Der polnische Bund der Demokratischen Linken (SLD) - Julia Walter - E-Book

Der polnische Bund der Demokratischen Linken (SLD) E-Book

Julia Walter

0,0
30,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Als die halbfreien Wahlen im Juni 1989 das Ende der Einparteienherrschaft in Polen einläuteten, schien es um die politische Zukunft der Mitglieder der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei schlecht bestellt. Das Lager der ehemaligen Machthaber stellte sich auf mindestens 15 Jahre Oppositionsarbeit ein. Doch bereits Mitte der 1990er Jahre besetzten die Postkommunisten wieder die wichtigsten politischen Ämter im Land. Wie konnte es zu einer solch schnellen Renaissance kommen? Und wie ist der dann folgende Absturz, wie die aktuelle Misere der polnischen Postkommunisten zu erklären? Julia Walter beschreibt den Aufstieg und den Fall des Bundes der Demokratischen Linken (SLD) in Polen. Dabei zeichnet sie die organisationspolitischen Weichenstellungen ebenso wie die inhaltlichen Rochaden und die Trends in der Mitgliederentwicklung nach. Zudem fragt sie nach dem Einfluss, den verschiedene Führungspersönlichkeiten auf das Schicksal des SLD ausübten.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 756

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


ibidem-Verlag, Stuttgart

Inhaltsverzeichnis

Vorwort
Osteuropäische Parteiensysteme als Trendsetter des Parteienwandels
Göttinger Junge Forschung
1. Einleitung
1.1 Fragestellung und Erkenntnisinteresse der Arbeit
1.2 Herangehensweise, Methodik und Gliederung
1.3 Forschungs- und Literaturstand
1.4 Kurze Problematisierung des Begriffs „postkommunistische Sozialdemokratie“
2. Der Organisationskosmos
2.1 Die postkommunistische Sozialdemokratie organisiert sich: Die frühen Jahre der SdRP
2.1.1 Genese als Nachfolgepartei
2.1.2 Nachteil Vergangenheit als Vorteil?
2.1.3 Aus SdRP mach SLD: Die Fusion des Linksbundes zur Partei
2.2 Der Linksbund als Partei
2.2.1 Der SLD als institutionalisierte Partei
2.2.2 Die Grenzen politischer Führung in einer institutionalisierten Partei
2.2.3 Verhältnis zwischen lokalen und nationalen Strukturen
2.3 Auflösungsprozesse im neuen Jahrtausend
2.3.1 Das Ende des Monolithen
2.3.2 Der Verlust des gesellschaftlichen Vorfelds
2.3.3 Das Dilemma der sozialdemokratischen Denkfabriken
2.3.3.1 Die Rolle politischer Beratung im Linksbund
2.3.3.2 Gründe für das Scheitern politischer Beratung im SLD
2.3.3.3 Linke Think Tanks außerhalb des SLD
2.3.4 Der Verlust der Deutungshoheit
2.3.4.1 Nichtexistenz von eigenen Medien
2.3.4.2 Verlust der eigenen Sprache
2.3.4.3 Das zwiespältige Verhältnis zur jüngsten polnischen Geschichte
3. Programmatik und Narrative
3.1 Prolog: Cleavagestrukturen im polnischen Parteiensystem
3.2 Pragmatismus als Erfolgsrezept: Das erste Jahrzehnt postkommunistischer Programmarbeit
3.3 Die Probleme der Programmentwicklung nach 2001
3.3.1 Links statt sozialdemokratisch – Das neue Selbstbewusstsein des SLD
