnungsvolle, einstweilen unbesudelte Samstagmorgen! Bevor er sich trübt (eine Weile): eh sie endlich mal anfangen, Großergott – was denn, WAS? Ihr ganzes vertanes, verwirktes Leben fiel für immer verloren in Scherben, lauter Scherben aufm Pflaster und sie wagten nicht, sich zu bücken – »Keiner hats gesehn, weitergehn! Vergiß Deinen Namen und fang endlich an!«

Verhexten Thermostatboiler im Bad reparieren, gutwillig: na endlich! Einige gutgemeinte (wenigstens in Gedanken) pädagogische Fußtritte für den aufgeblasenen stv. Hausbesitzer, husten, rauchen, den Keller mal aufräumen, baldmöglichst, den staubigen, womit sie nie fertigwerden werden – nicht in diesem Leben! (Keller voll unterirdischem Vergangenheitsgerümpel, das Beste wäre: »Schließ die Tür ab, zweimal! Und verlier den Schlüssel für immer!«)2

… Tapetenwechsel, ihr Sterben, ihr Tod-im-Leben! Ihre Festtage, Familienfeiern, Beerdigungen, ihr (den hatten wir schon!) hoffnungslos-verzettelter Alltag, lauter Schubladen und sie können alle geöffnet werden. Oder wenn sie offen sind, vergeblich überquellend – stoß dich dran! Ausführlich fluchen! Mach sie der Reihe nach zu! Morgen wieder – »Alles hat seine Ordnung!« (Wir wollen uns nicht verzetteln!)

Feierabend, Wochenende, Pfingsten usw., sie haben die ganze unwirkliche Zeit, von Montag bis Freitag, Herbst-Winter-Vorfrühling, Regentage, ihr ganzes leidiges Leben lang drauf gewartet. In letzter Minute hastig hektische Einkäufe, Bahnhof, Markt, Ladenstraßen, Haufen Volks (Jeder in seinem eigenen Traum gefangen, wie betäubt. Zwei gewiefte Karstadt-Dekorateure in modischen Dekorateurskitteln schleppen hastig ein hellblaues Planquadrat Hintergrund durch den hellblauen Hintergrund: »Frisch gestrichen!« Licht blitzt, Himmel hängt voller Geigen, lauter Sonderangebote! Jeder hat noch lang nicht genug und die Läden werden gleich zugemacht): Haufen Volks überall! Und kaum zehn Minuten nach Ladenschluß war die Innenstadt: wie ausgestorben! Und Tag, Freizeit, Leben, all deine Träume oder was davon übrig blieb, Alles fiel gleich für immer in Scherben, in zahllose prismatischdisperse Spiegelbilder – und jetzt? Was weiter? (»Sei bloß froh, daß du kein Dekorateur bist!«)

Die Zeit oder was du davon im Gedächtnis behältst, unzählige Feierabende (multipliziert mit Quadratmetern und Einwohnerzahlen etc.), viele hellblaue Samstagmorgen, oder am Sonntag, spät am Nachmittag, gegen Abend, wenn alle Stadtstraßen hierherum leer sind, verlassen, wie ausgestorben im späten gealterten Nachmittagslicht. Mit ihren, wie blind, zahllosen leeren Fenstern, Abendfelsen, Licht golden. »Wohin soll ich denn noch gehen?« Du siehst Alles wie zum ersten-, zum letztenmal und kein Ausweg, außer: die Flucht in den Himmel! »Von hier fliegen wir heim!« (Seltsame Straßen im Äther kennzeichnen unsre Flugbahn.)

Leben, die Straße, wie du sie kennst! Hast dein ganzes Leben im Gedächtnis, Licht golden, schräge Schatten über Jedermanns bescheidenem Küchenbalkon und über die leere-leere Sonntagnachmittagsstraße, gestern oder zehn Jahre danach, falls Sommer ist, wieder: Nachmittag, Sonnenschein, Zeit geht langsam (schon jahrelang reisefertig – wer bin ich doch gleich?). Oder eine andere Zeitrechnung – ob du kommst oder gehst, hier ist jetzt die meiste Zeit Abend! … März, April, endloser trauriger Vorfrühling, während (falsche Lottozahlen! Lauter leere Tage, wie Schubladen voller vielfarbig-förmigem Krimskrams in einem muffigen alten Schrank auf dem unverständlichen Speicher. Ganze Stadtviertel von Mietskasernen die, in rauchblauer Dämmerung schwimmend, unwiderruflich versanken) der Sonntag, kaum begonnen, schon wieder still und sinnlos zuende geht, wie für immer. Unter endlosem, gleichmäßig strömendem Regen, wie die Zeit vergeht, Redensarten. Abendregen, in den Straßen verschwammen die Lichter. »Wohin soll ich denn noch gehen?« Ganzes Leben wie Pausen und dumpfer betäubender Tagschlaf, leere Seitenstraßen, November, März, Regentage, grauer Abendregen, lauter unverständliche Gleichnisse und kein Ausweg! Und die Abende hierzulande beginnen jetzt immer eher und dauern immer länger.

Ein Traum: es wird Sommer sein und du wirst Alles verstehn!

Im Herbst, im Winter, zum stundenlangen (hoffnungslosen) Verdämmern des geflickten, verwaschenen, vielfach gewendeten Nachmittags, blaugrau und still, in Seitenstraßen und Hinterhöfen. Schon um zwei Uhr mittags: »Wir sinken!« Nacht sinkt herab, alle Lampen brennen (während die Erde – sie hat ihre Bahn verlassen – sich jetzt immer weiter von der Sonne entfernt).

Nachts um zehn: »Traum verloren!« Dann fährt jaulend ein einzelnes letztes Auto durch die Straße, das letzte, und Wind erhebt sich, Wind rüttelt an Dachziegeln und Fensterläden, unaufhörlich und heftig in langer Nacht, Herbst: »viele Verluste sind zu beklagen und die Zeit geht dahin!«

Viele Jahre des Lebens, lauter leere Tage und sie gleichen einander wie Grabkammern: ein öder Traum, Gleichnisse! »Hast nicht Jugend noch Alter, sondern nur gleichsam den Nachmittagsschlaf, der beides träumt!« Und bald wird der erste Schnee fallen …

»Geh jetzt gleich einen zeitlosen Schnaps trinken und die gegenwärtige Situation bedenken, die Lage! Vielleicht kommt morgen schon Geld mit der Post!« Altmodische Eckkneipen, die sich alle gleichen, die jetzt auch nach und nach … oder ganz von allein verwittern, der Vergangenheit anheimfallen, in Vergessenheit geraten, verfallen – verlierst sie unbemerkt aus Augen und Gedächtnis oder findest sie einfach nicht wieder. Und eines Abends, nach Jahren (wenn du dich erinnerst): kamst vorbei und – Stille! Alle Fenster und Türen blind-leer-vernagelt. Eine Ruine in der allgemeinen Dämmerung. Der Himmel gleicht einem trüben Spiegel. Und du fragst dich vergeblich, wo die Jahre, die Zeit, wo? Und die Stille wächst und – woher? wohin? – du weißt selbst nicht, ob du kommst oder gehst, glaubst zu träumen, vielmehr ist dir, als seist du soeben erwacht (als Kind mal verlorengegangen) und all die Jahre Vergangenheit, Leben, abgetragener menschlicher Zeit in deinem Gedächtnis wie ein öder unverständlicher Traum, dessen befristete Leihgebühr (gebührenpflichtige Frist, siehe Geschäftsbedingungen) in zwei Tagen abläuft. Also: siehst ihn dir wieder und nochmals und abermals an, wie betäubt. Unfähig, irgendeinen Sinn darin …

»Die Eckkneipe« Drei Treppen davor, Fenster, Gesims und Türen wie aufgemalt – brach der Abend herein, fanden Alle sich ein, immer. Montag Ruhetag. Die ganze Woche hindurch, dienstags bis freitags, kommen die Herren Männer, wenn sie kommen, allein, Sonnabendmorgen mit triftigem Vorwand, aber Samstagabend bringen sie ihre Frauen mit, lauter vorbildliche Ehen, Samstagabend ist die Eckkneipe eine Familienkneipe (zum Wohl): Kleinbürger, der vierte Stand (der nie existierte). »Jeder weiß ganz genau, wer er ist!« (Na, das macht auch nix!) Lauter Nachbarn, lauter nette Leute, solang sie dir nicht zu nah kommen. Sie kennen sich Alle, auch Einer den Andern usw., lauter (und wie leicht sie sich finden) Gleichgesinnte, die allesamt haargenau wissen, was sich gehört und (Gott behüte!) von Kind auf nicht das Geringste, von dem was sich nicht – oder höchstens vom Hörensagen gerade soviel, daß sie sich Samstagabend maßvoll drüber entrüsten können, vielstimmig-einstimmig in trautem geselligem Abendkreis, sehr ersprießlich, Ellbogen an Ellbogen, also gemeinsam atmend, Gott sieht zu. Und nach dreistündigem dreist-giftigem Rundgesang (Jeder jetzt mit einem schmerzhaften kleinen nadelspitzen Fieberbläschen ganz vorn, ganz genau auf der Zungenspitze, brennend-eiskalt) buß- und zungenfertig murmelnd: wie rasch die Zeit vergeht, hachja! In Gedanken: wie lang der letzte und jeder frühere Frühling jetzt schon vorbei, so lang her, sind die Lottozahlen schon durch?

