Der Oslo-Report - David Rennert - E-Book

Der Oslo-Report E-Book

David Rennert

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Beschreibung

Eine unglaublich mutige Tat des politischen Widerstands eines Einzelnen gegen die Nazis. Acht Wochen nach dem Überfall Nazideutschlands auf Polen 1939 gingen zwei Briefe in der britischen Botschaft in Oslo ein. Der anonyme Verfasser beschrieb neue deutsche Waffensysteme und umriss die Ziele militärischer Forschungsprogramme der Wehrmacht. Der britische Geheimdienst fürchtete gezielte Desinformation. Doch ein junger Geheimdienstoffizier erkannte, dass die Informationen größtenteils zutreffend waren – und zum Vorteil der Alliierten genutzt werden konnten. Aber wer hatte den "Oslo-Report" geschrieben? Bis heute ist Hans Ferdinand Mayer, der Verfasser des Dokuments, kaum bekannt. Er riskierte alles und entkam nur knapp dem Tod im KZ. In diesem Buch zeichnet David Rennert die atemberaubende Geschichte des Oslo-Reports nach.

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David Rennert

Der Oslo-Report

Wie ein deutscher Physiker diegeheimen Pläne der Nazis verriet

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

www.residenzverlag.com

© 2021 Residenz Verlag GmbH

Salzburg – Wien

Alle Urheber- und Leistungsschutzrechte vorbehalten.

Keine unerlaubte Vervielfältigung!

Umschlaggestaltung: BoutiqueBrutal.com

Umschlagfoto: shutterstock / LiliGraphie

Typografische Gestaltung, Satz: Lanz, Wien

Lektorat: Marie-Therese Pitner

ISBN ePub:

978 3 7017 4640 8

ISBN Printausgabe:

978 3 7017 3517 4

Inhalt

Vorwort: Über dieses Buch

Prolog: Hotel Bristol, Oslo 1939

1. Kapitel: Ein Physiker für den Geheimdienst

Das Ende der Beschwichtigung

Schnittstelle im MI6

Aufregung um Hitlers »Geheimwaffe«

2. Kapitel: Briefe aus Oslo

Kampfflugzeuge und ein Kriegsschiff

Peenemünde

Ein »lohnender Angriffspunkt«

Hightech für Hitler

Tückische Torpedos

Desaster in Venlo

3. Kapitel: Der Himmel über England

Radar – eine Revolution in Wellen

Die dunkelste Stunde

Battle of the Beams

4. Kapitel: »Operation Hydra«

Kontroverse um Raketen

Hölle unter Tage

Von der SS zur NASA

5. Kapitel: Falsche Fährten

Stasi-Offizier als Bestsellerautor

Heiße Spur zu Paul Rosbaud

6. Kapitel: Von der Front an die Universität

Studium in Heidelberg

Nobelpreisträger auf Abwegen

Relativität und »arische Physik«

7. Kapitel: Licht und Schatten in Berlin

Goebbels’ Traum

Reise nach New Jersey

Martyl Karweik

8. Kapitel: Wendepunkt

Nachtzug nach Oslo

Hoffnung auf Emigration

Prinz-Albrecht-Straße 8

9. Kapitel: Am Abgrund

Forschungsarbeit im KZ

Häftlingskommando »Wetterstelle«

Zusammenbruch

10. Kapitel: Der Vorhang fällt

»Operation Overcast«

Abschied von Amerika

»The Oslo Person«

November 1989

Epilog: Unpolitische Wissenschaft?

Dank

Anhang

Der »Oslo-Report«

Literaturverzeichnis

Namenregister

Vorwort:

Über dieses Buch

Zu gut, um wahr zu sein – das war die erste Reaktion im britischen Geheimdienst auf ein spektakuläres Dokument, das im November 1939 auftauchte. Es war acht Wochen nach Beginn des Zweiten Weltkriegs per Post in der Botschaft Großbritanniens in Oslo eingelangt und gab angeblich Einblicke in deutsche Rüstungsgeheimnisse: Auf insgesamt sieben Seiten deckte der anonyme Verfasser neue Entwicklungen der Rüstungsforschung, geheime Waffensysteme und Standorte wichtiger militärischer Forschungsprogramme der Wehrmacht auf.

Der Bericht nannte beunruhigende Details über die Fortschritte der deutschen Radarforschung und gab erste Hinweise auf ferngesteuerte Raketen und die Heeresversuchsanstalt Peenemünde auf der Ostseeinsel Usedom, wo seit 1936 an der Entwicklung von Langstreckenwaffen gearbeitet wurde. Zum Teil wurden erstaunlich detaillierte technische Angaben gemacht – samt Hinweisen auf mögliche Abwehrmaßnahmen. Sogar die Bombardierung konkreter Ziele in Deutschland wurde empfohlen, deren Zerstörung die deutsche Kriegsmaschinerie schwer treffen würde. Doch die Skepsis gegenüber diesen überraschenden Enthüllungen bei den Empfängern war groß: Der Inhalt mochte brisant erscheinen, die dubiosen Umstände ließen aber ein Täuschungsmanöver befürchten. Gezielte Desinformation war weit verbreitet und nach einem katastrophalen Misserfolg britischer Agenten nur Tage vor dem Eintreffen des Berichts in Oslo lagen die Nerven in London blank.

Der junge Physiker und Geheimdienstoffizier Reginald Victor Jones erkannte jedoch bald, dass die Angaben größtenteils tatsächlich zutreffend waren und zum Vorteil der Alliierten genutzt werden konnten. Nach 1945 bezeichnete Jones den »Oslo-Report« als den »wahrscheinlich besten Einzelbericht während des gesamten Krieges« und befasste sich bis ans Ende seines langen Lebens ausführlich damit. Auch Winston Churchill erwähnte den Bericht anerkennend in seinen Memoiren. Wer ihn eigentlich geschrieben hatte, blieb die längste Zeit unklar.

