Der Papierpalast - Miranda Cowley Heller - E-Book
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Der Papierpalast E-Book

Miranda Cowley Heller

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Beschreibung

Eine Frau zwischen Liebhaber und Familie Elle Bishop, 50, glücklich verheiratet, steht vor einer großen Entscheidung: Bleibt sie bei ihrem Ehemann oder verlässt sie ihn und ihre Familie für ihren Jugendfreund, mit dem sie eine unvergessliche Nacht verbracht hat. Sie hat nur einen Tag Zeit, um herauszufinden, wer sie im Leben sein will und mit wem sie es verbringen möchte. Im Papierpalast, dem Sommerhaus der Familie, steht sie vor der Frage, welche Art des Glücks sie wählen wird. Ein großer Roman über die Sommer unseres Lebens — und darüber, was es heute bedeutet, eine Frau zu sein. ***Ein Buch, das unter die Haut geht.*** » ... unglaublich gute Geschichte« Christine Westermann »Ein Familiendrama, eine geheime Liebe, eine andauernde Tragödie. Der Papierpalast ist ein überwältigendes literarisches Debüt.« The Independent

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Seitenzahl: 544

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Der Papierpalast

Die Autorin

MIRANDA COWLEY HELLER war Senior Vice President und Head of Drama Series bei HBO. Sie hat Serien entwickelt und verantwortet, u.a. Die Sopranos, Six Feet Under, The Wire, Deadwood, Big Love. Als Heranwachsende hat sie jeden Sommer auf Cape Cod verbracht, inzwischen lebt sie in Kalifornien.

Das Buch

Es ist früh am Morgen, alle schlafen noch, als Elle Bishop an einem perfekten Augusttag zum See läuft. Er liegt unterhalb des Sommercamps der Familie, ein paar altersschwache Hütten, die ihr Großvater in den Back Woods von Cape Code zusammengezimmert hat. Durch das Fenster des Haupthauses sieht sie den noch nicht abgeräumten Tisch des vorherigen Abends, die leeren Weingläser, das Kerzenwachs auf dem Tischtuch. Sie hatten Besuch, und es ist etwas passiert: Während Elles Ehemann Peter mit den Gästen lachte, sind sie und ihr Jugendfreund Jonas nach draußen geschlichen und haben sich geliebt. Elle taucht ein ins Wasser, ihre Geschichte beginnt. Sie erzählt fünfzig Jahre Leben, bringt verborgene Liebe und ein düsteres Geheimnis ans Licht. An diesem einen Tag läuft alles auf eine Entscheidung hinaus.Souverän und ganz unmittelbar erzählt Miranda Cowley Heller das aufwühlende Wechselspiel über Selbsterkenntnis und Aufrichtigkeit.

Miranda Cowley Heller

Der Papierpalast

Roman

Aus dem Amerikanischen von Susanne Höbel

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel The Paper Palace bei Riverhead Books,einem Imprint von Penguin Random House LLC, New York© 2021 by Miranda Cowley Heller© der deutschsprachigen Ausgabe2022 by Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinAutorenfoto: © Stepha DanskyE-Book-Konvertierung powered by PepyrusAlle Rechte vorbehalten.ISBN 978-3-8437-2673-3

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Inhalt

Titelei

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

Buch eins – Elle

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

Buch zwei – Jonas

13

14

15

16

17

18

Buch drei – Peter

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

Buch vier – In diesem Sommer

29

30

31

Buch fünf – Heute. 18.30 bis 6.30

32

33

Anhang

Danksagung

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Buch eins – Elle

Buch eins – Elle

1

Heute. 1. August, Back Woods.

6.30

Die Dinge kommen aus dem Nichts. Der Kopf ist leer. Dann, in einem Rahmen, eine Birne. Glatt, grün, ein gebogener Stiel, ein einzelnes Blatt. Sie liegt zwischen Limonen in einer weißen Steingutschale, die wiederum auf einem ramponierten Picknicktisch steht, auf einer Veranda mit Fliegengittern rundum, am Ufer eines kleinen Sees, tief im Wald und nah am Meer. Neben der Schale steht ein Kerzenhalter aus Messing, Wachstropfen kleben daran und der Staub des langen Winters, in dem der Kerzenhalter im Regal gestanden hat. Teller mit Nudelresten, eine offene Serviette, eine Flasche mit Rotweinsatz, ein grobes Brotbrett, darauf Brotstücke, gerissen, nicht geschnitten. Ein Gedichtband, der Buchdeckel angeschimmelt, liegt aufgeschlagen auf dem Tisch. Ich betrachte das Stillleben des gestrigen Essens und höre in meinem Kopf An eine Lerche, die in den blauen Himmel aufsteigt – schmerzlich, erhebend. »Dann würde die Welt zuhören, so wie ich jetzt zuhöre.« Er hat es so schön gelesen. »Für Anna.« Wir saßen still da, gebannt, mit unseren Erinnerungen an sie. Ich könnte ihn, immer nur ihn, eine Ewigkeit lang ansehen, es würde mich glücklich machen. Ich könnte ihm mit geschlossenen Augen zuhören, seinen Atem spüren, dem Klang seiner Worte lauschen, die über mich hinwegschweben, immer und immer wieder. Nichts anderes will ich.

Das Morgenlicht ist gedämpft, wo es durch die Fliegengitter dringt, heller über den Bäumen und dem reinen Blau des Sees, bis zu den dunklen Schatten der Tupelobäume am anderen Seeufer, wo das Sonnenlicht so früh am Tage hinreicht. Mein Blick fällt auf den Rest Espresso in einem der Tässchen, und ich bin versucht, ihn auszutrinken. Die Luft ist frisch. Ich friere in dem abgetragenen zartlila Bademantel, der meiner Mutter gehört und den ich im Sommer trage, wenn wir in unserem Sommerquartier sind. Der Geruch nach ihr vermischt sich mit dem vom Schrank, in dem der Bademantel monatelang gehangen hat, und dem von Mäusedreck. In Back Woods ist dies meine Lieblingsstunde. Morgens am See, noch bevor die anderen wach werden. Das Sonnenlicht so klar und scharf, das Wasser atemberaubend kalt, die Nachtschwalben endlich still.

Auf dem kleinen Holzdeck vor dem Fliegengitter hat sich zwischen den Brettern Sand angesammelt. Es müsste mal gefegt werden. Ein Besen lehnt an der Fliegentür und drückt eine kleine Beule in den Maschendraht, aber ich lasse ihn stehen und gehe auf dem schmalen Trampelpfad zu unserer Badestelle. Hinter mir kreischt die Fliegengittertür in den Angeln.

Ich lasse den Bademantel von den Schultern gleiten und stehe nackt am Wasserrand. Auf der anderen Seite des Sees, jenseits von Kiefern und Zwergeichen, brüllt das Meer. Es hört sich an, als brächte es einen Sturm aus dem Inneren des Ozeans, aber hier, am Seeufer, ist die Luft süß und still. Ich stehe, warte, lausche … das Zirpen und Summen winziger Insekten, ein zarter Wind, der sich sanft in den Blättern regt. Dann wate ich ins Wasser, bis es mir zu den Knien reicht, und stürze mich kopfüber ins eiskalte Nass. Ich schwimme zur Mitte, vorbei an den Seerosen, und eine Mischung aus Hochstimmung und Freiheitsgefühl treibt mich voran, zusammen mit dem Adrenalinrausch namenloser Panik. Dazu der Schatten einer Angst, dass eine Schnappschildkröte aus der Tiefe heraufkommen und mir in meine schweren Brüste beißen könnte. Vielleicht zieht der Geruch von Sex sie an, wenn ich die Beine öffne und schließe. Unvermittelt überkommt mich der Wunsch, umzukehren in die Sicherheit des seichten Wassers, wo ich den sandigen Grund sehen kann. Ich wünschte, ich wäre mutiger. Aber ich mag auch die Angst, das Stocken des Atems, mein wild klopfendes Herz, als ich aus dem Wasser steige.

Ich wringe das Wasser so gründlich wie möglich aus meinem langen Haar, nehme ein fadenscheiniges Handtuch von der Leine, die meine Mutter zwischen zwei kümmerlichen Kiefern gespannt hat, und strecke mich auf dem warmen Sand aus. Eine leuchtend blaue Libelle landet auf einer Brustwarze, verweilt einen Moment, fliegt weiter. Eine Ameise krabbelt über die Saharadünen, die mein Körper auf ihrem Pfad geformt hat.

