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Bloß ein Spiel oder eine tödliche Falle? In einer heißen Sommernacht nehmen die Studenten Hanna, Ben und Leon den Lost-Place-GeoCache »Der Puppenkiller« in Angriff, der sie auf ein verlassenes Landgut führt. Anhand von GPS-Koordinaten und den versteckten Hinweisen eines fiktiven Serienkillers müssen sie Schaufensterpuppen aufspüren, die seine Opfer darstellen. Die Atmosphäre des verlassenen Ortes zieht die drei in ihren Bann. So erkennen sie zu spät die aufziehende Gefahr. Als weitere Personen auf dem Landgut auftauchen und dann auch noch Hanna spurlos verschwindet, wird aus dem Spiel bitterer Ernst! Ein spannender Thriller für Jugendliche und Erwachsene!
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Veröffentlichungsjahr: 2022
Die hier geschilderte Geschichte ist fiktiv. Ähnlichkeiten von Namen und Figuren mit realen Personen oder Ereignissen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Text (c) 2021 Jörg Benne - Alle Rechte vorbehalten!
Herausgegeben von
Jörg Benne
Mintarder Weg 9
40885 Ratingen
https://www.joergbenne.de
Cover – Renee Rott, Cover-and-Art.de
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»Beeilt euch. Er kommt bestimmt gleich zurück!«
Die wimmernde Stimme des Mädchens dringt blechern aus dem auf Lautsprecher gestellten Smartphone und jagt Hanna einen Schauer über den Rücken. Gern würde sie das Mädchen beruhigen, ihr sagen, dass sie gleich da sind. Aber es kann sie nicht hören.
Leon leuchtet mit seiner Taschenlampe den Waldboden ab. »Hier irgendwo muss es sein.« Er sucht nach Spuren, einem Hinweis auf das Versteck des Irren, der das Mädchen in seiner Gewalt hat.
Hanna und ihr Freund Ben laufen hinter Leon her. Auch Hanna sucht im Lichtkegel ihrer Taschenlampe nach Hinweisen, weiß aber nicht genau, wonach sie überhaupt Ausschau halten soll. Ben wirkt ebenso unschlüssig.
»Da lang«, sagt Leon plötzlich, ändert die Richtung und rennt weiter.
Obwohl Hanna nicht weiß, was er gesehen hat, eilt sie ihm nach. Dabei hält sie die Taschenlampe auf den Boden vor sich gerichtet. Zwar ist die Sonne noch nicht untergegangen, aber unter dem dichten Blätterdach des Waldes ist es bereits ziemlich düster und sie muss ständig aufpassen, nicht über einen herumliegenden Ast zu stolpern oder in eine Kuhle zu treten.
»Oh Gott, ich kann ihn hören.« Die Stimme des Mädchens zittert vor Panik. »Beeilt euch doch!«
Hannas Puls rast, sie ist außer Atem. Wie lange dauert die wilde Hatz durch den Wald nun schon? Zwanzig Minuten? Eine halbe Stunde? Sie weiß es nicht genau. Jedenfalls klebt ihr das Shirt schon schweißnass am Rücken und sie spürt einen Anflug von Seitenstechen. Wie viel Zeit ihnen wohl noch bleibt, das Versteck zu finden?
Leon bleibt so unvermittelt stehen, dass Hanna beinahe gegen ihn prallt.
»Was ist denn?« Sie flüstert unwillkürlich. »Hast du was gesehen?«
Leon antwortet nicht. Er dreht sich langsam im Kreis, leuchtet mit der Taschenlampe auf den Boden und sieht zwischendurch immer wieder auf das helle Display seines Smartphones.
»Er ist da!« Die Stimme des Mädchens ist jetzt nur noch ein heiseres Krächzen. Im Hintergrund ist das Knarren einer Holztür zu hören. »Nein! Bitte tun Sie mir nichts! HILFE!« Der Schrei des Mädchens geht Hanna durch Mark und Bein.
»Wir haben keine Zeit mehr!« Ben sieht sich hektisch um. »Verdammt, es muss hier doch irgendwo sein.«
»Da!« Leon läuft zwei Schritte und bückt sich. Er steckt sein Smartphone in die Hosentasche und wischt mit beiden Händen Laub und Erde beiseite. Darunter kommt eine Holzplatte zum Vorschein.
Hanna und Ben knien sich neben ihn und helfen. Nach wenigen Sekunden legen sie einen Griff frei und Leon packt ohne Zögern zu und hebt eine verborgene Falltür an.
Darunter verbirgt sich eine Treppe, alte, steinerne Stufen, zum Teil schon abgebröckelt, die in die Tiefe führen. Aus dem Smartphone sind noch immer die Schreie des Mädchens zu hören, die nun aber gedämpft klingen, so, als halte ihr jemand den Mund zu.
Als Hanna ihre Taschenlampe nach unten richtet, sieht sie kurz eine Bewegung in ihrem Lichtkegel. Instinktiv zuckt sie zurück, erst dann wird ihr klar, dass es eine kleine Eidechse oder so etwas gewesen sein muss.
Mit einem Mal verstummt das Mädchen, kein Laut dringt mehr aus dem Lautsprecher des Handys.
»Los runter«, kommandiert Leon und gibt der Falltür einen Stoß, sodass sie auf der anderen Seite des Treppenschachts auf den Waldboden fällt. Er nimmt die ersten Stufen, Ben folgt ihm dichtauf.
Hanna zögert. Was erwartet uns dort unten, überlegt sie. Ist es klug, wenn wir alle gleichzeitig runtergehen? Was, wenn jemand kommt und die Klappe über uns wieder schließt? Dann sitzen wir genauso in der Falle wie das Mädchen.
Obwohl sie weiß, dass dieser letzte Gedanke paranoid ist, dreht sie sich unbehaglich einmal um die eigene Achse und schwenkt dabei ihre Taschenlampe durch den im Zwielicht liegenden Wald.
»Eine Tür«, hört sie Leon unten sagen und wendet sich wieder dem Treppenschacht zu.
Die Lichtkegel der Jungs wandern nicht sehr tief unter ihr über den Boden, nur sechs oder sieben Stufen. Die beiden stehen vor einer Stahltür. »Vielleicht ein alter Bunker?«, vermutet Ben. »Geht die Tür auf?«
Leon drückt die Klinke herunter und die Tür öffnet sich quietschend. Ein grauenerregender Schrei dringt dahinter hervor, so laut, dass Hanna beinahe das Herz stehen bleibt.
Dann setzt schaurige Horrorfilm-Musik ein und hinter der Tür beginnen Lichter zu flackern.