Die Geschichte des Oslo-Reports ist in der deutschsprachigen Öffentlichkeit wenig bekannt. In den ersten Nachkriegsjahrzehnten stürzten sich zwar einige Journalisten und Autoren darauf und veröffentlichten teils spekulative Artikel und Bücher, die meist im Stil reißerischer Agentenstorys den vermeintlichen Namen und die Motivation des Urhebers aufdeckten. Auch wenn manche davon interessante Biografien ans Licht brachten, waren ihre Zuschreibungen allesamt falsch. Als Ende der 1980er-Jahre endlich der vollständige Inhalt des Oslo-Reports und der richtige Name des Verfassers publiziert wurden, war das Interesse daran schon verhallt, die Resonanz blieb denkbar gering. Zu Unrecht, wie in diesem Buch gezeigt werden soll.

Es ist Hans Ferdinand Mayer (1895–1980) gewidmet, dem Autor des Oslo-Reports, dessen mutige Taten gegen die nationalsozialistische Herrschaft bis heute kaum gewürdigt worden sind. Einige wenige haben sich in den vergangenen Jahren darum bemüht, dem Wissenschaftler, Techniker, Widerstandskämpfer und KZ-Überlebenden Mayer mit Verspätung doch noch ein Andenken zu setzen: Die Nachrichtentechniker und emeritierten Universitätsprofessoren Don H. Johnson (Rice University, Houston) und Joachim Hagenauer (TU München) sowie der Historiker Martin Pabst haben Arbeiten zu Mayer vorgelegt, auf denen ich aufbauen konnte. Auch ohne die Unterstützung durch Allen Packwood und seinem Team am Churchill Archives Centre in Cambridge, wo sich der gesamte Nachlass von Jones befindet, wäre die Entstehung dieses Buchs nicht möglich gewesen. Ihnen bin ich zu besonderem Dank verpflichtet.

Der Oslo-Report erzählt aber nicht nur von einem deutschen Wissenschaftler, der sich als einer der wenigen in seinem Umfeld aktiv gegen den Nationalsozialismus engagiert und einen hohen Preis dafür bezahlt hat. Es ist auch eine Geschichte der engen Verflechtungen zwischen Wissenschaft, Politik, Geheimdiensten und Militär. Der Zweite Weltkrieg wurde nicht umsonst oft als »Krieg der Physiker« bezeichnet, in dem der Wettlauf um neue Technologien ein bis dahin völlig ungeahntes Ausmaß erreichte. Dieses Buch handelt von einem Versuch, die Regeln dieses tödlichen Rennens zu brechen.

»Der ›Oslo-Report‹ enthielt Informationen von fast unschätzbarem Wertüber deutsche wissenschaftliche Entwicklungen.«

REGINALD VICTOR JONES (1911–1997),britischer Physiker und wissenschaftlicher Geheimdienstoffizier

»Eine Bestie wie Hitler sollte den Krieg nicht gewinnen.«

HANS FERDINAND MAYER (1895–1980),deutscher Physiker und Elektrotechniker

Prolog:

Hotel Bristol, Oslo 1939

An seinem dritten Tag in Oslo wird aus einer mutigen Idee gefährlicher Ernst. Die prunkvolle Lobby ist nahezu menschenleer, als Hans Ferdinand Mayer ins Hotel Bristol zurückkehrt. Der Portier lässt sich nicht lange bitten: Schnell hat er eine Schreibmaschine organisiert, die Mayer mit auf sein Zimmer nehmen kann. Auf dem Weg hinauf über die von schweren Spiegeln und Jugendstil-Skulpturen gesäumte Treppe hält er kurz inne. Aus dem Ballsaal dröhnt Musik, das Orchester probt für die Dinnerparty, die allabendlich scharenweise Gäste ins Bristol lockt. Auf diesem Parkett haben schon internationale Berühmtheiten wie die Jazzlegende Josephine Baker das Tanzbein geschwungen. Mayer schüttelt den Kopf. Nach Feiern ist ihm schon lange nicht mehr zumute.

Es ist Mittwoch, der 1. November 1939. Vor genau zwei Monaten hat Nazideutschland Polen überfallen und Europa in einen neuen Krieg gestürzt. Mayers über die Jahre gewachsene Abneigung gegen das nationalsozialistische Regime ist inzwischen in Hass umgeschlagen, die Ohnmacht einem Gefühl der Entschlossenheit gewichen. »Ich musste gegen den Teufel kämpfen«, schrieb er später, »ich musste ihm so viel Schaden zufügen wie möglich.« Noch an diesem Abend will er zum ersten Schlag ausholen.

In seinem Zimmer angekommen, setzt sich Mayer an den Schreibtisch. Er will alles möglichst detailliert und strukturiert zu Papier bringen, was er in Erfahrung gebracht hat. Auffliegen darf er nicht – er ist schon einmal verhaftet worden und weiß nur zu gut, wie die Nazis selbst mit harmlosen Gegnern umgehen. Was einem Landesverräter droht, will er sich lieber nicht vorstellen. Hier in Norwegen scheinen Gestapo und Krieg zwar weit weg, höchste Vorsicht ist trotzdem geboten. Er zieht seine Lederhandschuhe an, um Fingerabdrücke zu vermeiden, ehe er das erste Blatt Papier in die Schreibmaschine einspannt und tippt:

»1. Ju 88 Programm. Ju 88 ist ein zweimotoriger Langstreckenbomber und hat den Vorteil, dass er auch als Sturzbomber verwendet werden kann. Es werden im Monat mehrere Tausend, wahrscheinlich 5000 hergestellt. Bis April 40 sollen 25 000–30 000 Bomber allein von dieser Sorte fertiggestellt sein.