Gestern Abend habe ich mit ihm gefickt, endlich. Nach all den Jahren, in denen ich mir das ausgemalt hatte und nie sicher sein konnte, ob er mich noch wollte. Dann war der Augenblick da, und ich wusste, jetzt passiert es: der viele Wein, Jonas’ Stimme, als er das Gedicht las, Peter, mein Mann, im Grappadunst, ausgestreckt auf dem Sofa, unsere drei Kinder schlafend in ihrer Hütte, meine Mutter mit gelben Gummihandschuhen am Spülbecken beim Abwasch, die sich nicht um ihre Gäste kümmerte. Unsere Blicke versenkten sich eine Sekunde zu lang ineinander. Ich stand vom Tisch auf, wo ein angeregtes Gespräch im Gang war, zog in der Speisekammer meinen Slip aus und stopfte ihn hinter den Brotkasten. Dann ging ich durch die Hintertür hinaus in die Nacht. Ich stand im Dunkeln, ich hörte das Klappern von Tellern, Gläsern und Besteck im Spülwasser und wartete. Hoffte. Und dann war er da, drückte mich an die Mauer und griff mir unters Kleid. »Ich liebe dich«, flüsterte er. Ich hielt den Atem an, als er in mich eindrang. Und ich dachte: Jetzt gibt es kein Zurück. Kein Bedauern mehr, dass ich es nicht getan habe. Nur das Bedauern für das, was ich getan habe. Ich liebe ihn und hasse mich. Ich liebe mich und hasse ihn. Das Ende einer langen Geschichte.

1966. Dezember, New York.

Ich schreie. Ich schreie und schreie, bis meine Mutter endlich begreift, dass es etwas Ernstes ist. Sie rennt los, zum Arzt, und als sie angsterfüllt mit ihrem drei Monate alten Baby die Park Avenue entlanghastet, kommt sie sich vor wie Miss Clavel, die Krankenschwester aus dem Kinderbuch Madeline von Ludwig Bemelmans. Mein Vater, den Aktenkoffer in der Hand, läuft aus dem Fred-F.-French-Gebäude an der Madison Avenue herbei. In seinem Kopf geht alles durcheinander, er fürchtet sich vor seiner eigenen Unfähigkeit, jetzt und bei allem anderen, was er tut. Es sei keine Zeit zu verlieren, sagt der Arzt, wenn sie zögerten, werde das Baby sterben, und er entreißt mich meiner Mutter. Auf dem Operationstisch schneidet er meinen Bauch auf wie eine Wassermelone. Eine Geschwulst hat sich um meine Gedärme geschlungen, toxischer Kot vergiftet meinen kleinen Körper. Immer wieder passiert es, dass sich der Kot anstaut, und man muss damit klarkommen – wie, werde ich erst viele Jahre später lernen.

Bei der Operation, in seiner Hast und dem Bemühen, das Tödliche aus mir herauszuschneiden, durchtrennt der Arzt einen Eileiter. Auch das sagt man mir erst Jahre danach. Als ich es erfahre, weint meine Mutter zum zweiten Mal um mich. »Es tut mir so leid«, sagt sie. »Ich hätte darauf dringen sollen, dass er besser aufpasst« – als hätte es in ihrer Macht gestanden, mein Schicksal zu beeinflussen, und sie hätte es versäumt.

Später liege ich im Krankenhaus in einem Kinderbett, die Arme festgebunden, und schreie weiter; ich bin lebendig und schreie aus Empörung über die Ungerechtigkeit. Meine Mutter darf mich nicht stillen. Ihre Milch versiegt. Fast eine Woche vergeht, bevor sie meine Arme losbinden. »Als du zur Welt kamst, warst du ein so zufriedenes Baby«, sagt mein Vater. »Danach«, sagt meine Mutter, »hast du immerzu geweint.«

7.30

Ich drehe mich auf den Bauch und lege den Kopf auf die Unterarme. Ich mag den salzig-süßen Geruch meiner Haut, wenn ich in der Sonne gelegen habe: nussgolden und würzig, fast wie geräuchert. Von den Schlafhütten her höre ich ein leises Türklappen. Jemand ist wach. Füße gehen über trockenes Gras. Die Außendusche wird angedreht. Klopfend und krachend treten die Rohre in Aktion. Mit einem Seufzer richte ich mich auf, ziehe mir den Bademantel über und gehe zum Haus zurück.

Unser Sommerquartier besteht aus einem Haupthaus und vier Einzimmerhütten, die an dem mit Kiefernnadeln bedeckten Pfad zum See liegen. Es sind kleine Holzhütten mit Spitzdächern, damit im Winter der Schnee runterrutschen kann, einem Oberlicht und hohen Fenstern in beiden Giebeln. Sie sind altmodisch, ländlich, ohne Schnörkel. So wie Hütten in Neuengland sein sollten. Zwischen dem Pfad und dem See wächst ein Windschutz aus blühenden Zimterlen, Lorbeersträuchern und wilden Blaubeerbüschen, der uns zudem vor den neugierigen Blicken der Fischer und der tüchtigen Schwimmer schützt, die es von der Badestelle am gegenüberliegenden Ufer zu unserer Seite schaffen. An Land gehen dürfen sie nicht, aber manchmal verweilen sie wassertretend kurz vorm Ufer. Dass sie unsere Privatsphäre stören, kümmert sie nicht.

Ein anderer Pfad führt hinter den Hütten zu dem alten Badehaus. Abblätternde Farbe, ein rostiges Emaillebecken voller Flecken von den Motten, die bei Dunkelheit vom Deckenlicht angezogen werden, eine alte Badewanne mit Klauenfüßen, die aus der Zeit stammt, als mein Großvater die Anlage baute, eine Außendusche, deren Heiß- und Kaltwasserleitungen an einem Tupelobaum aufgehängt sind und von der das Duschwasser in den sandigen Untergrund abfließt.

Das Haupthaus besteht aus einem einzigen großen Raum, Wohnzimmer und Küche in einem, davon abgehend eine Speisekammer, und ist aus Hohlziegeln und Teerpappe gebaut. Innen gibt es breite Holzdielen, dicke Deckenbalken, einen riesigen gemauerten Kamin. An Regentagen machen wir alle Türen und Fenster zu und sitzen drinnen, wo wir dem Knistern des Feuers zuhören und uns zwingen, Monopoly zu spielen. Aber eigentlich leben wir – lesen, essen, diskutieren und werden zusammen älter – auf der von Fliegengittern geschützten Veranda, die so breit wie das Haus ist und einen Blick auf den See hat. Unser Sommerhaus ist nicht winterfest. Es hätte auch gar keinen Sinn. Ende September, wenn das Wetter sich wendet und alle Sommerhäuser für den Winter verschlossen werden, ist es in Back Woods ein bisschen einsam – zwar immer noch schön in dem harscheren Winterlicht, aber ziemlich düster und still. Sobald das Laub zu fallen beginnt, will niemand mehr hier sein. Aber wenn der Sommer beginnt und es im Wald grünt und wenn der Kanadareiher zurückkommt, sich sein Nest baut und in dem klaren See umherstelzt, gibt es in der ganzen Welt keinen besseren Ort als diesen.

Als ich auf die Veranda trete, überkommt mich eine Welle der Sehnsucht, die wie Quecksilber durch meine Brust strömt, fast wie Heimweh. Eigentlich sollte ich den Tisch abräumen, bevor die anderen zum Frühstück kommen, aber ich will mir noch einmal den Abend zuvor vergegenwärtigen, will ihn noch einmal erleben, Krume für Krume, Teller um Teller, ihn mir ins Gehirn einritzen. Ich fahre mit dem Finger über einen Weinfleck auf der weißen Leinentischdecke, ich hebe Jonas’ Glas an die Lippen und versuche, ihn zu schmecken. Ich schließe die Augen und spüre wieder den sanften Druck seines Schenkels an meinem unter dem Tisch. Ohne mir sicher zu sein, ob er mich wollte. Und frage mich mit angehaltenem Atem: War es Zufall oder Absicht?

Im Zimmer ist alles so wie immer: Über dem Herd hängen Töpfe und Pfannenheber an Haken an der Wand, in einem Einmachglas stehen Holzlöffel, eine verblasste Liste mit Telefonnummern ist mit einer Reißzwecke am Regal befestigt, zwei Regiestühle stehen vor dem offenen Kamin. Alles ist so wie immer, aber als ich von der Küchenzeile in die Speisekammer gehe, habe ich das Gefühl, ein anderes Zimmer zu betreten, als wäre die Luft selbst gerade aus tiefem Schlaf erwacht. Ich gehe von der Speisekammer durch die Tür nach draußen und starre die Mauer an. Nichts ist zu sehen. Keine Spuren, keine Hinweise. Aber hier haben wir gestanden, haben uns für alle Zeiten ineinander eingegraben. Haben uns aneinander gerieben, stumm, verzweifelt. Plötzlich fällt mir mein Slip wieder ein, den ich hinter dem Brotkasten versteckt habe, und gerade als ich ihn mir unter dem Bademantel anziehe, kommt meine Mutter herein.

»Du bist früh auf, Elle. Gibt es Kaffee?« Ein Vorwurf.