3.3.2 Die Grundwerte des SLD: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit
3.3.3 Politikfelder
3.3.3.1 Europapolitik
3.3.3.2 Wirtschaftspolitik
3.3.3.3 Sozialpolitik
3.3.4 Das SLD-Handeln zwischen programmatischem Anspruch und politischer Wirklichkeit
3.3.5 Zielgruppen der SLD-Programmarbeit
4. Funktionäre, Mitglieder und Wähler
4.1 Sinkende Mitgliederzahlen
4.2 Entprofessionalisierung der Mitglieder
4.3 Wertkonservativ und wirtschaftspolitisch uneins: Die Funktionäre des SLD
4.4 Anders als die Funktionäre? Die Mitgliederbasis des SLD
4.5 Die Volatilität des polnischen Wählermarktes
4.6 Alt, kleinstädtisch, aber insgesamt doch eher heterogen: Die Wählerschaft des SLD
4.7 Ökonomisch saturiert, sozialpolitisch desinteressiert?
5. Die wechselnde politische Führung des SLD
5.1 Aleksander Kwaśniewski als Parteivorsitzender und Präsident (1990-2005)
5.1.1 Die Zeit als SdRP-Vorsitzender
5.1.1.1 Ungeliebt und doch unverzichtbar in der eigenen Partei
5.1.1.2 Die SdRP als Machtfaktor im Präsidentschaftswahlkampf 1995
5.1.1.3 Der Präsidentschaftsbewerber Kwaśniewski als Gegenentwurf zum Amtsinhaber Wałęsa
5.1.2 Aleksander Kwaśniewskis politische Führung im Präsidentenamt
5.1.2.1 Der Politiker Kwaśniewski
5.1.2.2 Der Faktor Persönlichkeit: Die kleinen Undiszipliniertheiten des Präsidenten
5.1.2.3 Die Bedeutung des Faktors volksrepublikanische Vergangenheit
5.1.2.4 Politische Berater
5.1.2.5 Alte und neue Unterstützer
5.1.2.6 Distanzierung vom SLD
5.1.2.7 Der Präsident und die Außenpolitik
5.1.2.8 Das Verhältnis zu den anderen Verfassungsorganen
5.1.2.9 Der „Präsident aller Polen“ verliert die Unterstützung des SLD
5.1.3 Zusammenfassung: Aleksander Kwaśniewski als
politische Führungspersönlichkeit
5.2 Leszek Miller als Parteifunktionär und Premierminister (1990-2004)
5.2.1 Vom PZPR-Reformer zum SdRP-„Beton“: Die frühen 1990er Jahre
5.2.1.1 Politische Anfänge als unkonventioneller Kommunist
5.2.1.2 Anwalt der Volksrepublik
5.2.2 Reifeprozess als Minister und Parteivorsitzender. Die Jahre 1993-1997
5.2.2.1 Vom Mann Moskaus zum Mann des Vatikans und Washingtons
5.2.2.2 Aufstieg zum ersten Mann in SLD und SdRP
5.2.2.3 Parteigründer
5.2.3 Im Zenit der Macht
5.2.3.1 Vom „echten Regierungschef“ zum „unbeliebtesten Premier aller Zeiten“
5.2.3.2 Das Verhältnis des Premiers zur eigenen Partei
5.2.3.3 In Konkurrenz zum Präsidenten
5.2.3.4 Der Regierungschef und seine Mitarbeiter
5.3 Politische Führung im SLD zwischen 2004-2011
5.3.1 Die Jahre der personalpolitischen Unbeständigkeit. Politische Führung im SLD von Krzysztof Janik bis Grzegorz Napieralski
5.3.2 Richtungsstreit um die Zukunft der Linken
5.4 Der parteipolitische Niedergang des Jahres 2011 und die Rückkehr Millers und Kwaśniewskis
5.4.1 Exkurs: Der rasante Niedergang der Palikot-Bewegung
5.4.2 Die Rückkehr von Leszek Miller
6. Konklusion und Ausblick
Abkürzungsverzeichnis
Literatur- und Quellenverzeichnis
Literatur
Pressematerial
Umfragen
Internetseiten und Onlinemedien
Programmdokumente der Parteien
PO
PiS
PZPR
RP
SdRP
SLD
Dank