2. Franken. Im Hafen von Kiel liegt das erste deutsche Flugzeugmutterschiff. Es soll bis April 40 fertiggestellt sein und heißt ›Franken‹.

3. Ferngesteuerte Gleiter. Die Kriegsmarine entwickelt ferngesteuerte Gleiter, d. s. kleine Flugzeuge von etwa 3 m Spannweite und 3 m Länge, die eine große Sprengladung tragen. […] Die Geheimnummer ist FZ 21 (ferngesteuertes Zielflugzeug). Die Erprobungsstelle ist in Peenemünde, an der Mündung der Peene, bei Wolgast in der Nähe von Greifswald.«

Wieder mit Handschuhen steckt er die beschriebenen Seiten umständlich in ein Kuvert. Er will die Papiere gleich loswerden – es ist kein angenehmes Gefühl, sie bei sich zu haben. Er hat lange darüber nachgedacht, wie er sie am besten weiterleiten könnte. Letztlich erscheint ihm die nächstliegende Variante am wenigsten riskant: per Post. Morgen würde er den zweiten Teil schreiben und gesondert aufgeben. Das würde die Chance erhöhen, dass zumindest ein Teil der Informationen das Ziel erreicht. Die Adresse steht im Telefonbuch: Storbritannia og Nord-Irlands Storbritannias ambassade i Oslo, Drammensveien 79.

Mayer will den Brief nicht aus dem Hotel abschicken. Es ist schon dunkel, als er in die Kälte tritt. Nur wenige Schritte entfernt liegt die Karl Johans gate, die zentrale Prachtstraße der Osloer Innenstadt, die vom Ostbahnhof direkt zum königlichen Schloss führt. Dieses ist die offizielle Residenz der norwegischen Königsfamilie. Dass in Deutschland längst Pläne für den Überfall auf seine nördlichen Nachbarstaaten gewälzt werden, weiß Mayer nicht. Schon in wenigen Monaten wird Norwegen unter deutscher Besatzung stehen, der König ins britische Exil flüchten und das Schloss zum Hauptquartier des »Reichskommissars für die besetzten norwegischen Gebiete« umfunktioniert werden. Aber noch wird es von norwegischen Soldaten bewacht.

Mayer wirft das Kuvert in einen Briefkasten und spaziert zurück zum Hotel. In seinem Zimmer setzt er sich aufs Bett und streicht mit der Hand über die langen Narben, die sich über seine linke Wange ziehen. Wie ein anderes Leben erscheinen ihm die Tage, als er beim Mensur-Fechten in Heidelberg die Klinge zu spüren bekommen und selbst anderen Burschenschaftlern die jungen Gesichter zerschnitten hat. Als er beim großen Philipp Lenard, dem Physiknobelpreisträger von 1905, studierte. Wie stolz er damals war.

Heute ist Lenard ein besessener Nationalsozialist, der versucht, den antisemitischen Rassenwahn des »neuen Deutschlands« in die Naturwissenschaften einzuschreiben, der von einer »arischen Physik« fantasiert. Und er, Mayer, sein ehemaliger Musterstudent und Assistent, sitzt in einem Hotel in Norwegen und ist dabei, Deutschland an jene zu verraten, gegen die er im Ersten Weltkrieg noch gekämpft hat. Wie schnell sich die Zeiten ändern können.

Am nächsten Tag setzt sich Mayer wieder an die Schreibmaschine.

»10. Torpedos. Die deutsche Marine hat 2 neue Arten von Torpedos. a) Man will z. B. Convoys von 10 km Entfernung aus angreifen. Solche Torpedos haben einen drahtlosen Empfänger, der 3 Signale empfangen kann. Mit diesen Signalen kann man von dem Schiff, welches das Torpedo geschossen hat, oder von einem Flugzeug aus, das Torpedo nach links, nach rechts oder geradeaus steuern. Es werden lange Wellen verwendet, die gut in das Wasser eindringen …«

Nachdem die letzte Seite fertig beschrieben ist, lehnt er sich zurück. »Der zweite Brief war eine Fortsetzung des ersten und gemeinsam gaben sie einen ziemlich vollständigen Überblick über die Vorhaben der Nazis hinsichtlich geheimer Waffen zu diesem Zeitpunkt«, erinnert er sich später.

Als die brisante Post wenig später in der britischen Botschaft in Oslo eintrifft, ist Mayer schon wieder auf dem Rückweg nach Berlin. Dass er in Oslo sein Leben aufs Spiel gesetzt hat, ist ihm bewusst. Es war nicht das erste Risiko, dass er in dieser dunklen Zeit eingegangen ist. Was ihm in Deutschland bevorsteht, würde er trotzdem nicht für möglich halten.

1. Kapitel:

Ein Physiker für den Geheimdienst

Der Anruf aus Berlin kommt am 31. August 1939 gegen 16 Uhr. »Großmutter gestorben.« Auf diese Worte hat Alfred Naujocks in seinem Hotel im oberschlesischen Gleiwitz (polnisch: Gliwice) seit mehr als zwei Wochen gewartet. Sie sind das Startsignal für die bisher wichtigste Geheimoperation des 27-jährigen SS-Sturmbannführers. Naujocks hat sich im berüchtigten Sicherheitsdienst, dem Geheimdienst der SS, in den vergangenen Jahren einen Namen gemacht: Morde, Bombenanschläge und Spezialaufträge im Ausland sind das Metier des glühenden Nationalsozialisten. Die geplante Aktion in Gleiwitz ist von besonderer Tragweite, der Befehl dazu kommt von ganz oben. Reinhard Heydrich, der Chef des Sicherheitsdienstes, hat Naujocks persönlich damit beauftragt. Heute Abend soll es also wirklich beginnen.