»Ich wollte gerade welchen machen.«

»Nicht zu stark. Ich mag das Espressopulver nicht, das ihr benutzt. Ich weiß, ihr mögt es lieber«, sagt sie in einem künstlichen Ton, der Nachsicht vortäuscht und mich wahnsinnig macht.

»Ist gut.« Heute Morgen habe ich keine Lust zum Streiten.

Meine Mutter macht es sich auf dem Verandasofa bequem. Es ist nichts weiter als eine harte Pferdehaarmatratze mit einem alten grauen Bezug, aber trotzdem der Lieblingsplatz aller. Von hier kann man über den See gucken, Kaffee trinken, ein Buch lesen und sich dabei in den uralten Kissen zurücklehnen, deren Bezüge voller Rostflecken sind. Wer hätte gedacht, dass auch Baumwolle mit der Zeit rostig wird?

Typisch, dass sie sofort den besten Platz besetzt.

Ihr Haar, strohblond und inzwischen von Grau durchzogen, ist zu einem unordentlichen Knoten zusammengesteckt. Ihr Nachthemd mit dem Vichykaro-Muster ist verschlissen. Dennoch wirkt sie imposant – eine Galionsfigur am Bug eines Schoners im Neuengland des achtzehnten Jahrhunderts, schön, streng, mit Lorbeerkranz und Perlen geschmückt, die Richtung weisend.

»Sobald ich meinen Kaffee getrunken habe, räume ich den Tisch ab«, sage ich.

»Wenn du abräumst, mache ich den Rest des Abwaschs. Mmhm«, sagt sie, als ich ihr eine Tasse gebe. »Danke. Wie war das Wasser?«

»Genau richtig. Kalt.«

Diese Lektion hat meine Mutter mir beigebracht: Es gibt zwei Dinge im Leben, die man nie bereut – ein Kind und Schwimmen im kalten Wasser. Auch im Juni, an kalten Tagen, wenn ich am kabbeligen Atlantik stehe und mich über die Robben ärgere, die ihre hässlichen, entstellten Köpfe recken und Haie an unsere Küste locken, höre ich ihre Stimme in meinem Kopf.

»Ich hoffe, du hast das Handtuch auf die Leine gehängt. Ich will heute nicht wieder einen Berg nasser Handtücher auf dem Boden finden. Sag das auch den Kindern.«

»Meins habe ich aufgehängt.«

»Wenn du es ihnen nicht deutlich sagst, dann tue ich das.«

»In Ordnung.«

»Und sag ihnen, sie sollen ihre Hütte ausfegen. Es ist so schmutzig darin. Aber nicht, dass du es für sie machst, Elle. Die Kinder sind so verwöhnt. Sie sind alt genug, um …«

Ich nehme eine Abfalltüte in die eine Hand, meine Kaffeetasse in die andere und gehe die Stufen runter. Ihre Ansprache überlasse ich dem Wind.

Ihr schlimmster Rat: Immer an Botticelli denken. Sei wie die Venus, die auf einer Muschelschale aus den Fluten steigt, mit züchtig geschlossenem Mund und noch in ihrer Nacktheit keusch. Das war der Rat, den meine Mutter mir gab, als ich mit Peter zusammenzog. Sie hatte ihn auf eine alte Postkarte geschrieben, die sie Jahre zuvor in einem Andenkenladen bei den Uffizien gekauft hatte.

Liebe Eleanor, ich mag Deinen Peter sehr. Gib Dir bitte Mühe, nicht dauernd so schwierig zu sein. Halte schön den Mund und wirke geheimnisvoll. Immer an Botticelli denken. Alles Liebe, Mummy.

Ich werfe die Tüte in die Abfalltonne, schlage den Deckel zu und ziehe die Gummispinne stramm darüber, damit die Waschbären nicht rankommen. Es sind schlaue Tiere, mit geschickten langen Fingern. Kleine, menschenartige Bären, schlauer und niederträchtiger, als sie aussehen. Seit Jahren stehen wir mit ihnen auf Kriegsfuß.

»Hast du das Gummi wieder festgemacht, Elle?«, fragt meine Mutter.

»Ja, sicher.« Ich lächle gefügig und stelle die Teller zusammen.

1969. New York City.

Gleich kommt mein Vater. Ich verstecke mich hinter der Bar, die zwischen dem Wohnzimmer und dem Eingang als Raumteiler dient. Die Bar hat quadratische Fächer. In einem stehen die Flaschen mit alkoholischen Getränken, in einem anderen das Stereogerät, in dem dritten ist die Schallplattensammlung meines Vaters untergebracht; auch ein paar große Kunstbildbände, die Martinigläser und der silberne Shaker stehen hier. Das Abteil mit den alkoholischen Getränken ist von beiden Seiten offen. Ich gucke durch die Flaschen hindurch und bin fasziniert von den topasfarbenen Getränken – Scotch, Bourbon, Rum. Ich bin drei Jahre alt und hocke neben den kostbaren Schallplatten meines Vaters. Ich streiche mit dem Finger über die Kanten der Hüllen, das Geräusch gefällt mir. Ich atme den Geruch nach alter Pappe ein und warte darauf, dass es an der Tür klingelt. Endlich kommt mein Vater herein, und ich habe nicht die Geduld, in meinem Versteck zu warten. Viele Wochen habe ich gewartet. Ich renne zur Wohnungstür und werfe mich in seine warme Umarmung.

Die Scheidung ist fast durch, aber vorher müssen meine Eltern noch über die Grenze nach Juarez fahren. Dort wird das Ende verkündet. Anna, meine ältere Schwester, und ich sitzen derweil geduldig in einem Hotelfoyer auf dem Rand eines achteckigen Springbrunnens aus mexikanischen Kacheln und sehen fasziniert den Goldfischen zu, die um eine Insel dunkler tropischer Pflanzen schwimmen. Viele Jahre später erzählt meine Mutter mir, dass sie an dem Morgen, die Scheidungspapiere in der Hand, meinen Vater angerufen und gesagt habe: »Ich habe es mir anders überlegt. Lass es uns abblasen.« Und obwohl die Scheidung allein von ihr ausgegangen war und sie ihm damit das Herz gebrochen hatte, sagte er: »Nein. Jetzt sind wir so weit gekommen, jetzt können wir es genauso gut zu Ende bringen, Wallace.« Genauso gut – vier kleine Silben, die alles veränderten. In dem Moment jedoch, als ich auf dem Springbrunnen saß und aus lauter Langeweile mit den Fersen gegen die Kacheln schlug und als ich die Goldfische mit Krümeln von meinem englischen Muffin fütterte, wusste ich nicht, dass ein Schwert am seidenen Faden über meinem Kopf hing. Dass es um Haaresbreite anders ausgegangen wäre.

Aber Mexiko steht noch bevor. Denn jetzt ist mein Vater gespielt fröhlich und noch in meine Mutter verliebt.

»Eleanor!« Er hebt mich hoch. »Wie geht es meinem Häschen?«

Ich lache und klammere mich mit so etwas wie Verzweiflung an ihm fest, und als ich mein Gesicht an seins presse, behindern meine blonden Locken seinen Blick.

»Daddy!« Anna kommt wie ein kleiner Bulle hereingestürmt, wütend, dass ich eher da war, und schubst mich aus seiner Umarmung. Sie ist zwei Jahre älter und hat damit auch ältere Rechte. Ihm scheint das nicht aufzufallen. Er kennt nur sein eigenes Bedürfnis nach Liebe. Ich dränge mich wieder in seine Arme.

Die Stimme meiner Mutter ertönt aus einem der Zimmer unserer düsteren Altbauwohnung. Eiswürfel klirren. »Arthur? Willst du einen Drink? Ich brate Koteletts.«

»Nur zu gerne«, ruft er zurück, als hätte sich zwischen ihnen nichts verändert. Aber in seinem Blick liegt Traurigkeit.

8.15

»Der Abend gestern war gelungen, fand ich«, sagt meine Mutter, in der Hand einen zerlesenen Roman von Dumas.

»Auf jeden Fall.«

»Jonas sah gut aus.«

Ich halte den Stapel Teller fest.

»Jonas sieht immer gut aus, Mum.« Dichtes schwarzes Haar, das man mit beiden Händen verwuscheln möchte, blassgrüne Augen, die Haut von frischer Luft getönt, ein wildes Geschöpf, der schönste Mann der Welt.

Meine Mutter gähnt. Ein verräterisches Zeichen – jedes Mal, bevor sie etwas Unangenehmes sagt, gähnt sie.