Samstagabend vorbei. Jede junge Braut oder liebliche Ehefrau hat sperberäugig ihre diesjährige Sonntagshandtasche an sich gerafft – nix vergessen? Alles bezahlt, ausgetrunken! Und dicht bei der Tür schon, halt-die-Luft-an! (Patentverschluß) Mit geübten Händen beflissen die zahlreichen zähen Krümel aus den Falten der Seelen ihrer Nachbarn gewischt, daß es stundenlang nur so staubte, begründete Hustenanfälle. Mit Anstrengung den gewaltigen Felsblock in der eigenen versteinerten Seele millimeterweise-zentimeterweit ein Stück weit weiter verrückt – vorwärts, ächzend, die aussterbende Gefühls- und Gesteinsschlucht entlang (und sie trägt deinen Namen, Liebling, für immer), achtungsvoll ächzend, doch ohne Gram. Samstagabend: »Alle haben sich gut amüsiert, aber es ist wieder spät geworden!« Nachbarn, Höhlenbewohner. (Vergnügen muß auch sein!) Auf ihrem nächtlichen Heimweg bellen sie geläufig den Mond an, da droben. Schluß für heut, Klappe zu, gute Nacht!

Fünf-Tage-Woche (besonders solang sie noch neu war und ungewohnt): Samstagmorgen braucht fast Jeder einen erstbesten Vorwand zum Saufen – gestern Lottospielen verpaßt! Ein Bier und-n Korn! Korn zum Anwärmen: damits Bier hinterher umso besser dreinflutscht, Prost! Auch gut für die Magenschleimhaut – Pfui Deibel (und schüttelt sich wie so-n nasser Hund): nochmal dasselbige! Wer Kräuterschnäpse liebt, ist um Magenverstimmungen nie verlegen, appetitanregend und verdauungsfördernd m.b.H. 38%. Vorwände: angebliche Hitze oder Kälte, so ein Sauwetter, bloß zehn Minuten oder (noch früh, laß den Tag mit Gleichmut …) wollten ja eigentlich bloß schnell Zigaretten, Streichhölzer auch, bzw. fragen: war der Emil mal wieder hier? Wer schon glücklich seinen Platz an der Morgentheke hat inne – die derzeitigen Herren Strohwitwer, gestrige Nachtschichtler, unverhohlene Morgensäufer (schon ganz gelb), grundsatzloses Nebengesindel, großmäulige Junggesellen und so (regnets noch?) –, liefert gern entsprechenden Vorwand, indem er sich (weit und breit kein Emil!) bereitwillig in jegliches Ersatzgeschwätz reinziehen läßt. Manche (bloß schnell Zigaretten geholt) reden solang sachlich irgendeinen Scheiß mit dir (und treten dabei geduldig-ungeduldig immer von einem aufs andre Bein), bis du ihnen endlich einräumst: »Mensch, wie lang willst-n hier noch trocken stehn?« Dann strahlen sie aber, Gemütsmenschen, und haben sich malwieder breitschlagen lassen.

Manche, die kommen Samstagmorgen in eigenen authentischen Arbeitsklamotten, Zollstock hinterm Ohr, und fragen ganz ernsthaft den Wirt: wie heißt nochmal das Türofix-Zeug, das was du immer zum Anstreichen für deine Türen nimmst, Türofix oder wie? Dacht ich mirs doch! Taugts was? Wirt nickt, Bierhahn tropft. Und dann trinken sie eben anstandshalber noch Einen (Samstagmorgen, schon seit Stunden: sieht nach nix als Regen aus). Oder: keine Zeit, grad beim Kelleraufräumen, Mensch. Muß gleich wieder weg, nur schnell-n Schoppen, weil: ganzes Maul noch voll uraltem Kohlenstaub, eben fast erstickt, Mensch. (Na denn, zum Wohle! Standbein wechselnd: auf einem Bein steht sichs schlecht!) Was ein kluger Wirt ist, der verleiht an seine Samstagvormittagkunden bereitwillig die schönsten Vierzehner-Schraubenschlüssel, rostfreie Ratschläge, vollautomatische Rattenfallen (Marke Endsieg DRP) oder gibt Samstagmorgen irgendein wichtiges Wochenblättchen raus für die werten Gästeschaften, Lottozettel sowieso.

So ein veralteter glückloser Klempner aus der proletarischen Nachbarschaft, der Samstagmorgen immer ernsthaft sagte (Brille auf der Nase, mehr zu sich selbst): Wenn ich nit glei Samstagfrieh mein Zettl ausschreib, vergiß dann dodsicha de ganze Woch! Jahrelang, jeden Samstag »Stonsdorfer«: hat immer seine hoffnungsvollen vier Kästchen gemacht, war aus dem Hultschiner Ländchen, ganz verschrumpelt und bucklicht zuletzt, immer kleiner. Immer die gleichen sex Glückszahlen, aber gewonnen nie was! Höchstens mal (wie zum Hohne) dreifuffzich, bestensfalls! Tja, jetzt ist er ja auch schon drei Jahre bald tot, der Willem! Wie er noch hieß, Familiennamen hab ich vergessen. Weißt du noch, wie er noch hieß, der Willem? (Welcher Willem? Ach der!) Jeder weiß, wer gemeint ist, Jeder hats vergessen. Trübsinnig: Alle nickten. Bierhahn tropft; Samstagvormittag, draußen regnet es ohne Ende.

Oder er kassiert (als kluger Wirt) für die gummierten Beitragsmärkchen vom Gesangverein oder Vaudeka (an der Wand hängt ein Barometer).

Paar Jahre später endlich – mit allgemeiner Fünf-Tage-Woche und massenhafter Individualmotorisierung; die Löhne steigen –, da kamen, ein echtes oder unerläßliches Scheinbedürfnis hienieden prompt zu befriedigen3, in der ganzen BRD die (Boxer-)Hundeclubs, Minigolf, vereinigte Modellflugzeugvereine (Funkfernsteuerung) usw. in Mode, Niemandsland, weiße und graue Flecken in Jedermanns Zwangskalender, genehmigte Freizeitparadiese, wo Alle, die guten Willens und sofern sie zahlungskräftig und keinen besseren Vorwand zurhand haben (Garten, Schwarzarbeit, Ehrenämter, Beerdigungen), sämtliche Bastler, Sport- und Hundefreunde jeden gesegneten Samstagmorgen ausgeschlafen (saumäßig gutgelaunt) sich einfinden und am Stadtrand, in Gottes ausgemessener Wochenendnatur in aller Ruhe jede Menge preiswertes Flaschenbier ausm leistungsfähigen Supermarkt oder direkt vom vollfetten Großhändler saufen können, nach Herzenslust (neuerdings auch in praktischen Wegschmeißdosen, hygienisch und bleihaltig), weitgehendst unbeaufsichtigt und demokratisch, auch rülpsen und so, sehr menschlich, sich ausgiebig ausschleimen unter lauter glücklichen Gleichgesinnten (Großhandelspreise! Irgendeiner hat immer Beziehungen, Prost!), meistenteils Zeitgenossen; Suff zwecks Kommunikation oder zwecks Verbesserung selbiger. Bei schlechtem Wetter in gemütlichen kleinen Holzkisten, altdeutsch und wasserdicht, Vereinslokal (Weißblechhimmel).

Und was die Penner und Arbeitsscheuen im Lande: haben selbstredend längst ihre eigenen trinkfesten Würstchenbuden am verrotteten Stadtrand. Damals fingen die irdischen Schutthalden an, in den Himmel zu wachsen.