Gleiwitz liegt nur wenige Kilometer von der polnischen Grenze entfernt. Nordwestlich der Stadt ragt der »Schlesische Eiffelturm« 118 Meter in die Höhe, ein Rundfunksender aus Holz, der ein wenig an das berühmte Wahrzeichen von Paris erinnert. Um Punkt 20 Uhr stürmt Naujocks mit sechs bewaffneten SS-Männern – alle als Zivilisten getarnt – das Stationsgebäude neben dem Sender. Die Angreifer schießen wild um sich, überwältigen das Personal der Radiostation und dringen in den Senderaum ein. Doch ihnen ist ein grober Fehler unterlaufen: Entgegen ihren Erwartungen sitzt hier kein Moderator am Mikrofon, der Sender Gleiwitz überträgt die Sendungen des Reichssenders Breslau. Zwar gibt es auch in Gleiwitz ein eigenes Radiostudio, doch das befindet sich am anderen Ende der Stadt.1

Der Auftrag, die laufende Sendung gewaltsam für eine dramatische Durchsage zu unterbrechen, steht auf der Kippe. Mit einiger Mühe finden Naujocks’ Männer aber schließlich doch noch eine Möglichkeit, ihre Botschaft in die Welt zu schicken: Es gibt ein »Gewittermikrofon«, über das Hörer informiert werden können, wenn es durch Unwetter zu Unterbrechungen im Sendebetrieb kommt. Jetzt brüllt einer der SS-Männer seine einstudierte Nachricht auf Polnisch und Deutsch in dieses Notmikrofon: »Achtung! Achtung! Hier ist Gleiwitz. Der Sender befindet sich in polnischer Hand … Die Stunde der Freiheit ist gekommen!«2

Dreister könnte die Lüge kaum sein. Naujocks’ Aktion in Gleiwitz ist nichts anderes als eine mörderische Inszenierung, die Deutschland einen Vorwand für den Überfall auf sein Nachbarland liefern soll. Die fingierte polnische Attacke auf den Sender ist eines von mehreren aufwendig vorbereiteten Täuschungsmanövern, welche die SS in dieser Nacht im deutsch-polnischen Grenzgebiet durchführt, um dem Angriffskrieg gegen Polen wenigstens den dünnen Anstrich einer Rechtfertigung zu geben. »Ich werde propagandistischen Anlass zur Auslösung des Krieges geben, gleichgültig, ob glaubhaft«, hatte Adolf Hitler seine Generäle nur Wochen zuvor wissen lassen. »Der Sieger wird später nicht danach gefragt, ob er die Wahrheit gesagt hat oder nicht.«3

Etwa vier Minuten dauert die gefälschte Radiodurchsage in Gleiwitz, am Ende rufen die SS-Männer »Hoch lebe Polen!« ins Mikrofon. Damit ist es aber noch nicht getan – ein Mord soll die Lüge glaubhafter machen, dass es sich um einen Überfall polnischer Aufständischer handelt. Schon am Vortag hat die Geheime Staatspolizei (Gestapo) zu diesem Zweck Franciszek Honiok verhaftet, einen Vertreter für Landmaschinen aus dem nahe gelegenen Ort Hohenlieben (Łubie), der für seine pro-polnische Haltung bekannt ist. Während drinnen noch die Durchsage läuft, wird Honiok, vermutlich betäubt, vor den Eingang des Sendegebäudes geschleppt und erschossen. Es soll so aussehen, als wäre er einer der Angreifer gewesen und bei einem Schusswechsel getötet worden.4

Dass der Großteil der Worte aus dem Gewittermikrofon aus ungeklärten Gründen gar nicht gesendet wird und kaum jemand live etwas von dem fingierten Überfall mitbekommt, spielt letztlich keine Rolle, die deutsche Propagandamaschinerie läuft davon unbeirrt auf Hochtouren. Schon gegen 22 Uhr senden andere Radiostationen erste Berichte über den »polnischen Angriff« in Gleiwitz, während die Gestapo die örtliche Polizei an der Untersuchung des Vorfalls hindert.5

Auch in Pitschen (Byczyna), nordwestlich von Gleiwitz, und im südlich gelegenen Hochlinden (Stodoły) kommt es in den folgenden Stunden zu inszenierten »Zwischenfällen«. Auch dort lässt die SS Tote zurück – Häftlinge aus dem KZ Sachsenhausen, die zum Tragen polnischer Uniformen gezwungen und anschließend ermordet werden. Es soll so aussehen, als hätten sogar reguläre polnische Soldaten Grenzverletzungen begangen. Hitler hat seinen »Anlass«. Kurz vor Sonnenaufgang nimmt das deutsche Schiff »Schleswig-Holstein« ein polnisches Munitionslager auf der Halbinsel Westerplatte bei Danzig unter Beschuss – und gibt damit den Startschuss für die deutsche Invasion. Gleiwitz wird bald nur noch eine Randnotiz sein im größten Krieg, den die Menschheit je erlebt hat. An Franciszek Honiok erinnert sich kaum jemand.

Alfred Naujocks erzählt 1963 in einem Interview mit dem »Spiegel« nicht ohne Stolz von seinem Einsatz und gibt offen zu, dass er den Angriff auf den Sender Gleiwitz angeführt hat: »Es handelte sich um eine hochpolitische Aufgabe, die befehlsgemäß durchgeführt wurde.«6 Es sollte nicht seine letzte sein. Keine zwei Monate nach dem Überfall auf Polen erhält der SS-Geheimdienstmann seinen nächsten großen Auftrag aus Berlin.

