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»In Paris im Herbst 1977. Der deutsche Herbst.« Der Abschluss von Kurzecks Chronik Das alte Jahrhundert Spätsommer, bald Herbst 1977. Der Erzähler Peter und seine Freundin Sibylle kommen nach Frankfurt am Main. Seit drei Jahren zusammen und immer noch dabei, sich ihr Leben zu erzählen. Peter arbeitet an seinem ersten Buch. Eine Zeit der Anfänge und des Aufbruchs. Die Zeit der Schleyer-Entführung, Straßensperren, Razzien. Peter muss seinen Freund Jürgen über die Grenze nach Frankreich bringen. Später wollen sie sich in Paris treffen. Auf der Fahrt dorthin: Grenzkontrollen, ein Gewitter, nachts der Autounfall in Meaux. Dann Paris, und der Himmel fängt an zu leuchten. Mit ihm die Bars, die Nächte, die Märkte, das Essen, französische Zigaretten und das Leben. Den Roman Frankfurt – Paris – Frankfurt hat Peter Kurzeck schon 1995 vollständig abgeschlossen, später sah er ihn als zehnten Band der Chronik Das alte Jahrhundert vor. Es ist das erste vollendete Manuskript aus diesem Romanzyklus – und gleichzeitig das letzte, das erscheint. So schließt sich ein Kreis. Als wäre der Roman ein Auftakt, ein Prolog, der von den Wegen berichtet, die hier zum ersten Mal gegangen werden.
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Seitenzahl: 410
Veröffentlichungsjahr: 2024
Peter Kurzeck
Das alte Jahrhundert 10
Roman
Aus dem Nachlass herausgegeben von Rudi Deuble unter Mitarbeit von Jan Habermehl
Schöffling & Co.
Motto
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Nachwort des Herausgebers
Editorische Anmerkung
Das nachgelassene Manuskript
Editorische Zeichen
Notizen
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Plan »Das alte Jahrhundert« (2007/2010)
1. Übers Eis
2. Als Gast
3. Ein Kirschkern im März.
4. Oktober und wer wir selbst sind
5. Vorabend.
6. Bis er kommt (ein Gespenster-Buch)
7. Der vorige Sommer und der Sommer davor.
8. Und wo mein Haus?
9. Warum gehst du hier? (Arbeitstitel)
10. Frankfurt Paris Frankfurt (das Paris-Buch)
11. Das alte Jahrhundert
12. Nach dem Sommer
»Eine Welt ohne Kurzeck ist, nachdem man ihn kennt, nicht mehr denkbar. Die Welt bekommt seinen Ton.«
Andreas Maier
Über die Brücke und den Fluß entlang in den Mittag hinein und mir noch einmal unseren ersten Herbst in Frankfurt erzählen. Müd dem Tag hinterdrein, überstürzt und verspätet unsre Ankunft am Abend. Immer wieder das Geld gezählt. Es war der 31. August 1977 und das überladene Auto, übriggeblieben von unserer vorjährigen Griechenlandreise, schon fast am Zusammenbrechen. Das Geld und die Sorgen. Und die Zeit, wird sie uns reichen, die Zeit? Wir hatten kaum Geld und mußten uns darauf verlassen, daß wir es schon irgendwie schaffen würden. Ich hatte noch bis zum Nachmittag in Gießen in einer Buchhandlung gearbeitet, dann erst in Staufenberg mit Sibylle unser abgeschlossenes voriges Leben zusammengepackt und eingeladen, viele Geschichten. Erst Sekt und dann Rotwein dazu getrunken und am Ende bei meinem Freund Manfred in Gießen (es ging auf den Abend zu, ein Gewitter zog auf) mit uns und dem Tag und dem Wein und dem Abschied wie immer kein Ende gefunden.
Noch einmal die Ankunft, noch einmal die glorreiche Gegenwart des ersten Septembermittags und wie alles sich um mich her einfindet. Das Fenster, der Tag, ein Tisch und ein Arbeitsstuhl. Ein Platz für mein Manuskript. Eine Lampe. Eine elektrische Schreibmaschine, geliehen, die erste in meinem Leben. Schreibmaschinenpapier. Ein weißes Blatt Papier eingespannt, auf dem das Mittagslicht zittert. Hin und her in Gedanken. Das bin ich! Und jetzt auf dem weißen Blatt Papier, auf dem das Mittagslicht zittert, mit der Reinschrift der letzten Fassung von meinem ersten Buch anfangen, von dem ich vorher ein paar Jahre lang dachte, es bringt mich um. Immer wieder von vorn angefangen. Rot eine Markise am offenen Fenster, ein Sonnensegel. Mittag, noch warm. Hell das Licht. Bienen am Fenster. Vor dem Fenster himmelhoch die Kastanien vom Hessenplatz. Eine Dachwohnung mit großen Fenstern in Bockenheim in der Basaltstraße. Mein Freund Jürgen hat uns hier für die ersten paar Wochen ein Zimmer besorgt.
Morgens über den Hessenplatz und die Leipziger Straße entlang. An der Ecke ein Zeitungsladen, in dem ich mir Zigaretten kaufte. Elvis kurz vor dem Tod: Mutter ruft mich aus dem Grab! Nur einfach einen Monat lang jeden Morgen die Hauptschlagzeile aus der Bildzeitung aufschreiben, jeden Tag eine Zeile, vielleicht wird ein Gedicht daraus. Es gab Zigaretten, Zeitungen und Schußwaffen in diesem Laden. Feuerzeuge, Taschenlampen, Taschenmesser, feststehende Messer, Dolche, Luftpistolen, Geldkassetten, Türketten, Sicherheitsschlösser, Warn-, Droh-, Verbotsschilder, Schreckschuß- und Gaspistolen, Sprühdosen, Sport- und Jagdwaffen. Dynamit nicht. Hundepeitschen, Schlagstöcke und Handschellen. Gaffende Kinder. Der Besitzer mit Polizeihemd und Sachkunde, knarrend auf und ab der Besitzer. Hausfrauen auf dem Heimweg. Vorher im Aldi, im Bilka, im Schade den heutigen Tag eingekauft und jetzt hier die Bildzeitung und dazu die neue Hörzu, Gong, Sieben Tage, Das Grüne Blatt (wie die Zeit vergeht) und mit der Frau des Besitzers über die Preise und über Krankheiten. Das Fernsehprogramm, der Blutdruck und daß sie wieder nicht wüßten, was kochen; gestern auch schon nicht.
Die Leipziger Straße entlang, vor bis zur Warte. Auf dem Hessenplatz immer Kinder. Von oben, vom Fenster aus (aus der Vogelperspektive) winzigklein eine Hinterhoftankstelle, wo nie einer tankte und sie nur den ganzen Tag jeden Tag Autos zurechtfrisierten-hämmerten-schweißten und umspritzten, geschickte finstere Levantiner. Die ersten paar Tage gingen wir jeden Schritt Wegs zusammen, Sibylle und ich.
Nach vorn der Hessenplatz und gleich um die Ecke die Leipziger Straße. Damals noch mit ganzen Ansammlungen von Milchläden, Obsthändlern, Zeit, Wespen, Spätsommer, sonnigen Vormittagen, Obst und Gemüse. Auf und zu die Ladentüren, hell das Licht von draußen herein; Glöckchen bimmeln. Auf jeder Türschwelle die Erinnerung und eine Morgenkatze, die sich für die Erinnerung putzt. Blaue Katzen. Mit dem Tag, mit der Straße vom Morgen an in den hellen Mittag hinein und schon deine kommenden Tage daherkommen sehen. Eine Zeitungsfrau, ein Briefträger, zwei Fensterputzer, Plakatankleber. Zahlreich die Morgensäufer, manche schon jahrelang auf dem Heimweg. Die Schulkinder siehst du heimgehen. Zuerst die ganz Kleinen. Vor einer Apothekentür im weißen Kittel der Herr Apotheker. Und läßt sich Zeit, blinzelt, und putzt seine Brille. Es muß sein Geburtshaus gewesen sein. Vielleicht dazu auch noch sein Geburtstag. Bäcker und Metzger und ihre verzweigten Familiengeschichten wie aus dem Bilderbuch deiner Kindheit. Jedes Ding, jeder Augenblick. Und fangen zu sprechen an, reden mit vielen Stimmen. Und hinter dem Haus, kaum zwei Straßen weiter, die ersten Schrebergärten. Apfelbäume, Brennesseln, Disteln, Hagebutten, Holunder, ein alter Schuppen, Kopfweiden, Pappeln, ein Wassergraben, Wind, Steppengras, eine Sandgrube, Indianerland für die Kinder. Schlehen und Brombeerhecken, Rainfarn, Ginster, der Bahndamm, ein Feldweg, Gras, Blumen, Wind, Vögel, Wolken, ein Fußpfad den Bahndamm entlang und auf dem Bahndamm die Züge nach Norden; die gleichen Züge wie jetzt von der Friesengasse aus.
