Der Pionier - Bernard Rappaz - E-Book

Der Pionier E-Book

Bernard Rappaz

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Beschreibung

Der Schweizer Hanfpionier B. Rappaz wird wegen Hanfanbaus zu einer Gefängnisstrafe von fast 7 Jahren verurteilt. Sein kämpferisches Wesen bringt ihm eine unverhältnismässig hohe Gefängnisstrafe ein, wie sie für politische Gefangene typisch ist. Seine 10 Hungerstreiks hinter Gittern führen zu öffentlichen Kontroversen. Im Jahr 2010 hungert er dreimal hintereinander, das letzte Mal während 120 Tagen! Der "Alpen-Gandhi" erzählt uns seine faszinierenden Geschichten. Er lebte in seiner Zelle wie ein buddhistischer Mönch - und regt uns an, über unsere eigenen inneren Gefängnisse nachzudenken.

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Seitenzahl: 468

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Bernard Rappaz

DER PIONIER

Rappaz – Fast frei und ruiniert, führt er seinen Kampf weiter

Bernard Rappaz

DER PIONIER

Die abenteuerliche Lebensgeschichteeines Hanfrebellen

Ich widme dieses Werk drei verstorbenen Persönlichkeiten, die inmeinem Leben wichtig waren:

Sylvain Goujon, Geschichtsprofessor, ehemaliger Präsidentdes Comité helvétique pour l’introduction du THC (CHIT),der mich sehr in meinem Kampf unterstützt hat;

meiner Grossmutter Céline, Ex-Hanfbäuerin, die mirüber ein idiotisches Verbot die Augen geöffnet hat;

meinem Sohn Dorian, der bei einem schrecklichenUnfall verstorben ist. Die leuchtende Erinnerung an ihnbleibt für immer in meinem Herzen.

Verlegt durch:

Nachtschatten Verlag AG

Kronengasse 11

CH-4500 Solothurn

T +41 32 621 89 49

F +41 32 621 89 47

[email protected]

www.nachtschatten.ch

Titel der französischen Originalausgabe:

PIONNIER!

© 2013 Editions Favre SA, Lausanne

© 2016 Nachtschatten Verlag AG für die deutsche Übersetzung

Übersetzung aus dem Französischen: Heidi Cervantes, Faoug

Mitarbeit: Pat Wermuth

Gestaltungskonzept, Lektorat und Korrektur: Nina Seiler, Zürich

Layout: Janine Warmbier, Hamburg

Umschlaggestaltung: Sven Sannwald, Lüterkofen

Abbildungen: Aus dem Archiv des Autors (sofern nicht anders angegeben)

Gedruckt auf 100% Recycling-Papier (CircleMatt white); leider kann sich der Verlag das von der Papierhändlermafia künstlich verteuerte Hanfpapier nicht leisten.

ISBN 978-3-03788-397-6

eISBN: 978-3-03788-513-0

Verbreitung durch Funk, Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger jeder Art, elektronische digitale Medien und auszugsweiser Nachdruck nur unter Genehmigung des Verlages erlaubt.

Der Verlag dankt Bernard Rappaz (Saxon), Ruth Zwahlen (Hanfmuseum, Tägerig) und Swiss-Cannabis (Härkingen) für die Übersetzungsbeiträge.

Inhalt

Geleitwort des Verlegers

Vorwort

Chronologie der Inhaftierungen und Hungerstreiks von Bernard Rappaz

Erster Teil

Mein Leben vor dem Hanf

Geburt und Familie

Kindheitserinnerungen

Jugendjahre

Mein Sohn wird zum Mann

Saxon, ein anderer Planet

Die Walliser Bewegung der Gewaltfreiheit

Dritte-Welt-Aktionen

Die Gegenkultur

Nachhaltige Energie

1982: Gründung der Walliser WWF-Sektion

Pionier der biologischen Landwirtschaft

Gewerkschafts- und Bauernkämpfe

Fliegenfischen

Der Banküberfall

Das Fasten

Der Prozess

Der Gefangene von Crêtelongue

Entlassung nach 40 Monaten Strafvollzug

Zweiter Teil

Im Namen des Hanfs

Die Entdeckung des Hanfs

Entzug mit Cannabis

1992 Erste Repression

1993 Tee: Der erste Kampf

1994 Das Öl: Der zweite Kampf

1995 Gründung von Valchanvre

1996 Therapeutische Hanfkissen

Die Schweizerische Vereinigung Hanfproduzierender Bauern

Gründung der Schweizerischen Hanfkoordination

Der Hanf: Ein einzigartiges Potenzial

Die wahren Hintergründe der Hanfprohibition

Die Schweizer Drogenpolitik

Haftstrafe und Zerstörung von Valchanvre

Plädoyer für eine bessere Welt

Dritter Teil

Bis zum Tod!

Vier THC-reiche Produkte

Wie konsumieren?

1997 bis 2001

Der politische Gefangene

Ein wichtiger politischer Kampf

Hungerstreik bis zum Tod

Vollzug der 16 Monate ohne Bewährung

Gefängnisleben

Die Saga von 2010

2011 Gefangener und Wäschereiarbeiter

2012 Hier geht’s zum Ausgang

Nachwort

Geleitwort des Verlegers

Mit Bernard Rappaz verbindet mich neben seinem Autorenstatus auch Kriminelles. Zumindest in den Augen der umtriebigen Walliser Behörden. Denn in die politische Hetzjagd der Walliser Justiz gegen Rappaz wurde ich unverhofft und willkürlich involviert. An einem Frühlingstag im Jahr 2006 standen drei Walliser Inspektoren vor meiner Haustür, begleitet von Solothurner Kantonspolizisten, die von Gesetzes wegen ausserkantonale Ermittlungen begleiten müssen. Verdacht: Ich sei der Grossabnehmer von Rappaz in der deutschen Schweiz …

Sogar den Solothurner Freunden und Helfern war dieses Vorgehen ihrer Kollegen leicht suspekt. So konnten sie dem Eifer der Walliser nicht viel abgewinnen und beteiligten sich auch nicht gross an der Hausdurchsuchung. Es war ein weiterer Versuch, aus jeder Mücke einen Elefanten zu machen – der krankhafte Versuch, immer mehr Anklagepunkte zu finden, um Rappaz ein für allemal fertigzumachen. Im Gegensatz zu den Walliser «Bullen», die sich wie Sheriffs aufführten (unter anderem versuchten sie, mir mein Handy ohne Rapport zu entwenden), verhielten sich die Solothurner Polizisten korrekt und respektvoll.

Bernard Rappaz, der trotz der massiven Repression gegen seine Person ein positiv denkender und überzeugter Kämpfer für mehr Gerechtigkeit geblieben ist, sich immer noch für Ökologie und menschenwürdige Lebensumstände einsetzt und sich immer wieder gewerkschaftlich organisiert, ob im Knast oder ausserhalb, ist trotz all dieser Ungerechtigkeiten erstaunlich entspannt geblieben und ist das Gegenteil eines frustrierten oder gar hasserfüllten Menschen.

Der Hanf wurde zunehmend eine willkommene Gelegenheit, um diesen Störenfried und aufmüpfigen Rebellen zum Schweigen zu bringen. Wer sich derart in Szene setzt und sich auch gern in Szene setzen lässt, schafft Polaritäten. Rappaz hatte viele Mitstreiter, forderte aber ebenso viele streitlustige Gegenspieler heraus, in seinem Fall auch Untersuchungsrichter und Politiker.

Sie wollten ihn zerstören – doch Rappaz liess sich nicht zerstören. Das Motto «Was mich nicht umbringt, macht mich stärker» trifft jedenfalls voll auf ihn zu, wenn auch gespickt mit einem gewissen Zynismus nach seinen vielen Hungerstreiks. Sein unermüdlicher Einsatz insbesondere für den Hanf verdient den allergrössten Respekt. Hoffen wir, dass diese mühevolle Arbeit trotzdem bald einmal Früchte trägt und der Hanf rehabilitiert wird – und mit ihm tapfere Leute wie Bernard Rappaz.

Übrigens wurden die Anklagen gegen mich im Zusammenhang mit Rappaz allesamt wieder fallengelassen. Eines der Hauptindizien für den Vorwurf, dass ich mit Valchanvre Geschäfte gemacht hätte, basierte auf legalen Geschäften mit Büchern und einer DVD zum Thema Hanfanbau! Der betreffende Geldverkehr war für die Walliser Behörden Verdacht genug, an Schwarzhandel mit Hanf zu glauben; ebenso, dass Rappaz einmal auf dem Weg in die Deutschschweiz mit Haschisch im Auto erwischt worden war – eine seiner Stationen war der Verlag, um die Produktion der DVD zu besprechen. Für die Walliser war es ganz einfach: Er war zu mir gekommen, also musste ich ebenfalls damit zu tun haben. Obwohl die Anschuldigungen unhaltbar waren, wurde ich nach einer nächtlichen U-Haft in Solothurn wie ein Schwerverbrecher im Knastzug via Bern und Lausanne nach Martigny gefahren – und nach weiteren drei Tagen U-Haft in Martigny auf dem Bahnhof ausgesetzt.

