Der vorige Sommer und der Sommer davor - Peter Kurzeck - E-Book

Der vorige Sommer und der Sommer davor E-Book

Peter Kurzeck

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Beschreibung

Im siebten Band der autobiographisch-poetischen Chronik "Das alte Jahrhundert" führt uns Peter Kurzeck in einer großen Rückblende in den Sommer 1983 und den Sommer davor. Früh im Juni trampen der Erzähler, Freundin Sibylle und Tochter Carina nach Barjac in Südfrankreich. Sein Freund Jürgen hat dort zusammen mit Pascale ein kleines Restaurant aufgemacht. Sie bleiben ein paar Tage, und weiter geht es per Autostopp nach Saintes-Maries-de-la-Mer. Ein Buch über den Süden, über Arles, die Camargue mit ihren Pferden, Stieren, Flamingos, den Markt und das Meer. Ein Buch über das Trampen und dann den Restsommer in Frankfurt, den griechischen Biergarten in Bockenheim, den Ausflug ins Mainfränkische. Ein Buch über fragiles Glück, eingefangen im Blick auf das Alltägliche, das Kurzeck durch seinen einzigartigen Ton zum Leuchten bringt.

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Inhalt

[Cover]

Titel

Motto

Das nachgelassene Manuskript

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Notizen und Dokumente

Konvolut 5

Konvolut 6

Projektbeschreibung

»Ich bin in Böhmen geboren …«: Preisrede anläßlich der Verleihung des Großen Literaturpreises des Bayrischen Akademie der schönen Künste

Antrittsrede des Stadtschreibers von Bergen-Enkheim

Brief Peter Kurzecks an seine Tochter Carina vom 23.11.2003

Plan »Das alte Jahrhundert« (2007/2010)

Zwei Gedichtabschriften

Nachwort der Herausgeber

Editorische Zeichen

Konkordanz zur Kapitelzählung

Autorenporträt

Kurzbeschreibung

Impressum

Das alte Jahrhundert 7

Vor uns – das gibt es. Aber nach uns, das sind dann auch wieder wir!

Das nachgelassene Manuskript

1

Carina abholen! Sie im Kinderladen abholen und heimbringen. Zittert das Haus? Sibylle beim Gesangsunterricht. Ich wollte Wäsche waschen! Erst nur ein Vorsatz und praktisch. Ein Plan. Dann gleich mir als Zwang, eine fixe Idee! Nur schnell! Die Wäsche in meiner alten Reisetasche aus der Eppsteiner Straße mitgebracht, wo ich jederzeit auch hätte waschen können. Schwer die Tasche und den ganzen Weg mich beeilt. Die Gebrauchsanweisung? In acht Sprachen eine illustrierte Gebrauchsanweisung für die Waschmaschine – noch da? Auch wenn du sie seit Jahren auswendig kannst, erst diese achtsprachige illustrierte Gebrauchsanweisung suchen! Gehört genau wie der abgelaufene Garantieschein für immer zur Waschmaschine und zu unserem früheren Leben dazu. Die Illustrationen auch. Längst auswendig – Bilder für Blinde. Auch wenn du weißt, welche Schalter und Knöpfe, immer erst die Gebrauchsanweisung! Mehrfach! Mit Sorgfalt! In der Küche. Eine Stehküche mit Dachfenster. Unsre alte Küche (aber nicht mehr die gleiche Welt). Mich beeilen! Ein Wahn. Das Kontrollämpchen. Wie ein Signal, wie in weiter Ferne ein Schiff und zieht seine Bahn durch deine Gedanken. Alles in Ordnung, bedeutet das Lämpchen, wenn es nicht lügt. Und als ich die Waschmaschine einschaltete und sie zuverlässig zu stampfen anfing, war mir für den Moment, als sei ich erlöst. Als hätte ich seit einer Ewigkeit gerade darauf gewartet, um endlich wieder ruhig atmen zu können. Wie ein Schiff, wie das Meer, wie die Zeit selbst, so rauscht sie und stampft und keucht. Eine heilige Zeitmaschine. Wie früher. Wie damals, als wir sie gerade erst neu gekauft, Sibylle und ich. Sogar mit Garantie. Vor fünf Jahren. Im Hinblick auf Carinas Geburt! Unser erstes Kind! Mein erstes Buch! In unserem ersten Jahr in Frankfurt aus Not fünfmal umgezogen und jetzt eine eigene Wohnung! Mietvertrag. Hell und geräumig die Tage! Zu trinken aufgehört! Für das Buch einen Vorschuß! Die erste eigene Waschmaschine in meinem Leben. Sibylle hat sie ausgesucht. Und auf einmal war alles gestern. Zeitmaschine. Zeit läuft. Jetzt einkaufen, Carina und ich. Müssen zweimal, mindestens zweimal! Erst zum Kaiser und dann auf die Leipziger Straße. Immer kommt man und geht. Mit ihr zusammen sind meine Selbstgespräche dann doch keine Selbstgespräche. Die ersten Tüten heimbringen und uns gleich wieder auf den Weg. Mein Kind und hilft mir. Den Müll mit, die leeren Flaschen. Mittagsmüd. Mit vielen Vorsätzen, Taschen, Tüten und Sorgen müd die Treppen hinauf und hinab und im Neonlicht vor Supermarktkassen stehen und warten. Wie schon gewesen ein Nachmittag. Die Jordanstraße. Der Kurfürstenplatz. Die Zweigstelle der Stadtbibliothek in der Seestraße. Und wie immer die Leipziger Straße. Hin und her auf der Leipziger Straße. Einzelheiten. Wie früher. Als sei nichts geschehen. Alles noch da. Wem erzählst du die Welt? Manchmal am Mittag, am Nachmittag bleibt sie eine Weile stehen, die Zeit. Du merkst es erst, wenn sie ruckt und ruckt und ruckend wieder in Gang kommt. Zittern die Häuser? Nein, sagt Carina, jetzt nicht! Und faßt zum Beweis eine Mauer an. Merkst du es nicht? Sie ruhen sich aus. Jetzt merk ich es auch, sagte ich. Sie ächzen. Sie gähnen. Sie dehnen und räkeln sich. Sich die Augen gerieben, geseufzt, sich zurechtgesetzt. Und wollen mit uns ein Gespräch anfangen. Warten darauf. Wollen als Häuser immer wieder dieselben Sätze. Mehrfach angeruckt und jedesmal wieder zum Stehen gekommen die Zeit. März und immer noch Nachwinter. Durch die Rohmerstraße und wieder nicht nach der Gans gesehen. Gegenüber vom Postamt. In einem Fenster im dritten Stock. Schon seit wir in Frankfurt sind. Für Carina schon immer. Eine Gans. Eine Lampe als Gans, Lebensgröße. Wenn du nicht drandenkst, kann ich auch nicht drandenken, sagt Carina zu mir. Dann fällt es mir abends erst wieder ein und dann sagt Sibylle zu mir, ich soll schlafen. Gehen wir lieber zurück und sehen, ob sie noch da ist. Dann wissen wir, daß sie noch da ist! Wenigstens bis zum nächstenmal. Düstere hohe Häuser und wir mit den Einkaufstüten. Die Sibylle, sagt Carina, wenn sie kommt, dann freut sie sich, daß wir schon eingekauft haben. Besonders wenn sie so spät kommt, daß die Läden gleich zumachen. Und weil alles schon bezahlt ist, braucht sie auch nicht wieder sagen, daß alles so teuer ist. Gerade da fiel mir ein, daß die Wäsche auch trocknen muß. Jäh mein Schreck! Wie ein Absturz! Keinesfalls die Wäsche zum Trocknen ins Bad! Lieber sie naß mit! Lieber jedes Stück einzeln so lang herumtragen, bis es trocken ist! Du mußt sie nicht trocknen, sagt Carina. Du mußt sie nur aufhängen, dann trocknet sie sich von allein. Im Hof, sagte ich. Nicht im Bad, im Hof! Ich helf dir, sagt sie. Die Wäsche in den Korb und den Korb ins Gras. Wäscheklammern. Und ich geb dir aus dem Korb jedes einzeln. Genau wie als ob wir das spielen! Und du hängst es, wo die Leine ist, in der Luft an die Leine. Dann brauchst du dich nicht bücken und ich brauch keinen Stuhl. Weil im Hof ja kein Stuhl ist! Die Wäscheklammern, die wir immer zum Schiffspielen nehmen!

