Der Wisperwald - Jörg Benne - E-Book

Der Wisperwald E-Book

Jörg Benne

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Beschreibung

Vincent und Julian verbringen eine Woche bei ihrer Großmutter auf dem Land. Als ihre Kaninchen in den angrenzenden Wisperwald entlaufen und sich die ungleichen Brüder auf die Suche machen, lernen sie schnell, warum der Wald diesen Namen trägt. Tiere und Pflanzen können sprechen. Normalerweise beschützt der mutige Sentar Nuval alle friedlichen Waldbewohner und ihr besonderes Zuhause, doch der Bau eines Einkaufszentrums droht, alles zu zerstören. Jeder bisherige Versuch, das Unternehmen zu stoppen, misslang. Vincent will unbedingt helfen und ahnt nicht, in welch große Gefahr er sich damit bringt. "Die Handlung ist sehr spannend, immer wieder gibt es Wendungen mit denen man als Leser nicht rechnet und die einen regelrecht dazu animieren weiterzulesen." - Manjas Buchregal

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Veröffentlichungsjahr: 2021

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Impressum

Text © Copyright by Jörg Benne

[email protected]

Mintarder Weg 9

40885 RatingenAlle Namen und Personen im Text sind frei erfunden, Ähnlichkeiten mit echten Personen rein zufällig und nicht gewollt oder beabsichtigt.

Cover © Copyright by © nizhava1956 - Fotolia.com #87394444

Alle Rechte vorbehalten, Tag der Erst-Veröffentlichung: 04.12.2015

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1. Urlaub wider Willen

»Eine ganze Woche zu Oma?«, wiederholte Julian.

Vincent, der mit Julian und Papa beim Mittagessen saß, hörte der Stimme seines Bruders deutlich an, dass er davon alles andere als begeistert war.

Papa nickte. »Oma freut sich schon auf euch, und Vincent bettelt schon ein halbes Jahr lang, dass wir endlich wieder zu ihr fahren.«

Julian schoss einen wütenden Blick auf Vincent ab. Unwillkürlich zog Vincent den Kopf ein und starrte auf seinen Teller.

»Außerdem«, fuhr Papa fort, »wo solltet ihr sonst bleiben, während Mama und ich in Paris sind?«

»Ich könnte bei Patrick wohnen«, schlug Julian vor. »Da wollte ich in den Ferien sowieso mal übernachten.«

Vincent sah fast ebenso hoffnungsvoll zu Papa wie Julian. Ohne ihn würde es bei Oma noch viel schöner sein.

Papa winkte ab. »Aber nicht eine ganze Woche, das geht nicht. Außerdem hast du Oma schon lange nicht mehr gesehen. Als wir letztes Jahr da waren, hattest du ein Fußballturnier, erinnerst du dich?«

»Ach menno«, maulte Julian. »Nur weil sich die kleine Kröte …«

»Du sollst deinen Bruder nicht immer Kröte nennen«, tadelte Papa. »Und gib nicht ihm die Schuld. Mama und ich haben das so entschieden.«

Julian verzog den Mund und steckte sich ein Stück Frikadelle in den Mund. Eine Weile kaute er missmutig darauf herum und warf noch einmal einen bösen Blick auf Vincent. »Aber Papa«, versuchte er es schließlich erneut. »Oma hat nicht mal Internet. Ich wollte in den Sommerferien meinen Krieger endlich auf Level sechzig bringen.«

»Eine Woche wirst du schon ohne Internet überleben. Ist vielleicht sogar ganz gut, wenn du mal nicht den halben Tag vor dem Computer hängst. Und wenn dir dein Krieger so wichtig ist, können wir gern dein Fußballcamp absagen. Dann hast du genug Zeit, um ihn in der zweiten Ferienhälfte auf Level soundso zu bekommen.«

Julian verdrehte die Augen. Vincent schluckte. Er wusste genau, dass Papas Geduld langsam aufgebraucht war. Wenn sein Bruder weiter quengelte, würde es Ärger geben – und den würde Julian später an ihm auslassen. Ängstlich sah er zu Julian hinüber, der in seinem Essen herumstocherte. Gab er auf?

Nein, Julian gab nicht auf. »Boah Papa, das ist gemein«, fuhr er auf. »Ich will nicht zu Oma, okay? Die kocht wieder so komisches Zeugs und erzählt uns die ganze Zeit ihre blöden Geschichten von dem Wald, das will …«

»Sprich nicht so über deine Großmutter! Es reicht jetzt. Ihr bleibt die Woche bei Oma und basta.«

Julian ließ die Gabel fallen, stürmte aus der Küche und die Treppe nach oben. Dort knallte er geräuschvoll seine Zimmertür zu und kurz darauf dröhnte laute Musik nach unten.

Papa seufzte und schüttelte den Kopf, dann aß er schweigend weiter.