Der Verdacht hat sich weder erhärtet noch wurden illegale Handlungen zwischen Rappaz und mir nachgewiesen – alles basierte auf fadenscheinigen, willkürlichen Verdächtigungen. Um solche Vorgehensweisen der Behörden aufzudecken und damit diese Ungerechtigkeiten nicht vergessen gehen, braucht es Leute, die nicht aufgeben und ihre Erfahrungen veröffentlichen – so wie Bernard Rappaz im diesem Buch.

Roger Liggenstorfer, im August 2016

Vor seinem Prozess – Rappaz:«Ich bin ein Kämpfer, nicht ein Dealer»

Vorwort

Jeder Mensch, der an einem beliebigen Moment in seinem Leben wie auf einem Foto erfasst wird, zeigt seine Persönlichkeit, seine eigene Identität. Dieses Konzentrat widerspiegelt, abgesehen vom Faktor der Vererbung, das verdichtete Ergebnis all dessen, was er erlebt hat, und aller Konditionierungen, die er erfahren hat. Bedeutet Freiheit nicht, seine eigenen Konditionierungen zu wählen – durch Religion, eine Kultur, ein Buch, einen Film, Freunde?

Diese Konditionierung wird uns ebenso sicher formen wie Baumaterialien. Wir sind das Ergebnis all dieser Einflüsse. Daher erscheint es mir interessant, meine Entwicklung zu verfolgen, mein Leben und meine Kämpfe, damit man versteht, wie der Boden beschaffen ist, der mich genährt und zu dem gemacht hat, was ich heute bin.

Ich habe mich entschieden, zuerst meinen Lebensweg als Aktivist aufzuzeigen, um dann zum Kern des Themas zu kommen: Schweizer Hanf, ohne Grenzen. Diese Vorgehensweise erscheint mir sehr hilfreich, denn wenn ich eine Bresche in den Wall der Cannabis-Unterdrückung habe schlagen können, dann hauptsächlich dank meiner Vergangenheit, meinen Erfahrungen im Feld, während ich voranrückte wie ein Pilger, der nach Gerechtigkeit dürstet.

Diese Schulung, die ich vor Ort durchlief, war absolut notwendig, um das grosse Abenteuer des Schweizer Hanfs zu wagen.

Als engagierter Aktivist, leidenschaftlicher Bauer, erfahrener Gewerkschafter, Amateurjournalist, überzeugter Gewaltgegner mit Erfahrung im politischen Kampf und Knastbruder habe ich viele entscheidende Kontakte im Wallis, in der Schweiz und in der ganzen Welt geknüpft; diese Erfahrungen haben mir geholfen, das zu versuchen, was niemand wagte: öffentlich und offen Hanf anzubauen.

Mit der Zeit habe ich gelernt, dass jeden Tag Geschichte geschrieben wird und dass ein einziger entschlossener Mann mit seiner Überzeugung ihren Lauf verändern kann. Das Beispiel der Militärverweigerer aus Gewissensgründen, die unserer Gesellschaft Jahrhunderte im Gefängnis geopfert haben, um zuletzt endlich einen Zivildienst in der Schweiz durchzusetzen, zeigt, dass man nie verzweifeln soll und dass man einen Nagel langsam und mit mehreren Hammerschlägen einschlägt.

Als ökologischer Aktivist der ersten Stunde geniesse ich heute die in allen Bereichen erreichten Siege.

Als Pionier der Biolandwirtschaft sehe ich diese naturnahe und gesunde Landwirtschaft einen bedeutenden Aufschwung erleben: Mit 100 Betrieben im Wallis Ende 2013 sind wir eine wichtige Kraft geworden.

Ebenso habe ich gelernt, dass die Fähigkeit der Menschen oder der Gesellschaft zur Resignation leider viel stärker ist als die zur Revolte. Dass man dazu fähig ist, sich selbst ständig zu hinterfragen, bleibt das entscheidende Rezept für eine nachhaltige Gesellschaft, beim Einzelnen wie in der Gemeinschaft.

Mein Wunsch ist es, dass meine Lebensgeschichte, die im ersten Teil aufgezeigt wird, Ihre Aufmerksamkeit erregt. Wenn sie Sie dazu bringt, über Ihr eigenes Leben und Ihre Handlungen nachzudenken, habe ich meine Wette gewonnen.

Ich habe fast das gesamte Buch ab 1997 im Gefängnis geschrieben; damals war ich in Martigny eingesperrt. Ich befand mich im Hungerstreik, um gegen meine Gefängnisstrafe zu protestieren, die ich ungerechtfertigt fand. Nach meiner Freilassung nahmen meine Aktivitäten als Gewerkschafter und Hanfbauer meine Zeit in Anspruch, und diese Aufzeichnungen blieben in einer Ecke des Schreibtisches liegen. Und dann nahm ich das Schreiben wieder auf, in den folgenden Jahren der Einkerkerung und neuer Haft. Jedes Mal musste ich Erinnerungsarbeit leisten, da ich nur leere Blätter erhielt, ohne lesen zu können, was ich zuvor schon geschrieben hatte.

Gewisse Namen in diesem Werk sind erfunden, aber alle erzählten Ereignisse haben sich wirklich zugetragen.

Anmerkung des Herausgebers der französischsprachigen Originalausgabe: Wir wollten die Spontaneität der im Gefängnis geschriebenen Seiten beibehalten; dies erklärt die chronologische Freiheit und die Wiederholung gewisser Erinnerungen.

Warum das Wallis Rappaz sterben lassen will

Chronologie der Inhaftierungen und Hungerstreiks von Bernard Rappaz

7. Mai 1985

Erste Inhaftierung in der alten Untersuchungsanstalt von Martigny, nach dem Überfall auf die Walliser Kantonalbank im Januar 1985. Erster Hungerstreik (20 Tage) und Entlassung unmittelbar danach. Grund: siehe Anwalt.

7. August 1993

Zweite Inhaftierung im Gefängnis von Saint-Gingolph wegen Verkaufs von Hanftee. Zweiter Hungerstreik (10 Tage) und anschliessende Entlassung. Grund: Entlassung.

10. Dezember 1996

Dritte Verhaftung wegen Verkaufs von Duftkissen, Inhaftierung in der neuen Untersuchungsanstalt von Martigny. Hungerstreik von 42 Tagen und anschliessende Entlassung. Grund: Entlassung.

14. November 2001

Vierte Inhaftierung im Prison Des Îles in Sion wegen Verstoss gegen das Bundesgesetz über Betäubungsmittel (BetmG). Hungerstreik von 72 Tagen und anschliessende Entlassung. Grund: Hausarrest.

14. März 2006

Vorbeugehaft im Prison Des Îles in Sion wegen Hanfanbau. Nach 73 Tagen Fasten entlassen mit Hausarrest von 37 Tagen. Grund: Hausarrest.

November 2008

Das Walliser Kantonsgericht verurteilt ihn, in Berufung, zu 5 Jahren und 8 Monaten der Verwahrung wegen schwerem Verstoss gegen das BetmG und wegen schwerer ungetreuer Geschäftsführung.

20. März 2010

Verhaftet zwecks Vollzug einer Strafe von 5 Jahren und 8 Monaten, unter anderem wegen schwerem Verstoss gegen das BetmG, im Gefängnis Des Îles und anschliessend in Crêtelongue. Beginnt einen ersten 50-tägigen Hungerstreik, wird eingesperrt im Unispital und anschliessend wieder im Gefängnis in Sion, nach zwei Wochen zu Hause, in denen er wieder Nahrung zu sich genommen hatte.

22. Mai 2010

Zweiter Hungerstreik, begleitet von einem Durststreik von 3 Tagen im Prison Des Îles in Sion. Überführung in die Haftabteilung im Inselspital in Bern und dann zurück nach Hause nach 61 Tagen des Fastens. Grund: Androhung einer massiven Strafe.

August 2010

Beginnt seinen dritten Hungerstreik, der 120 Tage dauern wird. Hat bei den Ärzten die Verweigerung der Zwangsernährung erreicht. Beginn des Vollzugs der Strafe von 5 Jahren und 8 Monaten. Grund: Androhung einer massiven Strafe.

10. Mai 2011

Das Bezirksgericht von Martigny verurteilt den Hanfbauern zu einer Gefängnisstrafe von 12 Monaten, eine Sanktion, die zu der vom Walliser Kantonsgericht im Jahre 2008 gefällten Strafe hinzukommt. Grund: Androhung einer massiven Strafe.

10. Juli 2012

Das Walliser Kantonsgericht bestätigt die Strafe von 12 zusätzlichen Monaten, die dem Walliser Hanfbauern in erster Instanz auferlegt wurden.

25. August 2012

Erreichen der Hälfte der Haftstrafe und Übergang zu Halbfreiheit im Prison Des Îles in Sion.

Februar 2014

Bewährung.

Bernard Rappaz – Ende des Durststreiks

Rappaz-Affäre – Die Polemik reicht bis in die Regierung

ERSTER TEIL

MEIN LEBEN VOR DEM HANF

KAPITEL I

Geburt und Familie

Es ist vier Uhr morgens. Trotz eines vor zehn Tagen begonnenen Hungerstreiks bin ich in Topform, fange wieder an zu schreiben und beginne die erste Seite dieses Buches. In der Beugehaft ist die Zelle ein idealer Ort, um in Frieden zu schreiben. Zuunterst im Loch spornt mich meine Gewissensfreiheit – die man mir nicht wegnehmen kann – dazu an, mich zu äussern, das tut gut!