»Wie geil ist das denn, bitte schön«, ruft Leon begeistert.
»Krass«, staunt Ben. »Komm runter Hanna, das musst du dir ansehen.«
Unsicher steigt sie die Stufen hinab.
Hinter der Tür liegt ein rechteckiger Raum, vielleicht der Keller eines Hauses, das hier mal gestanden hat. An den Wänden blinken diverse LED-Bänder und erleuchten den Raum so hell, dass die drei ihre Taschenlampen abschalten können. In einer Ecke entdeckt Hanna den Lautsprecher, aus dem die Musik dringt, daneben eine Autobatterie, die wohl den Strom für die Lichtshow liefert.
Die beiden Jungs verdecken ihr die Sicht auf eine Seite des Kellers. Hanna tritt vorsichtig näher und sieht Ben über die Schulter. Der Anblick, der sich ihr nun bietet, lässt sie noch einmal erschauern.
Auf einer alten, fleckigen Matratze liegt eine weibliche Schaufensterpuppe. Sie trägt eine Perücke und Unterwäsche, ihr Gesicht wurde angemalt, sodass es aussieht, als seien ihre Augen weit aufgerissen und der Mund zu einem stummen Schrei geöffnet. Brust und Bauch der Puppe sind mit roter Farbe verschmiert und voller Einstiche. In einem davon steckt noch ein Messer.
»Na, was sagst du?« Ben sieht Hanna an und grinst. »Das war doch ein spannender Trip, oder?«
Sie lächelt schwach und nickt. Ja, irgendwie war es schon cool, ein bisschen wie Geisterbahn-Fahren.
Bislang kannte sie Geocaching bloß als Suche nach kleinen Filmdosen, die irgendwo versteckt sind. Dieser hier war anders, schon allein wegen der genialen Idee, am Startpunkt des Caches einen QR-Code zu verstecken, über den man die MP3-Datei mit den Nachrichten des scheinbar verzweifelten Mädchens herunterladen musste. Leon hat die Datei auf seinem Smartphone abgespielt und auch wenn Hanna die ganze Zeit wusste, dass alles nur ein Spiel ist, hat sie die Atmosphäre gepackt. Selbst jetzt, da die Suche nach dem Cache vorbei ist, flößt ihr der Raum noch Unbehagen ein.
Der Typ, der das hier ausstaffiert hat, hat echt 'ne kranke Fantasie. Im Dunkeln will ich dem lieber nicht begegnen.
»Wir müssen noch den Final finden«, erinnert Leon die beiden. Er sieht sich in dem Keller um.
Hanna weiß, dass der Final eines Caches meist eine Dose oder irgendein anderes Behältnis ist, in dem sich ein kleines Logbuch befindet. Dort können sich die Cacher eintragen und so beweisen, dass sie tatsächlich alle Rätsel gelöst haben.
Ben beginnt auch zu suchen. Hanna kann hingegen den Blick einfach nicht von der Schaufensterpuppe wenden. Da hat sich wirklich jemand ausgetobt, denkt sie. Die „Wunden“ sind richtig tief und in einer ... Sie runzelt die Stirn und bückt sich, um genauer hinzusehen. Ja, da steckt etwas drin.
»Hier ist der Final!«, ruft sie triumphierend aus und pult mit einem Finger eine lange Plastikröhre, in der sich früher wohl mal Multivitamintabletten befunden haben, aus einer der Wunden.
Ben und Leon treten neben sie und leuchten ihr, während Hanna mit zitternden Fingern den Deckel löst. Im Inneren entdeckt sie ein paar zusammengerollte Zettel und einen Bleistiftstummel. Hanna holt die Zettel heraus und entfaltet sie.
Der oberste enthält eine Botschaft des Owners, also desjenigen, der den Cache erstellt hat:
Für das arme Mädchen kam jede Rettung zu spät, aber immerhin habt ihr sie gefunden. Damit habt ihr euch als würdig erwiesen, weiter auf die Hatz nach dem Puppenkiller zu gehen, denn er hat noch weitere Opfer in seiner Gewalt.Wenn ihr Lust habt, setzt die Jagd fort, sein Versteck ist nicht weit von hier. Es handelt sich um einen T3 LPC, der nicht öffentlich gelistet ist. Außer Taschenlampen braucht ihr kein weiteres Besteck, aber ihr müsst wenigstens zu dritt sein.
Es folgt eine Koordinatenangabe für das Navigationsgerät, mit dem man den Startpunkt finden kann.
»T3 LPC?« Ben sieht Leon ratlos an. »Und mit Besteck meint der Ausrüstung, oder was?«
»Genau, ist nur ein anderes Wort dafür, Cacher-Vokabular halt«, erklärt Leon, der fast jedes Wochenende mit Geocaching verbringt, während Hanna und Ben das nur ab und zu mal machen. »T3 steht für das Terrain. Bei einem T5 muss man klettern oder sich sogar abseilen, T3s sind für Sportskanonen wie euch aber bestimmt kein Problem. Und LPC steht für Lost-Place-Cache. Also irgendein verlassenes Gebäude, das man eigentlich gar nicht betreten darf. Gib mir mal das Logbuch, Hanna.«
Die weiteren Zettel sind Namenslisten, in die sich alle, die diesen Cache bereits gelöst haben, mit ihrem Nickname und Datum verewigt haben. Leon trägt sich mit seinem Nick CacheMaster22 ein. »Wollt ihr auch?«, fragt er.
Hanna und Ben lehnen ab.
Leon rollt die Zettel gerade wieder zusammen, als unvermittelt ein lautes Krachen ertönt und mit einem Schlag alle LEDs ausgehen.
Finsternis umfängt sie.
Hanna schreit unterdrückt auf und fährt zur Treppe herum. Mit zwei Schritten ist sie am Ausgang, blickt nach oben und atmet auf, als sie über sich die Wipfel der Bäume sieht - die Falltür steht nach wie vor offen. Das Geräusch muss aus dem Lautsprecher gekommen sein.
Ben tritt neben sie, auch er wirkt erleichtert.
»Scheiße, der Typ hat echt einen speziellen Humor«, meint Leon grinsend. »Den Lost Place machen wir auch noch, oder? Der ist nur zehn Kilometer von hier entfernt. Ich hab auf der Webseite nachgeschaut, auf der man sich für den Cache anmelden muss. Wäre noch frei.«
»Wieso muss man sich da anmelden?«, fragt Hanna überrascht.
»Musste ich bei dem hier auch«, erklärt Leon. »Wenn eine andere Cacher-Gruppe einem direkt vorausläuft, ist es ja witzlos.«
Ben aktiviert sein Smartphone. »Ist erst kurz vor neun. Also von mir aus gern. Was meinst du?« Er sieht Hanna fragend an.