Vincent starrte lustlos auf seinen Teller. Also musste er doch mit Julian zusammen fahren. Und der würde ihn seinen Frust über den Zwangsurlaub die ganze Zeit spüren lassen. Er seufzte ebenfalls.

Papa lächelte und streichelte ihm übers Haar. »So schlimm wird es schon nicht werden«, sagte er aufmunternd. »Du freust dich doch auf Oma, oder?«

Er sah auf. »Ohne Julian wäre es schöner.«

Papas Lächeln erstarb. »Hör mal«, sagte er sanft. »Ich weiß, Julian ist manchmal ziemlich gemein zu dir. Aber er ist trotz allem dein Bruder. Ihr seid eine Familie, ihr müsst zusammenhalten.«

Vincent zuckte die Schultern. Papa sagte das so leicht. Bis vor einem Jahr hatte sich Vincent mit Julian gut verstanden. Sie hatten oft zusammen Legos gebaut oder draußen Fußball gespielt. Aber seit Julian in der Pupatät war oder wie das hieß, waren Legos plötzlich doof und nur was für kleine Kröten, wie Vincent eben.

»Du magst doch Omas Geschichten, oder?«, fragte Papa.

Vincent nickte. Er mochte sie nicht nur. Er liebte es, bei Oma auf der Veranda zu sitzen und ihren fantasievollen Erzählungen zu lauschen, mit Blick auf den düsteren Wald, der hinter ihrem Garten begann. Oma saß meistens in ihrem knarzenden Schaukelstuhl und strickte, während sie gedankenverloren Märchen über den Wisperwald erzählte. So nannte sie den Wald, in dem ihren Geschichten nach alle Tiere und sogar die größeren Pflanzen sprechen konnten. Oma erzählte von Abenteuern, die sie als Kind im Wisperwald erlebt hatte.

Früher hatte auch Julian die Geschichten gemocht. Seit er zwölf geworden war, redete er nur noch von Star Wars oder von den Geschichten aus dem Online-Rollenspiel, das er in jeder freien Minute spielte.

»Komm, iss auf, Vini«, sagte Papa. »Dann können wir ein bisschen Federball spielen, ja?«

»Julian und ich müssen aber noch den Kaninchenstall machen.«

Papa nickte anerkennend. »Stimmt. Ich finde es gut, dass du diese Aufgabe so ernst nimmst.« Er sah zur Treppe, von der noch immer die laute Musik zu ihnen nach unten dröhnte. »Ich werde dir helfen.«

Sie aßen auf und kümmerten sich dann um den Stall von Rita, Vincents Kaninchen, und Bommel, der deutlich größer war als seine Artgenossin und Julian gehörte. Rita klopfte einmal laut mit den Hinterbeinen und sauste wie von der Tarantel gestochen in ihre Hütte, als Vincent sich dem Stall näherte. Wie immer. So richtig zahm war die kleine Kaninchendame leider nie geworden. Bommel hingegen ging fauchend und mit den Vorderbeinen schlagend auf den Handfeger los, mit dem Vincent das Streu vom Boden zusammenfegte. Lachend ließ er das Kaninchen sich austoben, bis auch Bommel in der Hütte verschwand.

Am nächsten Wochenende fuhren sie los. Später als geplant, weil Julian am Morgen noch einen Aufstand anzettelte und schließlich durchsetzte, dass er seine tragbare Spielkonsole mitnehmen durfte.

Vincent hielt sich lieber aus allem heraus und freute sich auf Großmutter. Allerdings war er noch nie eine Woche von seinen Eltern getrennt gewesen und deswegen machte er sich auch etwas Sorgen. Würde er es eine Woche mit seinem Ekel von großem Bruder dort aushalten? Er hoffte es.

»Wir sind gleich da«, sagte Papa. Vincent sah von seinem Legokatalog auf, den er beinahe die ganze Fahrt über studiert hatte. Aufmerksam blickte er sich um.

Großmutter wohnte in einem kleinen Vorort von Düsseldorf, der mehr und mehr wuchs. Er bemerkte einige Gebäude, bei denen er sich sicher war, dass sie beim letzten Besuch noch nicht da gewesen waren. Es waren alles Häuser für einzelne Familien, mit Garten, so, wie seine Familie auch lebte.

Als sie in die Straße einbogen, in der Oma wohnte, erschrak er. Auf der Wiese an der Kreuzung, wo Julian und er schon oft mit den Dorfkindern Fußball gespielt hatten, stand ein riesiges Schild aus Holz. Darauf waren viele neue Häuser zu sehen. Er versuchte, die Überschrift zu entziffern, aber weil er erst ein Jahr zur Schule ging, waren sie schneller am Schild vorbei, als er den Satz lesen konnte. Sichern Sie sich Ihr Traum…, hatte er noch erkennen können.