Zurück zum Beginn meines jetzigen Lebens. Es ist der 18. Februar 1953. Saxon, mein Heimatdorf, befindet sich in Aufruhr: Die Fasnacht beginnt! Mein Onkel Raymond, ein grosser Witzbold, macht sich das zunutze, um meine Mutter zu überraschen und sie zu erschrecken … Ein voller Erfolg! Sie wird am selben Tag zu Hause ihr einziges Kind gebären: mich. Und so werde ich einige Wochen zu früh in das grosse Abenteuer des Lebens geworfen.

Ich entstamme einer Familie von Schwergewichten – mit meinem Vater Raoul, 130 Kilo, seinem Bruder Raymond, 172 Kilo, meinem Grossvater Oscar, 145 Kilo, und meiner Grossmutter Céline, 115 Kilo, was 562 Kilo für Vater, Mutter und zwei Kinder entspricht! Der Dorfarzt hatte ein grosses Kind vorhergesagt … falsch, er ist sehr klein, kaum zweieinhalb Kilo, fast eine Schande! Die Nachkriegszeit liegt gerade hinter uns, und damals sind Gesundheit und Reichtum die Reserven. In der Tat bedeutet Übergewicht, dass man genug zu essen hat und folglich der Armut entkommen ist … Ein Pin-Up-Girl von heute hätte im damaligen Umfeld kaum einen Ehemann gefunden.

Bei meiner Geburt ist meine Mutter 21 Jahre alt, Verlobung mit 15, Heirat mit 18. Mein Vater, sieben Jahre älter, Bauer, arbeitet mit seinem Bruder Raymond zusammen, der auch Bauer ist. Zu jener Zeit ist Landwirtschaft die Hauptbeschäftigung im Dorf. Mein Grossvater Oscar hat sich daraus befreien können, seit er als Briefträger der Gemeinde amtet. Er leitet ausserdem verschiedene Blaskapellen, unter anderem die von Saxon und Saillon. Als Musikdirektor schätzt man ihn wegen seines Gehörs und seiner Fähigkeiten, bewundert wird er aber auch für seinen unstillbaren Appetit.

Von Seiten meiner Mutter setzt sich die Familie Gaillard aus dem Vater Denis, der Mutter Lydia und ihren drei Töchtern zusammen: Dora, Denise und die jüngste, Marcelle. Wie alle anderen bewirtschafteten sie ein kleines Landgut; mein Grossvater Denis arbeitete in der Konservenfabrik für Früchte in Saxon.

Der kleine Bernard wird von allen verwöhnt. Ist er denn nicht das erste Kind, das geboren wird? Zu meinem Leidwesen und obwohl meine Mutter Kinder liebt, bleibe ich ein Einzelkind, was mein Leben und meine Beziehung zu den Menschen sicherlich beeinflussen wird.

Kommen wir zurück zur Geburt, die im Haus der Familie stattfindet. Madame Lina Plant, die Hebamme des Dorfes, kümmert sich um die Geburt, wie es sich zu dieser Zeit gehört. Der kleine Bernard findet sich in einem Schuhkarton wieder und ist etwas beschämt angesichts dieser Riesen und Schwergewichte.

KAPITEL II

Kindheitserinnerungen

Meine Mutter arbeitet hart und hilft meinem Vater bei der Feldarbeit, daneben kocht sie für fünf Personen. Zu dieser Zeit öffnet sich die Rhone-Ebene, die von Weiden bedeckt ist, rasch für den Anbau verschiedener Kulturen.

Papa, ein hartnäckiger Arbeiter, pflanzt Spargeln, Erdbeeren, Tomaten und Fruchtbäume. Er erntet gelegentlich, aber hauptsächlich spekuliert er. In der Tat erweisen sich der Kauf und Wiederverkauf der Ländereien als besonders rentabel. Dieses System wird laufend praktiziert. So beginnt er häufig mit dem Anbau – beispielsweise Spargeln – und verkauft das Land, ohne je geerntet zu haben.

Der Preis der Grundstücke liegt zu Beginn bei weniger als 50 Rappen pro Quadratmeter, um sich dann zu verdoppeln und wieder zu verdoppeln – bis zu dem Tag, an dem die Spekulation die Preise für Landwirtschaftsland auf einen unglaublichen Höchstbetrag von 30 Franken pro Quadratmeter hochgetrieben hat. Eine Generation spekuliert, und die nächste muss es ausbaden. Schliesslich wird das Gesetz geändert, um den Prozess zu stoppen, damit die Schweizer Landwirtschaft weiterhin überleben kann, und nach den Neunzigerjahren wird der Boden wieder zu landwirtschaftlichen Preisen zugänglich, zum Ertragswert.

Und doch! Wie viele Bauern meiner Generation oder der folgenden mussten sich verschulden, nur um unseren edlen Beruf ausüben zu können! Heute ist es für einen jungen Bauern möglich, sein Arbeitsgerät wieder zu finden: die Erde. Und dies zu einem vernünftigen Preis, vorausgesetzt, er besitzt ein Startkapital.

Leider hat sich eine ganze Generation verschuldet, und die Konkurse sind nicht mehr zu zählen. Für einige bedeutet das Selbstmord, denn es gibt da einen hartnäckigen Stolz, wenn er auch nicht angebracht ist. Es ist besser, einen Konkurs als Möglichkeit für einen Neustart im Leben zu sehen. Die Banken beharren unnachgiebig auf den Schulden und zerstören Situationen, die unhaltbar geworden sind. Sie als Einzige holen ihre Kastanien aus dem Feuer.

Früher zahlten die Leibeigenen (Bauern) den Zehnten (10 Prozent) an die Herren oder an die Kirche. Heutzutage zahlen sie dasselbe in Form von Bankzinsen. Der Fortschritt geht weiter, nicht wahr?

Meine erste Erinnnerung spielt ungefähr im Alter von drei Jahren in einem Erdbeerfeld in der Ebene von Riddes, als ich einen ganzen Nachmittag lang einer Schneckenmutter dabei zusah, wie sie sorgfältig ein Ei nach dem anderen legte. Später, als die kleinen Kanäle in der Ebene vor Leben wimmelten und von wunderschönen Forellen, als ich ungefähr sieben Jahre alt war, erinnere ich mich an einen Tag, an dem ich beim Angeln ein Wunder erlebte; ich hatte fast zwanzig grosse Forellen von Hand gefangen. Grosse Enttäuschung, die diesen einfachen Fang erklärt: Sie sind vergiftet! In der Tat beginnen chemische Produkte die Landwirtschaft zu überschwemmen. Oft leert der Bauer die Reste in den Tanks direkt am Ufer der Kanäle. Eine allzu frühe ökologische Katastrophe; ein ausgeglichenes Ökosystem wird innert weniger Minuten zerstört. Es wird noch viel brauchen, bis sich die Fischer zusammentun, die Kläranlagen aufkommen und sich endlich eine Bewegung und ein ökologisches Bewusstsein entwickelt.

In der Ebene von Saillon pflanzt mein Vater Reben an einem Ort, der Tobrouk genannt wird, nach einem polnischen Gefangenenlager, das sich während des letzten Krieges dort befand. Mehrere von ihnen waren geflohen und hatten versucht, nach Italien zu gelangen, einige liessen dabei ihr Leben.

In der Nähe der Reben ein kleiner Teich: die Brêche. Dort hat mein Vater schwimmen gelernt. Und dort hat er mich auch ins Fischen eingeführt. Ich werde ihm nie genug dafür danken können. In der Tat hat mich dieser Virus nie verlassen, im Gegenteil, denn diese Leidenschaft entwickelt sich weiter bis zu dem Tag, an dem ich zum «Moucheur» werde, zum Fliegenfischer.

Ein wiedergeborenes Kind?

Während einiger Jahre lebe ich im Kanton Waadt, da mein Vater dort Reben kauft. Eines Sonntags, als wir an der Riviera dem Rebberg entlang mit Blick hinunter auf den Genfersee spazieren gehen, setze ich mir in den Kopf, in eine andere Richtung zu gehen als meine Eltern. Sie lassen mich gehen, überzeugt, dass ich schnell zurückkommen werde. Doch nein! Schliesslich müssen sie mehrere Kilometer zurückgehen, um mich zu finden. Ich bin acht Jahre alt.

Ab 10 Jahren beschäftigt mich etwas … In diesem Alter mache ich häufig Dinge zum ersten Mal. Und doch habe ich das Gefühl, eben diese Dinge schon oft gemacht zu haben. Im Rückblick handelt es sich für mich um Erinnerungen an ein oder mehrere frühere Leben. Dies an einem Punkt, wo ich mir vorstelle, ohne Einfluss durch Erwachsene immer gelebt zu haben und irgendwie ewig zu sein!