Um den Hessenplatz herum so viele Kneipen, daß ich sie auch nach einer Woche noch nicht auseinanderkannte, nicht einmal ihre Namen. Hier kannst du jeden Abend mit deinen Gedanken und Notizzetteln von Tür zu Tür gehen, immer ein anderer Mensch. Mittags die Kinderstimmen vom Hessenplatz herauf und meine rote Markise am offenen Fenster. Und nachts die Laternen im Laub der Kastanien und ihr Licht auf dem Gehsteig; jetzt sind wir in der Stadt. Eine fremde Wohnung. Nachts ließen wir Badewasser einlaufen, hörten die Züge fahren und sprachen mit Flüsterstimmen zueinander, Sibylle und ich. In der Küche ein Boiler mit blauen Flämmchen, die hell emporbrannten, viele, während rauschend das Wasser einlief; noch nie zuvor hast du mit so einem Boiler gelebt. Inzwischen hatte ich mit der Reinschrift angefangen und Sibylle fand eine schlecht bezahlte Aushilfsarbeit in einem Büro in der Innenstadt. Mitten im September bleibt sie jeden Mittag stehen, die Zeit.
Ich saß und schrieb. Es gab dort Musik: Radio, Plattenspieler, Cassetten und Tonband. Tagsüber bin ich meistens allein in der Wohnung. Mein Freund Jürgen kam. Er brachte einen Glaskrug voll Rum mit, braunes Glas. Laß uns türkischen Kaffee trinken! Wir setzten gleich Wasser auf. Ich zeigte ihm, obwohl er das alles schon kannte, noch einmal die elektrische Schreibmaschine, geliehen. Sieht sie nicht aus wie zum Fliegen gemacht? Hier meine Freude, den Tisch am Fenster und die rote Markise! Mittag, das Fenster offen, vor dem Fenster der Hessenplatz. Ist er nicht auch wie eine friedliche Mittagsbucht und ich hier wie auf einem Felsen, wie auf einem Schiff? Hier siehst du mich sitzen. Rot wie ein Segel die Markise im Wind. Sie bläht sich, sie rauscht immerfort und um mich her, wie vom Meer herein, im Zimmer die Lichtflecken, wie sie zittern. Wie auf dem Meeresgrund. Sitzen und schreiben. Links von der Schreibmaschine mein Manuskript, die vorletzte Fassung. Wie ein Koffer so groß, wie ein Meßbuch, ein Gedenkstein, ein Ungeheuer und liegt da. Wahrhaftig, wie eine Grabplatte und mit meinem Namen drauf. Jetzt scheint es doch noch ein Buch zu werden (ich zeigte ihm, wie ich sitze).
Und hier rechts kommt Seite um Seite die fertige Reinschrift hin, den Platz extra freigeräumt, siehst du. Bei der Musik auf Cassetten und Tonbändern weiß man nie, was als nächstes kommt. Genau wie im wirklichen Leben. Damals trank ich noch. Bis der Kaffee fertig ist, wollen wir umsichtig schon ein bißchen Rum trinken. Weil es so heiß ist, in ganz kleinen Schlückchen. Wie aus einer Piratengeschichte der Glaskrug mit seinem Korken, wo hast du ihn her? Es ist heiß, die Markise rauscht und das Licht zittert; vor dem Fenster die Kinderstimmen. Gleich ist der Kaffee fertig, türkischer Kaffee, und wie gut die Zigaretten, der Glaskrug, der Rum und der heutige Nachmittag dazu passen. Genau wie vor vielen Jahren einmal in Marseille und einmal in Istanbul, so sitzen wir hier. Und immer noch unterwegs. Es ist heiß. Wir sitzen und hören die Züge fahren. Musik, das sind doch die Rolling Stones: Take me to the station, und viele Vergangenheiten. Barfuß. Vorher beim Schreiben die Schuhe aus – wo sind jetzt die Schuhe? Mitten im September bleibt sie jeden Mittag stehen, die Zeit. Noch warm die Mauern, die Steine. Haben auch ihren Sommer. Mitten in unserem Leben sitzen wir und sehen uns sitzen und rauchen und trinken. Bis es Zeit ist, im Vorabendtrubel die Leipziger Straße entlang Sibylle entgegenzugehen, dann mit ihr im Gegenlicht.
Am Abend die Fremde. Mit ihr, mit Sibylle die Straßen, die fremden Kneipen, Wein, Schnaps, Haustüren, Mauern, Sonnenuntergänge, Müdigkeit, sie und ich, und hinter jeder Straßenbiegung eine neue, eine andere alte Welt. Viele Stimmen. Noch vom Krieg diese Abendruinen.[*] Buden, Baustellen, die Fabrikstraßen hinter dem Westbahnhof, Lagerhäuser und Speditionen. Der Römer, der Eiserne Steg, die Strömung, das Licht auf dem Wasser und du selbst ja als Kind schon verlorengegangen. Der Industriehof, ganze Stadtviertel von Mietskasernen und die S-Bahn als Hochbahn, Eisenbahnbrücken.
Einen Sonntagmorgen bei uns in der Straße ein ehemaliges Kino, ein alter Versammlungssaal, noch aus der Kaiserzeit. Vor dem Eingang eine breite Treppe, ein Vordach. Noch die Schaukästen mit den alten Fotos und Filmplakaten. Mit Samt ausgeschlagen. Samt, Staub, tote Fliegen. Der Samt verblichen, die Plakate verblichen, die Fotos wie blind. Eintrittspreise und Vorstellungsbeginn. Parkett, Loge, Sperrsitz und Spätvorstellung, das hat es alles gegeben. Ob sie für den Anfang ein Glöckchen hatten? Für jede Vorstellung, für die Zuschauer? Damit die Leute wissen, jetzt fängt es gleich an? Es kann noch nicht so lang hersein, seit sie mit der letzten Vorstellung aufgehört haben. Die leere Straße, Sonntagmorgen, wir standen und wunderten uns.