Bleich ein Tagmond. Schon mehr als die Hälfte. Sind in der Bibliothek gewesen, sie und ich. Und kommen jetzt auf den Kurfürstenplatz. Düster, ein stiller Tag. Mir war, als ob sie mich führt. In der Mitte der Brunnen. Abgestellt. Leer. Um den Brunnen die Tauben. Langsam. Mit kleinen Schritten. Immer langsamer. Bleiben gleich stehen. Uhrwerk abgelaufen. Batterie leer. Die mit Batterie sind die neuen Modelle. Zucken noch. Müssen mehrfach noch anrucken und dann still. Stehengeblieben. Fangen zu rosten an. Und die in der Luft? Mit Fernsteuerung! Wenn er aufhört und legt die Fernsteuerung aus der Hand, fallen sie aus dem Himmel. Aber wer? Der mit der Fernsteuerung, der damit spielt. Wenn er auch noch die Schwerkraft abschaltet, bleiben sie in der Luft hängen. Dann wird die Luft eingesammelt. Kein Wasser im Brunnen. Schon seit Dezember kein Wasser im Brunnen. Wie ein Strandpavillon der Kiosk am anderen Ende. Ein vergangener Ferientag. Eine Postkarte und ein Muschelkästchen als Andenken. Erst noch das Andenken, dann die Erinnerung an das Andenken. Bunt der Kiosk, frisch gestrichen! Geschlossen. Das Büdchen ist zu, sagt Carina. Beim Büdchen ein Kriegsrat von jungen Türken und der Mond schon fast voll. Still ist es, dunkel, ein trüber Tag. Und am Rand dort die Kinder? Kommen sie? Gehen sie? Auf die Bank, sagt Carina. Komm! Auch ohne Sonne! Auch wenn der Brunnen nicht geht! Hier auf die Bank du und ich und die neuen Bibliotheksbücher ansehen! Nein, nicht die Bank! Das ist doch die Menschenfresserbank! Wollen da nicht mehr sitzen! Nur ein Spiel, sagte ich, du hast mitgespielt. Ja, aber dann ist die Frau gekommen und du hast ausgesehen, als ob du sie wirklich frißt! War es eine arme Frau? Sie sah meiner Mutter ähnlich, sagte ich. Jetzt, wo ich dran denke, wird sie ihr immer ähnlicher. Du hättest sie aber nicht fressen dürfen, sagt Carina. Ich hab sie doch auch nicht gefressen! Ja, aber du hättest es auch nicht gedürft! Erst war es noch gespielt, aber dann hast du wirklich so ausgesehen! Wie meine Mutter als Löwe, sagte ich. Man mußte nur zu ihr sagen: Spiel, daß du ein Löwe bist! Und sofort wird sie ein Löwe! Geht als Löwe gefährlich im Zimmer herum. Knurrt, brüllt ein Löwengebrüll und schüttelt den Kopf, schüttelt ihren Löwenkopf durch die Luft. Schwarze Locken. Sobald sie ein Löwe ist, eine richtige Löwenmähne. Manchmal auf allen vieren. Kriecht, hebt den Kopf, duckt sich und zerrt mit den Zähnen an mir. Löwenaugen. Ich wußte, sie ist meine Mutter, aber je länger sie spielt, umso echter. Blaue Augen. Die dunkelsten blauen Augen, die ich überhaupt je bei jemandem sah. Gerade die Augen machen, daß ich denke, sie weiß es nicht mehr. Sie ist wirklich ein Löwe! Und muß sie schnell rufen! Oft muß ich lang rufen, bevor sie wieder ein Mensch wird und meine Mutter! Wie alt warst du? fragt Carina. Schon in Staufenberg, also vier. Auch mit fünf noch. Aber ist dein Vater nicht der wirkliche Löwe? Der war noch nicht aus dem Krieg zurück. Ich hab ihn danach erst kennengelernt. War niemals jemand dabei? Nein, sagte ich. Nur immer sie und ich. Wir spielten es nur, wenn sonst niemand da war. Deshalb war es ja so gefährlich!

Auf der Bank. Ist dir kalt? Leute mit Taschen und Plastiktüten über den Platz. Meistens Ausländer. Männer und Frauen und schon nicht mehr jung. Griechen, Türken, Jugoslawen. Aus Spanien, aus Portugal, aus Marokko. Vom Einkaufen. Von der Arbeit heim. Zur Straßenbahn und zum Westbahnhof. Müd auf den Abend zu. Und wo werden sie wohnen? Über den leeren Platz und der Kies knirscht. Als kämen sie immer wieder vorbei, immer die gleichen, so knirscht jedesmal wieder der Kies. Wie wir warten! Der Frühling? Kein Frühling? Ein Penner mit seinem Bündel und mit vier Plastiktüten vorbei. Mit Hut. Sucht sich selbst. Sucht schon länger. Der türkische Kriegsrat in alle Richtungen weg. Am Rand dort die Kinder. Würden gern ein Feuer anzünden. Gern über den Rand hinaus und sehen, wie dort die Welt und dann vielleicht jemand anders. Sollten längst heim und können noch nicht! Die Sibylle kann ein Pferd. Auch ein wildes Pferd, sagt Carina. Aber Löwen, die kann sie nicht. Kann nicht die Edelgard, sagt sie, jetzt hier über den Platz auf uns zu? Und zeigt mit der Hand. Oder durch die Seestraße? Hätten sie anrufen können, sagte ich. Bald, du wirst sehen, bald jetzt die ersten warmen Tage. Dann gehen wir zu ihr! Immer im März gibt es ein paar erste warme Tage. Wir holen sie ab und gehen mit ihr bei den Gärten am Bahndamm entlang. Ins Eiscafé auch. Das Eiscafé in der Friesengasse. Und auf den Platz mit den bunten Wagen. Alte Bauwagen sind es und Zirkuswagen. Jetzt dauert es nicht mehr lang! Erst Frühling, dann Sommer. Wollen wieder im Gras sitzen. Sogar hier auf dem Kurfürstenplatz. Löwenzahn. Gänseblümchen. Süß das Heu auf der Wiese. Im Gras und auch dort im Sand, sagt Carina. Wenn dann wieder Sommer ist, lesen wir die Bibliotheksbilderbücher wieder gleich hier auf dem Platz aus. Und essen jeden Tag Erdbeeren und Kirschen dazu. In der Sonne. Süße schwarze Herzkirschen aus der Wetterau. Eine große Tüte voll Kirschen und jeder Kirschkern fängt eine Reise an, ein Vagabundenleben. Ist das, bevor wir dann fahren? Ja, sagte ich, vorher schon. Bevor uns der Sommer dann mitnimmt. Komm, es ist kalt! Eine Amsel. Hörst du die Amsel? Wieder März. Und bald Abend. Wie aus Glas jetzt der Mond. Eine Lampe aus hellem Glas. Bis es ganz dunkel und er dann silbern, das weißt du ja, sagte ich. Sie ist mein Kind und wir haben zusammen kein Haus. Die Tüten und Gedanken zusammen. Und beladen uns auf den Weg machen. Und komm sagen, komm! Gehen, der Kies knirscht. Vor uns flattern Tauben auf. Hat doch weitergespielt, sagt sie, der mit allem spielt! Der schläft nicht, der spielt und spielt!