Eckkneipen am Weg: nachher wenn du rauskommst, regnets schon stundenlang. Lauter – das sollen »Passanten« sein? geisteskranke Abendspione und Geheimpolizisten auf der Straße, im Regen: Jeder hat eine (wasserdichte) Agentenaktentasche, Alle tun, als hätten sies eilig, und (Heuchler, Idioten! Aber die Stadt muß doch einen Namen haben!) Keiner weiß, wos zum Bahnhof geht. Tag merklich gealtert, so trüb-grau-diffus, daß du – wer bin ich doch gleich? – denkst unwillkürlich, du siehst schlecht. Scheißregen; mich friert! »Als Atheist flucht man nicht!« Trübe Lichter und wie diese klamme lausige Gegenwart eben beschaffen – auf Abbruch: dort drüben hantieren sie schon besessen mit Spitzhacken, Bagger und Preßlufthämmern, sachkundige Unterirdische in erdfarbenen Fleißoveralls; lauter Löcher, Menschenfallen. Horizont mit Brettern vernagelt; Plakatfetzen: »Kauft!« (Plakate Ankleben Verboten!) »Vorsicht Baustelle!«

(Damals die Taxifahrer am Stand, Sonntagmorgen: Jeder hat seine eigene nahrhafte Nummer und Lizenz, Namen, Papiere, sein wohltemperiertes Auskommen, aktuelle belegte Brote, tägliche Thermosflasche zum Auf- und Zuschrauben, schmackhafte Bild am Sonntag, stets frisch, haltbare fixe Ideen, Faustwaffe, Rückspiegel, Autoradio, Privatleben, Himmel und Hölle und Alles drum und dran, Einer hinterm Andern, geduldig dösend am Steuer – wie von jeher, wie das Leben so spielt: eines Tages wachst du auf und bist schon jahrelang Taxifahrer – was noch? Was denn sonst? Alles übrige sekundär, weit weg oder nie gewesen. Alles was dir sonst noch einfällt, hast du bloß geträumt, bestenfalls, geduldig dösend am Steuer.)

2* Verluste, der silberne Schlüssel! Und in deinem Gedächtnis, sehr fern und doch wirklicher als jegliche Gegenwart, ein ganz heller Tag Anfang März: Vergangenheit, Vogelstimmen!

3* Die Fremdenlegion ist jetzt auch passé, dafür mehr und mehr (gewinnbringender) Ziviltourismus!

3

Samstagmorgengeschichten. Flieder blüht; Ort und Zeit – ehemalige Gegenwart, Mai, noch früh, unser Viertel, hier entlang, Sonne scheint, Palmsonntag steht vor der Tür oder Pfingsten. Der Kastanienbaum blüht. Tatsachen! Wir schreiben so das Jahr 58, Mitteleuropa, dieses Jahrhundert. An solchen Tagen fangen alle möglichen Leute hoffnungsvoll neue Leben an!

Seifenblasen!4 Tag noch neu! Trixie (deine liebe kleine Stiefschwester Beatrix heißt das), das vorbildliche Violalein, unser braves Renatchen und viele weitere ernsthafte kleine Mädchen, schon sechs – »Du liebe Sonne! Wie fröhlich bin ich aufgewacht!« (Erst neulich Geburtstagskind und seither noch keine einzige Träne geweint) –, ganze Scharen heut gehn für ihre jeweiligen Liebmütterlein brav und stolz einkaufen, klipp-klapp: neue Ostersandalen, weiße Elfensöckchen und zukurzgewordene vorjährige Sonntagskleidchen – zum erstenmal ganz allein.

Täschchen, Zettel und das Portemonnaie mit dem Geld (»Verliers nicht!«). Und der Herr Kaufmann Rewe an der Ecke, auch so ein Zeitgenosse, sagt händereibend: Mein kleines Frollein! zu ihnen und fragt saudumm und kindisch: Wie alt biste denn schon? Bist du nicht die kleine Renate? Und verteilt kauend: hier hastn Bombong! Ach, was fürn hübsches Spitzenhöschen! Ganz atemlos, kopflos, keuchend, er gab ihr zwei, drei, ganze Handvoll: hier, nimm doch, halt die Hand auf! Altmodische Himbeerbonbons, ganz klebrig-rot-süß, mein kleines Prinzeßchen! (Atem und Hände gingen ihm durch und galoppierten lauthals-zitternd davon. Scheißbrille total beschlagen!) Kannst du denn auch schon einen artigen Knicks machen? Bitte-danke! (Glöckchen bimmelt!) Und er steht da, wie aufgeblasen, atmet vielzulaut (Nichtraucher!) und hat einen dicken runden Reklamebleistift hinterm Ohr, hat Gallensteine, hat das Wechselgeld, heiße schnöde Münzen, die schmelzen, und die feuchten zittrigen Rabattmärkchen, ganz klebrig, mit vielen geil-unzulänglichen Wurstfingern sorgsam tief in den geschmeidigen Falten des kleinen weichen Damenledertäschchens verwahrt, weiß, mit Goldrand und rundem Bügel. »Verliers nicht! Weißt du den Heimweg?«

Himmel wolkenlos, hüpf doch! Bunte Kreidestriche auf dem leeren sonnigen Samstagmorgengehsteig, magische Felder, Tagundnacht, Himmelundhölle von gestern, Kinderspiel, das du kennst, ein mehrfarbiger geometrischer Traum; Heimwege! Tag noch neu, hellblau, wolkenlos, unbesudelt! Alle Türen und Fenster offen, Morgenvögel in den Bäumen.

Noch ganz außer Atem: erstmal Brille putzen! (»Wie mein Herz klopft!«) Und steht da, in seinem frischen weißen Samstagmorgenkittel mit vier Knöpfen, steht da wie ein Reklamemännchen auf einem Reklameplakat: ÜBERlebensgroß! Steht da und grinst einfältig-dauerhaft: ein Menschenfreund! (Keiner hats gesehn!) Vorm Laden Obstkisten, Plakate, Fahrradständer, eine prächtige tomatenrote Markise: »Sonnensegel«. Jeden Werktagmorgen, wenn die Sonne scheint (schon in aller Frühe und es wird wieder ein schöner Tag werden), kommt er mit zugehöriger Kurbel raus, stolpert, und stellt sich – nachdem er zuvor mit wichtiger Miene sachkundig den ganzen Himmel gemustert hat, blinzelnd – vorm Laden auf, senkrecht und leiert tief atmend geduldig diese seine prächtige Markise raus, die ist noch neu und war weißgott teuer genug, tomatenmohnblütenrot. Den ganzen langen Sommer lang ein vertrauter freundlich-leuchtender Farbfleck vor dem (in deiner Erinnerung) lebendigen Grün der Bäume, Ahorn, Kastanien, jedesmal wenn du (in Gedanken woanders, aufblickend: wer bin ich doch gleich?) da um die Ecke, wie immer, die Straße langkamst; Heimwege.

»Zeitgenosse!« Aber sie, seine hakennasige Frau mit den vorstehenden roten Augen, sitzt den ganzen Tag böse, stumm, unfehlbar und allgegenwärtig hinter der unfehlbaren Prunkregistrierkasse. Mund wie ein Bleistiftstrich, Zitronenmund. Elektrische Knopfaugen. Ein Kapitel für sich.

Das arme kleine Lehrmädchen Magdalena Flüchtlingskind, wirres Nachthaar, dunkel, bessarabische Traumaugen groß und leer, bald wird sie fünfzehn; ach, wie traurig sie immerfort lächelt. Wie ein zartes Maiblütenblatt rosa ihr vielgewaschener einziger kurzer Kittel, halb durchsichtig, paar Knöpfe zum ganz außer Atem hastig aufknöpfen, drunter immer nur billige bunte Unterwäsche, mal rosa, mal himmelblau, lila an Feiertagen, gelegentlich gelb oder grün (ausm Versandhauskatalog) und seit sie im Berufsleben und sozusagen erwachsen jetzt: alle Tage billige dunkelbraune Damenseidenstrümpfe mit Naht. Sie wird hier dressiert, sie soll lernen aufs Wort parieren! Sie kniet gern, liebliche kleine Sklavin! (Ihre wunderlichen armen kleinen Elterchen sind arm, alt und wunderlich, du heilige Einfalt, wie bescheidene Stoffpuppen! In ihrer wunderlichen Ersatzsprache, die kein Mensch versteht.) Samstag: schon ihre elfte Lehrwoche. IHK-Vertrag und Folterkeller vorhanden.