Ein alter Mann kam und blieb bei uns stehen. Jaja, erbaut 1903 oder 1909, mehrfach umgebaut. Dschijilp! Spatzen, eine Horde Spatzen im Rinnstein, die wie die Sonntagmorgenstille auf einer ausgeleierten Schallplatte quietschten. Und er steht da und hält leer die Hände vor sich hin. Ja, sagt er, ja. An jeden Sonntag, an jeden einzelnen Augenblick kann er sich erinnern, jederzeit. Nicht nur wer es erbauen ließ und der Reihe nach die Besitzer, das wechselnde Geschick der Besitzer und was für Zeiten das waren, jeden einzelnen Maurer und Handlanger hier auf dem Bau kann er uns noch mit Stundenlohn, Namen und Lebenslauf. Hier in der Sonne am hellen Morgen. Eine neue Fuhrmannsmütze hat er auf und die Schuhe blankgeputzt, Sonntagsschuhe. Wer den Mörtel angerührt und die Ziegelsteine gekarrt hat, noch jeden einzelnen Sand- und Speisträger kann er uns benennen. Er zeigt uns den Seiteneingang, die Notausgänge, Hof und Garten, eine hölzerne Laube, einen Laubengang, Kieswege und da unterm Vordach die seinerzeitigen Sonntage. Aufgestapelt wie zerbrochene alte Gartenstühle und zu nix mehr jetzt zu gebrauchen. Zierbäumchen, die kugelrund zurechtgestutzt waren und wie sie sich verwachsen haben. Ihre Schatten genauso. Mit der Zeit, mit der Zeit. Einmal die Rosa Luxemburg! Hat hier eine Rede gehalten, er wußte auch noch das Datum. Bevor er geht, stopft er sich eine Pfeife und ich geb ihm Feuer. Und sind stehengeblieben, Sibylle und ich, in einem abgenutzten staubigen Sonntagslicht. Stehen immer noch, stehen wie in unsrem Gedächtnis auf einem alten Bild, elf Uhr morgens, und als müßten wir und der Sonntag, die Gegenwart, dieser jetzige Augenblick jahrelang hersein. Jahrzehnte. Er kam zurück. Dann Bier, sagt er, Bier getrunken, die Rosa Luxemburg mit den Arbeitern und Genossen. Weil sie recht gehabt hat, nach ihrer Rede im Hesseneck Bier getrunken. Wo jetzt der Grieche drin ist als Wirt und deshalb die Türen und Fenster blau. Das ganze Haus blaubemalt, sagt er und grüßt noch einmal und wir nickten.
Bei uns gegenüber, zwei Stockwerke tiefer, eine Reihe von Fenstern mit blaßroten Vorhängen und wie sie mich jeden Abend an meinen ersten Sommer in Paris erinnern. Im Juli 1961, da war ich achtzehn. Ich hatte eine Rückfahrkarte, gültig zwei Monate. Ich hatte ein Hotelzimmerfenster, das bis auf den Fußboden ging. In der sechsten Etage. Davor kaum kniehoch ein verschnörkeltes Eisengitter. Das Fenster offen. Du rückst den Tisch ans Fenster. Beinah als ob du in der Luft sitzt, so hoch, so viel Himmel. Die Rue du Général-Lanrezac ist eine ruhige kleine Querstraße im XVII. Arrondissement, nur eine Ecke weit vom Étoile. Abends saß ich am Fenster und rauchte und schrieb oder malte Aquarelle im Lampenlicht und in der Straße wurde es dunkel.
Erst Juli und dann August. Jeden Sonntagvormittag ein Mann mit einer Zinkwanne voll Rosen auf den Schultern. Sogar von der sechsten Etage aus siehst du, daß er vom Land kommt. Die Straße führt sanft bergab. Er kam von der Avenue Carnot her. Er ging von Haustür zu Haustür und sang in die Häuser hinein: Rosen, schöne Rosen, ganz frisch! Ich konnte kein Wort Französisch, aber ich kannte jede Straße in jedem Stadtviertel von Paris und Paris gehört mir. Ich kannte dort keinen Menschen und hätte doch bleiben wollen für immer. Ich hatte nicht genug Geld und meine Zeit ging zuende. Ich lebte von Weißbrot, Käse und Weintrauben, die Zigaretten sind billig, und mußte viel Wasser trinken; meine Tage sind lang. Abends saß ich am Fenster. Sobald die Lichter angingen, wurde jedes fremde Fenster mir zur freundlichen Heimstatt. Wie eine liebe Familie. Von außen, ich kannte sie alle. Ich könnte jetzt noch beschwören, daß damals schräg gegenüber, zwei Stockwerke tiefer, genau solche Fenster waren, die gleichen wie hier. Ob es Franzosen sind, die da wohnen? Ob sie 1961 im Sommer in Paris im XVII. Arrondissement in der Rue du Général-Lanrezac auf der anderen Straßenseite gewohnt haben, schräg gegenüber, und dort jeden Abend die Vorhänge zuzogen und jetzt hier? Die gleichen Fenster, die gleichen Vorhänge, die gleichen Lampen und dazwischen die Zeit. Wer sind sie? Wo sind sie gewesen? Tapeten und Teppiche nicht zu sehen, doch hätte man sie sehen können, ich hätte sie augenblicklich wiedererkannt! Genauso die Ecke des Bilderrahmens, den Spiegel, den Abglanz des Abends über dem Spiegel und die gedrechselten Füße von Lampe und Beistelltischchen im Lampenlicht auf dem Teppich und mich und die Zeit!
Das gleiche Radioprogramm, längst verjährt. Das gleiche alte französische Liebeslied, erst im Radio und dann auf einer Schallplatte. Sogar noch bei mir selbst die Stille in meinem Gedächtnis hätte ich wiedererkannt. Mittags das gleiche milde Licht auf der Hauswand. Ich erzählte Sibylle davon. Ich zeigte es ihr, ich mußte es ihr immer wieder vom Fenster aus zeigen. Zu jeder Tageszeit. Mehrmals täglich fast aus dem Fenster, kopfüber! Aber oft auch mit ihr die Straße hinauf und hinunter, eigens um das Haus und die Fenster, die Vorhänge und das Leben von allen Seiten betrachten zu können.
Abends am meisten. Abends ist es am besten, das heißt am schlimmsten, also am deutlichsten, siehst du! So eindringlich, daß man sich betrinken muß, nur um es auszuhalten! Ich sehe die Fenster an und bin wieder achtzehn. Paris und mein erster Sommer in Paris. Jeden Tag wieder die Fenster ansehen und sich hineinreißen lassen. Ich konnte nicht aufhören, davon zu sprechen! Wie ein Kratzen im Hals. Dauernd muß man sich räuspern und kann keine Ruhe finden. Auf jedem Heimweg am Ende jedesmal noch einen Umweg, einen Bogen, nur um die Fenster zu sehen. Als ob du es bist, die da wohnt. Als sei ich es selbst, der da wohnt! (Soll ich rufen? Nach wem? Nach mir selbst? Nach mir und der Zeit? Fremde Menschen!) Und ganz zuletzt jede Nacht von unserem Nachtfenster aus noch einmal, sonst wäre der Tag nicht gewesen. Und dann einen Sonntagabend schon spät im September brach hinter den Fenstern ein Feuer aus und die Vorhänge brannten, die ganze Etage brannte. Die Feuerwehr mit Sirenen und Blaulicht mit drei großen Wagen.
Mit ihr, mit Sibylle nach Sachsenhausen und auf Schritt und Tritt ihrer Kindheit begegnen. Wir kannten uns seit drei Jahren. Immer noch dabei, uns unsere Leben zu erzählen, viele Geschichten. Wir gingen und suchten die Häuser, Haustüren, Bäckerläden, ihre vergangenen Tage und Schulwege auf. Mit bunter Kreide ein Hickelspiel, Himmel und Hölle. Hier und dort und auf vielen Wegen, da kommt sie. Allein, ein aufrührerisches gottverlassenes Kind mit Pferdeschwanz, Sandalen und Faltenröckchen. Und ihr Schatten, acht Jahre alt, wie er mit ihr hüpft auf dem leeren sonnigen Gehsteig. Vor zwölf, vor gut vierzehn Jahren, rechnest du aus, und da kommt uns wie die Vorhölle mit offenen Türen und ausgebreiteten Armen groß und breit eine geschwätzige Frankfurter Eckkneipe entgegen, in der sie als Kind oft ihre Mutter gesucht hat. Gespenster. Der Südbahnhof und die Darmstädter Landstraße. Lang ein Güterzug fuhr über die Brücke. Beim Lokalbahnhof den Bahndamm entlang eine Reihe von finsteren alten Abbruchhäusern, die schon als Ruinen dastanden, die Bahnkolonie. In ihrer Kindheit ein fremdes Land.