Das Ende der Beschwichtigung

»Ich spreche zu Ihnen aus dem Kabinettszimmer in 10 Downing Street.« Es ist kurz nach 11 Uhr vormittags am Sonntag, dem 3. September 1939 – und Neville Chamberlains Karriere hat ihren Tiefpunkt erreicht. Lange hat der britische Premierminister versucht, das nationalsozialistische Deutschland zu besänftigen und durch immer neue Zugeständnisse an Hitler einen Krieg abzuwenden. Doch seine Beschwichtigungspolitik ist offenkundig gescheitert: Die deutsche Wehrmacht hat vor zwei Tagen Polen überfallen, eineinhalb Millionen Soldaten sind blitzartig in das Land einmarschiert, begleitet von Tausenden Flugzeugen und Panzern. Eine Reaktion Großbritanniens ist unvermeidlich – und überfällig.

Während die deutschen Panzerkolonnen auf Warschau zurollen und Kampfflugzeuge der Luftwaffe polnische Städte bombardieren, spricht Chamberlain mit Grabesstimme ins Radiomikrofon: »Heute früh hat der britische Botschafter in Berlin der deutschen Regierung eine letzte Mitteilung übergeben, dass zwischen uns Kriegszustand herrschen würde, sollten wir nicht bis 11 Uhr hören, dass sie bereit sind, ihre Truppen aus Polen abzuziehen. Ich muss Ihnen jetzt mitteilen, dass keine Zusage bei uns eingegangen ist und sich dieses Land nun im Krieg mit Deutschland befindet.« Hitler habe alle Möglichkeiten zu einer friedlichen Einigung mit Polen ignoriert, sagt Chamberlain. Sein Vorgehen zeige, dass von diesem Mann nichts anderes mehr zu erwarten sei als »Gewalt zur Durchsetzung seines Willens. Er kann nur mit Gewalt gestoppt werden.«7

Der Weg zu dieser öffentlichen Einsicht ist weit gewesen. Deutschland hat sich in den vergangenen Jahren nicht nur in einen totalitären Terrorstaat verwandelt, in dem Jüdinnen und Juden Schritt für Schritt diskriminiert, ausgegrenzt, beraubt und entrechtet werden, in dem als »rassisch minderwertig« klassifizierte Menschen und politisch Andersdenkende brutaler Verfolgung ausgesetzt sind. Hitlers aggressive Expansionspolitik lässt auch keine Zweifel daran, dass er es mit dem Eroberungskrieg ernst meint, von dem er schon ein Jahrzehnt zuvor in seiner Hetzschrift Mein Kampf fantasierte. Von deutschem »Lebensraum im Osten« und »rücksichtsloser Germanisierung« ist da die Rede. Doch bis zu diesem 3. September 1939 hat Chamberlains Regierung alles darangesetzt, einem Konflikt mit Deutschland aus dem Weg zu gehen.

Diese Appeasement-Politik hat zwar zu teils scharfer Kritik geführt, ist aber lange Zeit auf breite Unterstützung in der britischen Öffentlichkeit gestoßen. Zwei Jahrzehnte nach den Schrecken des Ersten Weltkriegs ist die Vorstellung eines neuerlichen Waffengangs alles andere als populär – Wähler und Wählerinnen lassen sich mit Kriegsrhetorik und der Aussicht auf deutsche Luftangriffe sicher nicht mobilisieren. Und was hätte Großbritannien schon zu gewinnen? Das Empire ist 1918 als Sieger aus einem katastrophalen Krieg hervorgegangen, aber taumelnd. Die 1920er-Jahre sind im Kolonialreich sehr unruhig verlaufen: Seit 1918 hat es kaum ein Jahr istgegeben, in dem die Herrschaft des Vereinigten Königreichs in den Kolonien nicht durch Unabhängigkeitsbewegungen und Rebellionen infrage gestellt worden ist. Oft antwortete London mit brutaler Gewalt, manchmal vergeblich. Zu einem neuen großen Krieg ist man weder wirtschaftlich noch militärisch bereit – Stabilität und die Erhaltung des Status quo sind das oberste Gebot, wie es ein Stabschef der britischen Armee ausdrückt: »Wir sind uns alle einig – wir wollen Frieden, nicht nur weil wir ein zufriedenes und deshalb von Natur aus friedliches Volk sind. Sondern weil es im imperialen Interesse unseres überaus verwundbaren Reiches liegt, nicht in den Krieg zu ziehen.«8

Infolge der Weltwirtschaftskrise 1929 sind die britischen Rüstungsausgaben auf ein Minimum reduziert worden, während die deutsche Kriegsmaschinerie auf Hochtouren läuft. Die Erfahrung des Ersten Weltkriegs hat gezeigt, wie sehr sich die Kriegsführung gewandelt hat. Dass ein künftiger Konflikt eine Materialschlacht noch größeren Ausmaßes werden würde, zieht in den 1930er-Jahren niemand mehr in Zweifel – und darauf ist Großbritannien nicht vorbereitet.

Zudem mangelt es an verlässlichen Verbündeten für einen Krieg gegen Deutschland: Die USA setzen auf Isolationismus und beabsichtigten nicht, sich erneut militärisch in Europa zu engagieren. Frankreich ist mit schweren innenpolitischen Krisen beschäftigt, und bei aller Abscheu gegen die Nazis erscheint die kommunistische Sowjetunion vielen Angehörigen der britischen Oberschicht als die größere Gefahr für Europa. Also hat man Hitler gewähren lassen und in Kauf genommen, dass Deutschland in Mitteleuropa neuerlich zur Hegemonialmacht aufsteigen konnte. Im Gegenzug wollte man Hitler diplomatisch verpflichten und in internationale Verträge einbinden – so die Hoffnung.