Im Laden, der Herr Kaufmann – egal ob du lächelnde Qualitätsäpfel oder naturreine Markenbriketts bei ihm erstehst – tut immer so, als ob er umständlich und gewissenhaft (egalwas!) die besten und schönsten raussucht, erwählet: für dich, für Jeden, für alle Kunden, jedesmal! Andächtiger Umstandskrämer, machts vielleicht wirklich: ein Menschenfreund! (»Keiner hats gesehn!« Und er steht da und lächelt wie ein Blinder!)

Auch (selbstredend) jederzeit zu einem beschaulichen kleinen Geschwätz aufgelegt, was gibts Neues? Wetter, Krankheiten, Vermischtes und allgemeine Lebensweisheiten, aber ja, er führt auch Zeitschriften! Imponderabilien: daß man den alten Herrn Kommerzienrat Grebinius (der zu den Renommier-Einwohnern des Viertels gehört, aber lang macht ders auch nicht mehr) jetzt im diesjährigen Frühling schon lang nicht gesehn hat.

Meingott, also da hätte die Frau Ellwanger doch um Himmelswillen beinah den dringenden Zimt vergessen: auch noch grad vor die Feiertage! Noch ein Tütchen erstklassigen Qualitätszimt also! Sachkundig: der kommt von weit her. Und anschließend die NEUE Hörzu für Frau Friederich. So erweist sich, daß diese tiefen Gespräche durchaus auch ihren prompten praktischen Sinn haben: Umsatzsteigerung, Kontakt, Kundenpflege. Jemand müßte das mal seiner Frau eintrichtern, aber so, daß sie es auch wirklich kapiert! »Keine Zigarren heut fürn Herrn Gemahl?« (Wo der Friederich bloß seine täglichen Stumpen herbezieht? Sonst kauft sie doch Alles bei mir.) Was die echten Einwohner sind, hier im Viertel, die kennt er Alle von Kind auf, schon ewig, für immer – da macht ihm Keiner nix vor!

Wenn er im Laden ist (anwesend), dauerts jedesmal gleich gut doppelt so lang (mindestens): »Gu-ten Tag!« (Pause!) Unwillkürlich sagst du (die Pausen ausfüllen, unverzüglich!) Alles zwodreimal: »Dankedankedanke!« Na endlich: Ladentür bimmelt. (Heimwege)

Jenes Jahr, paar Häuser weiter, vor dem abendlichen Trümmergrundstück, Hausnummer 19, wo einst der gezierte Vorgarten (Luftangriff 44), wie über Nacht: ein ganzes Feld roter Mohn! Niemand hat ihn gesät, Keiner wußte woher und wieso, Ende Mai, und steht da und blüht, stetig-leuchtend, andächtig, makellos. Jede einzelne Blüte wie mit einem kleinen Lämpchen bestückt, transparenthell, solang auch nur ein Schimmer Licht noch am Himmel – jetzt im Juni, wos kaum je richtig dunkel, höchstens zwei Stunden jede Nacht.

Abends spät, ganz zum Schluß jedesmal (Himmel leuchtend und leer) leiert er immer bedächtig und müde seine neue rote Markise hoch, ächzend: knarrt ein bißchen! (»Morgen umständlich ölen!«) Samstagmorgen: Eben siehst du da den Herrn Oberzugführer Friederich, 49, von einer dienstlichen Doppeltour Basel-Westerland-Basel –: hier kommt er heim! Schreitet, soundsoviel muntere Friedenskilo (der Schwerkraft verpflichtet), Dienstmiene aufgeknöpft, -joppe offen, Schritt für Schritt, steife doch leutselige Dienstmütze und ein dauerhaftes Privatlächeln trägt er getrost in der Hand vor sich her, waagrecht, wie auf einem Tablett. Er ist müd, aber gutgelaunt. (Damals noch mittels Dampf, doch seine Elektrifizierung mit Oberleitung schon voll ingang.) Er hat (das bleibt unter uns!) alle Taschen voll zollfreier Schweizer Stumpen! Zwotens: er hat volle vier freie Tage vor sich, Festtage! Ist (drittens usw.) nicht dreißigjährig im zwoten Weltkrieg gefallen, nein! Sondern, siehe, Er lebt! Weißgott: wir schreiben mit Adenauer bereits monatelang das helle Jahr 58 oder 59; vorgestern Abend hat er sich (Abendstraßen, Licht golden! »Ein Überlebender!« Sonne stand tief im Westen und kein dritter Weltkrieg ist nicht in Sicht!) planmäßig zum Dienst begeben und eben jetzt – Schritt für Schritt – kehrt er siegreich heim: Er ist es selbst! (Nein, er hats jetzt nicht eilig!) Grigorij, der ausländische oder gar staatenlose alte Flickschuster, »ein gefährlicher Anarchist« (näher kennt ihn Keiner): erst neulich mittags beim Teeren ganz überraschend von seinem eigenen schrägen Vordach abgekippt, vier Meter hoch-tief: unverletzt! »Teufel auch!« (Ging blitzschnell, ein Wunder! Dabei ist er mindestens achtzig!) Und begab sich anschließend kopfschüttelnd, ausländisch fluchend, nachdem er oberflächlich gespenstischen Staub von sich abgeklopft hat, proforma, ein heißer Tag, gleich-n Schnaps trinken, während seine unscheinbare liebe Frau (über die wir womöglich noch weniger wissen) noch zu Tode erschrocken eine Etage höher, stumm, oben am quadratischen Küchenfenster wie ausgestopft – Stoffpuppe – ganz und gar reg- und fassungslos – »Wink ihr zu!« (Selbst ganz verblüfft noch: ich lebe!) Hob die Hand wie zu Gruß und Beschwichtigung, magische Gebärde, sie aus ihrer Statuenhaftigkeit zu erlösen: daß gar nichts passiert sei und ich komm gleich zurück. Hitze, leere Mittagsstraßen! War ein heißer Tag in der vorigen Woche!

Der alte Grigorij: ja, träum ich denn? Die Steppen der Skythen, das Kaspische Meer, wieviel hundertmal geh ich heim und weiß nichtmal mehr, was ich vergessen hab, und immer ist Mittag, die Ewigkeit! Ja, was soll ich euch sagen? Vorhin, ein Flugzeug dröhnte da übers Haus, heute Morgen – ach, fragt mich nicht nach der Zeit! Wo ich herkomme, da ist jeder Gedanke so alt wie ein Berg, wie Bernstein zitternde Stille blau und gold! Und hoch im Mittag endlos ein Adler kreist – ach, ihr armen unterirdischen Stadtkinder hier (große Geste, weit und breit kein Mensch), für euch sind meine neun Leben! Für euch des Adlers Flug in meinem Gedächtnis, hoch und fern, der Berg Ewigkeit und (verwundert) hier steh ich! Waschpulver hab ich solln mitbringen und denke lange Stunden an Samarkand! Hier steh ich mit leeren Händen! Und meiner Erdentage jeder (hob beide Hände, mitten in der Sonne, ließ die Zeit durch die Finger tropfen, geduldig) zu lang selbst zum nacherzählen, kopfschüttelnd: 365 × 76 × 9, seufzend: achja …

Heimwege, die ganze vorige Woche, jeden Tag: er sprach zu den Bäumen, gestikulierend auf allen Wegen, gerührt, redete mit Vieh und Vögeln und uralten Steinen, momentan bloß ein kleines Kätzchen, atmend, kobaltblau schwöre ich, sonnt sich da in der Sonne auf dem niedrigen warmen Sandsteinmäuerchen hinter der Shell-Tankstelle gegenüber von Ellwangers (die verreist sind, in Urlaub) einfältig gaffendem frischverputzten Haus, kurz vor eins.