Immer hat es hier Mord und Totschlag gegeben. Bedrohung, Geschrei, Durcheinander, keifende Frauen und schon am frühen Morgen für den Rest ihrer Tage betrunkene Männer. Und was ist aus den Kindern geworden, mit denen die Kinder nicht spielen durften und sich die meiste Zeit auch gar nicht getraut hätten? Noch das Gerümpel der Vorzeit, Holzschuppen, Fahrradschuppen, halbe Fahrräder, Teerfässer und Kaninchenställe im Hof. Hat so viel Stille sich angesammelt und Zeit. Alle Fenster und Türen blind, leer, vernagelt und zugemauert.
Und beim nächstenmal, wenn du vorbeikommst, komplett ein Einkaufszentrum, vier Supermärkte und 29 Boutiquen. Sportartikel, Hallenbad, Sauna, Solarium und Fitness-Studio, aber auch Altenpflegeheim, Kindergarten, Sozialstation, Drogenberatung und die Sonne abgeschafft, Glashimmel. Zwei Bürohäuser mit je acht Etagen à 2224 qm. Banken, Sparkassen, Reisebüro, Service-Center und 48 gehobene Eigentumswohnungen mit Tiefgaragen, Zinsknechtschaft und Vorfinanzierung, und wer bist du dann? Ein Güterzug fuhr über die Brücke. Die meiste Zeit Abend. Scharen von Mauerseglern und ein Meer von Abendhimmel vor jeder Tür. Die nächste Eckkneipe. Im Stehn einen Schnaps an der Theke. Noch einen Schnaps und gleich weiter. Schon spät, doch auf Schritt und Tritt noch der Singsang spielender Kinder.
Im Bahnhofsviertel, in Bockenheim, Bornheim, im Ostend und in Sachsenhausen. Überall damals noch Ruinen und Abbruchhäuser, in denen arme Leute, Studenten, Wohngemeinschaften, Künstler und Narren und Ausländer wohnten. Fremd, einsame wortlose Männer mit dunklen Augen, die meisten sind Kettenraucher, und Familien mit vielen Kindern. Allgegenwärtig die Kinder und weit in den Abend hinein hell ihre Stimmen in den verdämmernden Gassen, Höfen und Haustoren. Ganze Stadtviertel von Mietskasernen, ganze Stadtviertel längst auf Abbruch verkauft. Auf dem Kurfürstenplatz beim Brunnen die Frauen und Kinder. So spät noch und werden bald heimgehen jetzt. Und vier alte Männer, Zementstaubgesichter, Hände wie Dachziegel, krumme Rücken. Und sitzen nebeneinander auf einer Bank wie Brüder in einem fremden Land. Müd jetzt am Abend. Müd und krumm, jeder anders krumm, aber immer noch unbesiegt. Und vor ihren Füßen Boccia-Kugeln, die sind einen weiten Weg gekommen.
In der Seestraße ein niedriges altes Haus. Mit Balken abgestützt, krumm und schief. Und sinkt mählich so weg und wird zur Ruine. Im Erdgeschoß ein Zimmer mit drei Fenstern zur Straße. Die Dämmerung, eine grüne Lampe am Abend und Frauen mit Kopftüchern, die bei der Lampe um einen niedrigen Tisch herum sitzen. Eine mit einem Säugling im Arm. Im Hof zwei Männer, zwei eilige stumme Schatten, die im Licht einer Kabellampe (die Schnur ist zu kurz) mit Eifer an einem alten Fordbus arbeiten. Als müßte er heute noch fertigwerden, sie wüßten sich sonst kein Fortkommen und keinen Ausweg. Gegenüber eine Tankstelle, da sind sie am Zumachen. Kinder rannten vorbei und im Dunkeln ein fremder Wind. In Edirne, sagte ich zu Sibylle, und Skopje, kannst du dich an uns und an Skopje erinnern? Wie vor dreitausend Jahren eine ferne mazedonische Vorzeit oder erst gestern? Kinder mit Holzschwalben an langen Stangen und wie sie sie durch die schwankenden Abende vor sich her tragen. Blau die Gassen. Abendfeuer und Rauch. Und jetzt hier in Frankfurt. Fremd in der Dämmerung, fremd und mit großen Augen. Wohin, wo gehen wir hin? Ich hatte ein handliches kleines Fläschchen mit Ouzo, mit Rum, Cognac, Wodka mit. Mit Schraubverschluß, immer gut ausspülen. Einunddasselbe Fläschchen für jeden Weg, ein Fläschchen zum Nachfüllen. Und mir war, als ob wir schon ein ganzes Leben lang, sie und ich, abends durch fremde Gassen gingen. Wie am Ende ein einziger langer Abend und wir immer auf den Horizont zu.
Die Reinschrift. Ich und die Reinschrift. Am Nachmittag wie jeden Nachmittag die fertigen Seiten gezählt (mein ganzes Leben im Gedächtnis und unterm Fenster die Kinder) und dann über den Hessenplatz und die Leipziger Straße entlang, Sibylle abholen. Heimkommen und ins Bett und als wir aufstanden, war es schon dunkel. Am offenen Fenster, wer bin ich, wie spät wird es sein? Abends, nachts die Laternen im Laub der Kastanien und ihr Licht auf dem Gehsteig; bald Herbst. Und unter den Bäumen die Straße entlang die Schritte, die du jetzt hörst, das sind vielleicht unsre eigenen; wo denn hin? Um den Hessenplatz herum und um die nächsten paar Ecken in die angrenzenden Straßen hinein jeden Abend wieder so viele Kneipen, daß wir sie auch nach drei Wochen noch nicht auseinanderkannten, noch nicht einmal ihre Namen. Daß du denkst, am Abend gehen die Kneipen im Reigen. Rings um den Platz immer wieder herum, griechische, deutsche, türkische, jugoslawische, spanische und italienische Kneipen, alte und neue Kneipen. Und die Straßen auch: haben sich in Bewegung gesetzt, fangen zu wandern an. Kommen da um die Biegung herum und bedächtigen Schritts dir entgegen, die einen. Und die anderen vor dir her und locken dich, winken mit vielen Gebärden, daß du aufmerkst und mitkommen sollst und mit ihnen dahin und dorthin und am Ende auf und davon.
September. Mittags noch Sommer auf allen Wegen, jeder Mittag eine leuchtende Ewigkeit. Und so kühl jetzt am Abend. Nach Rauch riecht es. Und wie das Laub raschelt; bald Herbst. Einen Zug hörst du fahren und weißt nicht, wie spät es ist. Sibylle mit vielen kleinen Parfümfläschchen vor dem Spiegel, Gratisproben. Ich hatte sie beim Aufstehen damit bedrängt, daß sie jetzt gleich mit mir kommen, wo ist der Tag denn hin?, daß sie ihren dünnen blauen Cordmantel anziehen soll und nichts drunter! Oder höchstens kaum ein bißchen Unterwäsche und Strümpfe und so mit mir durch die Kneipen am Abend. Das ist nicht meine fixe Idee, was denkst du, sondern nur weil der Mantel so schmal ist, daß man sowieso immer denken muß, du bist unter dem Mantel zu jeder Zeit nackt. Jede Kneipe ein Spiegel; bald drei Jahre, seit wir uns kennen. Und von Kneipe zu Kneipe sollst du mir geile Geschichten erzählen! Ist dir auch nicht zu kalt? Sprich weiter! Erzähl! Sobald wir stehenbleiben und sehen uns an, gleich merken wir, daß wir Hände haben und Augen und Lippen. Hier im Lampenlicht unter den Bäumen. Unser dritter Herbst. Rings um den Hessenplatz, aber auch in den Jazzkeller. Gibt es das alte Storyville noch? Hinter dem Affentorplatz in Sachsenhausen neu eine Kellerkneipe, die Globetrotter heißt. Gleich als ich den Eingang zum erstenmal sah, war mir als ob ich sie kennen müßte. Als ob ich erst kürzlich davon geträumt und was mag es damit für eine Bewandtnis? So viele Kneipen, daß du dich darin selbst kaum wiedererkennst. Fremd jederzeit, ein Fremder, überall fremd.