Mein Vater, ein eingefleischter Kommunist, entwickelt innerhalb der Familie einen starken Antiklerikalismus, von seinem Vater geerbt oder mit seinem Bruder geteilt. Ausserdem habe ich das Glück, seine pazifistischen und antimilitaristischen Ideen kennenzulernen. Meine Eltern gewöhnen mich auch an den Nudismus. Dieses Bildungsumfeld, das aussergewöhnlich war für diese Zeit und Region – der Kanton Wallis ist besonders konservativ und verschlossen –, wird gewiss meine Zukunft bestimmen. Damit hatte ich viel Glück im Vergleich mit meinen kleinen Kameraden, denn im Alter von zwölf Jahren öffnet sich dank meiner grossen Sensibilität mein Geist, und ich werfe einen neuen Blick auf die Gesellschaft, die mich umgibt, in aller Objektivität und ohne voreingenommen zu sein. Dass mein Vater anders ist als die Mehrheit, zeigt mir, dass ein Unterschied besteht. Ich werde einige seiner Ideen übernehmen, aber ich schliesse aus seiner Haltung, dass sich zu jeder Wahrheit eine Gegenwahrheit öffnet. Dies beschert mir einen neuen und offenen Geist.

Plötzlich, im Alter von zwölf Jahren, treffe ich eine bedeutsame Entscheidung: Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen zu werden und den Dienst in der Armee zu verweigern. Ich notiere mir dazu aus einer Zeitung, die mein Vater erhält – Le Résistant à la guerre –, dass sich in Sion der Vertreter für das Wallis aufhält, der Abt Clovis Lugon. Ohne viel nachzudenken, setze ich mich in den Zug und steige in der Hauptstadt aus, um ihn ein erstes Mal kennenzulernen. Etwas überrascht über mein jugendliches Alter, begleitet mich der Abt Lugon zurück zum Bahnhof, nicht ohne die Unschuld meines Vorhabens bemerkt zu haben. Er sagt mir noch: «Du hast genug Zeit, deine Verweigerung reifen zu lassen. Während du auf deine Rekrutierung wartest, kann ich dir dieses Buch empfehlen.» So komme ich mit einem Buch zurück, das meine gesamte Existenz über den Haufen werfen wird: die Autobiographie von Mahatma Gandhi. Noch heute kommt es vor, dass ich darauf zurückgreife, um daraus unzählige Kräfte zu schöpfen, die meine Kämpfe entwickeln und unterstützen. Ich entdecke die aktive Gewaltlosigkeit und werde mein ganzes Leben versuchen, sie bei jeder Situation anzuwenden. Einstein sagte über Gandhi: «Kommende Generationen werden kaum glauben können, dass ein solcher Mann je in Fleisch und Blut auf dieser Erde gelebt hat.» Anscheinend haben sie ihn immer noch nicht entdeckt!

Mein Onkel Raymond vergöttert mich und lädt mich oft ins Café des Vergers ein, das sich nahe beim Elternhaus befindet. Dort lese ich mit Leidenschaft Le Canard Enchaîné. Dies entwickelt meinen Geist weiter, und ich entdecke die Welt und ihre Probleme. Dieser Onkel, der dickste Rekrut seines Jahrgangs, hat einen feinen Geist und einen ausgeprägten Humor. Ein Lebemann, der unverheiratet bleiben wird und in bestmöglicher Weise vom Leben profitiert, bevor er frühzeitig stirbt, ein Opfer seines Übergewichts.

In der Primarschule fällt mir das Lernen leicht, und ich bin fast bis zum Schluss Klassenbester – dies, ich muss es zugeben, hauptsächlich aus einem Konkurrenzdenken heraus, das zu jener Zeit durch das Schulsystem sehr gefördert wurde.

Spirituelles Leben

Meine peinlichen Fragen an den Pfarrer ersparen mir seinen obligatorischen Unterricht. Manchmal mit väterlicher Hilfe, das macht mir mächtig Spass. Es hat mich jedoch nicht daran gehindert, grundlegende Fragen zur Existenz zu erahnen. Ich erinnere mich daran, an einer Retraite in der Kirche Notre-Dame du Silence in Sion teilgenommen zu haben, nur um zu sehen und mir eine Meinung zu bilden. Dabei leben die Teilnehmer zurückgezogen und dürfen während einer Woche kein einziges Wort sprechen. Die Pfarrer hingegen reden täglich stundenlang über Religion. Ich verschlinge alles, was ich über Religion und Philosophie finden kann. Mit dreizehn Jahren festigt sich meine Meinung. Sie hat sich bis heute kaum geändert. Kurz gesagt, ich werde niemals Christ sein, obwohl ich zahlreiche praktizierende Christen als Freunde hatte, seien sie nun Bürger, Pfarrer, Kapuziner oder Pastoren; die Suche nach Gerechtigkeit ist der Zement, der uns verbindet. Eines Nachts gegen zwei Uhr treffe ich in einem kleinen Strässchen den Abt Clovis Lugon, der eine Matratze für Flüchtlinge transportiert. Dieser Mann, den das Lokalblatt Le Nouvelliste kritisiert und der als Umstürzler und roter Abt beschimpft wird, verhielt sich wie ein Heiliger.

Ich glaube an das Abenteuer von Christus und respektiere es. Dagegen kann ich die 2000 Jahre an Dummheiten, die folgten, nur zurückweisen, mit ihren heiligen Kreuzzügen, dem Töten der Ungläubigen, den Kolonisationen, den wirtschaftlichen Gewalttaten und der Entwicklung einer oligarchischen Kirche, die alles tat, um das Volk in Unwissen und Elend zu halten. Der weisse Mann vertritt eine Rasse, die viele Massaker begangen hat. Diese Rasse beutet mit ihren multinationalen Konzernen weiterhin die Ressourcen der Völker und des Planeten aus. Oft schäme ich mich, ein Teil davon zu sein …

Ich öffne mich den östlichen Religionen und lese im Besonderen den Koran, die Bhagavad Gita und das Tibetische Totenbuch.

Wenn ich unbedingt einen existierenden Weg wählen müsste, würde ich mich für den tibetischen tantrischen Buddhismus entscheiden; soviel mir bekannt ist, hat kein anderes Volk eine vergleichbare Ebene des Wissens erreicht. Diese Art von Zivilisation könnte Jahrtausende lang existieren, ohne andere Völker oder die Natur anzugreifen.

Heute noch, 2013, stirbt Tibet, ermordet durch China.

Die Mädchen … jetzt schon!

Ich bin sehr frühreif; ich erinnere mich noch an einen Tag, an dem meine Mutter mit meiner Grosstante eine Spezialität zu Ehren des Dorfheiligen Saint-Félix zubereitet hat: Merveilles. Schmackhaft süsse Köstlichkeiten. Währenddessen spiele ich mit Eliane, einer Cousine, und obwohl wir erst zwölf Jahre alt sind, gehen wir vom Mama-Papa-Spiel zum kompletten sexuellen Akt über. Ohne zu wissen, was geschehen ist, haben wir uns zum ersten Mal Liebe gemacht, uns gegenseitig entjungfert … Unschuldige Liebe, Dorfliebe. Wir sind im selben Alter.

KAPITEL III

Jugendjahre

Die Leichtathletik

Im Alter von 14 bis 17 Jahren engagiere ich mich voll in der Leichtathletik, einem Sport, der im Wallis gerade aufkommt. All dies wurde möglich dank Walter Fink, meinem Trainer, ehemaliger Vertreter der Schweiz bei den Olympischen Spielen in Rom. Er war Zehnkämpfer.

Ich übe diese Disziplin sowie einige andere aus und gewinne einige Titel auf kantonalem Niveau. Rekordhalter bei den B-Junioren über 300 Meter Hürden, erinnere ich mich an ein Rennen in Martigny, das ich über 600 Meter in 1' 29" 00 gewinne. Diese Zeit, in der ich täglich trainiere, meistens mit meinem Freund Lambiel, bringt mir viel Freude. Sie hat vor allem meinen Charakter geschmiedet und meine aussergewöhnliche Willenskraft entwickelt. Das wird mir mein ganzes Leben lang eine Hilfe sein.

Obwohl ich für die Schweizermeisterschaften qualifiziert bin, drehe ich dem Wettkampfsport brüsk den Rücken zu. Meine politische Seite übernimmt wieder die Oberhand. Ich will nicht die Fahne des Nationalismus tragen; ich glaube, dass dieser schlussendlich Gewalt und Krieg verursacht.

Später übernimmt mein Sohn John, wird Teil der Schweizer Leichtathletikhoffnungen und landet bei den besten drei Läufern seiner Kategorie. Leider zwingt ihn ein Muskelproblem zum Rückzug in die Zuschauerränge.

Ferner trägt mein Cousin Stéphane Schweikardt sein Talent bis über die Landesgrenzen. Er gewinnt Rennen auf internationaler Ebene. Als Kind hatte er mich bewundert, heute sind wir es, die ihn bewundern. Seine Tochter führt jetzt die Tradition weiter.

Politik, Einstellung und Kämpfe

Schon sehr früh werde ich mir gewisser politischer Herausforderungen bewusst. Aus meiner Sicht heisst Politik nicht, irgendeiner Partei anzugehören; Sozialist, Bürgerlicher oder Freisinniger zu sein ist nichts anderes als sich Apache, Sioux oder Cheyenne zu nennen, wo wir doch schlussendlich alle Indianer sind! Politik zu betreiben geht aus vom Engagement, für eine Sache, eine Idee oder eine Bewegung einzustehen. Sie ist untrennbar mit dem Alltag jedes einzelnen verbunden. Konsum ist ein rein politischer Akt; wenn Sie ein europäisches oder japanisches Auto kaufen, eine Frucht aus der Region oder eine importierte, einen Max-Havelaar-Kaffee oder einen anderen, unterstützen Sie wirtschaftlich das eine oder andere System.