»Ihn mag ich, aber seine Mutter kann ich nicht ausstehen. So was von selbstgerecht.«

»Das stimmt.«

»Als wäre sie die einzige Person auf der Welt, die was von Recycling verstünde. Und Gina. Bis heute begreife ich nicht, wie er auf die Idee gekommen ist, sie zu heiraten.«

»Sie ist jung, sie ist eine Schönheit. Sie sind beide Künstler.«

»Sie war jung«, sagt meine Mutter. »Und wie sie mit ihrem Dekolleté angibt. Und sich in Positur wirft, als wäre sie wer weiß wer. Offenbar hat sie noch nie davon gehört, dass Bescheidenheit eine Zier ist.«

»Stimmt, es ist merkwürdig«, sage ich und stelle die Teller in die Küche. »Ihr Selbstbewusstsein. Sie muss von ihren Eltern sehr gefördert worden sein.«

»Also, ich finde das sehr unattraktiv«, sagt Mum. »Haben wir Orangensaft?«

Ich nehme ein sauberes Glas von der Spüle und gehe zum Kühlschrank.

»Ich vermute«, rufe ich ihr zu, »Jonas hat sich genau deswegen in sie verliebt. Sie muss ihm sehr exotisch vorgekommen sein nach all den neurotischen Frauen, mit denen er aufgewachsen ist. Wie ein Pfau mitten im Wald.«

»Sie ist aus Delaware«, sagt meine Mutter, als erklärte das alles. »Ich meine, wer kommt schon aus Delaware?«

»Genau«, sage ich und gebe ihr das Glas mit dem Saft. »Das macht sie exotisch.« Aber in Wahrheit denke ich jedes Mal, wenn ich sie sehe: Sie hat er gewählt? So eine wollte er haben? Ich sehe Gina vor mir: die Wespentaille, die dunklen Haarwurzeln in der blond gefärbten Frisur. Offenbar ist stonewashed wieder modern.

Meine Mutter gähnt wieder. »Besonders helle ist sie auch nicht, das musst du zugeben.«

»War gestern Abend eigentlich jemand hier, den du mochtest?«

»Ich bin einfach nur ehrlich.«

»Das ist nicht nötig. Gina gehört zur Familie.«

»Nur, weil dir keine Wahl bleibt. Sie ist mit deinem besten Freund verheiratet. Seit ihr euch kennt, seid ihr wie Feuer und Wasser.«

»Das ist überhaupt nicht wahr. Ich habe Gina von Anfang an gemocht. Wir haben vielleicht nicht besonders viele Gemeinsamkeiten, aber ich respektiere sie. Und Jonas liebt sie.«

»Wenn du meinst«, sagt meine Mutter mit einem selbstgefälligen Lächeln.

»Ach, lass es.« Vielleicht muss ich sie doch noch umbringen.

»Hast du ihr nicht mal ein Glas Rotwein ins Gesicht gegossen?«

»Nein, Mum. Das habe ich nicht. Ich bin einmal, auf einer Party, gestolpert und habe ihr versehentlich meinen Wein übers Kleid gekippt.«

»Du hast den ganzen Abend mit Jonas geredet. Worüber bloß?«

»Was weiß ich. Alles Mögliche.«

»Er war so in dich verknallt, als ihr Teenager wart. Wahrscheinlich hast du ihm das Herz gebrochen, als du Peter geheiratet hast.«

»Das ist doch lächerlich. Jonas war damals praktisch noch ein Kind.«

»Oh, ich glaube, die Sache ging tiefer. Der arme Junge.« Sie sagt es beiläufig und nimmt wieder ihr Buch in die Hand. Zum Glück sieht sie mich nicht an, denn ich weiß, dass mein Gesicht in dem Moment Bände spricht.

Mein Blick wandert zum See hinaus, dessen Oberfläche vollkommen still ist. Ein Fisch schießt in die Luft und taucht wieder ins Wasser, und ich sehe, wie die dabei entstehenden konzentrischen Kreise nach außen hin allmählich schwächer werden, bis sich die Oberfläche wieder glättet, als wäre nichts geschehen.

2

8.45

Nachdem ich den Tisch abgeräumt und das schmutzige Geschirr beim Spülbecken gestapelt habe, warte ich darauf, dass meine Mutter dies als Signal versteht, schwimmen zu gehen, damit ich zehn Minuten allein sein kann. Ich muss meine Gedanken ordnen. Ich brauche Klarheit. Bald wird Peter aufwachen. Die Kinder werden aufstehen, und ich brauche dringend Zeit für mich. Aber sie hält mir ihre Kaffeetasse entgegen.

»Sei ein Engel, bitte, ja? Nur eine halbe Tasse.«

Das Nachthemd ist ihr über die Oberschenkel nach oben gerutscht, sodass ich von meinem Platz aus alles sehen kann. Meine Mutter ist der Meinung, es sei der Gesundheit abträglich, wenn man nachts einen Slip trägt. »Nachts muss man sich auslüften«, erklärte sie uns, als wir klein waren. Anna und ich haben das natürlich nicht befolgt. Schon die Vorstellung war uns peinlich, sie erschien uns schmutzig. Und der Gedanke, dass sie eine Vagina hatte und, schlimmer noch, dass nachts alles offen lag, schreckte uns ab.

»Er sollte sie verlassen«, sagt Mum.

»Wer? Wen?«

»Gina. Sie ist so langweilig. Ich wäre beinah eingeschlafen bei ihrem Gelaber. Sie stellt Kunst her. Wirklich? Warum soll uns das interessieren?« Sie gähnt, dann sagt sie: »Sie haben keine Kinder. Eigentlich ist es gar keine richtige Ehe. Er sollte sich von ihr trennen, solange er noch kann.«

»Das ist doch lächerlich. Natürlich sind sie richtig verheiratet«, sage ich empört. Aber beim Sprechen denke ich: Kann sie meine Gedanken lesen?

»Ich weiß nicht, warum du dich so angegriffen fühlst, Elle. Er ist ja nicht dein Mann.«

»Es ist einfach idiotisch, so etwas zu sagen.« Ich mache die Kühlschranktür auf, gieße Milch in meinen Kaffee und knalle die Tür wieder zu. »Keine Kinder zu haben heißt doch nicht, dass es keine Ehe ist. Was redest du da?«

»Ich habe ein Recht auf meine Meinung«, sagt sie. Mit ihrer gelassenen Stimme will sie mich nur provozieren.

»Viele Ehepaare sind kinderlos.«

»Mmhmm.«

»Himmel. Deine Schwägerin hatte eine doppelte Mastektomie. Heißt das, dass sie jetzt keine Frau mehr ist?«

Meine Mutter sieht mich ausdruckslos an. »Hast du den Verstand verloren?« Sie stemmt sich vom Sofa hoch. »Ich gehe schwimmen. Du solltest dich noch mal hinlegen und den Tag von vorne beginnen.«

Am liebsten würde ich ihr eine runterhauen, aber ich sage: »Sie hätten gern Kinder gehabt.«

»Weiß der Himmel, warum.« Sie lässt die Fliegengittertür hinter sich zufallen.

1970. Oktober, New York.

Meine Mutter hat uns nach nebenan in die Wohnung ihres Geliebten geschickt, wo wir mit seinen Kindern spielen und seine Frau auf uns aufpasst. Meine Mutter und er versuchen zu entscheiden, ob er seine Frau verlassen soll. Ich bin inzwischen etwas älter, nicht alt genug, um das alles zu verstehen, aber doch so alt, dass ich es merkwürdig finde, von seiner Wohnung durch den Innenhof in unsere zu gucken und zu sehen, wie Mr Dancy meine Mutter im Arm hält.

Der zweijährige Sohn der Dancys sitzt in seinem Hochstuhl in der schlauchartigen Küche und spielt mit Tupperware-Behältern. Mrs Dancy betrachtet eine schwangere Kellerassel, die auf der Türschwelle zwischen Küche und Esszimmer auf den Rücken gerollt ist. Winzig kleine Asseln kullern aus ihr heraus und krabbeln in die Ritzen im Parkettfußboden. Anna kommt mit Blythe, der Tochter der Dancys, aus einem der Schlafzimmer hinten in der Wohnung. Sie weint. Blythe hat ihr mit einer Spielschere alle Ponyfransen abgeschnitten. Annas Stirn ist jetzt von einem unregelmäßigen Kranz brauner Haare umgeben. Bei Blythes selbstzufriedenem, triumphierendem Lächeln muss ich an Brote mit Mayonnaise denken. Ihre Mutter nimmt nichts davon wahr. Sie starrt auf die Kellerassel, und eine Träne rollt ihr über die Wange.

8.50

Ich setze mich aufs Sofa und mache es mir an der warmen Stelle bequem, die meine Mutter hinterlassen hat. Schon um diese frühe Stunde kann ich ein paar Gestalten an dem kleinen Strand auf der anderen Seite des Sees ausmachen. Meistens sind es Leute, die Ferienhäuser gemietet haben. Sie wagen sich in den Wald und freuen sich darüber, ein verstecktes Idyll gefunden zu haben. Revierverletzer, denke ich verärgert.