Das Schöne an ihrer Aushilfsarbeit war, daß es ging, daß sie ab und zu außer der Reihe einen Tag freihaben konnte. Ohne Bezahlung. Und daß die Bezahlung so schlecht war, daß wir uns jederzeit leicht vorzurechnen vermochten, wir könnten uns das auch ab und zu leisten: ihre eigene Zeit. So fuhren wir zweimal in die Pfalz. Einmal mit Edelgard und einmal mit Jürgen. Seit sie sich getrennt hatten, mußten wir uns und die Tage und Anlässe mühsam verdoppeln und mit jedem einzeln dahin und dorthin. Noch unser großes altes Auto, ein Vorwand ist leicht zu finden. In Mainz, in einem Vorort von Mainz, in einem Dorf bei Mainz, hinter Mainz, da herum muß es ein Altkleidersammellager vom Roten Kreuz, heißt es, soll es da geben. Vielleicht auch gegeben haben. (Wo geht die abgetragene Zeit denn hin und wohin all das alte Zeug?) In einer Lagerhalle, in einer großen Scheune, vom Hörensagen. Berge von frischgereinigten warmen Jacken und alten Pullovern. Spottbillig, es geht nach Gewicht. Für einen guten Zweck also und wie immer der Winter stand vor der Tür.
Zuerst mit Edelgard. Sie und ihr Sohn Besino seit der Trennung in einer Frauenwohngemeinschaft in der Gartenstraße in Sachsenhausen. Vier Frauen, alle mit Bafög, und es wurde Mittag, bevor wir abfuhren. Edelgard in einem graugrünen Pullover und engen Jeans, Sibylle hatte ein kurzes hellblaues Kleid an. Das Kleid war schon alt, verwaschen und himmelblau. Mir zur Freude zog sie es an. An diesem Tag war der Himmel bedeckt.
Wir fanden das Dorf und die richtige Scheune. Am Tor ein Schild, ein Stück Pappe: Bin bald zurück! Sieht das Schild nicht so aus, als ob es immer da hängt? Zumindest seit vielen Jahren? Die Dorfstraße und kein Mensch. Alle Hoftore zu. Ein Bäcker, ein Metzger, ein Edeka-Laden. Beim Bäcker schon zu. Beim Metzger wollten sie eben zumachen über Mittag. Bevor wir zu warten anfangen, erst ein Stück Wurst jeder. Gleich in die Hand die Wurst und zum Abbeißen. Ein Stück Brot dazu, eine Salzgurke. Da ist ja ein Mäuerchen zum Draufsitzen. Das Dorf steht und blinzelt. Friedfertig ein Hund kommt und sieht uns beim Essen sachkundig zu. Gleich fallen dir all die Handlangerarbeiten, Frühstückspausen und Abenteuer ein, bei denen du auch so ein Stück Wurst direkt aus der Hand: aufgewachsen in Deutschland und die Wurstzipfel für den Hund.
Dann in die mittagsleere Dorfkneipe mit den grünen Läden und einem Ochsenkopf über der Tür. Sibylle und Edelgard mit mir und beide sehen mir zu, wie ich erst einen Korn trinke und dann noch einen Korn. Ein langes Leben. Die Wirtsmutter sieht mir auch zu. Tagsüber ist sie allein daheim. Der zwote Korn dann ein doppelter, klar. Der Bierhahn tropft. Wie spät mag es sein? Zu viert den Fliegen zusehen: wie sie teils fliegen, teils kriechen, die Fliegen. Sind Kneipenfliegen und sind so viele.
Dann der Lagerverwalter auf einem Moped und macht das Tor auf. Gleich Berge von alten Kleidern und er erklärt uns, wie sie sortiert sind. Als ob du in haufenweis abgelegten Leben sollst wühlen und suchen und kramen. Zuerst ist lang nichts zu finden für uns, doch immerhin zahlreiche Einfälle, sagst du dir. Eigentlich Rauchverbot, klar! Aber wenn, dann mit Vorsicht, klar! Seinerseits raucht er Stumpen, zieht einen Kamm heraus und kämmt sich im Gehen, ein grauer Kittel. Schon jahrelang kämmt er sich so. Was er allein schon an Zeit sich dabei erspart hat! Und dabei immer orn-lich! Angesichts all der Sachen, die wir nicht wollten, mir ausdenken, wie ich mir das Altkleidersammellager vorgestellt hätte, wenn wir es nicht und nie hätten finden können, jahrelang nicht. Zu dritt. Beinah einen älteren nachtschwarzen Schal gekauft, dann aber doch nicht. Keiner von uns! Der Lagerverwalter hätte gern gewußt, wie es ist mit zwei Frauen gleichzeitig. Auch noch so schöne! Sonderpreise, sagte er und ließ uns nicht aus den Augen. Kindersachen für Besino, jetzt ist er acht, und gleich für noch ein paar Spielgefährten. Für mich eine Weste. Aus schafwollfarbener Schafwolle, keine Knöpfe und ziemlich klein. Gehäkelt, eigentlich wie eine Bleistiftskizze nur die Andeutung einer Weste. Nur so um die Achseln herum und um Schultern und Rücken knapp zu bedecken.
Beim Schreiben jedesmal wird dir heiß von den Wörtern, sogar in der Kälte. Jacken ja sowieso, aber auch jeden Pullover mußt du dir ausziehen. Das Hemd auf, dir den Bauch reiben und die Haare raufen. Erst an und dann aus den Pullover. Kein Schal da? Wo ist jetzt die Jacke? Schrittweise hin und her. Aus jedem Wort gleich ein Amulett, aus deiner Ergriffenheit ein Gemurmel; wenn du allein bist, gedämpft ein großes Geschrei, ein Gefuchtel, allwissend und allgegenwärtig. Das Hemd aus der Hose zerren und im übernächsten Moment fremd und wortlos ein Zittern und Zagen. Gesichter schneiden, es nicht einmal merken und unentwegt frieren. (Immer auch über den Kopf an und aus die Pullover und wie das beim Denken stört!) Gerade dafür und dagegen schien sie gemacht, diese Weste. Und gegen Rückenschmerzen, verspannte Schultern und einen steifen Nacken. Und wie für Gedanken- und Fingerspiele die Häkellöcher. Und ist dir ein Halt und läßt sich dehnen, wenn du sie anhast. Mit sanftem Gegendruck ziehen und dehnen, jedesmal neu. Egal was du schreibst, paßt immer! Wir nannten sie fortan mein Schriftstellerjäckchen. Entweder ich zog sie beim Schreiben an oder sie hing in Bereitschaft auf der Lehne von meinem Arbeitsstuhl, auch da noch gut gegen Rückenschmerzen (wie ein bewährtes Gebet, reine Schurwolle).
Auch für Sibylle die Weste, aber immer nur höchstens leihweise. Wenn sie im Herbst, in den Winter hinein Gitarre spielt, abends. Wenn sie Briefe und Tagebuch schreibt und Porno-Geschichten für mich. Genau nach Maß die Geschichten, und ich seh ihr dabei zu. Edelgard jetzt mit einem Jeansrock mit Schlitz, den sie an sich hielt. Paßt er? Bis wohin der Schlitz? Wie soll der Lagerverwalter das aushalten? Und im letzten Moment einen dicken alten Pullover, handgestrickt, den ich dann einen schweren Winter lang jeden Tag anhatte. Bis zum letzten Kapitel. Man könnte auch darum noch streiten, mit sich selbst darum streiten, ob dieser Pullover dunkelrot oder braun? Tee mit Rum, Grog und Glühwein trinken, im Lampenlicht, lange Abende, die sich rund in den Gläsern spiegeln, rotbraungold, und den ganzen Winter lang darum streiten (am Ende des Winters, an einem düsteren schweren Vormittag, zerfiel der Pullover zu grauem Staub – der Staub wie ein Häufchen überzähliger Satzzeichen). Der Lagerverwalter als Waagemeister. Am Ende kostet alles zusammen eine Mark zehn oder eine Mark vierzig. Am liebsten hätte er uns zur Beobachtung dabehalten. Noch beim Bezahlen sah er uns beschwörend an: daß wir hierbleiben und es vor seinen Augen treiben sollten! Auf diesen Bergen von alten Kleidern, allesamt frisch gereinigt und gut sortiert. Für einen guten Zweck. Waschbecken, Waage und Radio vorhanden. Wir können im Hof parken. Sollte uns etwas fehlen, wird er gleich das Schild ans Tor hängen und auf dem Moped losreiten. Was das Herz begehrt. Jetzt ist er vierundzwanzig Jahre vorbildlich verheiratet. Geht es so oder soll er uns eine geschmeidige bildhübsche Plastiktüte? Untröstlich! Auf Wiedersehn, dann gegangen.