Die Motivation wächst in mir auf dem Kompost der Ungerechtigkeit, dieser Keim ist für mich unentbehrlich, damit ich mich engagiere.

Die Studienzeit

Nach Abschluss der Primarschule komme ich in die Sekundarschule in Martigny. Wie immer frühreif – ich bin zwei Jahre jünger als der zweitjüngste in der Klasse – verliere ich das Interesse an guten Noten und begnüge mich mit den durchschnittlichen, damals eine 4 von 6. In dieser Zeit gibt mein Vater Blumenkohl, Erdbeeren, Tomaten, Spargeln und Äpfel auf, um sich auf Reben und Williamsbirnen zu spezialisieren. Er hatte lange vor seinen Kollegen verstanden, dass Reben und Williamsbirnen als Rohstoff dienen, dies ohne Sortierung, Kalibrieren und Auswahl I, II, III. Wie viele wurden durch diese belanglosen Kriterien, die grössere Gewinne für die Händler und geringere Erträge für die Bauern erzeugen, von den Händlern ausgeblutet? So gründet er ein schönes Weingut mit 7 Hektaren. Er ist innovativ in seinem Beruf, da er als erster im Wallis mit einem Stelzentraktor arbeitet, der speziell für Rebberge konzipiert ist.

Als mein Vater und sein Bruder erfahren, dass ein Grundbuch für Weinbau erstellt werden soll, bebauen sie umgehend eine Parzelle mit 3 Hektaren Fläche. Da sie keine Zeit mehr haben, pflanzen sie die Reben nur in jeder dritten Reihe. Das folgende Jahr erhält der Rest die fehlenden Rebstöcke. Dank diesem Trick profitieren sie von 2 zusätzlichen Hektaren. Seither verbietet es das Grundbuch, den Weinberg ausserhalb der Zone zu vergrössern.

Zu jener Zeit hegen die Leute meiner Gegend keine Sympathien für Hermann Geiger, den genialen Gletscherpiloten. Der Flieger stellt nämlich dank seiner Fähigkeiten sein Talent der Walliser Regierung zur Verfügung, um einige verbotene kleine Rebberge in Saillon und Saxon mit starken Entlaubungsmitteln zu besprühen. Bei dieser Gelegenheit wird er von den aufgebrachten Landwirten beschossen, glücklicherweise ohne Folgen. Das war unser kleines Vietnam.

Später benutzt die Regierung Gefangene aus Crêtelongue, um eine «vermaledeite» Rebe in Conthey auszulöschen, und lässt die unerlaubten Rebstöcke abschneiden – eine ökologische Methode, wenn auch sozial nicht vertretbar.

Mein Vater, immer achtsam und gut informiert, wendet eine Verarbeitung mit niedriger Literzahl an (150 Liter pro Hektar), wodurch er sich Kritik von den agronomischen Forschungsinstituten einhandelt. Tatsächlich schätzen diese «Doktoren der Wissenschaft», dass man nicht unter 2000 Liter pro Hektar gehen kann. Heute befürworten sie die niedrige Literzahl. Nebenbei bemerkt sind es fast immer Privatpersonen, die in der Landwirtschaft Innovationen vorantreiben, wo doch logischerweise die Forscher mit ihren Mitteln und dem garantierten Lohn immer wieder neue Wege ebnen sollten.

Meine Mutter liebte Kinder … und spielte auf unvergleichliche Weise mit ihnen. Dennoch hatte sie nur ein einziges, auf Wunsch meines Vaters. In der Tat wollte er keine Tochter, die übergewichtig war wie er selber. Ausserdem wollte er, dass sein Sohn über das gesamte Familienerbe verfügte. Als Einzelkind geplant und seit meiner Geburt daran gewöhnt, alleine zu sein, war ich der Mittelpunkt, und alles schien mir zuzustehen. Resultat: ein egoistischer Jugendlicher, der in der Lehre des Lebens das Teilen lernen muss – dafür brauchte ich einige Jahre.

Papa träumte wie die meisten Eltern von heute davon, dass sein Sohn das Familienerbe antreten würde. Dieses Vorgehen ist riskant, wenn nicht sogar verheerend. Man kann die Zukunft seiner Nachkommen nicht auf Grund eigener Träume planen. Das Leben hat mich gelehrt, dass die Kinder zwar durch uns kommen, uns aber nicht gehören. Wir dürfen sie begleiten, sie lieben bis zu dem Tag, an dem sie mit eigenen Flügeln fliegen wollen. Mit dieser Philosophie verhindert man Enttäuschungen und bleibt für alles offen, mit Respekt vor der Freiheit. So steckte man mich also, obwohl ich Arzt oder Sozialarbeiter werden wollte, in eine Schule für Weinbau/Önologie in Beaune, im Herzen der grossen Weinberge des Burgunds. Dort konnte ich der Schulung zum höheren Techniker entkommen, die mich sieben Jahre gekostet hätte – zum Leidwesen des Schuldirektors, der diesen brillanten Schweizer Schüler schon sein Spektrum an begabten Ausländern verbessern sah. Und so weiche ich auf eine praktischere Schulung zum Weinbauern-Önologen aus, die zwei Jahre dauert.

Der Mai 68 bricht an … Ich erlebe unvergessliche Momente mit dem Ausbruch dieser revolutionären Unruhe, die sich bis in die Provinz erstreckt. Der sozialistische Vizedirektor übernimmt den Platz des gaullistischen Direktors.

Eines Tages kehre ich für ein Wochenende in die Schweiz zurück. Die Züge fahren nicht mehr, der Strom ist abgestellt und ebenso die Tankstellen … Ich mache also Autostopp. Ein Bauer nimmt mich in seinem Deux-Chevaux mit und bringt mich zur Strasse bei Vallorbe; hinten im Wagen eine Sau, da haben wir den Gestank! Kaum habe ich den Daumen wieder gehoben, hält ein Rolls-Royce an, der Chauffeur ganz alleine mit seinen weissen Handschuhen. Ich setze mich hin, mitsamt meinen schweinischen Düften … Wir gelangen problemlos über die Grenze, und ich beende die Reise im Zug. Heute stelle ich mir vor, dass der Rolls mit französischem Geld vollgeladen war und dass es sich um Kapitalflucht handelte. Her mit eurem Geld, die Schweizer Banker kennen das Lied und lassen sich nicht von Skrupeln stören. Das haben wir beim Gold der Juden gesehen, das die Nazis gebracht haben.

Der Mai 68 hat mir bestätigt, dass eine Revolution fast gewaltfrei ablaufen kann und dass 10 Prozent der Bevölkerung ausreichen, um sie zu führen.

Bruch

Meine Studien gehen zu Ende. Ich kehre ins Land zurück, um mit meinem Vater zu arbeiten. Meine normale Pubertätskrise, die in jeder Generation vorkommt, verdoppelt sich durch eine Kulturkrise. Elektrisiert von der aufblühenden Gegenkultur höre ich neue Musik: Jimi Hendrix, Pink Floyd, Bob Dylan, John Mayall, Jethro Tull, Janis Joplin, Johnny Winter, Ange, Jacques Higelin, John McLaughlin, Simon & Garfunkel, Joan Baez, Genesis, Miles Davis, Magma, Supertramp usw.

Die Hippie-Bewegung rollt an. Ich bin sofort beeindruckt, mein Herz fliegt ihr zu. Unser Leitmotiv – Make Love, Not War – betört mich, meine Haare wachsen … Ich kaufe ein Blumenhemd. Als sie von einem Aufenthalt bei unserer Familie in der Nähe von Paris zurückkehren, entdecken mich meine Eltern mit diesem ungewohnten Kleidungsstück! Ich werde nie das Bild meines Vaters vergessen, wie er mein neues Blumenhemd zerriss und mich oben ohne zurückliess … er schämte sich.

Als wir gemeinsam mit dem Beschneiden der Reben beginnen, haben wir einen kleinen Kassettenrekorder dabei. Eine Reihe mit Edith Piaf oder den Chören der Roten Armee, die nächste mit Jimi Hendrix oder Pink Floyd. Das Beschneiden geht schnell voran, da bei jeder Reihe einer von uns seinen Rhythmus erhöht, um seine Musik bei der nächsten wiederzufinden – und um die des anderen nicht zu lange zu hören. Es gab damals keine Kopfhörer.

Das Missverständnis zwischen Vater und Sohn zwingt mich, meine Studien eine Saison lang weiterzuführen. Also setze ich meine Ausbildung zum Önologen an der École de Montagibert in Lausanne fort, sie ist zu jener Zeit das nationale Ausbildungszentrum. Mit dem Diplom in der Tasche kehre ich nach Saxon zurück und bin zufrieden, dass ich mit den Schulen abgeschlossen habe. Heute bedaure ich es, dass meine Eltern mich entgegen meinen Wünschen keine Sprachpraktika in Deutschland und England machen liessen. In der Tat frustriert es mich jeden Tag, weder deutsch noch englisch zu sprechen. Dieses Können würde mir sehr bei meinen heutigen Beziehungen helfen, die geradezu weltweit ausgeprägt sind.

Man hatte versucht, mich in eine Blaskapelle zu stecken, aber diese Art Musik schlug mich in die Flucht. Ich habe also nie ein Instrument spielen gelernt.