Vorwort

Robert Lorenz / Matthias Micus

Julia Walter beschäftigt sich in ihrer hier vorliegenden Arbeit mit einem „postkommunistischen Paradox“. Als solches jedenfalls verdichtet und pointiert sie die Analyse der Parteientwicklung des polnischenBundes der demokratischen Linken (SLD)in der Dritten Republik, die 1989 mit dem Zusammenbruch des Ostblocks aus der kommunistischen Volksrepublik hervorgegangen ist.

Paradox ist an der Geschichte und Gegenwart des SLD dabei sowohl das Tempo seines frühen Aufstieges als auch der Zeitpunkt des später einsetzenden Niederganges. Während er seinen organisatorischen ebenso wie elektoralen Siegeszug unter widrigen Bedingungen und seiner Identität als Nachfolgeorganisation der aufgelösten Staatspartei des untergegangenen Regimes zum Trotz antrat, setzte sein – wiederum organisatorischer und elektoraler – Absturz just in dem Moment ein, da der SLD mehrheitsgesellschaftlich akzeptiert zu sein schien.

Jedenfalls: Trotz einer inkriminierenden Vergangenheit fasste der SLD schnell in der Dritten Polnischen Republik Fuß, kehrte bereits bei den zweiten gesamtfreien Wahlen, also im Jahr 1993, in die Regierungsverantwortung zurück und war zur Jahrtausendwende die mit Abstand mächtigste Partei in Polen. Er stellte damals einen hoch populären Staatspräsidenten und gewann zwischen 1998 und 2001 die Kommunal-, Präsidentschafts- und Parlamentswahlen gleichermaßen – letztere mit einem in Polen bisher nie dagewesenen Ergebnis von 41 Prozent. Innerhalb von nur wenigen Monaten verspielte der SLD diese Machtstellung dann allerdings in bemerkenswert kurzer Zeit, sodass die politische Linke in Polen seit mittlerweile einem ganzen Jahrzehnt von der Möglichkeit zur Regierungsführung ausgeschlossen ist.

Für beide Entwicklungen, für den Auf- wie den Abstieg, findet Julia Walter plausible – und vermeintlich ebenfalls paradoxe – Begründungen. Ihr zufolge ist gerade die so belastete Vergangenheit der Formation ausschlaggebend für die frühen Wahlerfolge. So wirkt sich die Vorgeschichte des Bundes auf seine Organisationsfähigkeit in den Transformationsjahren überwiegend positiv aus. Statt wie die politische Konkurrenz nach dem Systembruch und der Neugründung bei null anfangen zu müssen, verfügte der SLD von Anfang an über ein landesweit flächendeckendes Netz gut ausgestatteter Geschäftsstellen und eine beachtliche Infrastruktur von Immobilien, Büroausstattung, Automobilen. Und wo andere Parteien und Aktivisten ihre politischen Lehrjahre größtenteils noch vor sich hatten, übernahm der SLD kampagnenerprobte Mitglieder und Parteisekretäre, die ihr Handwerk noch in der Vorgängerorganisation gelernt hatten.

Zu den Lernerfahrungen, die für ein erfolgreiches Agieren in der praktischen Politik unverzichtbar sind, gehört etwa die Kunst des Verhandelns, die Fähigkeit zu wechselseitigem Verzicht und Ausgleich. Die Zerstrittenheit der polnischen Parteien auch ein und desselben Parteienlagers war nicht zuletzt eine Folge des frühen Dilettantismus engagierter Grünschnäbel. Die SLD-Politiker dagegen hatten die Kunst des Kompromisses bereits in der kommunistischen Staatspartei PZPR erlernt und beherrschten sie infolgedessen, als den Politikern der ehemaligen Oppositionsparteien dergleichen noch fremd war.

Hinzu kam als eine weitere Erfolgsressource laut Julia Walter der Pariastatus des SLD. Die kommunistische Nachfolgepartei stabilisierte sich als „Gemeinschaft der Ausgestoßenen und Geächteten“. Ganz wesentlich auch infolge der heftigen Angriffe von außen rückten die Mitglieder des Linksbundes zusammen und unterbanden interne Streitigkeiten zugunsten eines geschlossenen Auftritts und demonstrativer Einigkeit – und das trotz sehr unterschiedlicher sozioökonomischer Hintergründe der SLD-Mitgliedschaft, in der Rentner und Gewerkschafter ebenso stark vertreten waren wie erfolgreiche Unternehmer und Freiberufler, wodurch strategische Konflikte und inhaltliche Unversöhnlichkeiten theoretisch vorprogrammiert gewesen wären.

Zahlreiche Parteienforscher, die als elektorale Erfolgsformel eine Orientierung an der politischen Mitte postulieren, die das Hohelied des Medianwählers singen und mit Normalverteilungskurven hantieren, müssen solche Resultate überraschen – ebenso wie auch Julia Walters Interpretationen des jähen Abbruches der postkommunistischen Erfolgsgeschichte. Diesen nämlich führt sie ganz wesentlich auf die exorbitante Mitgliedersteigerung des SLD zurück, der zwischen 1999 und 2001 binnen zweier Jahre von 40.000 auf 155.000 Mitglieder anwuchs. Dieser Zuwachs an Masse führte salopp gesagt nun aber – Julia Walter zufolge – nicht zu einem analogen Gewinn von MasseundKlasse. Vielmehr waren die meisten neuen Mitglieder zuvörderst von schnöden persönlichen Ambitionen getrieben, inhaltliche Impulse gingen von ihnen nicht aus, stattdessen erwiesen sie sich als besonders anfällig für Korruption und Vetternwirtschaft.

Im Übrigen hatte sich durch den bereits erwähnten Dreifachwahlsieg (1998 Kommunalwahl, 2000 Präsidentschaftswahl, 2001 Parlamentswahl) das vorher stets vorherrschende Gefühl der gesellschaftlichen Marginalisierung unter den Funktionären aufgelöst. Als nun aber der Druck von außen wegfiel, kamen rasch Streitigkeiten und Animositäten in den eigenen Reihen auf, die ungeniert auch in die Öffentlichkeit getragen wurden.