Der Hund hat auf uns gewartet. Er geht mit bis zum Auto. Und wie höflich er sich vorhin bedankt hat, bei jedem von uns für jeden Wurstzipfel einzeln höflich bedankt. Drei im ganzen, so ein menschlicher Hund. Den ganzen Morgen war der Himmel bedeckt, aber jetzt ist doch noch die Sonne durchgekommen und da wird vor unseren Augen der Kaufladen wieder aufgemacht, Edeka. Umständlich jetzt eine Flasche Wein aussuchen, die erste für heute. Korkenzieher im Auto, im Handschuhfach. Weitgereist ist dieser Korkenzieher. Und wenn wir schon links vom Rhein sind, gemächlich weiter im zwoten Gang und von Dorf zu Dorf. Heidesheim, Ingelheim, Wackernheim und dann Richtung Nierstein, Richtung Alzey, Richtung Bad Kreuznach, überall sind wir richtig. So viele Blicke trägt jeder zeitlebens auf sich herum. Das Dorf steht und blinzelt. Der Hund hat sich am Straßenrand aufgestellt, damit er uns als Hund traurig nachsehen kann, wie für immer.
Ein paar Tage später mit Jürgen noch einmal den gleichen Tag. Diesmal ganz ohne Vorwand, höchstens daß wir das Altkleidersammellager vom Roten Kreuz, den kommenden Winter und die Zeit, wie die Zeit vergeht, die Vergänglichkeit, leider, wie Bauchweh, das Herz, ein Ziehen am Herz, wie Zahnweh mit Honig, die dumme Vergänglichkeit beiläufig erwähnen. Von Dorf zu Dorf, es war heiß. So leicht, beinah andächtig fuhr mit uns das Auto an diesem Tag und suchte sich sacht seinen Weg, als ob es nicht schon vor einem Jahr auf unserer großen Reise durch zehn Länder jeden Tag hätte zusammengebrochen sein können für immer. Wir auch andächtig mit uns selbst auf all unsren Wegen. Und der Sommer, als ob er diesmal doch bleiben wollte, so ein Sommer ist das. September. Die süßen Pflaumen, die Brombeeren, Äpfel und Birnen und auf den Hängen siehst du ihn gemächlich reifen, den Wein. In der Hitze, im hellen Licht. Noch einmal die Gegend zwischen Mainz, Nierstein, Bad Kreuznach und Alzey. Da sind solche Hügel, da liegen die Dörfer so zwischen den Hügeln, da liegt so ein Mittagslicht auf den Hügeln. Sowieso im September bleibt sie mittags oft stehen, die Zeit.
Zwischen den Hügeln und über die Hügel, auf Seitenstraßen und Erntewegen. Von Dorf zu Dorf und den Wein kosten, laß dir Zeit! In den Höfen ist Schatten. Nur eben ein bißchen blau und als hätten wir Zeit im Überfluß, jederzeit, ein begnadeter Zustand. Unwillkürlich fängst du zu lächeln an. Jeder Weinbauer wird sich die Zeit nehmen und uns seine Jahrgänge, Reben und Lagen erklären und warum eh und je die Äcker so heißen. Familiengeschichten und Geschichten wie aus der Bibel. Die Frauen und Mütter kommen und stellen sich mit verschränkten Armen dazu. Wie auf alten Bildern und im Hintergrund drängen sich Kinder. An diesem Tag war mir, als ob ich sie alle aus den nahen und fernen Kindheiten vieler früherer Leben kenne und sie mich auch. Und genauso die Dörfer und Hügel, die Höfe und dazu jede Tür, jeden Zweig, jeden Winkel. Als ob du ein Bild betrittst, das du eh und je kennst. Augenblicke. Hier eine Flasche und dort eine Flasche, die nehmen wir mit. Im Auto mein Korkenzieher, im Handschuhfach. Blau wie ein altes Sommerkleid ist der Himmel. Gemächlich die Straße: fängt an zu fahren. Und wir weiter bei jedem Schluck und von Dorf zu Dorf die Brunnen, die Hoftore und die Kirchtürme grüßen und sie mit den Brunnen, Hoftoren, Kirchtürmen auf den Weinflaschen-Etiketten und in unsrem Gedächtnis vergleichen, ein einziger langer Tag.
Vorher in Oppenheim. Der Marktplatz, der Brunnen, das Rathaus, die alte Kirche. Mittag, die Häuser mit Schlafgesichtern. Die Schlafgesichter der Tauben. Du gehst und hast keinen Schatten (beinah keinen Schatten). Wie oft schon mit der Fähre über den Rhein gekommen, wie in alten Zeiten. Weithin dein Leben und die Rheinebene weißt du hinter dir leuchten und alles an seinem Platz, den Kühkopf, die Tage, die Schiffe, die alten Handelsstraßen. Aus Rom durch das Mittelalter und bis in die Gegenwart. Mittag, der heutige Tag. Haben Glocken geläutet. Schiffe auf dem Fluß. Und schleppen die Zeit mit sich mit. Es ist alles da. Und Tag und Nacht Eisenbahnzüge die Rheinebene hinauf und hinunter, mit schwingendem Schienenschlag. Wie es scheint, alle paar Jahre wieder kommst du hierher, nur um dir selbst zu begegnen. Weiter oben am Berg weißt du lang schon ein altes Haus, da könntest du jeden Tag hinter dem Giebelfenster sitzen und schreiben, Jahre und Jahre. Und ein Stück weiter bergauf noch ein zweites. Mit Turm und Erker, beinah schon ein Schloß, hinter hohen Bäumen. Da auch, aber gleichzeitig oder wie? Oft in der Pfalz ein Himmel wie auf alten Heiligenbildern.
Am Abend zurück in Frankfurt. Gleich mitten im dichten Verkehr, gleich alles vielzuschnell. Mehrfach im Kreis um einen hohen Turm, der mir bekannt vorkam (weil er der Bockenheimer Warte ähnlich, aber nicht zum Verwechseln ähnlich). Autos hupten, die Kupplung ging falsch. Die Autos in Viererreihen; Zeitungsverkäufer, und eben wechseln die Ampeln. Autobusse, Läden, ein Kino und Scharen von Menschen. Die Lichter glühen. Ich wußte nicht, wo wir sind; ich hätte mir gern dieses Bild, Großstadtabend und wie es dunkel wird, in Ruhe betrachtet und eingeprägt, mitgenommen. Stattdessen eingefangen vom rasenden Kreisverkehr, der Turm gafft, und am Steuer nicht genug Hände frei. Sibylle saß neben mir, hatte weder Führerschein noch Fahrpraxis, wußte die Richtung nicht und hätte mir gern den Weg freigeräumt oder sollen wir das Auto hier kentern lassen, uns dort auf die ruhige kleine Insel mitten im Kreisverkehr hinüberretten und zu Fuß weiter? Wovor fliehen, wohin? Dort die Verkehrsinsel mit dem Turm. Wer weiß, ob ich nicht noch Leuchtturmwärter? Als alter Mann Leuchtturmwärter und Tag und Nacht mit dem Meer streiten! (An das Meer muß man glauben!) Da kam mein Freund Jürgen auf dem Rücksitz endlich zu sich und beugte sich vor, um uns herauszuhelfen. Er war vor Darmstadt schnell eingeschlafen, vorsorglich, weil ihm vor Unfällen auf der vollen Autobahn grauste. Der Eschenheimer Turm, sagt er und zeigt mir, wie ich fahren muß. Sogar wann ich schalten und blinken soll, sagt er mir. Dann halten wir unter den Kastanien vor seinem Hauseingang in der Hansaallee. Nein, wollen jetzt nicht mit, heute nicht! Wir ließen ihn aussteigen und gleich weiter.