Hitler verfolgt ganz andere Pläne. Schon 1935 erklärte Deutschland die Abrüstungsverpflichtungen, die ihm 1919 von den Siegermächten des Ersten Weltkriegs im Vertrag von Versailles auferlegt worden waren, offiziell für nichtig, daran gehalten hatte sich das Land schon vorher nicht. 1936 revidierte Hitler die Vertragsbestimmungen weiter und stellte Großbritannien und Frankreich gleichsam auf die Probe: Die Wehrmacht marschierte in das entmilitarisierte Rheinland ein und baute damit ihre Stellung für künftige Vorhaben aus. Doch trotz militärischer Überlegenheit waren Frankreich und Großbritannien nicht bereit, entschieden gegen diese Provokation vorzugehen – und verpassten die vermutlich letzte Chance, die nationalsozialistischen Eroberungspläne noch vorzeitig zu stoppen.9

Nur Monate später schickte Deutschland Flugzeuge und Tausende Soldaten, getarnt als »Freiwillige« ohne Uniform, nach Spanien, um im Bürgerkrieg auf der Seite des faschistischen Generals Francisco Franco gegen die Regierung der demokratisch gewählten Republik zu kämpfen. Im Nachhinein erscheint der Luftangriff auf Guernica im April 1937 wie eine Generalprobe des kommenden deutschen Vernichtungskriegs: An einem einzigen Tag legten Kampfflugzeuge der Wehrmacht die baskische Stadt mit Spreng- und Brandbomben großflächig in Schutt und Asche.

Als die Wehrmacht im März 1938 in Österreich einmarschierte und den sogenannten »Anschluss« an Nazideutschland vollzog, gab es keine nennenswerten Reaktionen der Großmächte. Ein einziger Staat legte beim Völkerbund in Genf öffentlichen Protest gegen diese eklatante Völkerrechtsverletzung ein: Mexikos Protestnote blieb freilich völlig wirkungslos. Die Sowjetunion forderte die USA, Frankreich und Großbritannien zwar zu gemeinsamen Sanktionen gegen Deutschland auf, fand damit aber keinen Anklang.

Statt auf militärische Gegenwehr stießen die deutschen Truppen in Österreich auf begeisterte Menschenmassen und wurden mit Blumen begrüßt – aus Londons Perspektive handelte es sich um eine Angelegenheit zweier deutschsprachiger Länder, in die man sich nicht einmischen wollte und konnte. Und Frankreich, das just in diesem Augenblick wieder einen Regierungsrücktritt erlebte, wollte keinesfalls ohne Großbritannien den Druck auf Hitler erhöhen.10 Friedlich ging der »Anschluss« aber keineswegs vonstatten: In etlichen österreichischen Städten kam es unmittelbar zu antisemitischen Ausschreitungen und »wilden Arisierungen«. Tausende Juden und politische Gegner der Nationalsozialisten wurden festgenommen, allein in Wien begingen in den ersten Wochen nach dem »Anschluss« Hunderte Menschen Suizid.11

Unwidersprochen blieb die passive Haltung Großbritanniens zu diesen Entwicklungen nicht. Wieder einmal war es der konservative Abgeordnete Winston Churchill, ein vehementer Gegner der Appeasement-Politik, der eindringlich vor der Gefahr von Zugeständnissen an Nazideutschland warnte und die »Vergewaltigung Österreichs« als Risiko für ganz Europa anprangerte. Als einer der wenigen britischen Politiker hatte Churchill schon seit Beginn der 1930er-Jahre auf die Notwendigkeit einer militärischen Aufrüstung gepocht und früh argumentiert, dass die Beschwichtigungsversuche einen Krieg mit Nazideutschland nicht verhindern, sondern im Gegenteil wahrscheinlicher machen würden. Mit dieser unpopulären Haltung machte sich Churchill, der in der Vergangenheit hohe Regierungsämter innegehabt hatte, viele Feinde und geriet politisch weitgehend in Isolation. In der Öffentlichkeit wurde er als Kriegstreiber diffamiert.

Im Nachhinein erscheinen viele von Churchills Reden aus dieser Zeit beeindruckend weitsichtig. Am 14. März 1938, zwei Tage nachdem die deutsche Wehrmacht die Grenze zu Österreich überschritten hatte, erklärte er etwa im britischen Unterhaus: »Die Schwere der Ereignisse vom 12. März kann gar nicht überschätzt werden. Europa ist mit einem Aggressionsprogramm konfrontiert, das sich, genau kalkuliert und zeitlich abgestimmt, Schritt für Schritt entfaltet. Es bleibt nur eine Wahl, nicht nur uns, sondern auch anderen Ländern: sich entweder wie Österreich zu unterwerfen, oder effektive Gegenmaßnahmen zu ergreifen, um die Gefahr abzuwehren, solange noch Zeit dazu bleibt.«12

Tatsächlich bestärkte die Passivität der europäischen Staaten Hitler darin, seine Kriegspläne noch zu beschleunigen. Das nächste Ziel stand schon fest und sollte niemanden überraschen: Bald nach dem »Anschluss« Österreichs wurde die Absicht laut, auch die mehrheitlich deutschsprachigen Gebiete der Tschechoslowakei zu annektieren. Der Einmarsch in die junge parlamentarische Demokratie, die nach dem »Anschluss« fast vollständig an das Deutsche Reich grenzte, war der nächste Schritt zur Verwirklichung der Eroberungs- und Vernichtungspolitik, welche die Nationalsozialisten in Osteuropa planten. Um Deutschlands neue Kolonialherrschaft etablieren zu können, mussten Hitlers Ansicht nach erst Österreich und die Tschechoslowakei, dann Großbritannien und Frankreich ausgeschaltet werden.