Zu diesem Zeitpunkt, im Alter von 18 Jahren, als die Studien abgeschlossen waren, schien mein Leben komplett vorgegeben. Es hätte gereicht, Wein herzustellen in der zukünftigen Kellerei Rappaz, deren Pläne bereit lagen. Doch ich hatte nicht mit der Liebe gerechnet …

Frauen und Eroberungen

Man sollte sich niemals über die Überzeugungen oder die Liebschaften von Kindern lustig machen oder darüber lachen. Ab dem jugendlichen Alter von zehn Jahren kann ein Kind dauerhaft von einer Idee überzeugt sein. Auch kann es sich im gleichen Alter verlieben, und das hat nichts mit Spass zu tun. Ich erinnere mich an einen Jungen aus Saint-Maurice, der sich mit dreizehn einen Strick kaufte – die Rechnung dafür liess er seiner unerreichbaren Herzensdame zukommen –, und sich dann damit erhängte, zerfressen von Liebeskummer! Enttäuschungen in der Liebe müssen in diesem Alter sehr ernst genommen werden.

Ich erinnere mich daran, dass ich, als ich eine Freundin verlassen musste, die ich beim Camping in Frankreich kennengelernt hatte, so sehr weinte, dass meine Eltern darüber lachten … Damals gingen sie jedes Jahr campen, zuerst im Zelt, später mit einem Wohnwagen.

Ab 13 sammelte ich unbekümmert Blüte um Blüte, um dann im Alter von 18 bis 20 Jahren bei älteren Freundinnen Halt zu machen. Aber meine erste grosse Liebe offenbarte sich mit 17, mit einem Mädchen aus dem Dorf, Josiane. Wir gingen barfuss überall hin, Hand in Hand. Ein Jahr lang war unsere Beziehung platonisch und unser Übergang zur körperlichen Liebe gestaltete sich nicht ohne Schwierigkeiten, da es damals keine Sexualkunde gab; dieses Thema war sogar in unseren Familien tabu.

Ich werde nie ihre Entjungferung vergessen, bei der Leiden an die Stelle des Vergnügens trat. Auf der einen Seite sie, Jungfrau, auf der anderen ich, unerfahren. Wir zelteten in den Bergen der Gemeinde und brauchten mehrere Nächte, um ans Ziel zu gelangen. Mit etwas Erziehung wäre dieses Leiden unnötig gewesen. Aber als der Blutfleck erschien, erfüllte uns dies mit Wonne. Die Freuden der körperlichen Liebe folgten.

Durch den Kontakt mit ihr entdecke ich den Alkoholismus ihres Vaters und die täglichen Dramen in ihrer Familie. Das brachte mich in eine unbehagliche Situation. War ich nicht in der Tat dabei, ein Wein- und Alkoholproduzent zu werden? Ich fühlte mich unwohl in meiner Haut, zumal ich erfuhr, dass mein Grossvater mütterlicherseits auch Alkoholiker war.

Ich beschliesse also, dass ich kein Händler einer legalen Droge sein will. Das mag erstaunen, zumal in einem Kanton, der so viel Alkohol produziert. Und doch! Wegen meiner Sensibilität und der Entdeckung der Probleme, die mit dieser legalen Droge verbunden sind (4000 Tote jedes Jahr in der Schweiz), setze ich es mir in den Kopf, meine Familie zu verlassen.

Mein Vater schlägt mir ein schönes Auto vor und weigert sich, mir einen ordinären Deux-Chevaux zu kaufen. Ich mache mich daran, Kreuzanhänger zu fabrizieren, unter Zuhilfenahme von dreizehn Hufnägeln. Nachdem ich davon genug verkauft habe, kann ich mir mein Traumauto leisten: meinen ersten 2CV (meine «Deuche») aus zweiter Hand.

Der Morgen meiner Abreise bricht an. Ich werde nie den schrecklichen Moment vergessen, als ich den Hof der Familie am Steuer meines Autos verlasse, unter dem traurigen Blick meines Vaters. Ein neues Kapitel beginnt, und durstig nach Freiheit verlasse ich mit meiner ersten Freundin einige Kilometer weit mein Geburtshaus. Wir ziehen zuerst in ein alleinstehendes Haus auf der linken Uferseite von Sion. Dort arbeite ich zu 50 Prozent in einem Gut, das aus Weiden und Aprikosen besteht, das Gut Bösch. Dann mieten wir eine kleine Wohnung im Herzen von Saint-Léonard. Wir lebten fünf Jahre im Guten und im Schlechten zusammen, aber Josiane ertrug meinen masslosen Aktivismus nicht mehr, der mich zu weit von ihr entfernte.

Später komme ich in mein Dorf zurück und miete ein kleines blaues Haus, das sich an einen Hügel bei Écône anschmiegt. Gisèle, eine Freundin aus der Deutschschweiz, schlägt mir vor, ihre Freundin aus Basel, Anna, bei mir wohnen zu lassen. Diese hat einen Autounfall erlebt, der sie am Sprechen hindert. Sie erscheint mit ihrem Schweigen, wie eine Raupe, die dabei ist, sich zu verpuppen. Nach zwei Wochen ist die Umwandlung vollzogen, und wir entdecken einen Schmetterling. Anna spricht, singt, spielt Flöte und tanzt. Ihr Vater, Medizinprofessor an der Universität Basel, fragt mich: «Was haben Sie getan, damit Anna ihre Sprache wiederfindet?» Ich weiss nicht, was ich ihm antworten soll!

Rückblickend bin ich überzeugt, dass es sich bei dem natürlichen Medikament, das dazu beigetragen hat, Anna zu heilen, schlicht und einfach um Hanf handelt, den wir ab und zu konsumierten. Zu jener Zeit kannte ich die verschiedenen therapeutischen Wirkungen dieser Medizinalpflanze noch nicht.

Zusammen mit Anna kaufen wir den Hof Oasis und erwerben ein Feld mit Williamsbirnen von meinem Vater. Sie hält mich fünf Jahre lang aus, dann verlässt sie unser Zuhause mit unserem Sohn, ohne mich zu benachrichtigen. Das ist ein schrecklicher Schock für mich, und ich muss darum kämpfen, ein Besuchsrecht zu erlangen, das sie mir die meiste Zeit verweigert.

Dann gab es Isabelle, die Pariserin, die immer noch in Saxon wohnt und mit der ich noch heute Kontakt habe, wie auch mit meiner nächsten Beziehung, Fabienne.

Aus der Verbindung mit einer Bäuerin aus dem Oberwallis, Maggie, geht Sarah hervor. Und wie üblich wird sie mich fünf Jahre lang aushalten …

Schliesslich habe ich mit Sophie gelebt, die einen Sohn gebar, Dorian.

Nach dieser Beziehung teile ich einige Jahre meines Lebens mit Sofia, ab 2006. Seitdem habe ich mich entschieden, von nun an alleine zu leben und unverheiratet zu bleiben. Ehrlich gesagt, ist ein Zusammenleben nicht einfach, wenn einer der Partner eine lange Strafe absitzen muss. Da ich nicht will, dass meine letzte Partnerin dieses Leid erfährt, gehe ich weg von ihr. Diese einsame Periode beginnt 2008. Eine neue Lebenserfahrung, von der ich überzeugt bin, dass sie mir eine neue Reife bringen wird, die mir in den nächsten Jahren nützlich sein wird.

Immerhin hat mich jede von ihnen fünf Jahre lang ausgehalten, was mir eine lange Erfahrung im Eheleben verleiht. Mehr als die Vergangenheit oder die Zukunft ist die Gegenwart die wichtige Zeit.

Ein Anti-Drogen-Arzt stellt sich auf Bernard Rappaz' Seite

KAPITEL IV

Mein Sohn wird zum Mann

Aus diesen Verbindungen wurden drei Kinder geboren. Zuerst mit Anna, der Baslerin, ein Wunschkind im Jahr 1977. Als fortschrittlicher junger Vater nehme ich am Vorbereitungskurs für eine Geburt ohne Schmerzen teil, aus Solidarität und Teilnahme. Meine Anwesenheit als einziger Mann in diesem Kurs wird geschätzt, ich werde schnell zum Maskottchen der Damen. Meine gewaltfreien Überzeugungen hatten uns dazu gebracht, die Ideen von Leboyer über eine gewaltfreie Geburt zu übernehmen, eine Praxis, die er in Indien entdeckt hatte. In der Tat lebt der Fötus in einer geschlossenen Welt, in der Licht und Ton durch den Bauch der Mutter gedämpft zu ihm gelangen. Bei der Geburt ist der Schock heftig und kann zu Traumatisierungen führen, die bis ins Erwachsenenalter andauern. Das normale Vorgehen damals bestand darin, das Neugeborene bei hellem Licht und Lärm zu holen, mit Schlägen auf den Hintern des Babys, während man es an den Füssen hochhielt, damit es schrie. So stark, dass der Arzt über ein ruhiges und schweigsames Kind beunruhigt war!