Julia Walter spricht mit Blick auf diesen Prozess von „Entdämonisierung“. Doch so positiv der Begriff auch klingt, der SLD könnte eben dadurch auf lange Sicht überflüssig gemacht werden. Zumal aus Gründen der demografischen Entwicklung das Volksrepublik-nostalgische Wählersegment zunehmend ausdünnt. Heute gibt es noch genügend Menschen in Polen, die sich positiv an die Volksrepublik erinnern und so dem SLD trotz aller Probleme die fortwährende Existenz in den Parlamenten ermöglichen. Doch ihre prozentuale Bedeutung wird stetig abnehmen. Kurzum: Findet der SLD in den nächsten Jahren kein neues Thema, mit dem er bei der Wählerschaft nachhaltig punkten und ein stabiles Kernelektorat erschließen kann, könnte er sich bald in eine völlig durchschnittliche polnische Partei transformieren – zwar ohne den historischen Ballast der Nachfolgepartei, aber auch ohne die Garantie auf eine gesicherte Fortexistenz in oppositionellen Zeiten.

Osteuropäische Parteiensysteme als Trendsetter des Parteienwandels

Die Arbeit von Julia Walter ist mithin schon aus einem rein polnischen Blickwinkel interessant. Wer sich für die Politikgeschichte der Dritten Republik und die Genese ihrer Parteienlandschaft im Allgemeinen und für den SLD im Besonderen interessiert, wird dieses Buch mit Gewinn lesen. Doch die Lektüre des vorliegenden Bandes wirkt auch über den SLD und Polen hinaus anregend. Für gewöhnlich gelten die nachkommunistischen Gesellschaften und Parteien Osteuropas als Nachzügler. Ihre Vorbilder sind die nordamerikanischen, vor allem aber die westeuropäischen Originale, welche die östlichen Nachbarn seit Ende der 1980er Jahre nachzuahmen, zu kopieren, jedenfalls aber modifiziert, den nationalen Rahmenbedingungen angepasst zu übernehmen versuchen.

Julia Walters Studie legt nun nahe, diesen Blickwinkel seinerseits zu modifizieren. Einerseits findet sie die aktuellen Trends des Parteienwandels auch bei dem polnischen SLD bereits heute – also zeitgleich – vor. Bei allen Unterschieden im Detail diagnostizierten Parteienforscher zuletzt vor allem folgende Entwicklungen in den modernen Parteiensystemen: einen Bedeutungsverlust von Programmatik und Mitgliedern, eine stärkere Orientierung auf Wähler und Wahlen, eine Professionalisierung der Kampagnenführung durch die Heranziehung parteiexterner Experten, die Dominanz von Berufspolitikern, eine zunehmende Verflechtung mit staatlichen Institutionen auf Kosten der gesellschaftlichen Verankerung und der Funktionsfähigkeit als vermittelnde Transmissionsriemen zwischen Gesellschaft und Staat. In der Präferenz guter Wahlergebnisse vor der Realisierung grundsatzprogrammatischer Doktrinen, dem Vertrauen in die Segnungen des politischen Marketings und einer über Medien und Werbeagenturen statt mithilfe straßenwahlkämpfender Mitglieder ablaufenden Wähleransprache lassen sich diese Merkmale parteientypologischer Modernität auch am Beispiel der Schwesterpartei der deutschen SPD im östlichen Nachbarland nachweisen.

Mehr noch: Julia Walters Analysen legen nahe, dass es sich bei den mittelosteuropäischen Parteiensystemen nicht nur nicht um Nachzügler, sondern stattdessen vielmehr um Trendsetter der Post-Volksparteienära handelt. Schließlich sind alle Prozesse, die die mittelosteuropäischen Parteiensysteme nach 1989 erfasst haben, auch für die westeuropäischen Demokratien prägend. Nur haben sie die neuentstehenden Demokratien eben stärker geprägt, da hier im Jahre 1989 keinerlei alte Strukturen vorherrschten, die es zunächst noch zu überwinden galt.