Als wir jünger waren, kannten sich alle Bewohner in Back Woods untereinander. Die Cocktailparty wanderte von einem Haus zum anderen: barfüßige Frauen in Strandkleidern, gut aussehende Männer in weißen, bis über die Fußgelenke hochgerollten Segelhosen, Gin Tonics, Cracker, Cheddar, überall Mücken und Cutters: endlich ein Insektenspray, das wirkte.

Auf den Sandstraßen durch die Wälder tanzten Schattenflecken, wo die Sonne durch Zwergkiefern und Schierling schien. Wenn wir zum Strand gingen, erhob sich unter unseren Schritten feiner rötlicher Kalkstaub und verbreitete Sommergeruch: trocken, gebacken, ewig, süß. Auf dem langen Streifen in der Mitte der Straße wuchsen Strandhafer und Giftsumach. Wir wussten, was wir meiden mussten. Kam ein Auto, fuhr es langsamer und nahm uns auf dem Trittbrett oder der Kühlerhaube mit. Dass wir runterfallen und überfahren werden konnten, kam niemandem in den Sinn. Niemand hatte Angst, dass Kinder von der starken Unterströmung ins Meer hinausgezogen werden konnten. Wir rannten frei herum und schwammen in den Toteisseen, die es überall in Back Woods gibt. Wir nannten sie »Teiche«, aber eigentlich waren es Seen, manche tief und breit, andere flach und klar bis zum Grund. Sie hatten sich am Ende der Eiszeit gebildet, als die Gletscher abschmolzen und in riesige Blöcke von tauendem Eis zerbrachen, deren Gewicht die Erdoberfläche eindrückte und tiefe Kuhlen hinterließ, die sich mit klarstem Wasser füllten. In unserem Teil von Back Woods gibt es neun von diesen Seen. Wir schwammen in jedem einzelnen und gingen über die Grundstücke anderer Leute, um zu den kleinen Sandstränden zu gelangen. Wir balancierten auf umgestürzten Baumstämmen über das Wasser. Wir machten Paketsprünge in den See. Niemand störte sich an uns. Alle hielten sich an die alten Wegerechte: schmale, schattige Pfade, die zu den Hintereingängen der alten Cape-Häuser führten, die in der Zeit gebaut worden waren, als auch die ersten Fahrwege angelegt wurden. Sie standen auf den von Schnee und Seeluft und heißen Sommern verschonten Lichtungen. Und in den Bächen wuchs Wasserkresse – in dem Bach von jemand anderem die Wasserkresse von jemand anderem.

An der Bucht war das Cape ländlicher, zivilisierter. Preiselbeerbüsche, Strandpflaumen und Lorbeer wuchsen auf den niedrigen Hügeln. Aber hier, auf der dem Meer zugewandten Seite, war es wild. Heftige Brecher rollten an Land, und von den hohen Dünen konnte man zum Meer hinunterrennen und sich, bevor man unten ankam, in den heißen Sand werfen. Anders als jetzt schimpften die Mütter damals nicht, dass die Kinder die Erosion vorantrieben, wenn sie auf den Dünen spielten. Als könnten kleine Kinderfüße mehr Schaden anrichten als raue Winterstürme, die das Land in großen, gierigen Bissen wegfraßen.

Abends saßen Erwachsene und Kinder um Lagerfeuer, guckten dem über dem Meer aufsteigenden Mond zu, tranken und flirteten, aßen sandig knirschende Hamburger mit Ketchup und eingelegten Gurken, die auf grob gezimmerten Tischen serviert wurden. Unsere Eltern tranken Gin aus Marmeladengläsern und verzogen sich in den hohen Strandhafer, um ihre Geliebten zu küssen.

Doch mit der Zeit schlossen sich die Türen. Schilder mit der Aufschrift »Privat« wurden aufgestellt. Die Kinder der ersten Feriensiedler – Künstler, Architekten, Intellektuelle – stritten sich um die besten Plätze am Cape. Es gab Diskussionen darüber, wie viel Lärm zumutbar war und wer das größere Recht hatte, all das hier zu lieben. Neid und Missgunst entstanden. Inzwischen stehen sogar an den Stränden Verbotsschilder: Große Bereiche sind abgesperrt, um die Nistplätze der Meeresvögel zu schützen. Regenpfeifer sind die einzigen Wesen, die noch frei herumspazieren dürfen. Trotzdem ist es mein Wald, mein See. Seit fünfzig Jahren komme ich hierher – jeden Sommer, mein Leben lang. Und hier haben Jonas und ich uns kennengelernt.

Vom Sofa auf der Veranda aus sehe ich meine Mutter den See durchschwimmen, eine Strecke von einer Meile. Mit regelmäßigen Schwimmzügen von fast mechanischer Perfektion durchpflügt sie das Wasser. Meine Mutter hebt beim Schwimmen nie den Kopf. Man könnte denken, sie habe einen siebten Sinn für die Richtung, wie ein Wal auf eingeübten Wegen. Schon oft habe ich mich gefragt, ob ihre Sinne auch anderes empfangen, nicht nur Walgesänge. »Er sollte sie verlassen«, hatte sie gesagt. Ist das mein Wunsch? Gina und Jonas sind unsere ältesten Freunde, als Erwachsene haben wir fast jeden Sommer zusammen verbracht, haben mit ihnen Austern aus der Schale geschlürft und den Vollmond über dem Meer aufgehen sehen, haben Gina klagen gehört, dass ihre Menstruationsbeschwerden dadurch noch schlimmer wurden, haben gehofft, dass die Fischer Jagd auf Robben machen würden, haben den Truthahn zu Thanksgiving zu lange im Ofen gelassen und über Woody Allen gestritten. Gina ist außerdem Maddys Patentante. Was würde passieren, wenn Jonas Gina verließe? Würde ich das wollen? Aber ich habe schon damit angefangen, ich habe gestern Abend mit ihm gefickt. Und bei der Erinnerung daran möchte ich es wieder tun. Der Quecksilberpfeil des Verlangens schießt durch mich hindurch.

»Hallo, Weib.« Peter küsst mich auf den Nacken.

»Hallo, du.« Ich schrecke auf und versuche, so zu sein wie immer.

»Offenbar warst du tief in Gedanken«, sagt er.

»Da ist noch Kaffee.«

»Ausgezeichnet.« Er greift in die Hemdtasche und holt eine Zigarette heraus. Zündet sie an. Setzt sich neben mich aufs Sofa. Ich liebe den Anblick seiner langen Beine und wie sie aus den verschossenen Shorts herausstaken. Jungenhaft. »Unfassbar, dass du mir gestern Abend erlaubt hast, auf dem Sofa einzuschlafen.«

»Du warst hundemüde.«

»Das lag bestimmt am Jetlag.«

»Mit Sicherheit. Das ist natürlich völlig klar. Die eine Stunde Unterschied zwischen hier und Memphis hat dich völlig umgehauen«, sage ich und verdrehe dabei die Augen.

»Aber so ist es. Ich konnte nichts dagegen tun. Der Wecker zeigte neun Uhr, aber ich schwöre, es fühlte sich an wie acht.«

»Witzig.«

»Ich habe zu viel getrunken.«

»Die reine Untertreibung.«

»Habe ich mich dumm benommen?«

»Außer, dass du dich geweigert hast, das Shelley-Gedicht für Anna zu lesen, und dass du eine Diskussion über die Quäker angezettelt hast?«

»Na gut, alle sind sich mehr oder weniger einig, dass Quäker im Grunde Faschisten sind«, sagt er. »Mit ihrer Neigung zu Gewalt.«

»Du bist ein Dummkopf.« Ich gebe ihm einen Kuss auf seine angenehm kratzige Wange. »Du musst dich rasieren.«

Er schiebt sich die Brille auf der Nase hoch und fährt sich mit der Hand durch das dunkelblonde lockige Haar, das an den Schläfen grau wird, und versucht es zu ordnen. Mein Mann sieht gut aus. Er ist nicht schön, aber attraktiv, wie ein Filmstar von früher. Hochgewachsen. Elegant. Englische Eleganz. Ein Mann, der im Anzug verführerisch aussieht. Langmütig, aber furchterregend, wenn verärgert. Eine Art Atticus Finch. Geheimnisse sind bei ihm sicher. Er bekommt alles mit. Jetzt sieht er mich an, als könnte er an mir den Sex riechen.

»Wo sind die Kinder?« Peter nimmt eine der großen weißen Muscheln auf der Fensterbank, dreht sie um und benutzt sie als Aschenbecher.

»Sie dürfen heute ausschlafen. Mutter kann es nicht leiden, wenn du das machst.« Ich nehme ihm die Muschel ab, trage sie in die Küche und spüle sie ab, nachdem ich den Zigarettenstummel in den Abfall geworfen habe. Meine Mutter ist am anderen Ufer angekommen.

»Meine Güte, kann die Frau schwimmen«, sagt Peter.