Wir suchten einen Ort und einen Geburtshelfer, der bereit war, Neuerungen einzuführen, mit einer sanften Geburt ohne Gewalt. Der grosse Tag kommt und findet im Spital von Monthey statt, Mitte Juli 1978. Als das Fruchtwasser abgeht, beginnt meine Freundin mit der Vorbereitung, sie lehnt den Kaiserschnitt ab, der mehr aus Gewohnheit als aus Notwendigkeit ausgeführt wird. Ich schliesse die Storen und dämpfe das Licht. John kommt allmählich zum Vorschein. Wir flüstern. Ich nehme ihn vorsichtig und lege ihn auf den Bauch seiner Mutter, während wir ruhig warten, dass er von selber zu atmen beginnt. Bei seinem ersten Atemzug spüre ich, wie sein Charakter und seine Persönlichkeit verschmelzen. Dann wasche ich ihn oberflächlich, wobei ich darauf achte, die schützende Schmiere nicht zu entfernen. Kein Schrei, kein Weinen. Er scheint mich mit seinen grossen Augen zu beobachten und plappert. Seine Mutter stillte ihn mehrere Monate, obwohl man damals riet, diese uralte Praxis zugunsten von Milchpulver aufzugeben. Meine Grossmutter Céline erzählte mir, dass sie meinen Vater mehr als drei Jahre lang stillte.

Wir behalten die Plazenta. In der Tat enthält diese viele schützende Elemente, die durch die Muttermilch zum Kind zurückkehren, nachdem sie von der Mutter aufgenommen wurden. Dieser Prozess ist Teil der Natur und schützt Mutter und Kind gegen Krankheiten. Alle Tiere nutzen das aus Instinkt, sogar Pflanzenfresser. Wir brechen ein Tabu. Um dieses Prinzip zu unterstreichen, beschliessen wir, sie roh zu essen. Ich bereite sie zu wie ein Tartar, mit vielen Gewürzen. Aus Solidarität werde ich ein wenig davon mit meiner Partnerin essen. Abgesehen vom psychologischen Problem schmeckt es ausgezeichnet.

Wir wohnen in einem kleinen blauen Haus, das sich an den Hügel von Écône bei Saxon schmiegt.

Später ergibt sich die Gelegenheit, einen schönen und ebenfalls abgelegenen Bauernhof zu kaufen, und wir ziehen um ins Oasis. Einige Jahre vergehen, dann verschlechtert sich unsere Beziehung. Schliesslich nutzt meine Freundin meine Abwesenheit während einer Live-TV-Sendung aus und verlässt endgültig unser Heim mit John.

Dieser Bruch ist schrecklich. Nach vielen Rückschlägen erhalte ich ein Besuchsrecht. Leider, und das muss ich auf meine Kosten lernen, hat dieses Recht keinerlei Wert, wenn die Mutter sich darauf versteift, dessen Anwendung zu verweigern. So kommt es, dass mein Sohn und ich auf schreckliche Weise den Kontakt verlieren. Ich verweile bei dieser schweren Zeit, um alle, die eine solche Zerrüttung erleben, daran zu erinnern, dass ein Kind eine regelmässige Beziehung zu seinem Vater und zu seiner Mutter braucht und ein Recht darauf hat. Kein Erwachsener kann diesen Kontakt unterbinden; er riskiert, die Zukunft des Kindes nachhaltig zu stören. Meine Bindung zu meinem Sohn war sehr stark. Wir haben beide einen Teil seiner Kindheit verloren, und das kann uns niemand je zurückgeben.

Offensichtlich wogen die wirtschaftliche und politische Macht der Familie mütterlicherseits schwerer als die Entscheidungen einer Vormundschaftsbehörde, die keine Mittel hatte, mein Recht anzuwenden. Übrigens hat mir der Präsident der Basler Behörde bei einem Protest seine Unfähigkeit, das Gesetz anzuwenden, offen eingestanden! Heute beginnt man, das elterliche Sorgerecht den Vätern zu geben, und vor allem können die Behörden einem von beiden Elternteilen geteilten Sorgerecht den Vorzug geben. Eine positive Entwicklung, von der die Kinder nur profitieren können.

Aus meiner Liebe zu Maggie wird 1998 die kleine Sarah geboren. Am Tag nach ihrer Geburt treffe ich zwei ältere Frauen, die von diesem glücklichen Ereignis wie von einem grossen Tag sprechen. Sie bringen mir einen Rosenstrauch mit prächtigen roten Rosen mit, den ich sogleich vors Haus pflanze. Noch heute habe ich die unwirkliche Erinnerung an diese beiden Feen – ohne zu wissen, wer sie waren! Meine Tochter wird die ersten fünf Jahre ihres Lebens Muttermilch trinken. Und glücklicherweise wird diese Mutter es trotz unserer Trennung zulassen, dass die Vater-Tochter-Beziehung sich frei entfaltet.

Im Jahr 2000 bringt Sophie in einer Wassergeburt den kleinen Dorian zur Welt. Diese dritte Entbindung ist ebenfalls ein aussergewöhnlicher und unvergesslicher Augenblick. Und wieder habe ich die Ehre, die Nabelschnur zu durchtrennen. Als er drei Jahre alt ist, stirbt Dorian bei einem furchtbaren Unfall zwischen mir und einem Traktor. Ich finde keine Worte, um diesen Albtraum zu beschreiben. Dorian ist tot, und all meine Tränen werden nichts daran ändern. Das Leben hat mich gelehrt, dass gewisse Arten von Trauer ein Leben lang ertragen werden müssen und erst mit unserem eigenen Tod enden. Dorian, ich liebe dich!

Mit Michka, März 1999

KAPITEL V

Saxon, ein anderer Planet

Mein Geburtsdorf, im Herzen des Wallis gelegen, ist bis vor kurzem ein Ort geblieben, wo die Freiheit und der Aufstand sich oft ausgedrückt haben. Am 7. August 1953, als die Aprikosen verfaulen, macht die Schreckensnachricht des öffentlichen Ausrufers mit seiner Trommel die Runde in den Obstgärten: «Stoppt die Ernte!» Wir können die Aprikosen nicht mehr verkaufen, da italienische Aprikosen, die früher reif sind, das Land überschwemmt haben. Einige Lastwagen made in Italy stehen sogar mitten im Dorf. Die Gerüchteküche brodelt. Gérard Perraudin, ein junger Anwalt, übernimmt die Verteidigung der Bauern, organisiert mit einigen Freunden aus Saxon ein Treffen und zögert dabei nicht, auf den Tischen der Bistros stehend zu sprechen. Tausende kommen, es ist ein Aufruhr! Eisenbahnwagen brennen, Pappeln am Rand der Kantonsstrasse werden abgesägt und isolieren Saxon … Bern steht kurz davor, militärische Truppen zu entsenden. Mein Vater sowie 39 Landwirte werden wegen Anstiftung zum Verbrechen verurteilt.

Aus diesem revolutionären Akt entsteht eine neue politische Partei im Wallis, das Mouvement Social Indépendant (MSI), dann die Florescat, eine Kooperative für Früchte und Gemüse, und schliesslich mit Unterstützung durch jurassische Freunde die Union des producteurs suisses (UPS). Das MSI besteht noch heute, in einer liberalen Form, die sich nicht mehr wirklich von den traditionellen Parteien abgrenzt. Mit der Zeit hat sich die ursprüngliche Identität der Bewegung verwässert. Dadurch gingen die Angriffslust und die revolutionären Ideen verloren, die Landwirte wurden ihrem traurigen Schicksal überlassen. Der Verschleiss durch die Macht hat gewisse Abgeordnete betäubt, die viel zu beschäftigt damit waren, ihr Vermögen anzuhäufen, anstatt sich den Problemen der Bürger zu stellen.

Die Westschweizer UPS, die heute Uniterre genannt wird, ist sehr aktiv und noch heute die einzig wirklich dynamische Bauerngewerkschaft der Schweiz. Die Affäre hat politische Auswirkungen und bewirkt protektionistische Massnahmen an der Grenze, und zwar das Drei-Phasen-System. Es umfasst in der ersten Phase die freie Einfuhr, da die einheimische Ernte noch nicht reif ist; in der zweiten Phase kommen die Früchte aus dem Inland, und die Importeure haben das Recht auf Kontingente, um die Nachfrage zu befriedigen, ohne jedoch Reserven zu machen; zuletzt, in der dritten Phase, ist die einheimische Ernte in vollem Gange, die Grenzen bleiben geschlossen. Dieses System hat bis heute einigermassen überlebt. Beiläufig können wir festhalten, dass die Regierung in Bern, die durch diesen Bauernaufstand traumatisiert war, selber soweit geht, jedes Jahr den Preis für die Walliser Aprikose für Produktion und Verkauf festzulegen, ein Einzelfall in der Gemüse- und Obstwirtschaft des Landes. Tatsächlich bleibt der Frucht- und Gemüsemarkt frei und hauptsächlich abhängig von Angebot und Nachfrage.

Einer meiner Onkel, der jüngste je im Wallis gewählte Präsident, hat 25 Jahre lang das Schicksal von Saxon geleitet. Im Respekt vor der Glaubensfreiheit hat er Écône und Monseigneur Lefebvre innerhalb der Gemeindegrenzen Fuss fassen lassen. Von Saxon sind zahlreiche Bauern- und Volkskämpfe ausgegangen, wie die Pfirsich-Affäre, der Kampf gegen das Fluor, das Projekt Hydro-Rhône oder die Sprengung der Hochspannungsmasten und – als krönender Abschluss – das Attentat ohne Opfer, das die Aluminiumfabrik in Martigny explodieren liess. Sie hatte die ganze Region 60 Jahre lang mit Fluor verschmutzt.