Sie erholt sich noch von dem letzten Schrecken. So ganz geheuer ist ihr zwar nicht bei dem Gedanken, in irgendein verlassenes Gebäude einzusteigen, aber sie will keine Spaßbremse sein. Also nickt sie. »Okay!«
»Dann zurück zu den Autos.«
Hanna stand im Bad vor dem Spiegel und setzte gerade den Kajalstift an, als ihr Smartphone vibrierte und den kurzen Empfangston für eine Chat-Nachricht von sich gab - und dann gleich noch mal und noch mal. Aufgrund der Vibration rutschte das Smartphone gefährlich nah an die Kante der Fensterbank und Hanna legte den Stift beiseite, um nach dem Handy zu greifen. Sie entsperrte es und las die neu eingegangenen Chat-Nachrichten von Ben.
Hallo Schatz. Hast du dich schon fertig gemacht? Leon hat nämlich angerufen und gefragt, ob wir mit ihm Cachen gehen.
Hanna zögerte kurz, ehe sie antwortete. Sie trug nur T-Shirt und Slip, ihr nasses Haar steckte noch in einem Handtuchturban und sie hatte gerade erst begonnen, Make-up aufzulegen, war also durchaus in der Lage noch umzudisponieren. Doch sie hatte sich auf eine Nacht im Club gefreut. Abfeiern, Freunde treffen, tanzen und vor allem nicht an das anstehende Staatsexamen denken. Eigentlich war ihr deshalb nicht nach einer Planänderung.
Andererseits hatte Ben aber schon so oft davon gesprochen, dass er mit Leon mal einen dieser besonderen Geocaches machen wollte, und dessen Berichte von diversen Nacht- und Lost-Place-Caches hatten wirklich ziemlich spannend geklungen. Außerdem zog Leon bald weg. Hanna wusste nicht genau wann, aber vielleicht war das heute die letzte Gelegenheit.
Geht das nur heute?
Sie starrte auf ihr Handy, sah die beiden Häkchen erscheinen, erst grau, dann blau, dann der Hinweis, dass Ben tippte.
Ist ein besonderer Cache, für den man einen Termin braucht. Leon wollte eigentlich mit Patrick und Jens hin, aber die haben abgesagt.
Hanna seufzte. Sie erinnerte sich an Leons Geschichte von dem verlassenen Bunker an der deutsch-französischen Grenze, in dem er mit Patrick herumgekrochen war. Vernünftig betrachtet natürlich totaler Irrsinn, wenn ihnen da drinnen was passiert wäre, hätten sie keinen Handy-Empfang gehabt. Doch irgendwie klang es auch spannend, so richtig nach Abenteuer.
Warum nur ausgerechnet heute? Der DJ der im Club auflegen würde, hatte es echt drauf, und nach dem ganzen Lernstress war ihr einfach danach zu feiern und sich von den Beats das Hirn frei ballern zu lassen.
Na, was sagst du?
Sie konnte Bens Gesicht geradezu vor sich sehen. Das erwartungsvolle Grinsen, die leuchtenden Augen. Er wollte das, und ja, irgendwie hatte sie schon auch Lust auf so einen Cache. Weniger auf Leon, aber der kannte sich halt aus.
Wo ist es denn?
Ein Stück Richtung Holland. Weniger als 'ne Stunde Fahrt. Leon sagt, wir brauchen feste Schuhe, den Rest bringt er mit. Sag ich ihm also zu?
Hanna zögerte noch einen Moment, verdrehte dann die Augen und tippte:
Ok.
Super. Ich komme dich in zwanzig Minuten abholen. Bis gleich.
Er schickte ihr noch einen Kuss-Smiley, sie ihm drei Herzen. Dann legte sie das Handy weg und begutachtete sich im Spiegel. Auf Kajal, Lidschatten und Lippenstift konnte sie wohl verzichten, wenn sie irgendwo im Wald herumlaufen würden. Also schminkte sie das bisschen Make-up rasch ab.
Es klopfte an der Badezimmertür. »Mach mal, Hanna. Andere Leute wollen heute auch noch ins Bad«, maulte ihre Mitbewohnerin.
»Moment!« Hanna schnappte sich den Föhn und gab das Bad frei.
Ben kurvte um den Häuserblock, in dem Hannas WG lag. Wie immer keine Parklücke zu finden, nicht mal für seinen kleinen Twingo. Aber damit war es ja bald vorbei. In zwei Wochen würde er mit Hanna in ihre gemeinsame Wohnung ziehen. Ein Ereignis, dem er mit gemischten Gefühlen entgegensah.
Zwar freute er sich darauf, viel mehr Zeit mit Hanna zu verbringen, aber noch wohnte er allein und genoss seine Freiheiten als Sportstudent im vorletzten Semester. Hanna würde hingegen nach dem Examen wohl direkt eine Stelle als Lehrerin annehmen und dann einen geregelten Alltag haben, wie auch zuletzt im Referendariat. So ganz geheuer war Ben diese Umstellung daher nicht.
Er gab die Parkplatzsuche schließlich auf und hielt in zweiter Reihe, griff zu seinem Smartphone und schickte Hanna eine Nachricht, dass sie rauskommen solle. Er kurbelte das Fenster herunter und fächelte sich Luft zu. Obwohl es schon nach sechs war, war es immer noch abartig heiß. Die Temperaturen hatten während der vergangenen Woche mehrmals an der vierzig Grad Marke gekratzt und an den letzten Regen konnte sich Ben schon gar nicht mehr erinnern. Einmal mehr wünschte er sich, er hätte doch ein paar Hundert Euro mehr ausgegeben und sich einen Wagen mit Klimaanlage gegönnt.
Zum Glück trat Hanna schon kurz, nachdem er seine Nachricht abgeschickt hatte aus dem Eingang des Wohnblocks. Sie trug Jeans und ein T-Shirt. Das schulterlange Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.
Hanna war keine Schönheit im klassischen Sinne. Ihr Teint war ein bisschen zu blass, obwohl sie ständig draußen war, ihre Augen standen einen Tick zu eng beieinander, ihre Nase wirkte ein wenig zu groß – aber wenn sie ihr breites Pretty-Woman-Lächeln aufsetzte, so wie jetzt, als sie den Twingo erblickte, spürte Ben immer noch das Kribbeln im Bauch. Und das, obwohl sie nun schon fast drei Jahre zusammen waren.
Hanna stieg ein und sie begrüßten sich mit einem flüchtigen Kuss.