Mit der Absicht, die Tschechoslowakei zu zerschlagen, hatte Hitler den Nationalitätenkonflikt im Sudetenland gezielt geschürt und unter Vorspiegelung der Sorge um die deutschsprachige Bevölkerung zum internationalen Konflikt eskaliert. Als im Mai 1938 Gerüchte über einen bevorstehenden Überraschungsangriff der Wehrmacht laut wurden und die tschechoslowakische Regierung eine Teilmobilmachung der Armee anordnete, schien Chamberlains Kriegsvermeidungsstrategie gescheitert. Frankreich und Großbritannien waren enge Verbündete der Tschechoslowakei, eine kriegerische Verletzung der territorialen Integrität des Staates drohte einen europäischen Konflikt auszulösen, dem sich Großbritannien nicht hätte entziehen können. Zwar blieb der Blitzangriff vorerst aus, doch Hitler versetzte die Wehrmacht in Bereitschaft und verschärfte die Tonart weiter. Krieg schien unvermeidlich.

Was dann folgte, war aber nicht etwa das Ende der Appeasement-Politik, sondern ihr Höhepunkt: Mitte September flog Chamberlain nach Deutschland und versuchte, mit Hitler persönlich eine Lösung auszuhandeln. Bei seinem ersten Treffen mit dem Diktator schöpfte Chamberlain Hoffnung: »Trotz der Härte und Rücksichtslosigkeit, die ich in seinem Gesicht zu entdecken glaubte, gewann ich den Eindruck, es hier mit einem Mann zu tun zu haben, auf dessen Wort man sich verlassen kann«, schrieb er seiner Schwester Ida.13

Wieder machte Chamberlain Zugeständnisse, um einen Krieg abzuwenden – die Rechnung dafür wurde der Tschechoslowakei präsentiert: Der britische Premier war bereit, Hitlers Forderung nach einer deutschen Einverleibung der Sudetengebiete zu akzeptieren. Ende September, als in London bereits Schützengräben für den Fall deutscher Luftangriffe ausgehoben wurden, einigten sich Deutschland, Großbritannien und Frankreich auf Vermittlung Italiens in München auf die Details: Das sogenannte Münchner Abkommen, in Prag treffender als »Diktat von München« bezeichnet, sah vor, dass die Tschechoslowakei das Sudetenland binnen zehn Tagen zu räumen und an das Deutsche Reich abzutreten hatte. Der Regierung in Prag, die nicht in die Verhandlungen eingebunden war, wurde keine andere Wahl gelassen.

Am 30. September kehrte Chamberlain nach Großbritannien zurück und ließ sich als Friedensstifter feiern. »Ich glaube, es ist ein Frieden für unsere Zeit«, rief er der jubelnden Menge vor 10 Downing Street zu. »Und jetzt gehen Sie nach Hause und schlafen Sie gut.« Im britischen Unterhaus erklärte er einige Tage später: »Es ist meine Hoffnung und Überzeugung, dass die Tschechoslowakei mit dem neuen System von Garantien größere Sicherheit genießen wird als jemals zuvor in der Vergangenheit.«14

Weiter daneben konnte er nicht liegen – und das war inzwischen selbst seinen engsten Parteifreunden klar geworden. Churchill verhalf diese Entwicklung indes zu politischem Aufwind. Er bezeichnete das Münchner Abkommen als »Katastrophe« und »totale und uneingeschränkte Niederlage« für Großbritannien und Frankreich und stieß mit seiner alten Forderung nach Aufrüstung auf immer mehr Zustimmung.15 Die öffentliche Meinung begann sich zu wandeln: 15 000 Menschen demonstrierten auf dem Londoner Trafalgar Square gegen das Münchner Abkommen, immer mehr Medien kritisierten nun offen Chamberlains Appeasement-Politik.

Anfang November 1938 annektierte Ungarn, unterstützt von Hitler und Mussolini, ohne Ankündigung die südliche Slowakei. Als dann auch noch Berichte über die Novemberpogrome – staatlich organisierte Gewaltexzesse gegen die jüdische Bevölkerung im gesamten Deutschen Reich – bekannt wurden, stieg der Druck auf Chamberlain weiter, seine außenpolitische Linie endlich aufzugeben. Im März 1939 marschierte die Wehrmacht schließlich in das noch verbliebene tschechische Staatsgebiet ein und Hitler ließ schon sein nächstes Angriffsziel erkennen: Polen. Großbritannien und Frankreich sicherten der polnischen Republik nun in einer Garantieerklärung umfassenden Beistand im Fall eines Kriegs zu. Sechs Monate später zerbrach Chamberlains vage Hoffnung, sein Land aus einem militärischen Konflikt mit Deutschland doch noch irgendwie heraushalten zu können, endgültig.16

Schnittstelle im MI6

Ausgerechnet am 1. September 1939 tritt Reginald Victor Jones seine neue Aufgabe an. Es ist ein Zufall, dass sein erster Tag als wissenschaftlicher Experte für den britischen Auslandsgeheimdienst Secret Intelligence Service (SIS), auch bekannt als MI6, genau mit dem deutschen Überfall auf Polen zusammenfällt. Jones, in seinem Umfeld stets nach den Initialen seiner Vornamen R. V. genannt, soll Pionierarbeit leisten – eine wissenschaftliche Abteilung existiert im Geheimdienst zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Die turbulenten Ereignisse und die drohende Gefahr deutscher Angriffe machen jedoch mehr als deutlich, wie dringend der Geheimdienst wissenschaftliche Expertise braucht.