Heimwege, »ich bin fremd hier!« Zwei Straßen weiter (wie vorbestimmt, doch ich hatte meinen Namen vergessen; wie mein Herz klopft) findest du unversehens eine rotweißgrüngestreifte italienische Eckkneipe (als ob du sie von jeher gekannt hättest – nachher weiterfahren!), wo du bei offener Tür kannst sitzen in zeitlosem Frieden und guten Espresso trinken. Kaum Gäste, Zeit im Spiegel: Morgensonne zu Füßen. Der Wirt, ein Römer, berechnet langwierig seinen Gewinn pro Minute-Stunde-Tag-Jahr usw., lautlos, die Lippen gespitzt (wenn ich jetzt einen Cynar bestelle, lieber noch Grappa, dann muß er nochmal wieder ganz von vorn anfangen: sein Leben neu ordnen). Ein kleines frühreifes Tigerkätzchen streicht schattenhaft, ganz verwundert, tapsig-behend um viele verlassene Tischbeine. »Hier kennt mich Keiner!«5 Und Espresso trinkend stundenlang uralte Platten spielen, ganz für dich: den ganzen leeren sonnigen Samstagmorgen, streck die Füße untern Tisch. »Blueberryhill«

»Zeit-zu-fahren!« Wie mit Kreide die ewige südliche Ausfallstraße, meine damalige fixe Idee, flimmernde weiße Linie, täglich, endlos: kaum einen Steinwurf weit. (Himmel wolkenlos, Zeitzufahren.) »Alle künftigen Katastrophen meilenweit weg und ganz und gar unwahrscheinlich, undenkbar!« (Die Abdrift der Kontinente)

»Nobody knows!« (Immer noch zwei Groschen, die du in den diamantenbesäten Regenbogenautomaten schmeißt, um die Vergangenheit wiederzufinden.) Kaum noch Schlaf. Schon wochenlang auf der Flucht: Was suchte ich denn? Urwald Wüste Steppe und Tundra, nachts mein Sternenschlaf, blau, der Berg Ewigkeit, südliche Häfen und Alles so wirklich, daß dir der Atem stockt – komm! Glaubst zu träumen: eine fremde Stadt, eine andere Zeit, Sonnenschein, leere Mittagsstraßen, und plötzlich, dort vorn, der kleine Junge, der eben dort vorn um die Ecke lief und verschwand – dort im Licht – das war ich!

Jaques der Friseur, ehemaliger Franzose und Feindarbeiter, den das Leben vergessen hat – das hört sich ja gut an, wovon lebt er denn? Soll er dankbar sein, wem? »Die Kinder kommen gern zu mir!« Leben: sein Häuschen, sonnengelb, ist so klein. So bescheiden steht es da zwischen den Fliederbüschen: Exil! Da sitzt er bei offener Tür, schmalschultrig und verträumt (in Gedanken woanders), träumt sich in lauter Fortsetzungen vielerlei Vergangenheiten zurecht, falls er nicht ohnehin Jemand ganz anders ist. Träumt u.a. von einem unsinkbaren Barockschiff aus Kork oder von klangreinem Elfenbeinklavier auf einer Wolke im Mond, wie das schwahan-ket: d-Moll! Lieber gleich eine haushohe Orgel mit Paternoster und Eternitdach, hochseetüchtig. (Hier regnet es viel zu oft.) Von jahrelanger Weltreise mittels mehrstöckigem altmodischem Fesselballon: Zeit genug!

Unterwegs: das trübe Wetter, die Reihenfolge der Erdteile, immer an der Peripherie: Küsten, Inseln (ungeheurer Abdrift unterworfen schwimmen sie immer weiter davon), alle alten Freunde dein-mein-seines Lebens, auch die, die er bloß aus geliehenen Büchern kennt, auch Romanfiguren, fiktive: Esau, Odysseus (den kenne ich, seit ich lesen lernte, mit fünf), Nagel, Salome, Marco Polo, Bakunin und Dschingis Khan – »Ma Ucta!« – nochmal aufsuchen, wiederfinden, Rasputin, Rimbaud, Moravagin und Johannes den Täufer, auch Baudelaire, Kerouac, R.L. Stevenson, Palaschkorona, Besino, Pindar, Poe, Artmann, Aulbach, Kurzeck und die freundlichen Ausgeburten seiner eigenen Phantasie (Zauberwort) – an Bord nehmen, einladen: Alle! Auch die beiden betrunkenen finnischen Matrosen bei Herrn Gustafsson! Papiere sind nicht erforderlich. Alle, die (»Wir sinken! So schmeißt Ballast ab!«) müde und beladen, doch guten Willens, und wir wollen sie aus ihren (bis heute) barbarischen Zeitaltern und bodenlosen Fährnissen erlösen. Vergeßt nicht Villon! Weltreisen. Hör zu, Jeder wird dir (ja, auch Rurik, Ruskin und Robinson könnt ihr retten – alle Nothelfer!) hoch in der Luft, außerhalb der Zeit, wieder und wieder wortreich, freundlich und hilflos seine widrige Geschichte erzählen – immer die gleiche, jedesmal anders, d.h. in andrem Zusammenhang –, Arche Noah Zwo (was hier gerettet wird, ist die Gattung Menschlichkeit).

Die Welt dreht sich, knarrend und schwankend. Und er sitzt da, ein Fremder, alle Tage und Abende höchstpersönlich in seinem großspurigen Friseurkundensessel geistesabwesend und bleich seinem müden traurigen Spiegelbild gegenüber – Jemand anders! (In der Nacht seine Lampe, Einsamkeit und flaschenweise algerischer Rotwein und billiger weißer Kaufhaus-Bordeaux – ganzes Leben im Gedächtnis –, nachts ist er immer noch König!)

Mai, Juni, Zeit genug! (Z.Zt. hat er als Depressiver seine fabelhafte manische Phase – Aufhängen kann ich mich auch noch im Winter!) Jeden Tag scheint jetzt wieder die Sonne und da, sein blanker blitzender Zunftzinnteller überm Eingang (Tür offen: Tag wankt und gleicht einer Sinnestäuschung! Schon wochenlang kaum noch Schlaf!) fängt geduldig das Licht ein, kreisrund. Sowieso glaubt ihm keiner hier, daß er Friseur ist. Auch sonst nichts. Er heißt gar nicht Jaques, sondern Marcel und ist hier im Viertel unter diesem oder sonstigen Namen jahrelang ein völlig Unbekannter geblieben, von Amts wegen, Fremdling überall. Er hat einen Papagei, der sich nachträglich auch bloß als Wellensittich erweist, obendrein bloß geliehen, rechtmäßiger Besitzer verstarb gebührenpflichtig und schmachvoll im hiesigen Evangelischen Altersheim – wie die Zeit vergeht. Und hat mal: Jaques F. viele 100 Stdn. vergeblich auf seine amtl. Hinrichtung gewartet hienieden, wird nicht gelyncht werden, nein! jahrelang: Faschismus längst absolviert – hierzulande – nie – gewesen. (Sonne, Morgenvögel)

Das Licht zittert, ein Traum – wie aufwachen? Hier im Viertel (wenn du so die Straße langkommst mit deinen täglichen Frühstückseinkäufen: frische Morgenmilch für mein Kätzchen, keine Zeitung, kein Morgengebet, Krimsekt, zwei gebratene Tauben, bißchen Schnee für heut Abend, Wodka, Sahne und frische Brötchen), hier, siehst du: alle möglichen freundlichen Leute haben bei allen möglichen Anlässen (danke gut, danke gleichfalls) alle möglichen freundlichen Worte füreinander, wirklich: Wörter, Worte und ganze Sätze, wahr und wahrhaftig6 »GU-Ten MOR-Gen!« (Nickten uns tiefsinnig zu, übern Zaun.)

Überall in der Stadt: »Wo die Zeitung heut bleibt?« (Wie einstudiert: Jeder hat seine eigenen Sorgen, Gebrechen und Zerbrechlichkeiten. Weißgott, worauf sie Alle warten mit dumpfer Zuversicht und was uns noch bevorsteht!)

»Des Kaisers neue Kleider!« Herr Karl Wilhelm Heinrich Müller von der städtischen Müllabfuhr haben sich vermittelst brandneuer gewerkschaftlicher Fünf-Tage-Woche (vielerlei weißgottwelche Vorwände: sein Weib ist – will man ihm mal glauben – so saudumm und gierig, so schweinegierig! Kein Sinn für Höheres, aber kochen kann sie auch nicht!) heut schon in aller Frühe fluchend in die (Alles schwankt! Samstag. Gottlob gehts hier leidlich bergab, stolper nicht!) unbewegliche Eckkneipe hinbegeben. »Weil die Sonne scheint.« (Das läßt sich nicht leugnen!) Meinetwegen heißt er ja neuerdings (seinerseits) Obermüller, mit seinem frischverkrüppelten Daumen, links. Und es kann gut sein, daß wir uns nachher noch ausführlicher auf ihn einlassen – warum nicht? (Noch ein Schluck. Geduld auch. Alle nickten.) Hör zu, er ist nicht so ohne: er fließt. Er gleichfalls ist eitel und vergänglich. Und wie Alles Vergängliche ist auch er nur ein niederschmetterndes schiefes Gleichnis. Und das zumindest (Zeit genug) könnten wir versuchen, zu seinem Besten (hier: sauf, friß!) ihm stundenlang einzutrichtern. Im Suff immerhin, samstags, sonntags, ist er ja doch ziemlich menschlich noch, das ja! Auch Magengeschwüre! Demzufolge nicht unempfänglich für massive persönliche Vorwürfe. Des weiteren, was den alltäglichen republikanischen Müll betrifft, lobenswert unbestechlich (so soll das auch sein).