»Ich hoffe die Planänderung war wirklich okay für dich?«, fragte Ben vorsichtig, nachdem er sich in den Verkehr auf der nächsten Hauptverkehrsstraße eingefädelt hatte.
»Passt schon«, erwiderte Hanna knapp.
Ben warf ihr einen kurzen Seitenblick zu. War sie doch sauer? »Ich meine, du weißt ja, dass Leons Auslandssemester bald anfängt, nächstes Wochenende fliegt er schon. Wenn wir noch mal mit ihm cachen gehen wollen, dann heute«, erklärte er sicherheitshalber.
Hanna lächelte und legte ihm eine Hand auf den Oberschenkel. »Ich weiß, dass du dich schon lange darauf freust. Es ist okay, der Club ist nächstes Wochenende ja auch noch da.«
Ben war für den Moment erleichtert. Allerdings gab es da noch etwas, das er Hanna erzählen musste - und er fürchtete, dass sie davon weniger begeistert sein würde. Besser, er gestand es ihr so spät wie möglich.
»Was ist mit Leon? Holen wir den nicht ab?«, fragte Hanna, da Ben die nächste Autobahnauffahrt ansteuerte.
»Nee, der ist allein losgefahren. Will wohl nachher noch wohin.«
»Hat er endlich eine Freundin oder muss er mal wieder auf ‘ne LAN-Party?«
Ben zuckte die Schultern. »Hat er nicht gesagt.«
»Ich dachte ihr redet über alles?«
»Hast recht, eine Freundin hätte er wohl mal erwähnt. Vielleicht ein Tinder-Date oder so, was weiß ich. Über Frauengeschichten redet er nicht mehr viel mit mir. Du weißt ja, seit wir beide zusammen sind …«
Leon und Ben kannten sich schon von klein auf, waren als Kinder in benachbarten Häusern aufgewachsen und gemeinsam zur Schule gegangen. Sie hatten immer viel zusammen abgehangen, auch wenn sie außer Videospielen kaum gemeinsame Hobbies und in der Oberstufe keinen einzigen Kurs mehr zusammen hatten. Leon war eher der Nerd mit Mathe- und Physik-Leistungskurs. Ben hingegen der Sportler-Typ mit einem gewissen Sprachtalent, in Mathe hatte er sich mit Ach und Krach - und Leons Hilfe - durch den Grundkurs gequält und Physik sobald wie möglich abgewählt. Dementsprechend hatten sie sich nach der Schule für völlig unterschiedliche Studiengänge entschieden, waren aber trotzdem beide an derselben Uni gelandet.
Ben hatte Leon zu einer Party der Sport-Erstsemester mitgenommen und dort hatte der sich gleich in Hanna verguckt und Ben gebeten, sie ihm vorzustellen. Hanna hatte allerdings nur Augen für Ben gehabt und als sie schließlich zusammenkamen, war Bens Kontakt zu Leon sogar für eine Weile eingeschlafen, weil er viel Zeit mit Hanna verbrachte und Leon den beiden lieber aus dem Weg ging.
Nach einer Weile hatten Leon und Ben das untereinander geklärt, Ben hatte sich aber immer allein mit ihm getroffen. Hanna war Leon eigentlich nur auf größeren Partys begegnet.
»Ehrlich gesagt, war ich echt überrascht, als er wegen dem Cache heute explizit nach dir gefragt hat«, sagte Ben.
»Ach, hat er? Na ja, wahrscheinlich nur, weil man den Cache zu dritt machen muss.«
»Kann schon sein.«
Während der weiteren Fahrt auf der Autobahn plauderte er mit Hanna vor sich hin. Sie tauschten den neuesten Klatsch über Studienfreunde aus, die der jeweils andere aus den Augen verloren hatte und planten die Renovierungsarbeiten an der gemeinsamen Wohnung, für die sie bald den Schlüssel bekommen würden.
Als ein Schild die Ausfahrt ankündigte, die Leon ihm genannt hatte, wurde es langsam Zeit, mit der Sache herauszurücken, die Ben bedrückte. Er sammelte seinen Mut zusammen und räusperte sich. »Übrigens weiß Leon Bescheid«, sagte er und versuchte dabei möglichst ungezwungen zu klingen. »Über unsere Pläne meine ich.«
Er hörte, wie Hanna neben ihm hörbar die Luft einsog. Klar war sie sauer.
»Er ist doch bald in Montreal«, verteidigte er sich, noch bevor sie etwas sagen konnte. »Ich wollte ihm halt persönlich sagen, dass wir uns verlobt haben. Deswegen habe ich das letzte Woche erzählt.«
Kurz sah er zu ihr hinüber, fing den Blick ihrer blitzenden Augen auf und wandte sich schnell wieder der Straße zu, wo er die Abfahrt nahm.
»Du hättest mich trotzdem vorher fragen sollen«, grollte sie. »Ich hab es noch nicht mal meiner Schwester erzählt und du posaunst es schon in die Welt hinaus.«
Sie hatte ja recht. Eigentlich hatten sie die Verlobung nicht an die große Glocke hängen wollen, zumindest, solange es noch keine konkreten Hochzeitspläne gab. Schließlich waren sie beide erst Mitte zwanzig, Hanna angehende Englisch- und Sportlehrerin, er noch im Sportstudium und nebenbei als Trainer in einem Fitnessstudio jobbend. Eigentlich kein allzu solides Fundament für eine Ehe.
Daran hatte er aber an dem Tag, an dem die Zusage für die gemeinsame Drei-Zimmer-Wohnung gekommen war, keinen Gedanken verschwendet. Sie waren romantisch Essen gegangen, und als sie auf den Nachtisch warteten, war Ben spontan auf die Knie gefallen und hatte, ganz ohne Ring, um Hannas Hand angehalten – und sie hatte Ja gesagt. So ganz konnte er sein Glück immer noch nicht fassen.
»Wie hat Leon denn auf die Neuigkeit reagiert?«, hakte Hanna nach und holte Ben damit in die Gegenwart zurück.
Er zuckte die Achseln. »Hat mir gratuliert und mich umarmt. Ah, da ist es.« Wie von Leon angekündigt, lag der Parkplatz, an dem sie sich treffen wollten, kaum mehr als zwei Kilometer von der Autobahnabfahrt entfernt am Rand eines Waldgebiets. Leons klappriger Golf stand bereits dort und Ben steuerte seinen Wagen in die Parklücke daneben.
Hanna war immer noch verärgert, weil Ben die Sache mit der Verlobung ausgerechnet Leon erzählt hatte. Der war ja nun wirklich einer der letzten, der das hätte erfahren müssen.