Wohin? Warum gehst du hier? Straßenecken, eine Telefonzelle. März und bald Abend. Meinen Freund Jürgen anrufen, weil er mich nicht erreicht hat. In der Jordanstraße nicht und in der Eppsteiner Straße auch nicht. Da und dort, mehrfach nicht. Und ihn auch nicht erreichen. Auch vorher schon, schon am Nachmittag nicht. Auch gestern schon nicht. Gestern und vorgestern. Am besten, du gehst zu ihm hin. In der Schloßstraße ein neues gelbgekacheltes Apartmenthaus mit Tankstelle, Tiefgarage und Fahrstuhl. Klingeln, nichts regt sich! Klingeln, immer nochmal und noch einmal klingeln! Das Haus verzieht keine Miene! Ich stand: kann nicht weg! Auf und ab vor der Haustür. Schon im voraus, schon unterwegs in Gedanken mit ihm ein Gespräch angefangen! Und jetzt? Sooft ich zu gehen anfing, immer nochmal zur Haustür zurück! Den ganzen Tag, ja seit Tagen schon mit meinem Leben, mit allen Plänen und Gedanken auf diese Haustür zu oder jedenfalls kommt es mir vor der Haustür so vor und jetzt ist er nicht da! Vor der Haustür. März und Abend. Noch hell. Eine Straßenbahn klingelnd vorbei. Eine Achtzehn nach Praunheim. Kannst nicht bleiben, nicht gehen, nicht bleiben! Es zieht dich, du weißt nicht wohin. Endlich auf Widerruf ein paar Schritte – nirgendshin! Nur um zu sehen, wie es weitergeht und was aus mir werden soll. Da kommt er! Vor meinen Augen! Direkt aus dem Elba! War vorher im Pelikan. Will ins Bastos. In allen Kneipen, sagt er, such ich dich schon! Vor dem Eingang vom Elba jetzt, er und ich. Unter dem hellen schweigenden Vorabendhimmel. Mit leeren Händen. So ein praktischer Zufall. Er hebt die Hand an die Stirn, als ob er einen Hut sucht. Und über uns weiß der Mond. Gleich nochmal ins Elba. Du warst nicht daheim, sagte ich. Auch schon angerufen. Schon öfter. Du mich ja auch. Den Nachmittag mit Carina. Sie heimgebracht. Wieder März. Ein Märzabend und noch hell. Soll ich jetzt einen Espresso oder einen Bitterino? Und du? Im Elba. Erst an der Theke, dann doch einen Tisch am Fenster. Kaum Gäste. Noch zu früh für den Abend. Das Elba im Sommer ein Eiscafé, die übrige Zeit Pizzeria. Wird nach und nach jetzt ein richtiges Restaurant. Speisekarten, Kerzen, Tischdecken, Weinflaschen, Garderobe, Gardinen und Übergardinen. Ein Frankfurter Italiener. Silberne Salzstreuer. Karaffen mit Öl und Karaffen mit Essig auf jedem Tisch. Kristallstöpsel auf den Karaffen. Die Kellner mit Begeisterung. Müssen immerzu Kellner-sein üben. Wie für eine Fernsehserie. Weißt du noch wie du früher, sagt Jürgen, immer drei oder vier Getränke gleichzeitig vor dir auf dem Tisch. Besonders beim Schreiben. Aber jederzeit auch in allen Kneipen. Wo kommst du her? Hast du Zeit? Der Wirt heißt Rocco. Aus Kalabrien. Und gerade erst wieder dort gewesen. Hätten wir Mäntel angehabt, er hätte uns als Wirt gleich geschickt aus den Mänteln geholfen. Aktenköfferchen, Hut, Mantel, Schal, den Börsenkurier und wie geht das Geschäft? Neuerdings eine Garderobe mit Kleiderbügeln und Hutablage im Elba. Und jeden Schirm in den Schirmständer. Bitterino und Espresso für mich. Und Jürgen noch einen Averna. Mein Bitterino mit Zitronenscheibe und wie ein Campari so rot. Mit Carina, sagte ich, den Nachmittag und bis jetzt. Ich weiß nicht, was schlimmer ist? Die Wohnung mit Sibylle oder die Wohnung ohne Sibylle? Oder nicht in der Wohnung und nur aus der Ferne hindenken? Das Telefon klingelt. Der Wirt gleich zum Telefon. Er ist hier der Chef, sagte ich. Aber heißt der andre nicht auch Rocco? Stimmt, sagt Jürgen. Vielleicht kommt er noch. Oder ist in Sizilien. Spricht immer von Sizilien. Ähnlich sehen sie sich auch. Gut mein Espresso. Napolitanisch. Und dann den Bitterino, als sei es Campari. Vielleicht heißen beide Rocco. Verschwägert? Verwandt? Aber nicht Brüder, keinesfalls Brüder! Und schon gar keine Zwillingsbrüder! Vor vier Wochen hier mit Edelgard schon einmal das gleiche Gespräch. Sogar auch am gleichen Tisch, sie und ich. Einen Abend im Februar. Mitten im Winter noch. Draußen lag hoher Schnee. Müssen den Gigi fragen, sagten wir damals. Sowieso, sagt Jürgen, ich dachte, ich treffe ihn hier. Kommt oft nach der Arbeit hierher. Oder hat Nachtdienst, dann kommt er vorher. Noch hell draußen. Schon März. Bleibt noch lang hell. Eine Straßenbahn, eine Achtzehn. Lang an der Haltestelle. Dann weiter stadteinwärts. Weißt du noch, sagte ich. Muß Anfang Februar. Als ich vom Zahnarzt kam. In der Myliusstraße die Zahnärztin, die du auch kennst. Rechts unten den Weisheitszahn raus. Eine tiefe Wunde. In der Jordanstraße untröstlich Carina ins Bett gebracht. Ein Schlafanzug mit Marienkäfern. Noch Schnee. Schräg eine silberne Mondsichel. Wie aus einem Schmuckgeschäft. Und du und Edelgard, ihr habt mit dem Abend hier auf mich gewartet. Nur ein paar Tage vorher mit Schreibmaschine, Manuskript und Bettdecke mein Umzug aus der Jordanstraße in die Abstellkammer. Der fehlende Weisheitszahn. Mund voll Blut. Mein Mund eine einzige Wunde. Zehn Tage später beim zweiten Zahn Vollmond und alles noch schlimmer. Erst Weisheitszähne, dann nicht mehr. Leer. Je ein Loch, eine Wunde. So tiefer Winter kann jetzt nicht noch einmal! Hast du sie gesehen? fragt er. Meint Edelgard und will ihren Namen nicht sagen. Heute nicht, sagte ich. Letzten Samstag, Carina und ich. Wie heute. Ein trüber Tag. Sind mit ihr im Stadtwald gewesen. Am Waldrand, es ist ja kein echter Wald. Furchtbar, sagt er und spricht die ganze Zeit ihren Namen nicht aus. Oft ist sie wochenlang furchtbar. Jetzt schon lang. Daß sie bei dir nie so ist! Meistens, sagte ich, meistens sind die Menschen gut zu mir! Wollen bald zu ihr, Carina und ich. Sobald nächstens die Sonne. Wenn es warm wird. Muß doch jetzt! Immer im März gibt es in Deutschland ein paar erste warme Tage. Wollen dann mit ihr in die Sonne, Carina und ich. Wieder das Telefon. Als sei es für uns. Die Leute rufen an und bestellen Pizza zum Abholen. Essen im Büro oder vor dem Fernseher. Manche im Auto. Manche ein Auto mit Fernseher. Wie eine Zigarrenkiste ein kleiner Kasten vorn rechts auf dem Armaturenbrett. Fußball. Bundesliga. Ein Länderspiel. Sitzen und Kauen. Fernsehkrimis. Werbung. Die Tagesschau, eine Talkshow, sitzen und kauen. Deutschland, Europacup, Weltmeisterschaft. Schon Mitte März und bald Vollmond. Hast du Zeit? Hast du eine Handvoll Geld? Zeit und Geld und Hunger und Durst? Können ja gleich hier vor der Tür unser Geld zählen, sagte ich. Am besten man zählt es zwei-dreimal und fortan jede Stunde. Als ob wir dafür auf der Welt. In der Zwischenzeit alle Zahlen im Kopf, aber zur Sicherheit auch noch schriftlich. Was für eine Niederlage, daß es uns nicht gelungen ist, das Geld abzuschaffen. Noch nichtmal das geschafft! Aber haben auch keine Ersparnisse. Noch früh, der Abend wartet. In die Stadt, in die Stadt! Er bezahlt und gibt mir vierzig Mark. Auch schon lang nicht mehr im Jazzkeller gewesen. Schreiben dem Gigi einen Bierdeckel, den der Wirt für ihn aufhebt. Und falls er heute noch kommt und hat Zeit, kann er nachkommen. Und wenn er in drei Tagen erst kommt, weiß er, daß wir hier waren und an ihn gedacht haben. Sogar auf ihn gewartet. März. Ein Märzabend. Frankfurt am Main. Eine Straßenbahn. Autos. Verkehrsampeln. Viele Lichter im Abend. Hätten wir Mäntel mitgehabt, der Wirt hätte jedem von uns bei der Garderobe in den richtigen Mantel hineingeholfen. Hut und Schal nicht vergessen? Keinen Mantel, keinen Hut, keinen Schal, keinen Aktenkoffer und auch kein Geschäft. Nicht einmal Autoschlüssel. Nicht einmal eine Familie. Also auch keine Grüße an die Familie. Trotzdem schönen Abend noch! Komm, gehen wir ein Stück zusammen!