Nur Anna war schneller als meine Mutter. Anna ist nicht über den See geschwommen, sie ist geflogen. Hat alle weit hinter sich gelassen. Ich beobachte einen Fischadler, der von einem kleineren schwarzen Vogel verfolgt wird. Der Wind streicht sanft durch die Seerosen auf dem See. Sie seufzen, atmen aus.

9.15

Peter ist in der Küche und macht Rührei. Ich kann die gebratenen Zwiebeln draußen riechen. Auf der Küchentheke liegen dicke Scheiben Frühstücksspeck auf mehreren Lagen Küchenpapier, die das Fett aufsaugen. Gegen einen Kater gibt es nichts Besseres als gebratenen Speck mit Rührei. Oder: nichts Besseres als gebratenen Speck. Nahrung der Götter. So wie Rucola, ungefiltertes Olivenöl und Pataks Brinjal Pickles. Alles Dinge, die ich auf eine einsame Insel mitnehmen würde. Und Nudeln. Ich habe mir oft ausgemalt, wie ich auf einer einsamen Insel überleben würde. Wie ich mich von Fischen ernähren und hoch in den Ästen ein Baumhaus bauen würde, wo ich vor wilden Tieren in Sicherheit wäre, wie ich immer fitter würde. In meiner Vorstellung sind Shakespeares gesammelte Werke auch auf der Insel angelandet, und da ich nichts anderes zu tun habe, lese ich den ganzen Tag und studiere jede Zeile ganz genau. Unter den Umständen bin ich endlich gezwungen, meine besten Eigenschaften zu entwickeln, mein vermutetes Potenzial. In anderen Tagträumen stelle ich mir das Leben im Gefängnis oder in der Armee vor, wo mir alle Entscheidungen abgenommen werden, jede Sekunde des Tages von anderen bestimmt wird und ich Angst habe zu versagen. Selbstbildung, hundert Liegestütze, trockene Haferkekse und klares Wasser. Solche Träume hatte ich als Kind. Jonas kam erst später hinzu.

Ich gehe in die Küche und strecke die Hand nach einem Speckstreifen aus. Peter schlägt sie fort.

»Finger weg!« Er verrührt gehobelten Käse in die verquirlten Eier, mahlt Pfeffer hinein.

»Wieso nimmst du den Stieltopf?« Ich finde es furchtbar, wie Engländer Rührei machen. Eigentlich ist es ganz einfach: Man nimmt eine beschichtete Pfanne und jede Menge Butter. Bei der englischen Methode wird die Eiersuppe idiotisch langsam gekocht, und der Topf ist anschließend nicht mehr sauber zu kriegen, und man muss ihn zwei Tage einweichen. »Grrr.« Ich gebe ihm mit dem Pfannenheber einen Klaps.

Peters Hemd ist voller Fettspritzer. »Verzieh dich. Ich mache hier das Rührei.« Er geht zum Brotkasten, nimmt eine Packung Schnittbrot heraus und sagt: »Kannst du das bitte toasten?«

Ich spüre, wie ich erröte und Hitze in mir aufsteigt, weil ich an meinen Slip hinter dem Brotkasten denken muss, eine Handvoll schwarzer Spitze, an meine Nacktheit unter dem Rock und an das Gefühl, wie er mit dem Finger über meinen Oberschenkel gestrichen hat.

»Hallo? Erde an Elle!«

Im Toaster meiner Mutter kann man immer nur zwei Scheiben auf einmal toasten. Auf der Innenseite wird das Brot schwarz, auf der Außenseite bekommt es keine Farbe. Ich schalte den Grill am Herd an und lege die Scheiben auf ein Backblech. Ich nehme eine Packung Butter, bin mir aber nicht sicher, ob ich das Brot jetzt oder erst später mit Butter bestreichen soll.

»Wie lange dauert es noch ungefähr?«

»Acht Minuten«, sagte Peter. »Zwölf höchstens. Weck schon mal die Kinder.«

»Wir sollten auf Mum warten.«

»Dann wird das Rührei trocken.«

Ich blicke zum See hinaus. »Sie ist schon halb zurück.«

»Schwimmen oder Rührei – ihre Entscheidung.«

»Gut. Deine Sache, wie du sie beschwichtigst.« Wenn meine Mutter sich übergangen fühlt, lässt sie das jeden in ihrer Umgebung spüren. Aber Peter nimmt keine Notiz von ihren Zicken. Er lacht dann einfach und sagt, sie solle sich nicht so anstellen, und das lässt sie sich, warum auch immer, gefallen.

1952. New York City.

Meine Mutter war acht Jahre alt, als ihre Mutter, Nanette Saltonstall, zum zweiten Mal heiratete. Nanette gehörte der feinen New Yorker Gesellschaft an, sie war egoistisch, schön, berühmt für ihren sinnlichen Mund und ihre spitze Zunge. In ihrer Kindheit war die Familie meiner Großmutter Nanette reich, und Nanette wurde von ihrem Vater, einem Bankier, verwöhnt. Der Bankenzusammenbruch änderte das. Die Familie zog von dem luxuriösen Stadthaus an der 5th Avenue in eine dunkle, schlauchartige Wohnung in Yorkville, wo mein Urgroßvater John Saltonstall sich nur einen einzigen Luxus erlaubte: seinen täglichen Wodka-Martini um sechs Uhr, mit einem langen Silberlöffel in einem Kristallglas gerührt. Die Schönheit der ältesten Tochter war das einzige Kapital, das der Familie blieb. Nanette würde einen reichen Mann heiraten und damit die Familie retten, das war der Plan. Aber Nanette schrieb sich bei einer Modeschule in Paris ein und verliebte sich dort in meinen Großvater, Amory Cushing, einen Großbürger Bostons und mittellosen Bildhauer, dessen einziges Vermögen ein altes, verwinkeltes Haus auf Cape Cod war, in den Wäldern von Massachusetts am Ufer eines Toteissees. Amory Cushing hatte das Haus und den See von einem entfernten Onkel geerbt.

In der kurzen Zeit, die meine Großmutter Nanette und mein Großvater Amory verliebt waren, baute er dort das Sommerquartier mit den Hütten. Er wählte dazu einen langen schmalen Küstenstreifen, der in gewisser Entfernung von seinem eigenen Haus lag, das wegen eines scharfen Knicks im Verlauf der Küste kaum einsehbar war. Er hatte sich vorgestellt, dass er die Hütten im Sommer vermieten und mit dem Einkommen den Lebensunterhalt für seine elegante junge Frau und die zwei kleinen Kinder bestreiten würde. Von außen sehen die Hütten stabil aus, wasserdichte Salzschachteln, die endlose strenge Winter, nordöstliche Winde und Generationen quirliger Familien überlebt haben. Aber weil meinem Großvater die Mittel ausgingen, kleidete er die Innenräume mit Platten aus, die billig und zweckmäßig waren und aus gepresster Pappe bestanden. Daher der Name »Papierpalast«. Allerdings hatte er weder damit gerechnet, dass meine Großmutter ihn, bevor er mit dem Bauen fertig war, verlassen würde, noch damit, dass Mäuse das Material ausgesprochen schmackhaft finden würden. Sie knabberten Löcher in die Platten und verfütterten das mit Speichel versetzte Papier an ihre Mäusebabys, die sie in den Schubladen der Kommoden zur Welt gebracht hatten, wie Müslibrei zum Frühstück. Wer immer die Anlage für den Sommer öffnet, muss als Erstes die Mäusenester, die er in den Hütten findet, im Wald entsorgen. Man kann es den Mäusen nicht verdenken – die Winter am Cape sind streng, schon die Siedler aus der Generation der Pilgerväter hatten diese Erfahrung gemacht. Aber Mäusepisse hat einen warmen Gestank, und das ängstliche Quieken, wenn wir die Mäuse aus den Schubladen ins Gebüsch kippten, war mir zuwider.

Nachdem meine Großmutter Nanette von meinem Großvater geschieden war, machte sie ein paar Vergnügungsreisen durch Europa, sonnte sich oben ohne im spanischen Cadaqués und trank mit verheirateten Männern gekühlten Sherry, während meine Mutter und ihr kleiner Bruder Austin in Hotelfoyers warteten. Als ihr das Geld ausging, beschloss sie, nach New York zurückzukehren und das zu tun, was ihre Eltern sich von Anfang an gewünscht hatten, nämlich einen Bankier zu heiraten. Jim. Er war kein schlechter Mensch und in Andover im Internat und in Princeton an der Universität gewesen. Und er vergötterte sie. Er kaufte ihr eine Wohnung mit Blick über den Central Park und eine langhaarige siamesische Katze. Mum und ihr Bruder wurden auf eine elegante Privatschule in Manhattan geschickt, wo Jungen schon in der ersten Klasse Jackett und Krawatte tragen mussten und Mum Französisch lernte – und wie man Eisbomben machte.