Aber gut, immerhin bewies ihr das, dass Ben die Verlobung ernst nahm. So ganz sicher war sie sich da nämlich nicht gewesen. Sein Kniefall im Restaurant und der anschließend aus einem Schnipsel Serviette improvisierte Ring hatten schon etwas Albernes gehabt und ganz nüchtern waren sie zu dem Zeitpunkt auch nicht mehr gewesen. Mit der gemeinsamen Wohnung stand ja nun erst mal die große Bewährungsprobe für ihre Beziehung an und dann blieb noch abzuwarten, ob sie die befristete Stelle, die sie in Aussicht hatte, auf Dauer behalten konnte und wohin es Ben nach Ende seines Studiums verschlug.
Doch darüber wollte sie sich im Moment nicht den Kopf zerbrechen. Dann wusste Leon es eben, war nun eh nicht mehr zu ändern. Sie sammelte sich und stieg aus.
»Braut und Bräutigam!«, rief Leon überschwänglich und kam ihnen entgegen. »Ich freue mich für euch.«
Leon war vom Körperbau so ziemlich das Gegenteil von Ben. Der war groß, braungebrannt, blond, athletisch, im Grunde das Musterbeispiel eines Sportstudenten. Kein Mister Universum, aber die Muskeln seiner Oberarme waren gut definiert und das Sixpack, gerade unter seinem Shirt verborgen, hätte manchen Profisportler vor Neid erblassen lassen. Hanna gefiel es jedenfalls.
Leon hingegen war blass, hatte dürre Arme und Beine, setzte am Bauch schon einen Rettungsring an, trug eine alles andere als modische Brille und reichte Hanna gerade mal bis zur Nase. Der Prototyp eines Nerds. Passenderweise studierte er Physik – ohne genauen Plan, was er damit mal anfangen wollte.
Leon und Ben schlugen zur Begrüßung die Fäuste aneinander. Dann trat Leon mit ausgebreiteten Armen auf Hanna zu, aber sie verschränkte demonstrativ die ihren vor der Brust. »Schön dich mal wieder zu treffen«, log sie höflich.
Leon ließ die Arme sinken. Kurz flackerte in seinen Augen ein Ausdruck auf, den Hanna nicht recht deuten konnte, aber dann grinste er. »Ja, freut mich auch. Und auf den Cache freue ich mich besonders. Der soll voll die krasse Atmosphäre haben.«
»Atmosphäre?«, fragte Hanna. »Hat der Cache eine Geschichte, oder wie?« Von so was hatte Leon noch nie erzählt.
»Warte kurz.« Leon tippte auf seinem Smartphone herum und hielt es ihr dann hin. Er hatte die Infoseite zu diesem Cache in einer großen Geocaching-Community geöffnet, wo man die grundlegende Beschreibung, die Startkoordinaten und die Bewertungen diverser Cacher fand.
Hanna fiel als erstes ins Auge, dass der Cache eine Durchschnittsbewertung von 4,9/5 Sternen aufwies, also waren bislang wohl fast alle, die ihn gemacht hatten, begeistert gewesen. Der Cache hieß „Der Puppenkiller“. Hanna überflog die Beschreibung:
Der Puppenkiller hat wieder einmal zugeschlagen. Er hat eine Jugendliche entführt und in den Wald verschleppt. Doch er hat das Handy des Mädchens übersehen und sie ruft aus ihrem Gefängnis die Polizei. Ihr seid Beamte der SOKO Puppenmord und sucht nach dem Mädchen. Ihr habt dreißig Minuten, das Versteck zu finden. Achtet auf Lichtzeichen.
Sie gab Leon das Handy zurück. Der hatte in der Zwischenzeit in seinem Rucksack gekramt und einige Taschenlampen hervorgeholt.
»Das sind Mag-Lites«, erklärte er und Stolz schwang in seiner Stimme mit. »Die machen echt krasses Licht, also leuchtet damit lieber keinem direkt in die Augen.« Er reichte zwei an Ben und Hanna weiter und zog danach eine Dashcam aus dem Rucksack. »Ihr habt doch nichts dagegen, dass ich das Ganze filme?«
»Wieso das denn?« Hanna war alles andere als begeistert.
»Ich hab einen Channel auf YouTube und lade da meine Cacher-Videos hoch. Zumindest die coolen.« Leon drückte eine Taste auf der Kamera und das Display leuchtete auf. Er klappte das Display heraus, drehte es um hundertachtzig Grad und richtete das Objektiv auf sich. Nachdem er einen kurzen Blick über die Schulter geworfen hatte, um sicherzugehen, dass er einen guten Bildhintergrund gewählt hatte, warf er sich in Pose und startete die Aufnahme.
»Hallo zusammen, ich bin's wieder, euer Cache-Master. Ich hab heute einen besonderen Cache für euch, nämlich die Jagd nach dem Puppenkiller. Ich bin hier mit Hanna und Ben.«
Leon schwenkte die Kamera kurz herum und nahm die beiden ins Bild. Ben lächelte gequält, Hanna winkte lustlos in die Kamera.
Leon richtete sie wieder auf sich. »Der Cache hat ein Zeitlimit. Wir haben dreißig Minuten, um das Versteck zu finden.« Er hob sein Handy vor die Kamera. »So, Leute. Es ist genau Viertel nach acht«, rief er theatralisch aus. »Andere gucken Tagesschau, wir jagen den Puppenkiller. Auf geht’s!«
Damit beendete er die Aufnahme, drehte das Display zurück und befestigte sie an einem Stirnband, mit dem er sie auf seinem Kopf fixieren konnte.
»Ich weiß nicht, ob ich Lust habe, bei YouTube zu landen«, brummte Hanna. »Wenn das später mal meine Schüler sehen ...«
»Ich kann euch ja rausschneiden«, wiegelte Leon ab. »Und jetzt los, die Zeit läuft.«
»Wonach suchen wir denn?«, fragte Ben.
»In der Beschreibung steht was von Lichtzeichen.« Leon schaltete seine Taschenlampe ein und ließ den Lichtkegel durch das Gebüsch am Rande des Parkplatzes gleiten. Plötzlich blitzte etwas auf. »Da, ein Reflektor. Die weisen uns den Weg.«
Kurz darauf fanden sie den verborgenen QR-Code auf der Rückseite einer Wanderkarte, und damit begann, begleitet von der Stimme des Mädchens, die Jagd nach dem Versteck im Wald.