Erst zu ihm. Muß erst dies und das noch. Wichtig! Sortieren, einstecken, zusammensuchen. Sich selbst suchen. Die Gedanken zusammen. Gleich, sagt er, gleich soweit. Du weißt, das Leben ist kompliziert. Was er alles einstecken muß. Erst finden, dann einstecken. Und sucht eine Schallplatte. Miles Davis. Hast du Hunger? Möbliert. Ein großes möbliertes Einzimmerapartment mit angegliederter Küchenzeile. Fenster zum Hof, eine Fensterwand. Möbliert oder teilmöbliert. Küchenzeile, Einbauschränke, Wandregal. Teppichboden. Im Vorraum als Vorraum ein Vorraum mit Sprechanlage, Feuerlöscher, Garderobe und Schuhregal. Ein Fluchtplan mit Notausgang. Ein Thermostat. Wenn es still ist, hört man den Aufzug fahren. Zittert das Haus? Teppichboden. Die angegliederte Küchenzeile mit Kacheln und Neonlicht. Als Bad eine Dusche und alles komplett. Eingebaut. Inbegriffen. Möbliert. Möbliert oder teilmöbliert. Nie vorher so, sagt er. Nie gedacht, daß man so wohnen kann. Nimmt Bündner Fleisch für mich aus dem Kühlschrank. In Scheiben. Abgepackt. Plastikfolie mit Haltbarkeitsdatum. Die Packung schon offen. Und ich gleich im Stehen. Mit den Händen. Mit beiden. Direkt aus der Packung. So bin ich. Mit Blick in den Hof. Kauen. Auf und ab, hin und her. Bündner Fleisch und gut kauen. Eine Sommersennhütte. Bergkühe. Sommer. Der Sommer kommt aus dem Tal herauf. Friedliche Weiden. Im Stehen. Mit den Händen. Gierig. Gut kauen. Hungrig und dazu die Freude! Dick Salz drauf, viel Salz. Ich wußte, es ist ihm ein Greuel. Warum nimmst du nicht einen Teller, ein Tablett und ein Schneidebrettchen? Hier ist ein Schneidebrettchen aus Marmor. Servietten, Miles Davis und Kerzenlicht. Geduld, Appetit und die ersten Radieschen, Butter und Brot. Im Sitzen. Als Gast. Nicht Geist, sondern Gast. Mit Anstand, Besteck und Beistelltischchen. Dieser Sessel ist am bequemsten, sagt er und muß dazu eine passende Handbewegung. Jedes Radieschen erst schälen und dann mit Messer und Gabel. Servietten auch. Ich hätte dir alles serviert. Ich als Gastgeber und Gastronom, beinah ein gelernter Koch, der in Frankreich ein französisches Restaurant betrieben hat. Eigenhändig. Erst gegründet und dann betrieben. Und lebenslang Sohn einer höheren Tochter und Oberstaatsanwaltswitwe mit Lyzeumsabschluß. Offizierswitwe. Alle Väter sind tote Kriegshelden. Und Oliven und Gurken keine? Gurken keine? Kräuter, sagt er, frische Kräuter. Immer ein paar Blumentöpfe und Plastikschalen mit Dill, Kresse, Basilikum, Rosmarin, Schnittlauch und Petersilie auf der Fensterbank. Sogar hier! Höchstwahrscheinlich hauptsächlich aus Wasser, Chemie und Kunstlicht, aber grün und adrett. Neuerdings auch in aufgeweichten verdrückten giftgrün gefärbten Pappkartonschachteln mit Aufdruck. Mehrsprachig. Färben im Regen ab. Setz dich doch, sagt er. Anstand. Manieren. Erst gastronomisch garniert, dann geschickt und geschmackvoll serviert. Erziehung. Kultur. Sogar aus Anstand meinerseits auch ein paar höfliche Bissen mit und aus dem Gedächtnis zu diesen höflichen Bissen ein paar Fragen und Antworten oder über die Oper als Bauwerk. Erlebnis, Kulturgut und wieviel sie uns kostet. Gut kauen! Plauderton. Wie geht es Ihnen? Wie finden Sie? Was meinen Sie dazu? Nicht den Mund zu voll. Und immer komplette Sätze. Fragen auch. Auf Wunsch sogar die eine oder andere eigene Meinung. Nur immer in ganzen Sätzen. Dazwischen darf man sich den Mund abtupfen, jeder seinen. Wie heißen die Fingerschalen mit lauwarmem Wasser und einer halben Zitrone, heißen sie Fingerschalen? Wem die Gabel hinfällt, der kriegt eine neue Gabel. Außer es hätte außer ihm keiner gemerkt. Dann kann er sie auch am Tischtuch abwischen. Ja, sagte ich, ja, ich weiß. Aber kann nicht anders. Keine Geduld. Schon länger jetzt keine Geduld. Kann sitzen nur noch beim Schreiben! Und vielleicht noch im Zug, das muß ich noch ausprobieren. In der U-Bahn steh ich schon lieber. Beim Essen auch. Vielleicht nie mehr Geduld! Hungrig. Ein Wolf. Und muß weiter. Den Horizont im Blick. Immer auf den Horizont zu. Das Buch. Und weiter, nur weiter. Meine Mutter war Putzfrau und ich bin ein Wolf. Das Buch wird mein drittes Buch. Gut kauen! Besonders wenn man eine Weile lang nichts oder fast nichts gegessen hat, muß man gut kauen! Wenn du noch ein Stück Käse jetzt? Gorgonzola, Roquefort, Camembert? Was da ist. Nur schnell! Und direkt in die Hand! Aus der Hand in den Mund! Brot nicht, aber Salz, viel Salz. Und dann nicht die Hände waschen. Sehen, wo es mich hindenkt mit vollem Bauch. Sobald ich erst satt bin! Du ißt zuviel Salz, sagt er. Schon mein Leben lang, sagte ich. Mir ist es nicht zuviel. Warum ist alles abgepackt? Aus dem Kaufhof, sagt er. Aus der Delikatessenabteilung im Kaufhof. Wildpastete, Räucherlachs, Kaviar, Parmaschinken. Den besten Käse. Kann man gut einstecken. Immer in Eile. Aber höflich und ohne sich vorzudrängen. Und zahlt an der Kasse nur den deutlich sichtbaren Joghurt, die Eier und zwei Liter Milch. Und einen schönen Tag noch! Manchen Angestellten, wenn sie keine Prämien kriegen, ist es schon egal! Wußtest du, daß es im Kaufhof griechischen Schafsjoghurt gibt mit griechischen Buchstaben drauf und kommt aus der Eifel. Nein, nicht aus der Eifel. Von der schwäbischen Alb. Karola ist aus der Eifel. Soll ich dir nicht doch noch Messer und Gabel und wenigstens jetzt, nachdem du gegessen hast, noch einen Imbiß als Imbiß anrichten? Dünn warst du ja immer schon. Kaum zu glauben, daß du jeden Tag ißt. Mich endlich um Geld, sagt er, kümmern! Allein die Miete mehr als fünfhundert im Monat und dann kommt eine Rechnung für Heizung, Nebenkosten und Umlagen. Geliehenes Geld. Auch hier raus. Sowieso. Ungeduld. Keine Ruhe. Ich auch, sagt er. Die Tage, die Nerven. Ich rauche fast schon wie du soviel. Die meiste Zeit von Kneipe zu Kneipe und dabei noch in Eile. Sorgen. Kein Geld. Es ist schon weg, bevor man es hat. Und essen nur nebenbei. Meistens im Stehen eine eilige Stehpizza in einer Stehpizzeria. Die meisten Stehpizzerias in Abbruchhäusern. Winter. Nachwinter. Die meiste Zeit Abend. Immer länger die Abende jetzt. Immer mehr Abbruchhäuser. Gestern bin ich mit der S-Bahn in Darmstadt gewesen. Schon März und noch dunkel das Land. Mich endlich jetzt kümmern bald, sagt er. Und du? Nur zu Gast, sagte ich, vielleicht geht es noch eine Weile. Schreiben, das Buch weiter und Carina jeden Tag sehen.