Gerechtigkeit. Erst neulich im sogenannten Vorfrühling, März, Regentage: Müller selbst beinah an einer dienstlichen Blutvergiftung krepiert. Mitten in der emsigen fahlen Morgenstadt (jeden Tag wird sie wieder neu aufgebaut, immer gleich großspurig und unzulänglich, Babylon), deutscher Fleiß, dritte Strophe. Für so-n Hungerlohn: der halbe Daumen ging glatt drauf dabei, links (wo das Herz ist; Schulterzucken). Und er hätte beinah dran glauben müssen, naja, aber dafür werden sie ihn nächstens bald (falls er nicht vorher das Pech hat, noch über sein Glück zu stolpern) zum Vorarbeiter ernennen – macht auf den schäbigen Stundenlohn lumpige zehn Prozent Zuschlag. Und die alltägliche Ehre noch obendrein.

Jahre später ein anderer Samstagmorgen (es regnet): da ist er schon jahrelang Vorarbeiter und kennt sich selbst kaum wieder. Nächstens, mal sehn, will er wo beitreten, SPD oder Skatverein, in allen Ehren. Aber was seine Frau ist: immer noch die gleiche triefäugige alte Schlampe, die in ihren ewigen schmuddligen Küchenkitteln alle Tage schrill und gehässig in sein (so hundemüde!) vergebliches Erwachen keift! Und dann wird sie über Nacht seine Witwe, kauft sich lauter neue feine Klamotten und (wird uralt werden) kriegt eine schöne Rente, solang sie lebt. »Kein Trost!« Manchmal geht er und setzt sich paar Stündchen in den Keller, heimlich, atmend, allein. Wer bin ich? Mein Leben wo? Der Verlust der Zeit genauso heillos traumatisch, wie damals morgens: plötzlich ein Daumen ab! Das wächst nicht nach. Aber oft noch, besonders bei trübem Wetter, tut ihm der Knochen immer noch weh, den er gar nicht mehr hat.

Obiger Friederich, Vorname Ludwig, Glatze, Rand- und Berlokken, goldene Uhrkette, die (via Vater) noch von seinem Großvater stammt. Die Fortsetzung seines Heimwegs: Morgensonne! Geht auf zehn. Wie heißt doch gleich meine liebe Frau? Uhr aufziehn! Er hats nicht eilig, weißgott. Samstag. Siehe sein dauerhaft-wohlwollendes Grinsen, unwillkürlich. Die ganze Zeit kurz nach neun – was weiter? (Ein Radfahrer der die leere Straße lang langsam, wie eine gemächliche Luftspiegelung – glaubst zu träumen – ganz langsam daherkommt geradelt, geduldig, quer durch die leere sonnige Leere, lautlos! Schien zu schweben. »Die Straße ist breit genug!«)

Morgensonne! Da sein trautes Heim, wie immer, hat geduldig gewartet am Ende des Wegs, neben der gewohnten Morgenbäckerei seiner Kindheit, wo es verlockend nach Backwerk, nach Nougat, Zimt und Vanille riecht-duftet; schmucke Osterhasen und anmutige Pfingstkätzchen, kleine, schmackhaft und niedlich, verschiedene Größen, verschiedenfarbige Halsschleifchen als einzige doch tertiäre Geschlechtsmerkmale, Lübecker Marzipan (mit Farbstoff) – sieh: da weiden sie! Ganze Vitrinen voll (friß sie gleich!). Und Friederich, glücklich-selbstvergessen, feiertags ein Genußmensch, Vorgeschmack frischen Morgenkaffees schon in der stolzen Nase (auf Schritt und Tritt: er erkennt Alles wieder): aufm Heimweg schnell noch gierig viel guten Kuchen kaufen fürs Frühstück, mit unersättlichen Fingern zeigend, froh: den, den! Nuß-Kirsch-Apfel und Mohn, jaja und auch noch zwei Stück da diesen prächtigen locker-gold-gelben Käsekuchen, janein: lieber drei! Begeistert, nickte mit Blutandrang, konnte gar nicht genug kriegen, wie fürn komplettes – mehrere vollzählig tagende Kuchenkränzchen, ganze vielköpfige Geburtstagsfeier, ganze Berge von Kuchen (Pfingstsamstag: seine Frau steht daheim und bäckt). Und die knusprige Bäckerin Lisbeth, blitzsauber, lacht-nickt-strahlt, Registrierkasse jubelt. (Haben wir nicht schon als unschuldige Kinder geil und glücklich zusammen gespielt? Viele windige Holzschuppen hinter der Mauer und helle naßkalte Märztage, wenn die Luft frisch nach Wind und Regen und Gras riecht, nach Erde und nassem Holz, erst gestern.) Tür fiel zu – Kindheit: Bäckerladen! (Mülleimergroß die alten milchiggrünen Bonbongläser mit schweren Deckeln (obendrauf eine Kugel als Griff) und welch köstliche Schätze, von deinem Vater behütet, sie bargen auf ihrem Grund: wie eingefroren in ewiges Eis!)

Samstag: durch zwei Nächte durchgefahren rattatam: De-Züge! Hellwach-todmüde, ganzes Leben im Gedächtnis, sonnige Seitenstraßen, Tag wartet: »Gegenwart!« Hier sehen wir ihn, Friederich (Zeitgenosse), mit einem Riesenkuchenpaket strahlend aus der lieblichen Morgenbäckerei kommen, ganz atemlos, froh: ja, was soll ich euch sagen? Er strahlt! Drei Treppen, Glöckchen bimmelt, Samstag: ja, was denn? Die ganze Straße duftet nach frischem Kuchen, nach immerwährender Kindheit und baldigem Feiertag! Er ist voller Wohlwollen: gegen sich und Gott und die Welt. »Steck dein Wechselgeld ein!« Die Messingknöpfe an seiner dienstblauen Jacke glänzen wie pures Gold!

– Und später, nach all den Jahren, wird sein ungläubiges Gedächtnis stumpfsinnig staunend gerade diesen als den (wann denn, warum? Ach, gewesen!) glücklichsten Moment all der Jahre entziffern. Später: »Ja, damals!« (Ich ging weiter, Jahr um Jahr. Ich gehe immer noch!)

Und wie immer dort in der Morgensonne das niedrige schiefe Backsteinhaus mit dem leeren Abendgesicht Karmesin, mit den grasgrünen Läden und Blechgirlanden, wenn nicht echtem atmendem Efeu an der Wetterseite (dunkelgrün, endlos knarrend), oder kann sein, es ist (im Windschatten) rostiger wilder Wein. Lackierte Blumenkästen zum Gruß (mit seiner Mutter Segen: ja, bald zwanzig Jahre jetzt ist sie schon tot. Jedes Jahr eine Gärtnerrechnung, die reichst du der Steuer ein), blanke Morgenfenster weißbekreuzigt, im ersten Stock Dachgeschoß sind die Läden noch zu –

»Daheim!« Nachher gleich schlafen! Sieben Tassen Kaffee! Seine Augen sind kleine elektrische Lämpchen, die brennen! Aber nach so einer langen dienstlichen Doppeltour vom Meer bis zum Alpenschnee und retour (erstmal Hemd auf und Schuhe aus, weg damit (ächzend), Jacke auch, häng sie da auf den Stuhl (als ob sie bucklicht, so subaltern), Ärmel hochkrempeln: Aufatmen, bald Sommer! »Wieder daheim!«) und besonders im Mai und mit Pfingsten oder jedenfalls vollen vier freien Tagen vor sich, die soeben begannen, da wirds mit Frühstück Baden Kontemplation Zigarrenrauchen, Radio spielt, Kätzchen auch, auch ein Garten gehört zum Haus (der Blick aus dem Fenster: Ich Obersekretär! Er erkennt Alles wieder. Alles da: Friedenszeiten, sonnige! Jeder Blick, jeder Augenblick lädt zum Verweilen ein!): wird immer erst Mittag-Nachmittag-Abend, bevor er endlich zur Ruhe kommt; Augen zu!