In der Woche vor ihrem neunten Geburtstag gab meine Mutter zum ersten Mal einen Blowjob. Vorher musste sie zugucken, wie ihr sechsjähriger Bruder Austin mit zitternder Hand den Penis seines Stiefvaters hielt, bis er steif war. Jim sagte den Kindern, das sei alles ganz natürlich, und bestimmt wollten sie, dass er glücklich sei, oder? Das Schlimmste, sagte meine Mutter, als sie mir endlich die Geschichte erzählte, sei die klebrige weiße Samenflüssigkeit gewesen, alles andere hätte sie vielleicht ertragen. Aber auch dass sein Penis warm war und leicht nach Urin roch, ekelte sie. Jim drohte den Kindern mit Gewalt, sollten sie ihrer Mutter davon erzählen. Sie erzählten es ihr trotzdem, aber ihre Mutter bezichtigte sie der Lüge. Nanette sah keinen Ausweg für sich, sie hatte kein eigenes Geld. Als sie ihren Mann dabei überraschte, wie er in der Mädchenkammer hinter der Küche das Kindermädchen fickte, warf sie ihm vor, vulgär zu sein, und machte die Tür wieder zu.

Einmal, es war ein Samstag, kam Nanette früher als geplant von einem Lunch in ihrem Club zurück. Ihre Freundin Maud hatte Kopfweh, und Nanette wollte nicht allein in die Frick-Ausstellung gehen. Die Wohnung war leer, nur die Katze begrüßte sie an der Tür und schmiegte sich an ihre Fußgelenke. Nanette legte ihren Pelzmantel auf die Bank im Flur, zog sich die hochhackigen Schuhe aus und ging den Flur entlang zu ihrem Schlafzimmer. Dort saß Jim in einem Sessel, die Hosen um die Fußknöchel. Und meine Mutter kniete vor ihm. Meine Großmutter ging quer durch das Zimmer und schlug meiner Mutter hart ins Gesicht.

Ich war siebzehn, als meine Mutter mir das erzählte. An dem Tag war ich wütend, weil sie Anna Geld gegeben hatte, um im Kaufhaus Gimbel Lipgloss zu kaufen, während ich zu Hause bleiben und beim Abwasch helfen musste. »Meine Güte, Elle«, sagte sie zu mir, »du musst abwaschen … du bekommst keinen Lippenstift … ich musste meinem Stiefvater Blowjobs geben, und Austin brauchte nur seinen Schwanz zu reiben. Was soll ich sagen? Das Leben ist nicht gerecht.«

9.30

Das Seltsame daran ist, denke ich auf dem Pfad zur Schlafhütte der Kinder, dass meine Mutter ihren Respekt vor Frauen verlor, nicht aber den vor Männern. Das perverse Verhalten ihres Stiefvaters war eine knallharte Tatsache, aber es war der willensschwache Verrat ihrer Mutter, der sie wütend machte. In der Welt meiner Mutter gebührt Männern Respekt. Sie ist von der gläsernen Decke überzeugt. Peter kann nichts falsch machen. »Willst du Peter glücklich machen, wenn er von der Arbeit kommt«, riet Mum mir vor Jahren, »zieh dir eine frische Bluse an, steck das Diaphragma rein und lächele.«

Immer an Botticelli denken.

3

1971. Mai, New York.

Mr Dancy starrt gebannt in das viereckige Waschbecken im Dienstboten-Badezimmer hinter der dunklen Küche unserer Wohnung. Mrs Dancy ist ausgezogen. Mr Dancy kommt oft zu Besuch. Er hat die Hemdsärmel aufgerollt und zeigt seine muskulösen Arme. Auf den Wasserhähnen aus Emaille, die er gerade zudreht, stehen Buchstaben, H und C. Das Messing des Abflusses glänzt im Wasser. Im Becken schwimmt ein winziger Alligator. Mr Dancy hat ihn in Chinatown als Haustier für seine Kinder gekauft. Man hat ihm gesagt, diese Spezies werde höchstens einen halben Meter lang. Jetzt ist ihm klar geworden, dass er einem Betrug aufgesessen ist. Der Alligator ist einfach ein junges Tier. In Kürze wird er zu seiner vollen Größe heranwachsen und gefährlich werden. Selbst in dem kleinen Becken ist ein bedrohliches Blitzen in seinen Augen zu sehen. Ich halte ein hölzernes Essstäbchen ins Wasser und beobachte, wie der Alligator wütend und vergeblich danach schnappt.

»Gib mir mal das Stäbchen«, sagt Anna und beugt sich gefährlich weit über das Becken. »Gib her!« Das Ende ihres langen dunklen Zopfes schwimmt auf der Wasseroberfläche wie ein Köder.

Ich gebe ihr das Stäbchen, und sie sticht auf das Tier ein. Mr Dancy sieht zu und streicht sich über den braunen Schnurrbart. Dann hebt er das Tier am genoppten Schwanz aus dem Wasser und hält es über die Toilettenschüssel. Es zappelt in der Luft und schnappt nach Mr Dancys Handgelenk. Fasziniert sehe ich zu, wie er es in die Toilette fallen lässt und die Kette zieht.

»Wir hätten ihn nicht behalten können«, sagt er. »Er wäre zu einem Monster geworden.«

»Carl«, ruft meine Mutter aus den Tiefen der Wohnung. »Möchtest du einen Drink? Das Essen ist gleich fertig.«

1971. Juni, New York.

Anna und ich verbringen zum ersten Mal eine Woche in der neuen Wohnung unseres Vaters. Die Wohnung liegt in einem alten Haus am Astor Place, das keinen Aufzug hat, und so, wie er darüber spricht, klingt sie exotisch, als warteten darin viele Abenteuer auf uns. Es ist heiß und drückend, und da es keine Klimaanlage gibt, weil die elektrischen Leitungen dazu nicht ausreichen, hat er uns einen Ventilator gekauft. Und er hat uns versprochen, dass er jeder von uns, sobald er sein nächstes Gehalt bekommt, eine Ländertrachtenpuppe schenkt. Ich wünsche mir Holland. Er verspricht uns viele wunderbare Dinge, aber mit der Zeit lernen wir, nicht darauf zu warten.

»Ab jetzt sind wir zu dritt, meine beiden Mädchen und ich.« Wir hüpfen auf den Stockbetten herum, tanzen zur Musik der Monkeys und essen Blaubeerjoghurt. Wenn man das Obst unten in dem Töpfchen verrührt, wird der Joghurt dunkellila, erklärt er uns und schaltet die Nachrichten an.

Am Montagmorgen zieht sich unser Vater sorgfältig an – blauer Nadelstreifenanzug von Brooks Brothers, spitze braune Schuhe, die er mit einem weichen Ledertuch auf Hochglanz poliert. Er riecht nach Irish Spring und Rasierschaum. Er mustert sich im Flurspiegel, zieht mit einem kleinen Schildpattkamm den Scheitel gerade, rückt die Krawatte zurecht, sodass sie genau zwischen den Kragenecken sitzt, zieht die Manschetten aus den Ärmeln hervor, richtet die goldenen Manschettenknöpfe aus. Als junger Mann sei er außerordentlich attraktiv gewesen, erzählt uns unsere Mutter. »Im Fußballteam von Yale wurde er die Ballschönheit genannt. Bei dem blöden Sport hat er sich die Knie kaputt gemacht.«

Als wir die knarrende Treppe nach unten gehen, halte ich mich am Zipfel seines Anzugjacketts fest. Mein Haar ist ein wilder Lockenschopf, niemand hat mich daran erinnert, es zu bürsten. Ich habe Schmetterlinge im Bauch. Heute ist unser erster Tag im Triumph Day Camp. Anna und ich fahren allein mit dem Bus dorthin. Wir haben schon unsere Camp-Uniform an: dunkelblaue Shorts und weiße T-Shirts, vorne mit der Aufschrift TRIUMPH. Auf dem Rücken steht All Girls are Champions.

»Es gibt nur ganz wenige Mädchen in der Welt, die das Glück haben, solche T-Shirts zu tragen«, sagt unser Vater. Auf dem Weg zur Bushaltestelle gehen wir bei Horn and Hardart rein, wo er uns Sandwiches kauft, Nuss-und-Dattel-Brot bestrichen mit Philadelphia-Käse. Ich will nicht, dass er böse auf mich ist, aber mir laufen Tränen über die Wangen. Ich mag Philadelphia-Käse nicht, sage ich, als er mich fragt. Er sagt, das Sandwich werde mir bestimmt schmecken, und gibt mir die Tüte. Er ist verärgert, und das macht mich traurig. Als er uns in den Bus hilft, flehe ich ihn an, bei ihm bleiben zu dürfen. Er könne nicht an zwei Orten gleichzeitig sein, sagt er. Er müsse Geld verdienen, Buchkritiken schreiben. Bei Time-Life warteten sie auf ihn. Aber wenn der Bus zurückkomme, werde er uns abholen. Es wird dir bestimmt gefallen, sagt er.