Er hat oft mich mit Essen, Zeit, Geld, Tisch und Bett versorgt. Und mir zugesehen beim Schreiben. Mein erster Leser. Mit Musik, Papier, Schreibmaschine, mit Gegenwart mich versorgt. Zigaretten, vier Wände, Lampen, eine warme Jacke, ein Fenster. Den Wein für den Tag und den Wein für die Nacht. Kauft jeden Tag ein oder klaut das Zeug. Kocht. Geht mit auf die Post, in fünf Kneipen, den Bahndamm entlang und durch viele Tage und Bücher und Länder neben mir her. Bis hierher, bis heute. Jahre, Jahrzehnte. Einmal an meinem Geburtstag ihn kennengelernt. Damals war ich siebzehn. Denke ich jetzt daran, ist es ein langer Sommer gewesen. Und dann? Und weiter? Viele Leben. Er auch. Zuletzt mit Pascale in Eschersheim. Eschersheim, wo es zum Vorort wird, wenn man von der U-Bahn kommt. Erst noch ein Vorort, dann beinah schon ein Dorf. Pascale aus Lyon. Aber eigentlich aus einer Kleinstadt nicht weit von Mâcon. Seit Edelgard seine erste Liebe. Die erste, die er sich selbst glaubt. Drei Jahre dort, drei Jahre in Eschersheim, er und Pascale. Drei gute Jahre. Dann mit ihr nach Frankreich, wie sie es sich immer gewünscht hatten, beide. In den Süden, in die Provence. Nicht ans Meer, aber auch nicht zu weit vom Meer. Eine Kneipe aufmachen, ein Restaurant. Und auch genau den richtigen Ort gefunden. Barjac heißt der Ort. Alles richtig, alles wie sie es wollen. Wie selbst ausgedacht. Jeden Tag wieder richtig. Und nach einem Jahr sich getrennt, sich für immer getrennt. Und hätte doch gutgehen können. Als alles vorbei war, wußte er es genau. Pascale schon weg oder unerreichbar in ihrer Verzweiflung vor den offenen Schränken. Die Wohnung ein einziger Schrecken, ein Spuk jetzt. Aber immer noch mit Blick auf die Lavendelfelder und Hügel der Provence. Sanfte Hügel und die Ausläufer der Cevennen. Und er anderthalb Kilometer weiter im Restaurant. Vier Tische. Nur er allein. Ein richtiges Restaurant. Und war doch eine Höhle, eine feuchte dunkle (unabsehbare) Höhle, bevor er vor einem Jahr mit dem Renovieren anfing. Schon letzten Herbst. Und immer anrief und mir am Telefon sagt, was er macht und wie er es machen wird! Im voraus. Beschreibt es in allen Einzelheiten. Am Telefon und in Briefen. Das Material und mit welchem Werkzeug. Jeden einzelnen Handgriff. Immer im voraus. Oft mehrfach. Weil er es sonst nicht geschafft hätte. Hätte ihm die Zuversicht, hätte die Kraft nicht gereicht. Er hätte nicht gewußt wie. Und sitzt nach der Katastrophe im Restaurant beim Kamin an der Wand. Umzingelt! Hat sich verschanzt! Die Wände, die Leitungen, jeden Lichtschalter, sogar noch die Uhr an der Wand selbstgemacht. Alles selbst. Eigenhändig. Speisekarten. Kaminfeuer. Jeden Tag eine Zukunft sich ausgedacht. Man muß daran glauben! Das ganze Restaurant selbst, er und Pascale. Und wird um ihn her jetzt zur Höhle wieder. Eine Höhle in ihrer eigenen Ewigkeit. Kalt die Mauern, die Steine. Ausgekühlt. Und wie sie ihn anschweigen. Jedes Ding ein Entsetzen und schweigt ihn an. Belagerungszustand. Seit er als Kind davongerannt ist und hat ans Zurückkommen nicht gedacht. Und jetzt hier umzingelt. Bald die feindliche Übermacht. Mächtige Feinde. Haben Schußwaffen und Gerichtsbeschlüsse. Haben das Recht für sich. Versiegeln die Türen. Mauern ihn ein. Werden ihm Strom, Gas und Wasser abschalten. Und dann hält der Winter Einzug. Kriecht aus den Cevennen heran. Kommt ihm aus Deutschland nach. Steigt aus der Erde herauf. Telefon? Telefon geht noch. Immer wieder abheben und horchen, ob es noch geht? Und immer noch geht? Die Reste austrinken. Ein Weinlager. Nicht unerhebliche Vorräte. Trinkt und ruft jede Nacht an. Redet und schweigt und raucht und redet und schweigt in die Leitung hinein. Trinkt, atmet, trinkt. Man hört ihn fernmündlich schlucken. Egal was es kostet. Eine Rechnung, die nie bezahlt werden wird. Im Oktober, bald Ende Oktober. Erst nur nachts, dann ruft er auch tagsüber an. Weil der Preis keine Rolle mehr spielt. Stundenlang. Immer öfter. Kann nicht mehr auflegen. Legt auf und ruft gleich wieder an. Muß immer gleich nochmal anrufen. Soll man gar nicht mehr auflegen? Ein Dauergespräch? Noch da? Bist du es? Bist du noch da? Und Pascale? Pascale wo? Längst in Lyon vielleicht. In Lyon hat sie Freunde. Oder in Paris. In Paris hat sie auch Freunde, viele Freunde. Oder als jüngste, als Lieblingstochter bei ihren Eltern in Burgund. Im Département 71. Hat Bukol mit, den jahrelangen gemeinsamen Siamkater (von dem Carina bereit ist zu glauben, er kann mit menschlicher Stimme sprechen, aber will nicht, daß man es weiß! Sie glaubt es, wenn ich es auch glaube!). Der polizeigrüne alte VW-Bus, mit dem sie all die Jahre und Reisen, den Umzug, den Umbau, Umbau und Renovierung und auch noch die Einkäufe und den Restaurantalltag immer wieder geschafft haben, ist drei Tage vor der Trennung endgültig zusammengebrochen. Und steht und rostet und wird zum Symbol. Hatten ja sogar einen Garten als Zukunft langfristig angefangen. Vielleicht ist sie auch an der Côte d’Azur und läßt sich für den Film entdecken, damit er dann im Kino sitzt und aus der raschelnden Dunkelheit zu ihr hinaufblicken kann. Ein Farbfilm. Französisch mit deutschen Untertiteln. Nie der gleiche Film und fängt immer wieder von vorn an. Ein Film, in dem er nicht vorkommt. Vier Tische. Die Küche. Ein Weinregal. Flaschen. Nicht nur Wein, auch Pastis, drei Sorten Pastis und Cognac, Calvados, Armagnac, Rum. Wie soll er dafür eine Reihenfolge? Das Kaminfeuer Tag und Nacht. Zum Glück Strom und Gas noch. Was denken die Nachbarn? Was sagt der Bürgermeister? Was macht die Polizei? Zum Glück noch Kerzen und Telefon. Spät in der Nacht ein einzelnes letztes Auto durch die enge Straße. Eine Straße aus dem Mittelalter. Sie heißt Rue Saint Michel. Zigaretten. Sitzt hier und kann nicht mehr raus. Nicht auf die Straße und nirgendshin. Nicht einmal in Gedanken. Mich ruft er an und Edelgard jede Nacht. Und Besino, seinen und Edelgards Sohn. Besino ist vierzehn. Oktober. Das vergangene Jahr. Am Anfang des Sommers sie dort noch besucht, Sibylle, Carina und ich. Vorher meine Arbeit im Antiquariat verloren. Hin und zurück getrampt alle drei. Auf kleinen Straßen. Eine heilige Familie mit einer guten Landkarte. Dreieinhalb Tage hin, vier zurück. Von Ort zu Ort und gesehen, wie sie alle leben, die Menschen von hier bis dorthin. Wieder Juni. Lang die Tage und hell. Und bevor ich es richtig merke, unterwegs auf der Straße auf lauter kleine Zettel und Zufallspapierchen, auf Kassenbons, Zigarettenschachteln und Kneipenabrechnungsblöcke, Bierdeckel und Servietten mein drittes Buch angefangen. Ein Dorfbuch. Jeden Abend die Notizen von den kleinen Zetteln auf größere Zettel. Und dann bei Jürgen und Pascale mit seiner Schreibmaschine (sie kennt mich) alles abgetippt. Vor dem Fenster Lavendelfelder, Zypressen, Obst, Wein, Hügel, Steinmauern, Dächer, ein Kirchturm, Hügel und Hügel und ferne Berge. Für ein paar Tage ans Meer, Sibylle, Carina und ich. Das Manuskript korrigieren, ändern und umschreiben. Ans Meer und zurück. Und dann bei Jürgen und Pascale in der Wohnung das umgeschriebene Manuskript nochmal umschreiben und wieder abtippen. Damit ich es überhaupt noch lesen und auf der Heimfahrt weiter dran arbeiten kann. Das erste Kapitel. So sie gesehen, ihn und Pascale. Den Ort, die Wohnung, das Restaurant und ihr neues Leben. Barjac heißt der Ort. Ende Juni mit Sibylle und Carina nach Frankfurt zurück. Mit vierzehn zu arbeiten angefangen und jetzt zum erstenmal in meinem Leben zum Arbeitsamt. Du schreibst deine ersten Kapitel, um die Leser abzuschrecken, sagt Sibylle zu mir. Kaum Geld. Vom Antiquariat eine kleine Abfindung. Sparsam, sparsam. Und alle zwei Wochen zweihundertzwanzig Mark vom Arbeitsamt. Sibylle halbtags im Verlag. Ich schrieb jeden Tag. Das nicht, sagte ich zu Sibylle. Nicht direkt abschrecken! Nur daß sie wissen, worauf sie sich einlassen! Ich schrieb, ich brachte Carina in den Kinderladen oder Sibylle nimmt sie morgens mit und ich hole sie ab. Oder zu dritt. Wie an einem Feiertag. Und auf allen Wegen uns Zeit lassen. Wir schaffen es schon, sagten wir zueinander. So durch den Sommer und in den Oktober hinein. Froh, daß wir bei ihnen waren. Und froh für den Süden, die Landstraßen und das Meer mit Carina. Und jetzt seine Anrufe. Erst nur nachts, dann auch tagsüber. Sommer auch vorbei. Lang mit ihm am Telefon und dann in die Nacht hineinschreiben. Und am nächsten Tag vom Morgen an weiter mit dem Manuskript. Sitzen und schreiben und immer wieder Joan Baez. Wild Mountain Thyme. Als finge der Sommer gerade erst an. Geht auf zwei. Gleich dann mit dem Aufhören anfangen! Immer wieder zum Plattenspieler und nochmal das gleiche Lied. Und dann mitten ins Schreiben hinein das Telefon. Günter. Edelgards Freund. Jürgens Nachfolger. Ich bins. Hast du ein Lappe, der wo noch gilt? Er ist aus dem Gallus. Ich wußte gleich, er meint einen amtlichen Führerschein. Übermorgen, sagt er. Kohle unn Schlitten geht klar. Das mach ich. Übermorgen um zehn bei der Edel hier vor der Haustür! Seit ein paar Jahren sagen alle nur noch Edel zu ihr. Er wohnt bei ihr. Eigentlich wohnt er nirgends. Früh um zehn, sagt er, schaffst du das? Ein Schwätzer der Jürgen, aber müssen ihn rausholen! Allein schafft er es diesmal nicht! Also abgemacht, sagt er, dann ruf ich jetz an unn sach ihm Bescheid! Auflegen. Kurz vor zwei (geht schon länger auf zwei). Noch anderthalb Tage um den angefangenen Satz zu beenden. Die Platte auch wieder abgelaufen. Wie immer nochmal der gleiche Moment. Aufheben den Moment und Carina abholen. In Gedanken schon vor mir her. In Gedanken mit ihr schon. In den Mittag hinein. Kastanien. Das Laub. Bißchen Wind. Daß jetzt jetzt ist. Und sind doch wir, die hier gehen! Am Abend Jürgen am Telefon. Am Anfang des Abends. Morgen früh, sagt er. Jetzt laß ich das Feuer hier ausgehen. Eichenholz. Im Sommer auf Vorrat gekauft. Eichenholz aus den Cevennen. Noch ein Glas Wein und noch ein letztes Glas Wein. Noch einmal um den Ort herum. Ist es bei dir noch hell? Morgen früh mit dem Bus nach Avignon. Umsteigen in Alès oder in Pont-Saint-Esprit, das seh ich jetzt nach. Von Avignon mit dem Zug oder trampen oder mal sehen. Oktober. Bei euch auch kein Anruf von ihr? Weißt du, daß es in Frankreich Busse nach Afrika gibt und bis in den Orient? Bis morgen dann! Morgen oder übermorgen. Sobald ich dann da bin, zuerst zu euch in die Jordanstraße!