»… den Cache zwar gelöst, aber den Puppenkiller noch nicht erwischt«, erzählt Leon in die Kamera, die er auf sich gerichtet hat. Sie sitzen in Bens Twingo und fahren über eine schmale Landstraße. »Wir sind jetzt auf dem Weg zur zweiten Station und natürlich gespannt, was uns dort erwartet.« Er beendet die Aufnahme und lehnt sich auf der Rückbank vor.
»Na, wie fandet ihr den Cache?« Leon wirkt immer noch ganz aufgekratzt. »Müsste doch vor allem was für dich gewesen sein, Ben. Du stehst doch auf Serienkiller und so Zeugs.«
Ben nickt. »Ja, das war echt cool.«
Er ist eher der nüchterne Typ und schwer für etwas zu begeistern, wie Hanna weiß. Aber auf Serienkiller steht er wirklich. Ständig hört er True-Crime-Podcasts über Serienmorde und hat jede Menge Filme, Romane, Dokus und sogar Sachbücher zu dem Thema angesammelt. Darunter befindet sich sogar eine Art Lexikon über Serienkiller. Hanna erinnert sich noch gut daran, dass sie diese Sammlung beim ersten Blick auf das Bücherregal in seiner Studentenbude etwas befremdlich fand.
»Und du?«, fragt Leon an sie gewandt. »Stehst du auch auf so was?«
Hanna wiegt zur Antwort den Kopf. »Hin und wieder mal ein Thriller ist schon okay«, brummt sie.
»Stehst eher auf Romantik, was?«, grinst Leon.
Hanna liegt eine scharfe Entgegnung auf der Zunge, aber sie hat keine Lust, sich zu streiten. Sie ignoriert seine Worte einfach und sieht demonstrativ aus dem Seitenfenster.
Sie fahren über plattes Land in Richtung holländische Grenze. Wenn nicht gerade Bäume die Sicht verdecken, kann man kilometerweit sehen. Am Himmel sind einige Wolken, die von der untergehenden Sonne in ein tiefes Orange getaucht werden. Ein schöner Anblick. Hanna überlegt, ob sie mit dem Handy ein Foto machen soll, aber das würde Leon nur in seiner klischeebeladenen Meinung bestärken, also lässt sie es bleiben.
Während sie darüber nachdenkt, wird ihr klar, dass sie so viele Wolken schon seit Wochen nicht mehr gesehen hat. »Soll es heute regnen?«, überlegt sie laut.
»Da regnet’s eher in der Sahara als hier«, meint Leon. »Musste letzte Woche jeden Tag zweimal zu meinen Eltern und den Garten wässern, weil die im Urlaub sind.«
Hanna öffnet die Wetteraussichten auf ihrem Smartphone. »Hier steht, es könnte heute örtlich Gewitter geben«, liest sie vor. »Teilweise sogar mit Starkregen.«
»Da glaub ich nicht dran«, wiegelt Ben ab. »Und wenn's doch anfängt zu regnen, stellen wir uns eben unter.«
»Sind fast da«, sagt Leon und betont es ähnlich wie der Pilot in Star Wars beim Angriff auf den Todesstern.
Was für ein Nerd. Hanna verdreht die Augen. Und mit so einem Typ wäre ich damals fast … nein, daran will sie jetzt nicht denken. Ganz bestimmt nicht.
»Da vorn rechts!«, ruft Leon, der immer wieder auf sein Handy blickt, das er als Navi benutzt.
»Der Feldweg?«, fragt Ben skeptisch.
»Ja, das ist es.«
Ben muss ziemlich scharf bremsen, um die Einfahrt noch zu erwischen. Kurz danach werden sie kräftig durchgeschüttelt. Die Federung des Twingo quietscht protestierend und wegen der vermutlich von Traktoren tief ausgefahrenen Spurrillen setzt mehrfach der Unterboden kurz auf.
»Oh Mann, mein armes Auto«, mault Ben.
»Ist ja nicht weit«, beschwichtigt ihn Leon, den Blick auf sein Smartphone gerichtet. »Noch hundertfünfzig Meter.«
Ein breites, schmiedeeisernes Tor kommt in Sicht, an dem der Feldweg vorbeiführt. An beiden Seiten schließt sich ein hoher Maschendrahtzaun an, der von Stacheldraht gekrönt ist. »Privatgrundstück – Betreten verboten« steht deutlich sichtbar auf einem großen Schild neben dem Tor.
»Das ist es«, verkündet Leon ungerührt. »Stell den Wagen da links ab. Seht ihr, dort haben schon andere Leute geparkt.« Er deutet auf eine Wiese, auf der Reifenspuren zu sehen sind.
Ben muss ordentlich Gas geben, um den Kleinwagen aus den Spurrillen zu quälen. Dann stellt er den Motor ab und sie steigen aus.
Obwohl die Sonne kaum noch über den Horizont lugt, ist es nach wie vor sehr warm. Die Gegend ist von der Dürre der letzten Wochen gezeichnet. Die Blätter an den Bäumen sind welk und auf dem Boden wachsen bloß vereinzelte bräunliche Grasbüschel, dazwischen kahle, von Rissen durchzogene Erde.
Hanna wendet sich dem Tor zu. Eine schwere Kette ist mehrfach um die Eisenstreben der beiden Torflügel gewickelt und mit einem massiven Vorhängeschloss gesichert. »Machen wir uns nicht strafbar, wenn wir da einsteigen?«
Ohne zu antworten, tritt Leon näher an das Schild heran und betrachtet es aus der Nähe. Dann grinst er breit und klappt es nach oben. Es ist an einem Scharnier befestigt und hinter dem Schild befindet sich ein kleiner Holzkasten, aus dem Leon einen Schlüssel und ein gefaltetes Blatt Papier fischt. Beides hält er triumphierend hoch. »Das ist dann wohl unsere Einladung!«
»Was steht denn drauf?«, fragt Ben und deutet auf den Zettel.
»Halt mal die Taschenlampe.« Leon entfaltet im Lichtkegel den mehrfach geknickten A4-Zettel. Hanna stellt sich neben ihn, sodass alle drei den Text lesen können.