Jones, gerade einmal 28 Jahre alt, hat an der Universität Oxford Physik studiert und sich nach seiner Promotion 1934 zunächst der Astronomie zugewendet. Mithilfe eines Stipendiums wollte er Forschungsaufenthalte in Kalifornien und Südafrika absolvieren, um an dortigen Observatorien infrarotspektroskopische Untersuchungen der Sonne durchzuführen. Doch dazu sollte es nicht kommen: Mit seiner Arbeit zu Infrarotdetektoren in Oxford fiel er Frederick Lindemann auf, dem Direktor des dortigen Clarendon-Laboratoriums. Der Experimentalphysiker Lindemann, ein enger Freund Winston Churchills, der später als dessen wissenschaftlicher Berater erheblichen Einfluss auf die britische Kriegsführung erlangen wird, hat das Potenzial des jungen Wissenschaftlers erkannt. Lindemann ist auch Mitglied des Committee for the Scientific Survey of Air Defence (CSSAD), eines Untersuchungsausschusses zur britischen Luftverteidigung, der maßgeblich die Entwicklung und militärische Nutzung von Radartechnik vorantreibt.17

Über seine Vermittlung hat Jones eine Anstellung beim Luftfahrtministerium erhalten. Er sollte herausfinden, ob man mithilfe von Infrarotdetektoren die Wärmestrahlung der Motoren feindlicher Bombenflugzeuge in der Nacht aufspüren könnte. Jones’ Experimente haben zwar einige interessante Ergebnisse gebracht, wurden zu seiner Enttäuschung 1938 aber gestoppt. Jones sollte schon bald weitaus größere Aufgaben übernehmen.18

Mit der wachsenden Wahrscheinlichkeit eines Kriegs zeigt sich immer deutlicher, wie wenig in Großbritannien über neue Waffensysteme und militärische Forschungsprogramme in Deutschland bekannt ist. Und wenn Informationen über neue Technologien durch Agenten oder andere Quellen nach London gelangen, mangelt es den Geheimdiensten an Mitarbeitern, die diese Berichte fundiert beurteilen können.

Im Februar 1939 empfahl der Chemiker und Vorsitzende des CSSAD Henry Tizard (nach ihm hieß der Untersuchungsausschuss inoffiziell auch »Tizard-Komitee«) daher die Bildung einer »wissenschaftlichen und technischen Abteilung als vorläufige Maßnahme zur Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftlern und Nachrichtendiensten«. Tizard war über die wissenschaftlichen Lücken in der nachrichtendienstlichen Arbeit alarmiert: Als Koordinator der Entwicklung britischer Radarsysteme ging er davon aus, dass deutsche Forscher an ähnlichen Projekten arbeiteten und nähere Informationen über den technischen Stand der deutschen Luftwaffe nötig waren, um wirksame Abwehrmaßnahmen vorzubereiten. In anderen Worten: Es brauchte dringend wissenschaftliche Geheimdienstarbeit.19

Überraschenderweise stieß die Idee zunächst auf wenig Begeisterung. Der Vorschlag, das Luftfahrtministerium solle dem Secret Intelligence Service einen angesehenen und verdienten Wissenschaftler zur Analyse von Geheimdienstberichten zur Seite stellen, wurde aus Kostengründen abgelehnt. Auf Lindemanns Fürsprache hin brachte Tizard den jungen R. V. Jones ins Spiel. Der Physiker stand schließlich schon auf der Gehaltsliste des Luftfahrtministeriums – es wären also keine zusätzlichen Ausgaben nötig. Bis eine eigene wissenschaftliche Unterabteilung im MI6 eingerichtet wurde, sollte es aber noch dauern. Doch der erste Schritt war getan: Jones wurde für eine Probezeit von sechs Monaten im Geheimdienst abgestellt. Seinen ersten Auftrag lieferte Adolf Hitler persönlich.

Aufregung um Hitlers »Geheimwaffe«

Am 19. September 1939 hält Hitler eine Rede in Danzig, in der er damit prahlt, Deutschland habe Polen »in nur 19 Tagen zusammengeschlagen«. Zwei Tage zuvor ist auch die Rote Armee in Polen einmarschiert – nicht etwa, um der überfallenen Republik Hilfe zu leisten: Den Abmachungen mit Berlin entsprechend, hat die Sowjetunion mit der Besetzung der östlichen Gebiete des Landes begonnen. Hitler und Stalin haben sich nur wenige Wochen zuvor überraschend in einem Nichtangriffspakt gegenseitige Neutralität im Kriegsfall zugesichert – und eine Aufteilung Polens und des Baltikums vereinbart.

Die Freie Stadt Danzig ist schon im Zuge der ersten Kampfhandlungen am 1. September von Deutschland annektiert worden. Die Eroberung der mehrheitlich deutschsprachigen Stadt, die einst Hauptstadt Westpreußens gewesen ist, hat für die Nationalsozialisten zwar eine emotionale Bedeutung, doch Hitler hat den Generälen der Wehrmacht bei einer Besprechung der Kriegspläne im Mai klargemacht: »Danzig ist nicht das Objekt, um das es geht. Es handelt sich für uns um eine Arrondierung des Lebensraums im Osten und Sicherstellung der Ernährung.«20

Was das für die Bewohner der »arrondierten« Gebiete bedeutet, zeigt sich am Beispiel der Stadt unmittelbar: Danziger Nationalsozialisten haben bereits in den vergangenen Jahren Listen mit »unerwünschten Personen« angefertigt und den Platz für ein künftiges Konzentrationslager ausgewählt. Schon am 2. September werden rund 1500 jüdische und polnische Bewohner Danzigs dorthin verschleppt, viele von ihnen überleben die ersten Wochen nicht. Das Lager wird später unter dem Namen KZ Stutthof berüchtigt.21