Von der Hansaallee in die Basaltstraße. Das war in Frankfurt der erste Weg, den wir mit dem Auto konnten. Aber nur in die eine Richtung, umgekehrt dann noch lang nicht! Sibylle kannte Frankfurt aus ihrer Kindheit. Kam uns eine Kreuzung entgegen und wir hätten uns längst einordnen sollen, vier Fahrspuren in jede Richtung, die Kreuzung vollautomatisch an uns vorbei und Sibylle sagte: Da hätten wir vielleicht links – ihr Blick weit zurück, um uns quietschten gehässig die Taxis – oder halb links oder? Vielleicht sogar zwei Ecken vorher schon? Wo jetzt das Eckhaus steht, stand vorher viel länger ein anderes Eckhaus! Ich wußte nicht, wie man parkt, wenn es eng ist.[*] Wir fanden auch lang keinen wirksamen Gegenzauber gegen die Einbahnstraßen, außer nach Mitternacht. Und jederzeit böswillig streunende Straßenbahnen, die mir wie Eisberge in den Weg, wie Gespensterschiffe, die Spitzen der Eisberge und ich in Gedanken woanders! (Willst du dich aber beim Fahren ein bißchen umsehen oder gar, weil du ein Mensch bist, nach Menschenart eine Geschichte erzählen, ist dir das Auto mit all seinen Teilen, ist mit seiner Ungeduld und Rechthaberei der gesamte Verkehr dir erst recht im Weg!)
Jetzt das letzte Stück Heimweg, es ist eben noch hell. Spät im Sommer, der Tag geht, die Sonne geht abends nach Frankreich. Auf einmal müde und halbwegs blau. Ohne Trost. Wo ist das Licht, wo ist meine Freude denn hin? Schon als Kind wußte ich, daß man sich auf Tagesausflüge nicht einlassen soll: sie gaukeln uns die Ferne nur vor. Und in dem Nachmittagslicht, bevor es vergeht, ist schon unser Scheitern und Sterben beschlossen. Du kommst zurück, dein eigenes Bett – wie ein Sterbebett, wie ein Sarg wird es stets auf dich warten. Vier Wände, der Tag vorbei und alles wie nicht gewesen. Stattdessen fremd in der Fremde, Zigeuner, und fremdbleiben lernen! Wir hätten in einem Dorfgasthaus (muß man vorher sein Geld zählen!), in einer Scheune, im Wald, in einem verlassenen Steinbruch, sowieso im Auto immer ein paar alte Decken zur Hand, den Himmel und als Nachtgebet ein Villon-Gedicht, Korkenzieher, Wasser und Wein, wir hätten im Auto schlafen können. Warum nicht auch ohne Schlaf und morgen noch einmal im Paradies, sagst du dir. Seit der Hansaallee ein Streifenwagen hinter uns her. Durchs Westend die Abendstraßen, unter den Bäumen ist es schon dämmrig.
Am Hessenplatz, noch bevor ich geparkt hatte, versperrten sie uns den Weg. Zu zweit und bewaffnet, sie stellten sich rechts und links an den Türen auf: Ausweise, Führerschein, Fahrzeugpapiere. Sibylle gibt ihnen alles durchs offene Fenster, auch meinen Ausweis, den Führerschein und die Fahrzeugpapiere, und ich beiße in einen Apfel. Die Äpfel lagen auf dem Rücksitz. Sibylle zog an ihrem Kleid, das zu kurz war, verwaschen und himmelblau, ein Minikleid aus vielen vergangenen Sommern. Weil ich sonst kein Wort gesagt hätte, zwangen sie mich, die Angaben im Ausweis laut und deutlich zu wiederholen. Zum erstenmal sprach ich mein Geburtsdatum und sogar den eigenen Namen voller Zorn aus. Direkt aus dem Paradies gekommen und im Zorn den Apfel zuende essen. Viele Lichter im Abend. Ich dachte, ich und das Auto müßten betäubend nach Wein riechen! Sie betrachten die Papiere von allen Seiten und geben sie dann durchs Fenster zurück, jedes Stück einzeln; dann salutiert und gegangen.[*]
Der Streifenwagen fuhr ab. Hinter ihm eine lange Reihe von Autos und keiner wagte zu hupen. Nicht nur meine Fahne hatten sie ignoriert, sondern auch nicht beanstandet, daß mein Name im Ausweis anders geschrieben stand als im Führerschein. Hinter dem Streifenwagen her die Autos der Reihe nach, langsam. Von Kind auf esse ich meine Äpfel ganz, nur der Stiel bleibt am Ende übrig. Jetzt die schwere Arbeit des Einparkens. Ich konnte nie parken. Müd und im Suff erst recht nicht. So eng sind hier die Parkplätze, daß man die Autos hineintragen müßte. Hast du es endlich mit Mühe geschafft und steigst aus, gleich kommen grüßend Scharen von Verbotsschildern daherspaziert und wie kann ein einziges einzelnes Auto so außer der Reihe, nur weil es meins ist, so kreuz und quer und im Weg stehen? Nicht die Äpfel vergessen! Kleine süße Äpfel, die Sorte, die wir als Kinder in Staufenberg Weinäpfelchen nannten. Vom Mittagsrain und wie gut sie riechen. Wenigstens auch hier, sagst du dir am Abend, noch einigermaßen fremd. Kaum erst zwei Wochen hier. Einen Zug hörst du fahren. Bitter und fremd in der Luft ein alter Kellergeruch, sogar hier in der Stadt ein Geruch nach Herbst und Kartoffeln und Rauch. In der Dämmerung, du kennst dich ja selbst kaum, hier vor der neuerdings eigenen Haustür.
Am Abend die Kneipen, die Lichter, die vielen Stimmen. Jeder läßt sich Zeit. Bald wie im Sommer noch, solche Abende. Alle Türen offen. Sie standen vor den Eingängen und auf dem nächtlichen Gehsteig unter den Bäumen. Im Licht der Laternen immer noch grün das Laub und regt seine dichtgefiederten Nachtschatten. Wir wollen uns Zeit lassen. Als sei der Sommer stehengeblieben und kehrt vielleicht noch einmal um. Aus den Kneipen Musik und Gelächter. Fußgänger, Heimwege. Sie standen und konnten sich nicht trennen. Nicht voneinander, nicht vom Leben und nicht von sich selbst. Immer noch einen Tag, einen Abend und bis weit in die Nacht hinein. Ein langer Sommer. Als ob wir uns jetzt erst kennenlernen und doch auch wie ein Karussell. Oft so heimgegangen. Du suchst dir die Jahre, die Namen, die Heimwege in deinem Kopf zusammen, um sie wieder und wieder mit in den Schlaf zu nehmen. Oft so heimgegangen. Und einmal, spät in der Nacht, fängt es wie vorbestimmt an zu regnen, wie für immer.