Willkommen Cacher!Hinter dem Zaun liegt das ehemalige Gut Grünhöh. Das Gutshaus stammt aus dem sechzehnten Jahrhundert und war lange im Besitz einer jüdischen Familie. Als diese in den 30er-Jahren floh, übernahmen die Nazis das Gelände. Offiziell war es ein Sanatorium, aber es gibt Gerüchte, dass die Nazis hier Experimente an geistig behinderten Patienten vorgenommen haben.Nach dem Krieg verfiel das Gelände, bis es in den späten 90ern von einem neureichen Unternehmer aus der Gegend gekauft wurde. Er wollte ein Hotel und ein Ausflugslokal in den Gebäuden errichten, aber als an der Börse der Neue Markt crashte, ging er pleite und die gerade erst begonnenen Renovierungsarbeiten wurden eingestellt. Seitdem bröckeln die alten Gemäuer vor sich hin.Anbei ein Lageplan, damit ihr euch zurechtfindet. Kleiner Tipp: Seht ihn euch genau an! :)
Allgemeine Hinweise zu diesem Cache:Das Betreten des Geländes erfolgt auf eigene Gefahr, ich übernehme keinerlei Haftung für etwaige Verletzungen oder Schäden an eurer Ausrüstung.Bitte versetzt alle Stationen wieder in den Ursprungszustand zurück, nachdem ihr sie gelöst habt, damit die nächsten Cacher genauso viel Spaß daran haben wie ihr. Vergesst vor allem nicht, am Ende den Schlüssel und diesen Zettel wieder hinter dem Schild zu verstecken.
WICHTIG: Ein Teil des Gesindehauses ist baufällig und abgesperrt. Haltet euch in jedem Fall von diesem Teil des Hauses fern.Seid ihr bereit? Dann viel Spaß! Dreht den Zettel um und es geht los.
Leon blickt Hanna und Ben nacheinander an. »Seid ihr mit dem Text durch?« Er klingt ungeduldig.
»Hm«, macht Hanna. Sie weiß nicht recht, was sie von dem Text halten soll, vor allem die Sache mit der eigenen Gefahr macht ihr Sorgen. Aber irgendwie war das ja klar.
»Was denn? Angst vor Nazi-Zombies oder was?«, neckt Leon.
Hanna verzieht den Mund. Dämlicher Idiot.
»Das wird bestimmt total klasse.« Leon dreht das Blatt um.
Die anderen OpferHeiner Marquardt, besser bekannt als der Puppenkiller, sitzt mittlerweile seit einiger Zeit in Haft. Sein letztes Opfer, Christina P., wurde von euch in einem Keller unter dem Waldboden gefunden. Dort gesicherte Spuren brachten die Ermittler auf Marquardt und es gelang einem Sondereinsatzkommando, den Serientäter festzunehmen.Doch von Martina N., Nicole H. und Stephanie K., deren Verschwinden Parallelen zu dem von Christina aufweist, fehlt nach wie vor jede Spur und der Puppenkiller verweigert beharrlich die Aussage.Bei der Durchsuchung von Marquardts Haus fanden sich aber Hinweise auf den Gutshof Grünhöh, der nicht weit von Marquarts Wohnort liegt. Eine großangelegte Suchaktion zu organisieren wird dauern, deshalb seid ihr, das Ermittlerteam der SOKO Puppenmord, auf eigene Faust hierhergekommen, um nach den Opfern zu suchen.Werdet ihr das grausige Schicksal der drei Vermissten klären können - und vielleicht eine von ihnen noch lebend finden?
»Krasse Story, oder?« Leon sieht Ben Beifall heischend an.
Ben nickt und Hanna bemerkt, dass seine Augen dabei vor Begeisterung leuchten. Sie selbst findet die plakative Story eher ein wenig albern, versucht sich das aber nicht anmerken zu lassen.
Leon aktiviert abermals seine Kamera. »Wir haben gerade die erste Station von Teil zwei der Jagd nach dem Puppenkiller gefunden«, kommentiert er. »Nun müssen wir ins Innere dieses alten Landgutes vordringen, wo der Killer seine noch vermissten Opfer versteckt haben soll. Wir sind gespannt, was uns erwartet.«
Nachdem er die Kamera wieder an seinem Stirnband fixiert hat, nimmt Leon seine Taschenlampe. »Na, dann los.« Er geht aber nicht auf das Tor zu, sondern marschiert an dem Zaun entlang.
»Wo willst du hin?«, fragt Ben erstaunt.
Mit erhobenen Brauen dreht Leon sich zu ihm um und Ben deutet auf das Vorhängeschloss, mit dem das Tor gesichert ist. »War der Schlüssel nicht dafür?«
Leon scheint für einen Augenblick überrascht, dann schüttelt er den Kopf. Er hält den Zettel mit dem Lageplan ins Licht. »Habt ihr das Kreuz hier am Zaun nicht gesehen?«
Hanna hat eben in der kurzen Zeit nur einen flüchtigen Blick auf den Lageplan geworfen und gerade mal die Zahl der Gebäude erfasst. Auch Ben wirkt überrascht, als Leon ihnen das Kreuz zeigt, das in einiger Entfernung vom Tor neben dem Zaun eingezeichnet ist.
»Nur weil an dieser Stelle ein Kreuz eingezeichnet wurde, bist du sicher, dass es da reingeht?«, fragt Hanna skeptisch. »Sollten wir den Schlüssel nicht wenigstens mal am Tor ausprobieren?«
»Sie hat recht«, pflichtet Ben ihr bei.
Leon zuckt die Achseln, läuft zu dem Tor und holt den Schlüssel hervor. Er braucht ihn gar nicht erst in das Vorhängeschloss zu stecken, es ist sofort offensichtlich, dass er zu klein ist.
»Seht ihr, war doch klar«, erklärt Leon großspurig. »Woher sollte der Owner auch den Schlüssel haben?« Ohne eine Antwort abzuwarten, marschiert er wieder los, immer an dem Zaun entlang.
»Angeber«, murmelt Ben leise und Hanna verdreht zustimmend die Augen.
Vor dem Zaun gibt es einen schmalen Trampelpfad, der beweist, dass schon viele Leute diesen Weg eingeschlagen haben. Leon läuft vorneweg und schwenkt dabei den Lichtkegel seiner Taschenlampe zwischen Zaun und dem Boden vor sich hin und her.
Im schwindenden Tageslicht blickt Hanna durch den Maschendrahtzaun auf das Gelände. Zwischen den Bäumen meint sie vage den Umriss eines Gebäudes auszumachen, aber ganz sicher ist sie sich nicht. Das Gelände muss riesig sein, wenn sie das Haus von hier aus nicht sehen können.
Als Leon stehen bleibt, schließt sie zu ihm auf. Er sieht Ben und sie herausfordernd an und hält ihnen den Lageplan hin.
»Was ist?«, fragt Ben und sieht sich um. »Ist hier irgendwas?«
»Ich überlege gerade, warum ich hier eigentlich voranmarschiere. Mir nur hinterherzulaufen, macht ja sicher nicht so viel Spaß. Wie wäre es, wenn ihr die Führung übernehmt und ich helfe nur, wenn ihr nicht weiterkommt.«
Der Gedanke wäre ja nett, wenn nicht eine gewisse Überheblichkeit darin mitschwingen würde, denkt Hanna, mittlerweile ziemlich von Leon genervt. So nach dem Motto: Ich finde sowieso alle Lösungen sofort, also lasse ich den Amateuren mal den Vortritt. Immerhin leuchtet die rote Lampe neben dem Objektiv der Kamera nicht, also zeichnet er sein gönnerhaftes Angebot wenigstens nicht auf.