Diese Dynamik und diese Offenheit haben Saxon eine Aura verliehen, die weit über die Kantonsgrenzen bekannt war. In vierzig Jahren hat sich die Bevölkerung verdreifacht. Ein Lebenskünstler, der Saxonnain, er profitiert von 25 Cafés, beliebten Etablissements, wo man trinkt und sich trifft.

In den letzten Jahren ist Le Falot weit herum bekannt geworden, wegen seiner Atmosphäre und der späten Schliessungszeiten. Die Bewohner der umliegenden Gemeinden lieben es, in unserem Dorf zu feiern … Es muss auch noch erwähnt werden, dass in den Jahren von 1960 bis 1980 mehrere Bewohner sich zu Hammer und Sichel bekannten, bis hin zu roten Fahnen, die auf den Dächern der Häuser wehten … Man fand damals sogar verschiedene Tendenzen wie maoistische, russische oder kubanische. Einer meiner Onkel hört noch heute auf den Spitznamen Fidel, wie Castro.

Die Genfer Partei der Arbeit hielt in Saxon Konferenzen ab, und Jean Ziegler, Nationalrat und Autor von Eine Schweiz, über jeden Verdacht erhaben, wurde mit offenen Armen empfangen … Es ging so weit, dass Saxon im verschlossenen und konservativen Umfeld des Wallis praktisch ein anderer Planet war. Wird nicht die Walliser Regierung seit 80 Jahren ohne Unterbruch durch die Christlich-Demokratische Volkspartei (CVP) dominiert? Bis endlich im Jahr 2000 der sehnlichst erwartete sozialistische Ständerat eintrifft, der grossartige Peter Bodenmann!

Die Landwirte von Saxon haben als erste eine Kooperative für landwirtschaftliche Maschinen entwickelt, die CEMA, die bis heute ein unverzichtbares Werkzeug ist. In der Tat ist es unmöglich, dass jeder die unzähligen Spezialmaschinen kauft, die man für die verschiedenen Gemüse und Früchte benötigt. Also kauft man sie gemeinsam, und jeder kann sie benutzen. Ausserdem haben sie das Konzept der integrierten Schädlingsbekämpfung willkommen geheissen und mit Hilfe ihrer Gewerkschaft zur Erneuerung des Walliser Verbandes der Frucht- und Gemüseproduzenten beigetragen.

Aber warum all das ausgerechnet in Saxon und nicht in einer anderen Gemeinde? In Nachbardorf Fully zählt man dreimal mehr Landwirte; und dennoch gibt es dort kaum einen Bewohner, der irgendwann auf die Strasse gegangen wäre … Man kann sich die Frage stellen. Meiner Meinung nach findet sich die Antwort in der Geschichte der Gemeinde. Tatsächlich enstand in Saxon dank der Thermalbäder, die über einer Heisswasserquelle gebaut wurden, ein Casino, bekannt und von den Grossen aus ganz Europa besucht. Berühmte Persönlichkeiten haben sich dort aufgehalten. Die Bevölkerung hat durch den Kontakt mit diesen Fremden andere Kulturen entdeckt, andere Arten zu denken und zu leben. Die Römer haben die Aprikose mitgebracht, und Saxon verfügt immer noch über den grössten Aprikosenhain des Kantons. Die Elsässer haben die Spargeln mitgebracht und sie haben sich in den umliegenden Gemeinden verbreitet. Farinet, der berühmte Falschmünzer und Störenfried, hat sich oft im Dorf aufgehalten, besonders im Casino und in den Bistros.

Die mächtige und respektierte Familie Fama besass einen Teil des Dorfes und leitete aktiv die Geschicke des Kantons mit, durch ihren Ständerat Albano Fama. Später erfuhr Bernard Comby, auch von hier, dasselbe Schicksal und gelangte ebenfalls in die Walliser Regierung.

All diese Elemente haben den Bewohnern von Saxon neue Arten des Denkens eröffnet und erklären den etwas rebellischen Geist meiner Mitbürger. Ebenfalls zu erwähnen sind die zahlreichen Attentate aus bäuerlichen Kreisen gegen die Starkstrommasten, die das Gebiet der Gemeinde durchqueren. In fünfundzwanzig Jahren wurden sechs davon zerschmettert, ohne dass sich deswegen je jemand Sorgen gemacht hätte. Die Omertà, das Gesetz des Schweigens, funktioniert sehr gut. Fragen Sie nur die Bundespolizisten, die nie das kleinste Indiz gefunden haben! Man spazierte mit ihnen von Keller zu Keller, und sie haben mehr Wein und Fragen als Antworten erhalten.

Wenn ein Sprengsatz einen Mast fällte, lautete unsere Devise, dass man sich unverzüglich dorthin zu begeben hatte, um Spuren und Abdrücke zu vervielfachen. Wir kamen immer vor der Polizei an und feierten das Ereignis durch Herumtrampeln … Aber diese Epoche ist längst vorbei. Die Bauern sind Unternehmer geworden, eine schweigende Minderheit.

KAPITEL VI

Die Walliser Bewegung der Gewaltfreiheit

Unser Kampf beginnt

Ich liebe die Gerechtigkeit und will die Welt verändern. Damals stand ich in engem Kontakt mit Abbé Clovis Lugon und gründete 1971 mit einigen Freunden, darunter Jacky Lagger, Albert Roserens, Jean-Bernard Jacquod, Carl Hunenwadel und Richard Robyr, die Walliser Bewegung für Gewaltfreiheit. Unser Ziel ist, dieses Konzept mit seinen Kampf- und Widerstandstechniken bekannt zu machen. Wir verteilen zahllose Schriften und Bücher, engagieren uns in antimilitaristischen Bewegungen, veranstalten Gesprächsrunden, sammeln Unterschriften für Petitionen und Initiativen. Gandhi, Martin Luther King, César Chávez oder Danilo Dolci sind unsere Vorbilder, sie beweisen durch ihr Beispiel, dass Gewaltlosigkeit eine effektive Lösung sein kann, selbst gegen Waffen, denn die politische Macht kann nicht aus den Gewehrläufen kommen, wenn ihr fast alle Gewehre gehören!

Im Alter von 17 Jahren hatte ich bereits eine Fiche, und mein Telefon wurde regelmässig abgehört. Ich entdeckte das, als ich 1990 Einblick in meine «Staatsschutz-Fiche» erhielt. Da wurde mir bewusst, dass diese abscheulichen Praktiken während der ganzen Zeit im Gange gewesen waren. Noch heute wird mein Telefon abgehört, denn der Hanf ist ja das Böse, nicht wahr? In der Gemeinde gab es eine Telefonzentrale, in der meine Grossmutter mütterlicherseits arbeitete, und so wussten wir immer Bescheid über die Nummern, die gerade abgehört wurden …

Dienstverweigerung aus Gewissengründen

Eine unserer anfänglichen Aktionen bestand darin, einen der ersten Dienstverweigerer des Kantons zu unterstützen: Richard Seiler aus Sion. Man hatte ihm eine neunmonatige Gefängnisstrafe aufgebrummt. Mit einer Spendenaktion konnten wir seinen vielen Geschwistern helfen, die er normalerweise unterstützte. Wir waren überzeugt, dass Gewalt zu gewaltsamen Reaktionen führt und dass ein anderes Konzept nötig ist, um diesen Teufelskreis zu durchbrechen: die gewaltfreie Aktion. Wir wollten Alternativen aufzeigen. Alle unsere Aktionen verliefen friedlich. Als überzeugte Militärgegner vertraten wir die Idee eines Friedenskorps, das unser Land im Fall eines – eher unwahrscheinlichen – Angriffs von aussen verteidigen würde. Die Kraft der Liebe rechtfertigt es, dem Angreifer Hilfe und Zusammenarbeit zu verweigern und sogar Material und Bauten wie Munitionsdepots, Brücken und Strassen zu zerstören. Unsere Überzeugungen wurden von zahlreichen historischen Begebenheiten gestützt: Indien, das sich vom Joch der Engländer befreit; die Tschechen, welche die russische Invasion aufhalten, indem sie sich vor die Panzer legen und den russischen Soldaten Blumen schenken; Danilo Dolci, der gegen den Widerstand der sizilianischen Mafia den Bauern das Wasser zurückgibt; César Chávez, der das Los der mexikanischen Arbeiter in den grossen US-amerikanischen Betrieben verbessert; die Geschichte von Christus – nicht zu vergessen Martin Luther King und viele andere …

1974 organisierten wir eine Gesprächsrunde, die viel Aufsehen erregte und vom Westschweizer Fernsehen übertragen wurde. Die Teilnehmer waren Oberst Mabillard von der Schweizer Armee, General Bollardière aus Frankreich, der unter der Massu-Regierung in Algerien zum Dienstverweigerer aus Gewissensgründen wurde; Jean-Marie Müller, ein ehemaliger Offizier der französischen Armee und überzeugter Pazifist. Ich möchte hier nicht alle unsere Aktionen aufzählen und beschränke mich auf die Volksinitiative gegen den Waffenexport. Damals exportierte die Schweiz viele Waffen, und die Bührle-Industrie machte riesige Profite. Wir organisierten eine Plakatkampagne, die bis in die abgelegensten Täler und Dörfer reichte. Am Ende wurde die Initiative mit einer Differenz von 12 000 Nein-Stimmen haarscharf abgelehnt.