Das gilt etwa für die Überalterung: Die osteuropäischen Sozialdemokratien, die in ihren Ländern das Erbe der kommunistischen Staatsparteien angetreten haben, ähneln in ausgesprochen hohem Maße Rentnerverbänden. Auch die polnischen Sozialdemokraten sind aller punktuellen Mitgliedererweiterungen und Wahlerfolge zum Trotz im letzten Jahrzehnt wieder weitgehend auf ihren Ausgangsstatus als Parteien der nostalgischen Wendeverlierer und ehemaligen kommunistischen Eliten zurückgefallen. Aus der historischen Genese dieser Parteien resultiert manches Kuriosum, etwa der für sozialdemokratische Parteien ungewöhnliche Anhängerschwerpunkt des polnischen SLD unter Dorf- und Kleinstadtbewohnern. Vor allem aber folgen aus der anhaltenden Dominanz der Altkader ein nachhaltiger Vergreisungsprozess und ein markantes Ergrauen der sozialdemokratischen Mitgliedschaften.

Ebenso wie im Hinblick auf die Überalterung der Mitgliedschaft zeigt sich auch mit Blick auf die persönlichen Ambitionen und das pragmatische Gestaltungsverständnis eines neuen Politikertypus bei dem polnischen SLD gegenwärtig bereits das, was den westeuropäischen und pazifischen Sozialdemokratien in Zukunft noch blühen könnte. Die polnische Schwesterpartei charakterisieren politische Entscheidungsträger, welche gänzlich ungeniert egoistische Karriereinteressen als Handlungsimperativ gestehen und die, an Ideologiefragen vollkommen uninteressiert, vor allem der eigene politische Erfolg und das eigene berufliche Fortkommen interessieren. Eine solche Motivstruktur macht den SLD für Amtsmissbrauch, Korruption und Vetternwirtschaft besonders anfällig.

Ein Resultat des demonstrativen ungehemmten Karriere-Pragmatismus ist zudem die erhebliche Diskrepanz zwischen programmatisch formulierten Ansprüchen und dem Handeln der politisch verantwortlichen Mitglieder im SLD. Studien der mittleren Funktionärsebene deuten darauf hin, dass große, wenn nicht gar überwiegende Teile der SLD-Protagonisten mit den programmatisch formulierten Grundsätzen ihrer Bewegung nur wenig anfangen können, also vermutlich gar nicht explizit auf die Realisierung der programmatischen Postulate hinarbeiten. Die Folge: Seit Jahren umwirbt der SLD mit Verve junge, urbane und kulturell fortschrittliche Bevölkerungssegmente, wobei sein Augenmerk insbesondere auch den weiblichen Wählern gilt. Genutzt hat ihm das nicht, auch weil sich seine Wahlrhetorik mit dem politischen Handeln führender Sozialdemokraten sticht und die mediale Fassade des SLD nicht mit den innerparteilichen Realitäten übereinstimmt. Die umworbenen Wählerschichten misstrauen daher den Absichten der polnischen Sozialdemokratie und akzeptieren die Partei nicht als Interessenvertretung oder politisches Sprachrohr.

Man mag das so sehen oder anders. Dem Leser aber bieten die folgenden Seiten eine ganze Reihe von Anregungen auch für eigene Schlussfolgerungen. Etwa, dass das Beispiel des SLD zeigt, inwiefern prägende Werte und verpflichtende Normen dem Handeln Grenzen setzen sowie den Charakter festigen und wie sehr dort, wo eine spezifische Sozialmoral nichts mehr gilt, die Gier, der Eigennutz, das achselzuckende „Enrichissez-vous“ blühen. Ohne jedes zukunftsweisende Projekt und ohne eine programmatische Selbstvergewisserung des eigenen Ortes, Weges und Zieles rückt ein Revival sozialdemokratischer Parteien – dies etwa kann man von dem polnischen Fall ableiten – ganz allgemein in weite Ferne. Hierin liegt eine Crux des Pragmatismus, des Widerwillens gegen die ideologische Überhöhung des parteipolitischen Handelns und der Überbetonung von Wahlprogrammen sowie exekutiver, in der alltäglichen Regierungsarbeit gewonnener Routinen.

Die Arbeit legt auch nahe, dass eine vollständige Integration nicht immer, für jeden und per se vorteilhaft sein muss; dies vor dem Hintergrund aktueller Debatten über die Probleme, ja den Skandal von Parallelgesellschaften. Jedenfalls: Die Entdämonisierung, die endgültige Integration des SLD in das Parteiensystem der Dritten Republik, ausgedrückt in einer allumfassenden Akzeptanz als möglicher Koalitionspartner, erfolgte interessanterweise zeitgleich mit seinem Niedergang. Beiseinen erstenRegierungsbeteiligungenwar der SLD noch zu einem Bündnis mit der früheren Blockpartei PSL gezwungen gewesen.Erst später, also schon zu Zeiten der seither und bis heute andauernden Misere des SLD, wurde die Partei– zumindest auf regionaler und lokaler Ebene –koalitionsfähig über alle Lagergrenzen hinweg.