Ben zuckt nur die Achseln und übernimmt die Führung. Hanna folgt ihm, und es geht weiter am Zaun entlang. Der Kitzel, etwas Verbotenes zu tun, lässt allmählich nach und sie spürt einen ersten Anflug von Ungeduld.
»Ich hab was«, sagt Ben unvermittelt und bleibt stehen.
Im Licht seiner Taschenlampe ist ein Vorhängeschloss zu sehen, verglichen mit dem am Tor, ein deutlich kleineres Kaliber. Auf den ersten Blick scheint es einfach zwischen zwei Maschen des Zauns zu hängen. Erst, als Hanna genauer hinsieht, erkennt sie, dass der Maschendraht hier mit einer Zange senkrecht auf etwa einem Meter durchgeschnitten wurde. Nur das Vorhängeschloss verhindert, dass sie den Zaun einfach nach innen drücken und sich durch die entstehende Lücke Zutritt verschaffen können.
»Gib mir mal den Schlüssel.« Ben hält Leon fordernd die Hand hin.
Leon zieht den gefundenen Schlüssel aus der Tasche und leuchtet auf das Vorhängeschloss.
Ein paar Sekunden fummelt Ben mit dem Schlüssel herum, dann schnappt das Schloss tatsächlich auf. Er löst es aus den Maschen und drückt gegen den Zaun.
Hanna bemerkt, dass der Zaun auch waagerecht ein stückweit aufgeschnitten wurde, sodass Ben ihn weit nach innen drücken kann und ein schmaler Durchgang entsteht.
»Du zuerst«, fordert Ben.
Hanna zögert kurz, dann geht sie in die Hocke und kriecht durch die Lücke. Leon folgt, hält das eingedrückte Stück fest und wartet bis auch Ben sich hindurchgezwängt hat. Für sein breites Kreuz ist die Lücke ziemlich schmal und er flucht unterdrückt, als ein herausstehendes Stück Draht ihm über die Schulter kratzt.
»Alles okay?«, fragt Hanna.
Ben winkt ab und richtet sich auf. »Halb so wild.« Er sieht sich um. »Und was jetzt?«
Leon biegt den Maschendraht wieder zurück. »Irgendwo muss ein Hinweis auf die nächste Koordinate sein.« Er leuchtet umher.
Um sie herum gibt es nur braunes Gras und ein paar vertrocknete Büsche. Nirgends ein Reflektor oder ein Ort, an dem man etwas verstecken könnte.
»Steht auf dem Lageplan nicht noch irgendwas?«, fragt Ben und faltet ihn auseinander. »Leuchte mal.«
Die drei drängen sich zusammen und starren im Licht von Leons Taschenlampe auf den Plan. Außer dem X, welches das Loch im Zaun markiert, sind darauf noch einige Punkte mit den Buchstaben von A bis G markiert. »Hat einer von euch 'ne Ahnung, was das bedeuten könnte?«, fragt Ben ratlos.
»Vielleicht müssen wir bei A anfangen«, schlägt Hanna vor.
»Möglich«, stimmt Ben zu und sieht fragend zu Leon. Der zuckt nur mit den Achseln. »Was machen wir mit dem Vorhängeschloss? Soll ich es wieder befestigen?«
Leon schüttelt den Kopf. »Besser wir nehmen es mit. Wenn wir schnell abhauen müssen, würde es uns unnötig Zeit kosten, es wieder zu öffnen.«
»Schnell abhauen?«, wiederholt Hanna irritiert. »Wieso sollten wir schnell abhauen müssen?«
»Na, wenn Muggel auftauchen.« Leon macht eine unbestimmte Handbewegung. »Könnte ja passieren.«
Hanna weiß, dass Geocacher den Begriff Muggel aus den Harry-Potter-Romanen übernommen haben und ihn für Unbeteiligte verwenden, die von dem versteckten Cache keine Ahnung haben. »Meinst du, hier schaut ab und an ein Wachdienst vorbei?«
Leon hebt in einer theatralischen Geste die Hände. »Woher soll ich das wissen? Jetzt mach dir mal nicht in die Hose. Ich meine ja nur, dass wir das Schloss besser behalten. Apropos, hast du es dir genau angeschaut, Ben?«
Ben holt das Schloss hervor und hält es ins Licht. Nachdem er es einmal gedreht hat, erkennt er eine Prägung auf dem Metallbügel, einige Ziffern und mittendrin ein N und ein E. »Das sind Koordinaten!«
Leon gibt sie in sein Handy ein und auf dem Display erscheint ein Pfeil, der von dem Zaun weg zeigt. »Ich würde sagen, wir fangen erst mal dort an.«
Das Gelände ähnelt zunächst dem auf der anderen Seite des Zauns. Der trockene Boden ist an mehreren Stellen aufgebrochen und alles, was hier mal gewachsen ist, ist verdorrt oder zumindest braun verfärbt. Sie laufen auf einen Teich zu, der mit Entengrütze bedeckt ist und einen brackigen Geruch verströmt. Rund um den Teich stehen ein paar Bäume, deren Blätter welk herabhängen. Als sie sich nähern, krähen einige Raben vorwurfsvoll und flattern dann davon.
Auf der linken Seite des Teiches befindet sich ein größeres Gebäude, offenbar eine Art Scheune. Auf der anderen Seite steht ein langgestrecktes, niedriges Bauwerk, das in Teilen ziemlich marode wirkt. »Wahrscheinlich das Gesindehaus, vor dem in der Cachebeschreibung gewarnt wurde«, überlegt Hanna laut.
»Ja, glaube ich auch«, pflichtet Ben ihr bei.
In dem wenigen Licht der tief stehenden Sonne werfen beide Gebäude lange Schatten und wirken auf Hanna abweisend und finster. Es bräuchte gar keinen Serienmörder-Plot, um hier eine gruselige Stimmung zu erzeugen.
»Der Pfeil zeigt zum Herrenhaus«, erklärt Leon und geht um den Teich herum, auf das zweigeschossige, langgezogene Gebäude zu, das gut hundert Meter entfernt liegt.
Obwohl seine Fenster vernagelt sind und dem Dach einige Schindeln fehlen, strahlt das Haus noch immer eine gewisse Erhabenheit aus.