Windstille! Das alte Haus – wie er knarrend umhergeht: in allen Himmelsrichtungen kleine verschrobene Türmchen, die ernst und gefaßt und nicht ohne Vorwurf stumm-beredt seines toten Vaters unvergeßliche Züge tragen, senkrecht-verwittert, gerunzelte spitze Giebel und Übergiebel mit Vorsatz und Helmdach und bewegliche Wetterfähnchenattrappen aus haltbarem Grünspan und allerlei besinnliche Bleigirlanden in seines toten Vaters förmlicher Handschrift. Ohrfeigen konnte er nicht (zeitlebens Beamter)! Am Ende des Wegs und nicht zu verwechseln: da steht es, düster, doch gutmütig und vertraut. »Tritt ein!« Seine Heimkehr, er fand Alles wieder, erinnerte sich. Finsteren Blicks steht es da und sein Vater, in Gottes Namen, in Gottes geweihter Erde, schläft dauerhaft, schläft, wie schon die teuren Toten Rimbauds, zwei Meter tief, ganz gerade ausgestreckt, unter den prächtigen Osterglocken, die nicken im Takt. (Ein schönes Bild!)

Vaterhaus, Frühling, die Tradition usw., Samstagmorgen: er hat seine Pflicht erfüllt, er befindet sich auf dem Heimweg, gemächlich rülpsend: Alles hat seine Richtigkeit. Die Sonne scheint weiter, Morgensonne, und heute Abend (ausgeschlafen) wird er sich mit seiner lieben kleinen Frau (die gleiche wie immer. Bloß ihr Name?) ins tröstliche Samstagabendkino begeben, Walhalla-Filmpalast. Deutscher Farbfilm aus dem Jahre 1956. Und mit Erfolg im Gesangverein ist er auch. Dort steht sein Haus und wartet, neun Uhr durch – »Wir sind durch Deutschland gefaha-ren!« (Sie ist eine fleißige kleine Maus, ganz grau isse auch!)

Friederich auf dem Heimweg (ob die Zeitung schon da? Er schwitzt ein bißchen, wird aber nachher gleich baden), auf Schritt und Tritt: Mohn, Rosen, Blumenkästen, Juni, Vorgärten, Linden, Flieder, Jasmin, Kamillen, Kastanien, Litfaßsäule in allen Farben: Alles grünt-grüßt-blüht! Und da, ganz am Rand seines (gemächlich wandernden) Blickfelds, wie gewohnt, nahezu durchsichtig: der entmündigte alte Glaser Engel oder sein vertrautes bescheidenes Gespenst, barfuß, wie gewohnt, genauso wie du ihn kennst, bewegt sich schüchtern vorbei, in weitem Bogen, ungeschickt grüßend (mehrfach; ganz konfus und verlegen streicht er dicht an den Mauern entlang, Fassaden, tief in verworrene Selbstgespräche verstrickt. »Da hab ich ihn das letzte Mal gesehn, wie ich Samstagfrüh heimgeh!«), falls ihn an dieser Stelle dein manisches Gedächtnis nicht einfach vollautomatisch reproduzierte, unberufen, weil ich ihm schon so oft hier auf die gleiche Weise begegnet bin, abends, morgens, jahrelang auf dem Heimweg. »Wir kennen uns. Er lebt. Er ist seit Jahren verschollen.« (Bis weit in die Sechziger Jahre hinein pflegte die hiesige Bevölkerung getrost mitten auf der Straße zu gehen.)

Im Laden: Registrierkasse, Ladentür, Glöckchen bimmelt. »Alles fließt. Guten Tag!« Seine Frau ist bloß ausgestopft. Die arme kleine Magdalena, gefangen in ihrem eigenen grellbunten Sklavinnentraum, entblößt, schon stundenlang selig kniend, faltet gehorsam Tüte um Tüte. Und er steht da und grinst verloren, immer er selbst, hoffnungslos, in den tiefen leeren Samstagmorgenhimmel: ein Traum! Was es sein dürfte? Stets zu Diensten! Eines Tages, bald: er wird stehend erwachen, acht Jahre alt; Glöckchen bimmelt. Da sein unbegreiflicher Riesenvater kommt eben großmächtig zur Tür reingestampft, keuchend, ganz außer Atem, Licht zittert: draußen leuchtet die Welt! Und Alles ist da und Alles wie nie gewesen!

Was noch? Daß er Scheitel und Glatze und ihm ist, als ob er sich selbst nie anders gekannt hätte. Auch sein Gebiß (erst neulich bezahlt) sitzt wie angeboren. Seine Gedanken behält er wohl besser für sich. Daß man als selbständiger Lebensmittelkaufmann im Laden immer einen sauberen weißen Ladenkittel anhat zu haben und beispielshalber nicht in der Nase bohrt (täglich), nicht in jedweder Öffentlichkeit jedenfalls – na: das ist doch sowieso klar, na klar!

Schon die dritte Führerscheinprüfung, die er letzte Woche aufgeregt schwitzend nicht hat bestanden; Inhaber Rudolf Krämer. (Seine Frau will ihn nicht verstehn!) Er hat den ganzen Laden hier von seinen eigenen beiden Eltern geerbt und ist darin, weiß-nichtwie (ignorieren kann er sich nicht!), großgeworden, langsam und weltfremd: ein blasser Erwachsener, geboren 1906. Aber die zugehörige teure rote Markise – Herr erbarme Dich! – hat er erst kürzlich selbst angeschafft; sie war teuer genug! Was Einer, wenn er mit sich allein ist (er wußte Bescheid), das muß er umständlich genug unter sich ausmachen, klar! Aber danach wäscht man sich als deutscher Lebensmittelkaufmann selbstverständlich jedesmal sorgfältig beide Hände! (Als selbständiger Ladenbesitzer (»Gemischtwaren!« Heute wieder kein Abendessen, aber sie scheffelt das Geld, als ob sie ihre Seele loskaufen müsste!) hat er selbstverständlich immer seine zahlreichen Gratisproben: umsonst!)

Samstagmorgen, noch früh, und ich weiß nicht, aus welchem dichtgrünen Sommerbaum oder hochgelegenen Dachfenster: überall im Viertel, den ganzen Morgen große schimmernde Seifenblasen, makellos, schwerelos, schwebten sachtzitternd im Licht – Ewigkeiten, bevor eine nahezu lautlos platzt.

(»Kommst du? Wir haben bunte Schulkreide, eine ganze Schachtel und-n neues Hüppseil aus Nilong, ein Nifeha-Wasserball, ein Federballspiel und den Dackel Leo ausgeliehn von die Wetterfelds und ein prima Musikding gefunden aus buntem Blech. Die Marion ist auch da. Das Wetter ist schön. Alle Kinder haben heut schulfrei und dürfen sich gleich morgens beim Rewe ein großes Eis kaufen! Viele wurden dann am nahen Stadtrand Ritter oder Indianer, manche auch Störtebeker und Robin Hood oder Fritz Walter Karl May Winnetou, kommste spielen?«)

Tja, der Herr Sportsfreund Oberbuchhalter Schlüter (der mit lauter steuerpflichtigen Überstunden erst kürzlich sein erstes Eigentumsauto auf Erden erstand, gebrauchten Opel-Gelegenheitskauf oder nagelneuen Vauweh) – Überlegungen, wo er wohl bliebe – schläft noch, macht Überstunden, hat (Nachbar zur Linken) nie existiert – dreimal klingeln! Wochenende: tätigt umsichtig überflüssige Einkäufe, zeugt ein Kind für die Steuer, absolviert fristgerecht Heuschnupfen oder erschöpfende Verwandtenbesuche, pflichtbewußt, wird punkt zwei heute Mittag pünktlich beerdigt: »Heinrich Oberbuchhalter Schlüter. Feuerbestattung 1959, Ein Erfülltes Leben!« Und anschließend endlich mal wieder seinen tiefen Keller aufräumen, hier unten, heute Nachmittag: schwebte als heiteres kleines Rauchwölkchen in graziöser Anmut (die, solang er lebte, Keiner, der ihn kannte, ihm je zugetraut hätte) hoch über seinem eigenen feierlichen Leichenbegängnis, Beerdigung gelungen und gutbesucht. Schläft noch, ist verschollen, ist vor gut anderthalb Stunden kurz mal in die (versinkende) Eckkneipe rüber, in Hemdsärmeln. Hat sich dorthinbegeben und widerspruchslos Platz genommen in den trüben Vormittagsspiegeln, ganz blaß, sein gewohnter Eckplatz; trank ein Glas, schweigsam, noch eins, ging pissen und ward nie mehr gesehn, wird jetzt auch gleich aufwachen und sich aufsetzen und am Ufer sitzen und (ein Anderer! Gedächtnis verlegt, Durchblutungsstörungen) seinerseits tatenlos zusehen mit leeren Händen. Wer bin ich doch gleich? Ganz dösig im Kopf! (So viel Licht! Fluß fließt langsam vorbei) Und sein Herz klopft im Takt! (»Kein Elan, Schlüter!«)