Als der Bus sich in den Verkehr auf der 6th Avenue einfädelt, sehe ich, wie mein Vater immer kleiner wird. Ich reiße eine Ecke von der Papiertüte mit dem Lunch ab und zerkaue sie zu einer Kugel. Was soll ich machen, wenn ich aufs Klo muss? Ich will ein Schwimmabzeichen, aber ich darf nicht ins tiefe Wasser, wo es mir über den Kopf geht. Anna spricht mit dem Mädchen auf der anderen Seite des Ganges und beachtet mich nicht. Sie hat ihr Sandwich halb aufgegessen, bevor wir in Westchester ankommen.

Das Triumph Day Camp liegt an einem See. Auf dem Weg kommen wir an einem Baseballfeld, einer Wiese voller Zielscheiben und einem riesigen Indianerzelt vorbei. Der Bus hält am Ende einer langen Reihe anderer gelber Busse. Auf dem Parkplatz laufen lauter kleine Mädchen herum. Sie alle tragen ein Triumph-T-Shirt.

Unsere Betreuerinnen stellen sich uns vor: June und Pia. Auch sie tragen Triumph-T-Shirts, nur dass ihre rot sind.

»Willkommen, Altersgruppe fünf bis sieben! Für die Neuen unter euch: Wenn ihr uns braucht, haltet nach den roten T-Shirts Ausschau«, sagt June. »Hände hoch, wer letztes Jahr schon bei Triumph war.«

Die meisten Mädchen in meiner Gruppe heben die Hand.

»Dann seid ihr Champions! Als Erstes gehen wir zu euren Schließfächern, da könnt ihr eure Lunch-Pakete einschließen. Wir sind in Little Arrow.« Sie stellt uns in einer Reihe auf und geht zu einem großen braunen Haus voran. Pia bleibt am Ende unserer Schlange. »Ich passe auf, dass niemand verloren geht. Die erste Regel: Entfernt euch niemals von eurer Gruppe. Solltet ihr aber doch einmal von eurer Gruppe getrennt werden, bleibt, wo ihr seid. Setzt euch einfach hin und wartet. Eine von uns kommt dann und holt euch«, erklärt Pia.

An jedem der Schließfächer klebt ein Stück Kreppband, auf dem mit schwarzem Filzstift unsere Namen und Geburtstage stehen. Eleanor Bishop, 17. September 1966. Ich beiße mir in den Finger und zwinge mich, nicht vor den anderen Mädchen in Tränen auszubrechen. Jetzt wissen alle, dass ich noch nicht fünf bin. Das Mädchen mit dem Schließfach neben mir heißt Barbara Duffy und hat eine Beatles-Lunchdose.

»Nehmt eure Rucksäcke«, ruft June. »Wir machen eine Klopause und ziehen uns dann die Badeanzüge an. Wer von euch kann Wassertreten? – Das hier ist das Atelier«, erklärt sie, als wir an einem Raum vorbeikommen, aus dem der Geruch von Tonpapier und Leim dringt.

Im Umkleideraum gibt es lauter mit Vorhängen abgetrennte Kabinen. Ich gehe in eine davon und ziehe den Vorhang zu. Ich habe mich bis zur Unterhose ausgezogen, als mir auffällt, dass mein Vater vergessen hat, meinen Badeanzug einzupacken. Als ich mich wieder angezogen habe, sind die anderen schon zum See gegangen. Ich setze mich auf eine der Holzbänke.

June und Pia merken erst in der Pause, als sie nach dem ersten Baden die Mädchen zählen, dass ich fehle. Im Umkleideraum höre ich, wie sie immer wieder meinen Namen rufen. Dann ertönt ein Pfeifton, schrill und panisch. »Alle aus dem Wasser«, höre ich einen der Lebensretter rufen, »sofort!«

Ich bleibe still sitzen und warte, dass mich jemand holen kommt.

9.30

Die Stufen zu den Schlafhütten, drei alte Kiefernbretter, deren Stützstreben schon immer durchzurosten drohen, wippen unter meinen Schritten. Ich klopfe an die Tür der Kinderschlafhütte. Die Tür hat einen Metallrahmen mit Fliegengittern und Scheiben, die nach oben und unten verschiebbar sind und mit einem befriedigenden Klicken einrasten. Meine drei Kinder schlafen friedlich in ihren Betten, auf dem gelb gestrichenen Fußboden liegen Handtücher und Badeklamotten verstreut. Meine Mutter hat recht. Die Kinder sind kleine Dreckschweine.

»He! Frühstück!« Ich hämmere an die Tür. »Aufstehen!«

Jack, der Älteste, hebt den Kopf, sieht mich mit vernichtendem Blick an und zieht sich die kratzige Wolldecke über den Kopf. Solange meine Mutter in seiner Hütte die Holzameisen bekämpft, muss er mit seinen jüngeren Geschwistern eine Hütte teilen. Siebzehn ist ein scheußliches Alter.

Die beiden Jüngeren strecken die Köpfe aus ihren Höhlen und blinzeln verschlafen ins Morgenlicht.

»Noch fünf Minuten«, sagt Maddy. »Ich hab gar keinen Hunger.«

Madeline ist zehn. Eine Schönheit wie meine Mutter. Aber anders als die meisten Frauen in unserer Familie ist sie zartgliedrig und hat eine englische Rosenhaut, Peters graue Augen und Annas dichtes dunkles Haar. Jedes Mal, wenn ich sie ansehe, staune ich, dass dieses Wesen aus mir herausgekommen ist.

Finn klettert aus dem Bett, er trägt nur eine süße kleine Unterhose. Oh, wie ich ihn liebe. Auf seinen Wangen haben sich die Falten des Kissens eingedrückt. Er ist erst neun, fast noch ein kleiner Junge. Aber auch er wird mich bald mit äußerster Verachtung behandeln. Als Jack zur Welt kam, habe ich das winzige Baby in meinen Armen angesehen, seine Vollkommenheit bewundert, beobachtet, wie es an meiner Brust saugte, und ich habe ihm die Augenlider geküsst und gedacht: »Ich liebe dich unendlich, aber der Tag wird kommen, an dem auch du mich hassen wirst, egal, was ich tue. Wenigstens eine Zeit lang.« Das ist eine Tatsache des Lebens.

»Also gut, meine Süßen. Ihr könnt kommen oder auch nicht, aber euer Vater macht Rührei, und ihr wisst, was das bedeutet.«

»Chaos in der Küche und einen Riesenscheißabwasch«, murmelt Jack.

»Ganz richtig«, sage ich. Ich renne die Stufen wieder hi­nunter. »Und sprich nicht so unflätig«, rufe ich noch über die Schulter zurück und laufe auf dem mit Kiefernnadeln bestreuten Pfad zum Haus.

Ich warte, bis die Tür unserer Schlafhütte hinter mir zuschlägt, dann stoße ich den Atem aus, den ich angehalten habe, seit Peter mich auf der Veranda aus dem Konzept gebracht hat. Dass alles in diesem Zimmer so normal ist, scheint mir unbegreiflich: Unsere Sachen auf den uralten Metallbügeln, die an einem zur Kleiderstange umfunktionierten Holzstiel hängen. Die Eichenkommode, deren unterste Schublade bei Regen klemmt. Das Bett, in dem Peter und ich seit Jahren schlafen, zusammengerollt wie Farnwedel oder ineinander verschränkt in Schweiß und Sex und Küssen, sein süßsaurer Geruch. Er hat das Bett nicht gemacht.

Ich hänge den Bademantel an einen rostigen Nagel, der als Haken dient. Der lange Spiegel daneben ist voller blinder Flecken und trägt die Spuren von einem halben Jahrhundert Feuchtigkeit und Frost. Seit jeher bin ich dankbar für das unscharfe Bild, das er mir zeigt. In der fleckigen Silberfläche kann ich mich mit meinen Unvollkommenheiten betrachten: die kleine Narbenwulst am Kinn von der Nacht, als bei uns eingebrochen wurde; die lange, hauchzarte Narbe quer über meinem Bauch, die auch nach fünfzig Jahren noch sichtbar ist. Die viel kürzere Narbe darunter.

Jack haben wir ganz schnell bekommen. Ein Flitterwochenbaby. Aber dann passierte erst mal nichts. Was wir auch versuchten – die verschiedensten Positionen, Beine nach oben, Beine nach unten, lässig oder angespannt, ich oben, ich unten – nichts klappte. Anfangs dachte ich, es hätte mit Jack zu tun. Vielleicht war bei seiner Geburt etwas kaputtgegangen. Oder vielleicht liebte ich ihn zu sehr und wollte ihn mit niemandem teilen. Schließlich machte der Arzt oberhalb des Schambeins einen kleinen Schnitt und führte eine Miniaturkamera ein.