Kurzum: Eine Stärke dieses Buches ist aber zweifellos, dass Julia Walter vermeintliche Gewissheiten infrage stellt und ihre Deutungen von ihrem konkreten Fallbeispiel ableitet, statt die beobachtete Realität in ein methodisches Korsett zu zwängen.

Göttinger Junge Forschung

„Göttinger Junge Forschung“, unter diesem Titel firmiert eine Publikationsreihe desInstitutes für Demokratieforschung, das am 1. März 2010 an derGeorg-August-Universität Göttingengegründet worden ist. Göttinger Junge Forschung verfolgt drei Anliegen: Erstens ist sie ein Versuch, jungen Nachwuchswissenschaftlern ein Forum zu geben, auf dem diese sich meinungsfreudig und ausdrucksstark der wissenschaftlichen wie auch außeruniversitären Öffentlichkeit präsentieren können. Damit soll erreicht werden, dass sie sich in einem vergleichsweise frühen Stadium ihrer LaufbahnderKritik der Forschungsgemeinde stellen und dabei im Mut zu pointierten Formulierungen und Thesen bestärkt werden.

Zweitens liegt ein weiterer Schwerpunkt auf der Sprache. Die Klagen über die mangelndeFähigkeitder Sozialwissenschaften, sich verständlich und originell auszudrücken, sind Legion. So sei der alleinige Fokus auf Forschungsstandards „problematisch“ im Hinblick auf eine „potentiell einhergehende Geringschätzung der Lehr- und der Öffentlichkeitsfunktion der Politikwissenschaft“, durch die „Forschungserkenntnisse der Politikwissenschaft zu einem Arkanwissen werden, das von den Experten in den Nachbarfächern und den Adressaten der Politikberatung, aber kaum mehr vom Publikum der Staatsbürgergesellschaft wahrgenommen wird, geschweige denn verstanden werden kann“.[1]Viel zu häufig schotte sich die Wissenschaft durch „die Kunst des unverständlichen Schreibens“[2]vom Laienpublikum ab.

Mitnichten soll an dieser Stelle behauptet werden, dass die Texte der Reihe den Anspruch auf verständliche und zugleich genussreiche Sprache mit Leichtigkeit erfüllen. Vielmehr soll es an dieser Stelle um das Bewusstsein für Sprache gehen, den Willen, die Forschungsergebnisse auch mit einer angemessenen literarischen Ausdrucksweise zu würdigen und ihre Reichweite – und damit Nützlichkeit – soweit zu erhöhen, wie dies ohne Abstriche für den wissenschaftlichen Gehalt möglich erscheint. Anstatt darunter zu leiden, kann sich die Erkenntniskraft sogar erhöhen, wenn sich die Autoren über die Niederschrift eingehende Gedanken machen, dabei womöglich den einen oder anderen Aspekt noch einmal gründlich reflektieren, die Argumentation glätten, auf abschreckende Wortungetüme, unnötig komplizierte Satzkonstruktionen und langweilige Passagen aufmerksam werden[3]– insgesamt auf einen Wissenschaftsjargon verzichten, wo dies zur Klarheit nicht erforderlich ist. Denn es besteht durchaus die Möglichkeit, einen wissenschaftlichen Text weder zu simplifizieren noch zu verkomplizieren, selbst unter der Berücksichtigung, dass die schwere Verständlichkeit von Wissenschaft aufgrund unvermeidlicher Fachbegriffe vermutlich unausbleiblich ist.[4]

Dies sollte jedoch nicht die Bereitschaft mindern, den Erkenntnistransfer via Sprache zumindest zu versuchen. In der allgemeinverständlichen Expertise sah der österreichische Universalgelehrte Otto Neurath sogar eine unentbehrliche Voraussetzung für die Demokratie, für die Kontrolle von Experten und Politik. Neurath nannte das die „Kooperation zwischen dem Mann von der Straße und dem wissenschaftlichen Experten“[5], aus der sich die Fähigkeit des demokratisch mündigen Bürgers ergebe, sich ein eigenes, wohlinformiertes Urteil über die Geschehnisse der Politik zu bilden. Dass in diesem Bereich ein Defizit der Politikwissenschaft besteht, lässt sich, wie gezeigt, immer häufiger und dringlicher vernehmen. Ein Konsens der Kritiker besteht in dem Plädoyer für eine verstärkte Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse in eine interessierte Öffentlichkeit. Hierzu müsse man „Laien dafür interessieren und faszinieren können, was die Wissenschaftler umtreibt und welche Ergebnisse diese Umtriebigkeit hervorbringt“, weshalb „komplexe wissenschaftliche Verfahren und Sachverhalte für Fachfremde und Laien anschaulich und verständlich“ dargestellt werden sollten.[6]