Und kommt am Morgen des übernächsten Tages. Noch früh. Kommt direkt vom Bahnhof in unseren Werktagsfamilienherbstmorgen herein. Carina beim Anziehen. Sitzt im Bett. Will allein! Kann allein! Ich mit Zigaretten, Gespenstern, Nachtgedanken, Morgengedanken, Wörtern und Notizzetteln. Arbeitslos. Vor dem Fenster der Tag. Wolkenhimmel und Milchkaffee. Sibylle auch Milchkaffee und mit ihrem Terminkalender. Kämmt sich. Darf ich heut Jeans und den dunkelblauen Pullover? fragt sie. Ein Spiel. Seit vielen Jahren ein Spiel. Sie ist achtundzwanzig. Schon länger kein Geld für Parfüm und Friseur. Braucht bald neue Schuhe. Und jetzt? ruft Carina von nebenan. Alle Türen offen. Zieht sich allein an und ich muß durch die Wände raten, wie weit sie schon ist. Die Mütze! Ich rate immer weit vor ihr her. Die Mütze kann-doch-noch-gar nicht! ruft sie. Dann müßt ich ja schon mit dir im Flur bei der Tür stehen! Kurz nach neun. Vergessen immer wieder die Nachrichten, sagt Sibylle. Hat es geklingelt? Es gibt keine, sagte ich. Bloß immer die gleichen alten Tonbänder. Gefälscht oder aus dem Archiv. Seit Wochen einunddasselbe Band. Schon seit ich arbeitslos bin. Es klingelt. Keine Sprechanlage. Man drückt auf den Öffner und fragt sich, wer kommt. Vierter Stock. Dachgeschoß. Einzeln. Ein einzelner Mensch die Treppe herauf und zur Tür herein. Mein Freund Jürgen. Müd sieht er aus. Müd und fremd. Mit seiner alten Reisetasche. Die Tasche auch müd. Erschöpft. Weitgereist. Eine Leinenjacke, als ob er in der Mittagshitze vom Feld kommt. Schon lang unterwegs. Die Reisetasche gleich bei der Tür abgestellt (Flur und Küche zu eng für Gepäck). Welchen Weg? fragte ich. Milchkaffee, sagt Sibylle, die ihn zur Begrüßung umarmt hat, Milchkaffee oder soll ich dir Tee? Geht schnell! Lieber Tee, sagt er. Über Paris. Seit sechsundzwanzig Stunden unterwegs. Und sieht nicht aus, als sei er schon angekommen. Am Ende war es am einfachsten über Paris. Ich hätte wissen müssen, sagt er und hebt die Arme und dreht sich um sich selbst. Carina eilig zur Tür herein. In Strümpfen und mit verdrehtem Pullover. Und gleich über seine Reisetasche gestolpert. Schon immer beim Stolpern sehr geschickt. Nicht nur, daß sie nicht fällt – benutzt es auch noch zur Beschleunigung! Er hebt sie hoch, drückt sie an sich und sobald er sie abgestellt hat fragt sie ihn: Wo ist die Pascale? Ich weiß nicht, sagt er mit Mühe. Habt ihr gestreitet? Ja, sagt er. Und der Bukol mit der Pascale mit? Ja, sagt er, aber wo sie sind, weiß ich nicht! Sibylle mit Tee und Honig. Welche Tasse? Mit Tee ist er heikel. Wenn Bukol mit Pascale geht, das heißt für Carina, daß er ihr Recht gibt mit seinem Siamkatzenverstand. Jürgen immer noch mitten im Zimmer. Unser einziges großes Jederzeit-Allerweltszimmer. Müd sieht er aus. Und als ob er sich und uns und das Zimmer mit Mühe nur wiedererkennt. Dein Tee, sagte ich. Hast du Hunger? Danach, wenn du willst, schlaf gleich. Sibylle muß zum Verlag. Carina und ich dann bald in den Kinderladen. Wenn du willst, geh ein Stück mit uns mit. Grau, kühl und feucht der Morgen. Ein Werktag. Carina gerade erst krank gewesen. Die meisten Kinder in Frankfurt. Frankfurter Herbsthusten, Stadtschnupfen, Automobilbronchitis, Rhein-Main-Chemiegrippe. Ein Souterrainkinderladen in einem besetzten Haus. Klamm, illegal, fußkalt und dazu auch noch schlecht zu heizen. Wir renovieren ihn seit drei Jahren. Fieber, Mittelohrentzündung, Pseudokrupp. Jeden Herbst fängt es eher an. Hätten im Sommer länger mit ihr verreisen sollen. Wie letzten Sommer. Setz dich! Dieses Bücherregal ist neu. Von Ikea. Jemand aus dem Kinderladen hat es für uns besorgt, denn ohne Auto kommt man nicht zu Ikea. Asozial ohne Auto. Nichtmal als Konsument von Bedeutung. Eine verkrachte Existenz. Durch den Kinderladen kennen wir Leute mit Auto und Doktortitel. Mehr Regale und Bücher passen jetzt beim besten Willen nicht mehr hier rein. Endgültig. Das siehst du ja selbst. Erkennst du die Aussicht noch? Wolken. Ein Frankfurter Herbsthimmel. Wir wohnen schon mehr als fünf Jahre hier. Schräg gegenüber erst kürzlich das Dach neu gedeckt. Hier vor unsrem Giebelfenster. Wie bei einem Bilderrätsel und jetzt stimmen die Farben nicht mehr. Eine Fälschung, ein Trick, eine optische Täuschung. Das Fenster auch neu. Beide. Nur hier im Zimmer die beiden. Wird als Verbesserung auf die Miete umgelegt. Alles immer teurer. Die alten sind schöner gewesen. Aber weil es eine Verbesserung ist, kann man nichts dagegen machen! Wo es um den Fortschritt geht, wird man nicht gefragt! Der Schreiner, der uns im März die neuen eingesetzt hat, aber die Rahmen sind Kunststoffrahmen oder aus Metall und kunststoffbeschichtet, also eher wohl ein Monteur. Aus dem Rheinland. Aus Leipzig. Aus Leipzig ins Rheinland und jetzt hier im Großraum Rhein-Main. Mehr, sagt er, kann er mit seiner Arbeit nirgends verdienen! Und hat meinen Stift mitgenommen, den breiten roten Zimmermannsbleistift! Gerade jetzt, wo wir endlich zu sparen anfangen wollen! Aber ich muß jede Seite zwanzigmal abschreiben. Immer anders und jedesmal besser. Und dafür brauche ich so einen Stift. Wie ein breiter roter Strich muß er ruhig und sicher auf der korrigierten Manuskriptseite liegen. Damit sie stillhält und läßt sich gut abschreiben. Links von der Schreibmaschine. Und er kennt sich aus und zeigt mir die richtige Zeile. Immer gleich auf den ersten Blick. Quer liegt er, rollt nicht weg und die Arbeit geht vorwärts. Man kann ihn gut weiterschieben. Ein unbeirrbarer Wegweiser. Sogar mit Zentimeterskala. Unfehlbar. Mehr als drei Jahre ihn gehabt. Seit Januar 1980. Hier lag er! Ich wußte im voraus, der Monteur nimmt ihn mit! Ich hätte es wissen müssen!