Samstagmorgen, Rentner Brinckmann oder Lingenbrinck (oder wie er sonst heißt mit seiner reaktionären Glatze, die glänzt, dieser zähe alte Heuchler aus dem Keller – früher beim Einwohnermeldeamt, Jahrzehnte, das Auge des Gesetzes) im Hof sachkundig mit sinnvoller Fahrradpflege beschäftigt, schon stundenlang (plus AOK-Brille, männlich). Wollappen Werkzeug Wilhelmshammer Wassereimer und Was nicht alles (ganz bucklicht sein krummer Schatten), auch ein niedliches liliputanisches Ölkännchen (rostfrei, Jugendstil), Alles griffbereit unterm Kastanienbaum (Himmel wolkenlos, Vögel sangen). Das nämliche rüstige Qualitätsfahrrad, mit dem er früher alle dienstlichen Werktage pünktlich ins Amt ist geradelt! Heute eigens in aller Frühe schon aufgestanden ist er, mit unerbittlichem Kaufhauswecker. Glücklich: Ordnung muß sein! Es kann ja noch stundenlang dauern! Der Kastanienbaum gehört allen Mietern gemeinsam. Laß dir Zeit! Wie eine Eidechse hockt er da. Turnschuhe. Er schmunzelt ölig, hört dabei gutwillig Kofferradio, Samstagmorgen, ein jubelnder Werbefunk nach dem andern, zwischendurch Zeitansagen: die ganze Zeit neun Uhr!

Morgenvögel, nah-ferner Singsang spielender Kinder, vielerlei Wünsche, die in sonniger Gegenwart hangen am Himmel (meine, die alten Götter) und in den Bäumen, geknüpft an Silberfäden und – fast in Reichweite – sieh: sacht sich drehn zur Musik, Luft vibriert, Erwartung, ein langsamer leichter Taumel.

L. ist ein großer Bewunderer von rostfreien Kugellagern, exakten Zahnkränzen, luftdichten Ventilen etc. In der Morgensonne: lauter blanke blinkende Einzelheiten (die zu zählen), und all die Jahre, alle leeren glücklichen Samstagmorgen seines armen glücklichen leeren Lebens (vorhin erst hat er sie an allen seinen vielen zittrigen alten Gichtfingern abzuzählen versucht) haben sich schweigend eingefunden und ringsumher aufgestellt, himmelhoch, in sonniger Gegenwart, reglos (senkrecht): 1 Ex. langer glücklicher Lebensabend, das wärs! Kann gebucht werden! (Datum, Stempel und Aktenzeichen: Kugelschreiberschnörkel.)

Weiter: wir sind mitten im hellen Jahr 58 oder 59, Mitteleuropa schon sehr überlaufen, fraglos, Keiner wills zugeben, Jeder bereitet sich – Jeder für sich, Jeder so gut er kann (manche heimlich) – auf »Die Neue Epoche!« vor, aber Samstagmorgen um neun (fast verschlafen: heut hab ich frei!) ist die Welt, die du hier so vorfindest, noch »quasi« in Ordnung; gut und schön! Das siehst du auch den allzumenschlichen Herren Briefträgern an, obwohl sie im Dienst, sie sind staatlich, meistenteils männlich und untersetzt oder aufgeblasen bzw. behäbig, redlich schwitzend und es wird wieder ein heißer Tag werden heute, Herrgott! Scheißversandhauskataloge, was sich das verblendete Volk Steuerzahler in Stadt und Land immerzu gratis läßt zuschicken, unverbindlich, aber wir: wir schleppen uns (eselhaft nickend, bei jedem Schritt und in fast jedem gottgesegneten oder Scheißwetter) unser ganzes halbes niedriges Erdenleben lang mühselig damit rum! Und wie geduldig sie doch (verhalten atmend) des Wegs kriechen, alle Tage.

Und wie zutraulich doch die liebe alte Tram, mit jedem neuen Tag, wie da der hiesige Vorortbus, Stadtverkehr, Linie eins bis acht – wie ein Spielzeug und frischlackiert (und zwar von Amts wegen, jeden zweiten Frühling, hellblau, Zeit vergeht): Sonne scheint, Samstagmorgen! –, hoffnungsvoll in die große Schleife einbiegt und geduldig um die Endstation quietschend kreist und kreist – jede hiesige Tram- oder Stadtbuslinie endet umständlich in einer umständlichen Schleife oder Doppelschleife mit Eckstein und pedantischen Steinbordüren, Laterne, Litfaßsäule und ein windschiefes Rentnerkiosk, das selig noch aus der Kaiserzeit: seither immer wieder frischgestrichen. »Zeitungen, Zigaretten, Obst, Süßigkeiten und Flaschenbier.« (Schnaps in halbwüchsigen Portionsfläschchen darf er nur unter der Hand, Prost!)

Mal wars hessisch rotweiß und der Schornstein (Rundblech mit spitzem rotwelschem Eisenhütchen) vom Vorjahr noch seligblau, dann wieder deutsch und gemütvoll maibuchengrasgrün, Ausflugsziel, oder gar gelb mit gelb (eine Farbkombination die Durst macht: Sauft Binding, ihr Hunde!) und jetzt, so die letzten zehn Jahre, da schmiert der alte Geizkragen Holzmüller jun. bloß jeden weiteren Frühling alle denkbaren übriggebliebenen Farbreste drauf, wies grad kommt, die er sich im ganzen Viertel geduldig zusammenbettelt. Statt höchstfälliger Renovierung tut er immer bloß neue Reklameschilder aus Blech draufnageln, gratis, unverzagt:

Underberg HB Pepsi

Langne Vivilhäger

Eiscreminzlich Bildle usw.

Und steht da im Schatten der Kastanien.

Genauso, wie bei deiner ersten Ankunft einst, als – weißt du noch? Vögel quietschten – die gottesfürchtige Tram (Baujahr 1913; Dpf. sechzig das Ticket) blitzschnell einen Haken schlug und war schon und blieb verschwunden – gen Mittag: zum erstenmal hier! Hier also! Wohin? (Hast dein restliches Geld schon dreimal gezählt!) »Such dir eine Höhle, nicht weit von hier, aufm Dachboden, »möbliert«, und erzähl der mißtrauischen alten Hexe (64 Mark im Monat, im voraus, neun Quadratmeter, ein Achtel Fensterchen, keine Heizung; Wasser und Klo ein Stock tiefer, stolper nicht!), daß du am Montag inner Eisengießerei anfängst ze malochen, nein: uff die Prinsenwerft. Kommunist bin ich Keiner! Dreifache Witwe, hat Erscheinungen, säuft Steinhäger alle Tage, triefäugig, eine Schlampe! Und wird dir, mangels Bargeld und Scheckheft, deine zwo einzigen besten Hemden klauen; Jammertal! Und wie du es nach Jahren wirst wiederfinden in deinem abendmüden Gedächtnis, wie durch ein umgekehrtes Fernrohr: klein und fern und ganz deutlich! Gottes Segen, lizensierte Trinkhalle, erbaut 1905. »Ich und mein Haus wollen dem Herrn dienen!« Gut fünfzig Jahre seither, eine Generation nach der andern, und es steht da, dauerhaft, ernst und verschroben, ernst, bieder und verrückt (ohne zu blinzeln), steht da im Abendschatten unter den Kastanien. Drei Mann, freie Flaschenbiersäufer in Hemdsärmeln, diskutieren freiweg die Demokratie. Feierahmd, Weißblechhimmel! Alle Abende die gleiche heimsucherisch gleißende Stille, wenn alle Züge längst abgefahren, alle Vergangenheiten und Zukünfte. Himmel ganz rostig schon: ein Kind lief über die Straße und die Stille fing an zu vergilben. Und Abend, alle Abende, die du als (reihenweise nebeneinander) vielfarbig-getönte konka-vexe Spiegel- und Zerrspiegelbilder in vollen (braun, schattengrün, Bier, Wasser, Schnaps, heimwehfarben-gedämpft, lupengrell, buntes Glas, Limonadenfarben; ertrunken und eingesponnen), in all den halbvollen und leeren und neuen Flaschen da auf dem Brett – also Prost! Wiederholungen, zahllos, im späten Licht – wiederfindest in deinem Gedächtnis; wir sinken! Und Abend und viele Stimmen.