Der Sprache einen ähnlichen Stellenwert für die Qualität einer Studie einzuräumen wie den Forschungsresultaten, mag sich auf den ersten Blick übertrieben anhören. Und wie die amerikanische Historikerin Barbara Tuchman zu berichten weiß, ist dies zumeist „mühselig, langsam, oft schmerzlich und manchmal eine Qual“, denn es „bedeutet ändern, überarbeiten, erweitern, kürzen, umschreiben“.[7]Doch eröffnet dieser Schritt die Chance, über die engen Grenzen des Campus hinaus Aufmerksamkeit für die Arbeit zu erregen und zudem auch die Qualität und Überzeugungskraft der Argumentation zu verbessern. Kurzum: Abwechslungsreiche und farbige Formulierungen, sorgsam gestreute Metaphern und Anekdoten oder raffiniert herbeigeführte Spannungsbögen müssen nicht gleich die Ernsthaftigkeit und den Erkenntniswert einer wissenschaftlichen Studie schmälern, sondern können sich für die Leserschaft wie auch für die Wissenschaft als Gewinn erweisen.

In den Bänden der Göttingen Jungen Forschung versuchen die Autoren deshalb sowohl nachzuweisen, dass sie die Standards und Techniken wissenschaftlichen Arbeitens beherrschen, als auch eine anregende Lektüre zu bieten. Wie gesagt, mag dies nicht auf Anhieb gelingen. Doch Schreiben, davon sind wir überzeugt, lernt man nur durch die Praxis des Schreibens, somit durch frühzeitiges Publizieren. Insofern strebt die Reihe keineswegs perfektionistisch, sondern perspektivisch die Förderung von Schreib- und Vermittlungstalenten noch während der wissenschaftlichen Ausbildungsphase an.

Freilich soll bei alldem keinesfalls der inhaltliche Gehalt der Studien vernachlässigt werden. Es soll hier nicht ausschließlich um die zuletzt von immer mehr Verlagen praktizierte Maxime gehen, demnach Examensarbeiten nahezu unterschiedslos zu schade sind, um in der sprichwörtlichen Schublade des Gutachters zu verstauben. Die Studien der Reihe sollen vielmehr, drittens, bislang unterbelichtete Themen aufgreifen oder bei hinlänglich bekannten Untersuchungsobjekten neue Akzente setzen, sodass sie nicht nur für die Publikationsliste des Autors, sondern auch für die Forschung eine Bereicherung darstellen. Das thematische Spektrum ist dabei weit gesteckt: von Verschiebungen in der Gesellschaftstektonik über Anatomien von Parteien oder Bewegungen bis hin zu politischen Biografien.

Eine Gemeinsamkeit findet sich dann allerdings doch: Die Studien sollen Momenten nachspüren, in denen politisches Führungsvermögen urplötzlich ungeahnte Gestaltungsmacht entfalten kann, in denen politische Akteure Gelegenheiten wittern, die sie vermittels Instinkt und Weitsicht, Chuzpe, Entschlusskraft und Verhandlungsgeschick zu nutzen verstehen, kurz: in denen der Machtwille und die politische Tatkraft einzelner Akteure den Geschichtsfluss umzuleiten und neue Realitäten zu schaffen vermögen. Anhand von Fallbeispielen sollen Möglichkeiten und Grenzen, biografische Hintergründe und Erfolgsindikatoren politischer Führung untersucht werden. Kulturelle Phänomene, wie bspw. die Formierung, Gestalt und Wirkung gesellschaftlicher Generationen, werden daher ebenso Thema sein, wie klassische Organisationsstudien aus dem Bereich der Parteien- und Verbändeforschung.

Was die Methodik anbelangt, so ist die Reihe offen für vielerlei Ansätze. Um das für komplexe Probleme charakteristische Zusammenspiel multipler Faktoren (Person, Institution und Umfeld) zu analysieren und die internen Prozesse eines Systems zu verstehen, darüber hinaus der Unberechenbarkeit menschlichen, zumal politischen Handelns und der Macht des Zufalls gerecht zu werden,[8]erlaubt sie ihren Autoren forschungspragmatische Offenheit. Jedenfalls: Am Ende soll die Göttinger Junge Forschung mit Gewinn und – im Idealfall – auch mit Freude gelesen werden.