Müd mein Freund Jürgen. Müd und unruhig. Kein Gedanke an Schlaf. Wir gehen alle zusammen die Morgentreppe hinunter. Wie früher. Oft so gegangen. Aber wo ist Pascale? Sibylle mit dem Fahrrad in den Verlag. Jürgen, Carina und ich in den Kinderladen. Unterwegs vier frühen Bettlern begegnet. Über den Campus. Leer der Campus. Nur ein paar eilige graue Herbstgestalten ohne Gesicht und weichen dem Wind aus. Beton, Glas, Betongraffiti, Plakate, Plakatfetzen, Botschaften, Wind. Der Springbrunnen abgestellt. Sonst immer sprüht er und rauscht so hell, daß man bei ihm stehenbleiben muß. Ein Silberbrunnen. Noch vor ein paar Tagen hier auf dem Campus der Sommer. Gestern oder vorgestern noch. Man konnte denken, er bleibt. Bunt durcheinander die Tage und Menschen. Und mit langsamen Schritten und geduldigen Schatten über den Platz und um den Brunnen herum. Bücherstände. Billige Kugelschreiber. Filzstifte. Alte Zeitschriften. Langsam die Zeit. Ein Inder mit Turban und hat indischen Silberschmuck zu verkaufen. Noch mehr Bücherstände. Gebrauchte Schallplatten. Musikcassetten. Schwarzmarktmusikcassetten. Jeans, Secondhandjeans, gefälschte Jeans. Musik, Bettler, Kinder, Skateboardfahrer, Flugblätter, Zeitungen, Pflasterstrand, Taz, Diskus, Azet, Konkret, das Argument und die Rundschau. Freiheit für! Kernkraft, nein danke! Macht kaputt, was euch kaputt macht! Zwei spielen Federball über fremde Köpfe hinweg. Erst zwei und dann zweimal zwei. Parolen, Geldsammelbüchsen, Unterschriftslisten, Sachsenhäuser Salzlaugenbrezzeln. Einer kreidet Dali. Einer nimmt eine gestern gekreidete guterhaltene Mona Lisa in Besitz. Ein Straßensänger, der Pause macht. Mit Hut, Gitarre und Mundharmonika. Aus Dublin. Singt Dylan. Aber jetzt ist er eingeschlafen. Nicht nur Sachsenhäuser Salzlaugenbrezzeln, auch oberhessischen Pflaumenkuchen. Stück zwo Mack. Beinahe DIN A4. Keine Wespen mitessen! Ein Kindergarten. Die Uni-Kita. Und (weil der Kuchen so krümelt) zahlreich die Spatzen, Amseln und Tauben. Sogar Krähen und Elstern auf dem Campus und inoffiziell eine Vorhut von Eichelhähern. Eifrige Hunde. Schlafende Hunde. Hunde, die Bettlern und Hunde die keinem gehören. Alleinstehende Campushunde und wer soll für sie die Hundesteuer bezahlen? Haushoch eine Silberfontäne, die auch als Dusche genutzt werden kann. Heiß ist es! (Das war gestern!) Beim Brunnen und unter den Säulen und auf jedem Mäuerchen Studenten und Sommer. Ein Frankfurter Sommer. Und langsam die Zeit. Keine Wolke am Himmel. Jeder Augenblick lädt zum Verweilen ein. Die schönsten Studentinnen! Mit nackten Schultern, mit nackten Armen und nackten Beinen. Manche mit nacktem Bauch. Im Mai oder gestern noch! Und lassen sich von der Sonne streicheln. Sie lächeln, sie blinzeln, sie fassen immer wieder sich selbst an. Sie wissen genau, wie es geht. Und streicheln die Welt mit Gesten und Blicken. Müssen immer noch ein bißchen herumrutschen und sich bequemer und noch bequemer zurechtschmiegen. Schuhe aus. Füße hoch. Augen zu. Wie Katzen! Und jedes Kleidungsstück genau richtig und manchmal ein bißchen zu knapp! Und paßt so gut und gehört zu ihnen wie ein angeborenes Fell. Und gleich soviel Zärtlichkeit in allen Gesichtern, wenn einmal vorbehaltslos die Sonne scheint (also gestern!). Die Sonne, die kennt uns! Haben ihre Taschen und Schreibblöcke und Klausurarbeiten zur Ruhe gelegt oder als Kissen und Nackenstützen. Haben sich Stühle aus der Mensa geholt. Sogar kleine Tischchen aus der Cafeteria. Manche sich Bastmatten mitgebracht wie in ein Schwimmbad. Und ziehen immer noch etwas aus. Heiß ist es! Sommer und Cola und Pappbecher vom McDonald’s. Und Obst und Sprudel und Äppelwoi und Bauernhandkäs und Quark von den Marktständen an der Warte. Und ein bißchen Kiff jeden Tag von daheim mit. Die ersten Rotweinflaschen um elf Uhr vormittags. Um halb elf, um zehn. Und Eis und Fanta und Fischbrötchen. Buttermilch, Joghurt und Knäckebrot von der Leipziger Straße. Alles was du willst von der Leipziger Straße. Gestern oder vorgestern noch. Was soll ich dir sagen, du kennst den Campus ja selbst, sagte ich. Und die Frankfurter Sommer auch. Sommer. Altweibersommer. Der Inder mit Turban grüßt wie ein Maharadscha. Er grüßt uns, sooft wir vorbeikommen. Eines Tages, das weiß er, wird Carina bei ihm zwei silberne Ohrringe kaufen! Vielleicht schon bald! Entweder von ihrem eigenen Geld oder ich bin dann derjenige, der sie bezahlt. Vielleicht ist sie dann auch schon groß und erwachsen. Entweder Löcher in den Ohrläppchen oder er macht ihr unverlierbare Clipse an die Ohrringe dran, Garantieclipse. Aber eigentlich haben wir diesen Silberschmuckinder und den Sommer hier auf dem Campus schon nicht mehr gesehen, seit Carina Ende September krank wurde. Nur ein paar Tage nach ihrem Geburtstag. Ich weiß auch schon welche Ohrringe! sagt Carina. Schon lang! Und der Mann, der sie hat, der mit dem Stand, weiß es auch schon. Die schönsten! Für siebzehn Mark! Er hat einen Stand zum Aufstellen. Und noch einen kleinen Stand, den er anzieht und vor sich herträgt, sagt sie und macht es vor. Endlich jetzt aus dem Wind alle drei. So ein kurzes Stück und vier Morgenbettler. Und hätten mühelos noch mehr treffen können. Kaum erst zehn Uhr. Über den leeren windigen Campus, als ob wir da etwas verloren hätten, Jürgen, Carina und ich. Aber wissen nicht mehr, was es war. Aber wichtig, zweifellos wichtig! Wer weiß, vielleicht unersetzlich! Mit Carina in den Kinderladen. Sie hinbringen und dann die Bockenheimer Landstraße zurück, er und ich. Kastanien. Er bückt sich und hebt eine auf. Muß man am Hemd, an der Jacke abreiben und polieren! Nach Herbst und Morgen und Feuchtigkeit riecht es. Nach Stadt, nach Oktober, nach altem Laub. Sonst auf jedem Rückweg in Gedanken schon immer die Vormittagsarbeit mir vorbereitet. Wenigstens die nächsten paar Wörter. Noch von gestern den Anfang von einem Satz. Und muß jetzt sehen, daß auch dieser Sommer (seit wann denn?) vorbei ist. Gegangen. Vielleicht weil Carina krank wurde im September. Als hätten wir ihn veruntreut oder gekränkt. Vielleicht, daß er sonst geblieben? Bettler, auf Schritt und Tritt Bettler. Immer mehr Bettler in letzter Zeit. Säufer, Penner, Obdachlose. Total überlaufen in Frankfurt die Branche. Noch nicht einmal diese Zukunft wird für uns am Ende übrig – nichts bleibt! Mußten in zwei Kneipen. Erst ins Dr. Flotte direkt an der Warte. Düster. Schwarzbraunes Holz. Wie geräuchert. Und die Fenster aus Flaschenglas. Ein düsterer Kneipenvormittag. Sie haben eben erst aufgemacht. Und es scheint, daß wir eher stören. Einerseits bei den Vorbereitungen für die heutigen Mittagessen. Andererseits weil sie selbst noch nicht nüchtern und wo ist der gestrige Tag geblieben? Wie ein Schiff ohne Ziel das Dr. Flotte am Vormittag. Aber immerhin Procul Harum. Erst Procul Harum und dann Joe Cocker. Ich, sagte ich, bin jetzt jeden Tag der arme Arbeitslose mit dem Kind. Wie bei Fallada. Wie er selbst. Immerhin viel geschrieben seit Juni. Seit damals bei euch. Aber immer noch erst am Anfang. Hast du die Kastanie eingesteckt? Ist dir in deiner Jacke nicht kalt? Beinah als ob ich immer noch im Zug, sagt er. Und sucht mit dem Blick, sucht die Gegenwart. Oder bei den Steinen vor dem Kamin verblieben. Ich dachte, ich kann nicht weg! Bis man überhaupt erst in Avignon ist! Dann von Pascale und der Trennung mir seine neue verbesserte Textfassung. Die ganze Reise im Kopf dran gearbeitet und natürlich noch lang nicht fertig. Erst ins Dr. Flotte und dann in den Pelikan. Man sitzt und kein Zug kommt, so sind die Kneipen am Vormittag. Wo wird sie sein? sagt er. Ruft bei euch vielleicht an! Da war es schon kurz vor zwölf. Milch kaufen! Der Tannenbaum noch nicht auf. Hätten von Rechts wegen vorher noch ins Café Laumer. Frankfurter Westendkuchen, Samtpolstersessel und gehobene Gastlichkeit mit Kronleuchtern und Tradition. Oder derzeit Umbau und Renovierung?