Immer in Deutschland wird alles anders, weil das Wetter sich ändert. Am hellen Mittag, mitten ins Schreiben hinein, Jürgen mit vielen Zeitungen. Die zweite Woche nach der Schleyer-Entführung. Ein Werktag, eben erst zwölf vorbei. Der Himmel bedeckt. Er hat sich beeilt. Jetzt mit den Zeitungen mit großen Schritten im Zimmer herum und sagt: Ich halt das nicht lang mehr aus! Jaja, sagte ich, laß mich nur diese eine Seite, laß mich hier den Absatz zuende! Willst du einen Apfel? Wo sind denn nur meine Schuhe? Du weißt ja, das soll endgültig meine Reinschrift jetzt! Also die letzte! Wollen wir Kaffee trinken? Türkischen Mokka? Er ging in die Küche. Er kam auch sonst oft in meine Arbeit hinein, aber immer bereit, sich in eine Ecke zu setzen und geduldig das Ende der Zeit abzuwarten. Noch den einen Absatz zuende! Auf dem Tonband die Rolling Stones. Schon fängt es an, nach Kaffee zu riechen. Er liest im Gehen. Er kann sie kaum bändigen, die Zeitungen in seinen Händen. Hin und her. Erst durchs Zimmer, dann mit den Zeitungen durch den Flur in die Küche. Die Markise bläht sich. Es zieht, in meinem Gedächtnis fällt eine Tür zu. Auf dem Tisch, auf dem Stuhl, auf dem Fußboden: überall Zeitungen und der Wind füllt die Seiten. Jetzt endlich mit dem Absatz gleich fertig. Noch heiß der Kaffee (wie in Istanbul) und warum nicht ein bißchen Rum dazu. Mit Vorsicht, in kleinsten Schlückchen. Sowieso bloß ein Rest. Dann Schuhe an und ins Hesseneck zu dem Griechen, die Basaltstraße hinauf, zur Lina oder in welcher Kneipe Wein und Kaffee und Schnaps, bis daß uns der Abend herabsinkt? Nacheinander drei oder vier ruhige Mittagskneipen. Dazwischen ging er noch mehr Zeitungen kaufen und ich versuchte die Zeit im Auge zu behalten (wie hatten beide keine Uhr). Auf einmal keine Zigaretten mehr und bald auch schon Zeit für den Lärm und Wirbel der ersten Abendausgaben. Und daran denken, daß Sibylle bald heimkommt jetzt! Wo sind wir hier? Und wo ist der Tag uns hin?
Die Zeit und die Zeitungen, das blöde Volk und der niederträchtige Staat. Genug, sagt er, am liebsten ein anderes Land. Eine griechische Kneipe mit Wandmalereien in der Florastraße. Sich wiederfinden. Wie spät? Die Tür offen, ein schwerer Himmel. Mir tut der Kopf weh. Es ist windig und kühl. Der Tag wie erstarrt. Wir trinken Retsina. Nicht nur vor der Tür der Rinnstein, der ganze Gehsteig mit Abfall bedeckt. Wir trinken, wir sind die einzigen Gäste. Gleich viele Länder fallen uns ein. Nach all den Gefängnissen, Jahre und Jahre, nachdem ihn der Staat von früh auf beharrlich verfolgt hat: zuletzt dreizehn Monate U-Haft, Einzelhaft, eine offene Rechnung, und seither ermitteln sie noch. Sie hören nicht auf zu ermitteln. Ob du kommst oder gehst, sagt er und zwei Männer mit Hüten und Aktentaschen von draußen herein und packten gleich Brillen und Zeitungen aus. Kreuzworträtsel. So schief und grell die Schafe und Landschaften da an der Wand! Wer mag sie da aufgemalt haben? Die Schafe mit beinah wie Menschengesichtern und Windmühlen auch. Und wie alles dich von der Wand herab anbrüllt, ein grelles Gefuchtel! Der Fiebertraum eines taubstummen Hirten, der haltlos im Gehen schläft, ungewollt in unwegsamem Gelände und scheints auch noch farbenblind! Ölfarben! Aber wer hat die Bilder gemalt? Der Wirt selbst in einem fürchterlichen Delirium (mit Stehleiter) oder ein guter Freund von ihm, ein Verwandter? Wir kamen darauf, daß wir schon einmal hier waren. Klar, sagte ich, wir schaffen das schon! Dann in das Eiscafé in der Friesengasse. Gleich zwei Poliere mit weißen Unfallschutzhelmen und gelben Asbesthandschuhen von draußen herein. Kugelschreiber und Lottozettel. Oder in Wahrheit entlaufene städtische Müllarbeiter, dem Ewigkeitsmüll und der täglichen blauen Frühe entlaufen, in orangeroten Overalls? In der vorigen Kneipe die Wandmalereien. Als seien mit dem schlafenden Hirten, den Schafen, Windmühlen und Horizonten die Wände selbst ins Torkeln geraten! Und die zwo Männer mit Hüten und Aktentaschen in ihren Kreuzworträtseln drin und nicht einen einzigen Blick für die Wände. Dann eine billige Stehpizzeria mit Barhockern in der Adalbertstraße und noch mehr Wein und Espresso. Palmen, Capri, der Vesuv, der Golf von Neapel mit Reißzwecken an der Wand und alles wie in einer Stehpizzeria mit Barhockern in New York. Die Musik auch wie in einer Stehpizzeria in New York. Frank Sinatra. Erst Frank Sinatra, dann Ella Fitzgerald. Warum ist der Wein so billig? Rotwein, Chianti, das Glas für einszehn. Große Gläser. Und wer ist das, an den uns der Wirt hier, der Pizzabäcker jetzt schon seit zehn Minuten mit jeder Bewegung so deutlich erinnert? Zwei amtliche Gasuhrableser mit amtlichen Kontrolleursgesichtern, Aktentaschen und Dienstmützen von draußen herein. Haben Formulare zum Ausfüllen mit. Für die täglichen Arbeitsstunden und für die Überstunden. Autos hupten. Sirenen. Ein Martinshorn. Polizei, Feuerwehr, Krankenwagen. Überall Baustellen. Straßenbahnen direkt vor der Tür vorbei. Himmelhoch dröhnend und klimpernd der Abend die Straße entlang. Hör zu, sagte ich, laß uns jetzt Sibylle abholen und mit ihr das Auto finden. Wenn sie nicht dabei, weißt du ja, gleich verfahre ich mich, das Lenkradschloß klemmt, ich schlafe am Steuer ein. Meistens nur Blechschäden. Sollten noch rechtzeitig Wein kaufen! Mit vielen Lichtern der Abend. Wein und vielleicht auch ein Brot. Dann mit dir in die Hansaallee oder wo du hinwillst, wir bringen dich hin. Du rufst an und spät am Abend dann sehen wir uns. Vergiß nicht, wir können jederzeit alles! Vergiß das bloß nicht!
Nach Sachsenhausen, das muß ein paar Tage vorher. Nachmittags, er rief an und stand auch schon vor der Tür. Nach Sachsenhausen zur Edelgard. Ein Buch, ein Bügeleisen, einen Fön, einen Krankenschein, einen amtlichen Brief, eine Kiste mit Fragen und Antworten. Entweder abholen oder hinbringen, es sei dringend! Warum verstand ich nicht gleich, daß er sie sehen muß, heute, jetzt gleich und ich soll sein Zeuge! Wolkenhimmel. September. Kaum ein Dreivierteljahr, seit sie sich getrennt haben. Ich stand bei der Tür. Mir ist noch schwindelig vom Schreiben, so jäh aufgehört. Nach Osten die Wolken. Und bald auch vorbei der September. Soll er anrufen, vorher anrufen oder nicht? Drei Uhr nachmittags. Er rief an. Ich trank meinen Wein aus. Schuhe an. Ich trank einen Aquavit, sah die Wolken ziehn und wir fuhren gleich los. Gleich zahlreiche Umwege fielen ihm ein. Die Innenstadt läßt uns nicht durch. Er braucht Zigaretten. Aus jedem Wort wird ein Hindernis (dauernd muß er sich räuspern). Ich wußte den Weg nicht, mit dem Auto erst recht nicht. Wir gerieten auf den Untermainkai und fuhren den Fluß entlang. Die Sonne kam durch. Der Fluß fing zu leuchten an. Es kam mir wie spät am Nachmittag vor. Wie soll das gehen, vom Untermainkai nach links auf die Friedensbrücke? Grell die Sonne, schon tief. Ein Streifenwagen kam uns entgegen. Schräg im Gegenlicht. Wie sie mit der Sonne zu uns ins Auto starren. Dann mit Sirene und Blaulicht. Sie wenden! Im Rückspiegel siehst du sie wenden im dichten Abendverkehr.