1.Einleitung

1.1Fragestellung und Erkenntnisinteresse der Arbeit

Vor den ersten gänzlich freien Wahlen zum polnischen Unterhaus (Sejm) 1991 entstand in der Zentrale der kommunistischen NachfolgeparteiSozialdemokratie der Republik Polen(SdRP) ein Fünfzehnjahresplan. Akribisch projektierten die Parteistrategen anderthalb Jahrzehnte zukünftiger Oppositionsarbeit. Durch konzentrierte und moderne Politik, so lautete die Devise, könne es gelingen, bereits im Jahre 2005 wieder an der Regierung beteiligt zu sein.[9]

Doch dann kam alles ganz anders. Bereits bei dem Urnengang von 1991 feierte die SdRP als Mitglied der WahlallianzBund der Demokratischen Linken(SLD) einen ersten Achtungserfolg. Mit immerhin 11,9 Prozent der Stimmen lag die Koalition verschiedenster, hauptsächlich in volksrepublikanischer Tradition stehender Parteien, Vereine und Gewerkschaften an zweiter Stelle aller Wettbewerber und zugleich nur ein halbes Prozent hinter den Wahlgewinnern von derDemokratischen Union(UD).

Dieses Ergebnis sollte indes nur den Beginn einer ganzen Dekade postkommunistischer elektoraler Prosperität darstellen. Bei den vorgezogenen Parlamentswahlen des Herbstes 1993 verdoppelte der Linksbund beinahe sein Ergebnis von 1991. Mit 20,4 Prozent der Wählerstimmen stellte er fortan nicht nur die stärkste Parlamentsfraktion, sondern trat zugleich auch in die Regierung ein, wenn er auch das Amt des Premierministers zunächst der bäuerlichenPolnischen Volkspartei(PSL), einer ehemaligen Blockpartei, überließ. Nach vier Jahren Regierungsbeteiligung legte der SLD bei dem nächsten nationalen Urnengang im Jahr 1997 nochmals sieben Prozent zu. Dass er dennoch den Gang in die Opposition antreten musste, hing lediglich damit zusammen, dass sich die politische Rechte bei dieser Wahl erstmals weitestgehend einig präsentiert und eine gemeinsame Liste unter dem NamenWahlaktion „Solidarität“ (AWS) aufgestellt hatte.

Zur Jahrtausendwende schließlich schien die postkommunistische Sozialdemokratie im Zenit ihrer Macht angekommen. Der Linksbund war gerade von einem Wahlagglomerat zu einer einheitlichen Partei verschmolzen, als der Gründungsvorsitzende der SdRP, Aleksander Kwaśniewski, im Oktober 2000 für weitere fünf Jahre im Amt des Staatspräsidenten bestätigt wurde. Bei seiner ersten Kandidatur im Jahre 1995 hatte sich Kwaśniewski erst im zweiten Wahlgang und mitäußerst knappem Vorsprung gegen den damaligen Amtsinhaber LechWałęsa durchsetzen können. Diesmal erzielte er ganz souverän schon in der ersten Runde eine absolute Mehrheit für sich. Kaum ein Jahr später feierte der SLD dann seinen bis dato größten Triumph. 41 Prozent der Wähler hatten ihm bei den Parlamentswahlen von 2001 ihr Vertrauen geschenkt. Bei der anschließenden Regierungsbildung kamen, anders als noch im Jahr 1993, längst keine Diskussionen mehr darüber auf, ob es legitim sei, die Regierungsführung in die Hände eines ehemaligen PZPR-Mitglieds zu legen. Der SLD-Chef Leszek Miller übernahm wie selbstverständlich als Vorsitzender der stärksten Partei auch das Amt des Premierministers. Die postkommunistische Sozialdemokratie war ganz offenkundig in der Dritten Republik angekommen. Mehr noch: Sie schien gar ihren zentralen politischen Bestandteil zu bilden. Schließlich hatte keine der konkurrierenden Parteien auch nur ein Drittel der Unterstützung auf sich ziehen können, die dem Linksbund zugesprochen worden war. Ebenso hatte keine einzige der Oppositionsparteien einem früheren Parlament der seit 1989 existierenden Dritten Republik angehört, während der SLD bereits zum vierten Mal in Folge eine Sejmfraktion bildete.

Noch rasanter als der Aufstieg verlief dann allerdings der Abstieg des Linksbundes. In nur zweieinhalb Jahren verspielte Leszek Miller als Partei- und Regierungschef das Vertrauen, das er für sich und seine Partei im vorangegangenen Jahrzehnt so mühevoll erworben hatte. Bei dem Urnengang des Jahres 2005 erreichte der Linksbund nur noch 11,3 Pr

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!