Mittag. Die leere Wohnung, die schon gewartet hat. Unordnung. Überall Unordnung. Noch von unserem eiligen Aufbruch am Morgen. Noch von gestern und vorgestern. Eine alte Zeitung. Die falschen Schuhe. Der Sommer vorbei. Gleich bei der Tür Jürgens Reisetasche wie ein großer schlafender Hund. Spielzeug, Bücher, Aschenbecher. Die verpaßten (gefälschten) Nachrichten. Auf dem Eßtisch Bücher, Zettel und Frühstücksgeschirr. Tageslicht. Trüb ist es. Abgestanden das Tageslicht. Wie von gestern. Überall in der Wohnung unsre gestrigen Tage. Weit herumgestreut die gebrauchten, in vielerlei Gesten erstarrten Kleidungsstücke von Sibylle und Carina. Ein Schlafanzug mit Marienkäfern, der jetzt auch bald zu klein. Jeden Tag hat sie neue Wörter! Stofftiere, Strümpfe, Hemden, Pullover. Teils schlafend, teils winken sie. Wie ein ferner Horizont meine drei Arbeitstische. Staub. Die Schreibmaschine am Morgen schon aufgedeckt und noch von gestern. Vor dem Fenster der Tag und schweigt. Bücher, immer mehr Bücher. Muß jedes Buch immerfort seinen Namen buchstabieren und seine Geschichte. Autor, Titel und Inhalt. Wann gekauft, wann und wo? Die Farben als Botschaft. Bilden Muster, rufen und grüßen mich von allen Seiten. Das neue Regal auch bald voll und für mehr reicht der Platz nicht. Für ein ordentliches Leben längst schon zu viele Bücher. Teppiche, Teppichmuster. Auf den Teppichen Matratzen, Kissen und Sessel – das kennst du, kennst du längst, werde ich zu ihm sagen. Nur ich muß immer wieder darüber staunen, daß wir es sind, die so große lichtgraue Samtsessel. Besitz. Eigentum. Nimm Platz! Und dann sitzt man darauf. Vier Stück. Beinah schon eine richtige Herde. Und diese dauerhaft dicken Teppiche, unsre Unrast zu beschwichtigen. Und auch als Spielplatz alle Tage. Mit Matratzen und Kissen ein Spielplatz für uns und Carina. Beinah wie ein Garten, der immerfort blüht. Und dazu die Tage auch. Die Zeit, eine Gegenwart, Dauer. Hauptwohnsitz, Briefkasten, Klingel und Tür und ein Namensschild an der Klingel neben der Tür. Zu jeder Zeit für uns allein ein Bad. Blau wie das Meer und der Himmel an einem Mittag im Süden, wenn man zum erstenmal hinkommt. Selbst die Farben gemischt. Hier im Zimmer die Wände gelb. Rote Vorhänge. Eine gebrauchte Stehlampe wie in einem Salon im 17. Arrondissement in Paris. Alphabetisch die Bücher. Landkarten, Weltatlas, Papiervorräte und Manuskriptschränkchen. Ein Weltatlas von 1911 oder 1913. Die Schreibmaschine. Waschmaschine und Kühlschrank. Man macht die Kühlschranktür auf und im Kühlschrank ein Licht, eine künstliche kleine Sonne. Überhaupt eine Wohnung. Man muss sich wundern. Sich wundern fängt immer wieder von vorne an! Sonst immer im Herbst muß Sibylle die Wohnung umräumen. Frankfurt also, Frankfurt am Main. Vor sechs Jahren hergekommen und jetzt schon fünf Jahre hier in der Wohnung. Mehr als fünf Jahre. Seither ein Kind. Und wächst und wird groß, das Kind. Ein richtiges Menschenkind. Bücher, Bücherwände. Wie aus dem Himmel gefallen das Spielzeug. Du siehst es ja selbst. Und wir gehen seit Jahren mit unsren Gedanken und Füßen um dieses Spielzeug herum unsre Wege. Manchmal hebt man etwas auf. Sobald ich alleine bin, weiß ich nicht, ob ich nicht eh und je alles nur träume. Der alte Plattenspieler. Bob Dylan. Hard rain. Ist es nicht sogar deine Platte? Wir stehen beim Fenster und betrachten das Manuskript. Man muß es anfassen! Notizblöcke, Zettel, Mappen, ein Ordner. Staufenberg kennst du ja. Wir machen ein Bett für ihn. Du kannst arbeiten, sagt er. Auch herumgehen. Wenn ich schlafen kann, kann ich sowieso schlafen. Ohne Schreibmaschine, sagte ich. Nur aus den letzten Tagen die Seiten lesen und korrigieren ohne zu rascheln! Oft einer des andern Schlaf bewacht. Oft bin ich zu ihm, um bei ihm wieder essen und schlafen zu lernen. Oft geschrieben, während er kocht und liest und die Platten auflegt. Immer gern in Küchen geschrieben, aber diese Stehküche ist sogar zum Stehen zu eng. Nicht Tisch noch Stuhl und das Fenster zu klein. Schräg ein Dachfenster. Der Flur auch zu eng. Als ich beim Schreiben noch trank, konnte ich immer und überall schreiben, solang es etwas zu trinken gab. Ich dachte, jetzt schläft er, da schreckt er nochmal auf und sagt: Vielleicht schlafe ich nicht, sondern liege nur eine Stunde mit geschlossenen Augen. Ganz gerade ausgestreckt. In Büchern und Anstalten heißt das ruhen. Lesen, ändern, dazuschreiben, bis man es kaum noch lesen kann und nächstens bald wieder abtippen muß. Dabei weit, immer weiter im eigenen Kopf herum, immer ich. So vor mich hin eine Weile und nur darauf achten, daß ich nichts zu ihm sage, solang er schläft. Auch mit mir selbst leise nur, ein Gemurmel. Und die Arbeit wie außer der Reihe, an einem überzähligen Tag. Wie im Wald ein paar Himbeeren, die man unverhofft findet und ißt sie gleich auf. So rot und so süß und riechen wie das leibhaftige Leben! Himbeeren! So mit mir selbst und dabei durch den Text. Mit dem Text in den Tag hinein. Mein Arbeitsfrieden. Bis er sich regt und jäh aufschreckt und sagt: Wenn ich die Augen zuhabe, fährt alles! Und kramt in seiner Reisetasche, als ob er die Reisetasche beruhigen muß und muß ihr gut zureden, damit sie noch eine Weile stillhält. Ins Bad, in die Küche. Gleich, sagte ich, nur noch den Absatz zuende. Noch vier Sätze! Nochmal den Dylan? Gleich bin ich soweit. Fang nur schon zu sprechen an, sagte ich. Er Tee, ich Espresso und Tee. Zigaretten. Er ruft Edelgard an. Wo triffst du sie? Im Statt-Café in der Grempstraße. Wer zuerst da ist, wartet. Ich bring dich hin, sagte ich. Kaum erst halb drei und der Tag fängt schon an zu vergilben. Sibylle im Verlag anrufen. Wie war es? fragt sie. Wo bist du? Was habt ihr gemacht? Kann gut auf dem Heimweg, sagt sie, mit dem Fahrrad am Kinderladen vorbei und Carina mitbringen. Dann bleibt dir noch Zeit. Nein, sagte ich, gehen jetzt über die Leipziger, Jürgen und ich. Jürgen trifft Edelgard. Ich bring ihn nur hin, dann gleich in den Kinderladen. Trotzdem, sagt sie, ich auch! Ich laß das Fahrrad im Kinderladen und dann gehen wir zusammen. Können uns Zeit lassen. Ich will auch mit dir über die Leipziger! In einer Stunde dann, sagt sie. Frag Jürgen, ob er zum Essen da ist! Gut, sagte ich. In einer Stunde und dann durch den Herbst. Wer zuerst da ist, wartet! Erst kürzlich damit angefangen, den Kinderladen in den Nachmittag hinein zu verlängern. Müssen jetzt zum Abholen keine festen Zeiten mehr einhalten. Die Kinder sowieso wollen immer nur weitermachen mit dem, was sie gerade tun. Erst kürzlich und jetzt auch schon bald wieder ein Jahr. Ob du heute Abend, sagte ich zu ihm, zum Essen? Sie läßt dich grüßen, Sibylle! Aber wenn du es noch nicht weißt, dann weißt du es eben noch nicht. Auf jeden Fall früh am Abend, sagt er. Kannst du mir bis dahin noch dreißig Mark? Ich geb sie dir dann gleich zurück. Und von vorhin das Kneipengeld kriegst du auch. Zwischen sechs und sieben, aber muß danach nochmal weg.