»Meine Güte«, meinte Papa kopfschüttelnd. »Wie viele Häuser wollen die hier noch hochziehen? Und dazu noch ein Einkaufszentrum, da bleibt von dem alten Wald bald nichts mehr übrig.«

Kurz vor Omas Haus standen einige orangefarbene Autos und Männer mit einem seltsamen Gerät auf drei Beinen.

»Was sind das für Leute?«, wollte Vincent wissen.

»Das sind Vermessungstechniker, die vermessen die Grundstücke«, antwortete Papa und schüttelte noch mal den Kopf. »Schade um den schönen Wald.«

Endlich hielten sie vor Omas Haus. Verglichen mit den vielen Neubauten, an denen sie vorbeigekommen waren, sah es alt und geheimnisvoll aus. Kletterpflanzen überwucherten die Wände, aus denen die Fenster wie kleine, eckige Augen hervorlugten. Eine dichte Hecke schirmte den Garten von den Nachbargrundstücken ab.

»So, alle aussteigen. Wir müssen uns ein wenig beeilen, unser Flugzeug geht bald. Vincent, du klingelst an der Haustür. Julian, hilf mir mit dem Kaninchenstall.«

»Ja gleich, Papa. Ich muss eben noch den Level schaffen.«

Papa wollte schon zu einer heftigen Antwort ansetzen, aber Mama legte ihm beschwichtigend die Hand auf den Arm. Also stiegen sie aus und ließen Julian weiterspielen, während Vincent zum Haus lief und klingelte.

Es dauerte eine Weile, bis Oma an die Tür kam. »Ah, mein Junge«, begrüßte sie ihn freudig und drückte ihn an sich. Er umarmte sie und sog den Geruch ihrer Schürze ein. Oma hatte gebacken.

»Hallo Mutter«, grüßte Papa. Oma gab Vincent frei und umarmte ihren Sohn. »Wir sind leider etwas in Eile«, fuhr Papa fort. »Unser Flieger geht schon in zwei Stunden, wir können nur kurz bleiben.«

»Ich hatte euch auch früher erwartet«, meinte Oma.

Papa seufzte. »Ja, wir uns auch.« Er blickte vielsagend zum Auto, wo Julian noch immer mit seiner Konsole spielte.

Oma begrüßte auch Mama und gemeinsam trugen sie das Gepäck und den Kaninchenstall ins Haus. Letzteren schleppte Papa direkt auf die Terrasse.

Vincent konnte seine Neugier nicht bezwingen und eilte in die Küche. Hier war der Geruch nach frisch Gebackenem noch allgegenwärtig und er erkannte ihn sofort. »Juhu! Du hast Quarkstreuselkuchen gebacken.«

Oma trat zu ihm und streichelte ihm über das Haar. »Ich weiß doch, dass du ihn so gern magst.«

»Danke, Oma.« Vincent umarmte sie noch einmal. Dann lief er auf die Terrasse, wo Papa gerade dabei war, die Kaninchen aus der Transportbox in ihren Stall zu entlassen. Die kleine Rita verhielt sich vollkommen verschreckt und presste sich in die hinterste Ecke ihrer kleinen Box. Schließlich gab Papa es auf, sie mit der Hand herausholen zu wollen und setzte einfach die ganze Transportbox in den Stall.

»Nehmt die Box dann später raus, ja?« Papa sah sich um. »Sitzt Julian etwa immer noch im Auto?« Er machte einen entschlossenen Schritt in Richtung Terrassentür.

Mama hielt ihn jedoch abermals zurück. »Lass nur, ich gehe schon. Sprich ein bisschen mit deiner Mutter, ehe wir losmüssen.«

Papa grummelte etwas Unverständliches, wandte sich aber Oma zu. Während sich die beiden unterhielten, lief Vincent in den Garten.

Er war riesengroß, kein Vergleich zu der Briefmarke, wie Papa ihren eigenen Garten manchmal nannte.

Oma hatte viele Beete angelegt, aber es gab auch einige Apfelbäume und große Büsche und sogar einen Teich. Ein Weg aus Pflastersteinen führte durch den rechteckigen Garten, der bestimmt dreißig Meter lang war. Am gegenüberliegenden Ende lag eine Wiese, die Oma absichtlich nicht bepflanzt hatte, damit ihre Enkel dort Fußball oder andere Spiele spielen konnten. Und direkt dahinter begann der Wisperwald.

Vincent blieb am Rand der Wiese stehen und sah ehrfürchtig auf die hohen Bäume. Kiefern und Eichen wuchsen bis an den halb hohen Zaun heran, der den Garten vom Wald trennte. Und Vincent glaubte, die Bäume wirklich wispern zu hören – aber es war wohl nur der Wind, der als leichte Brise durch die Wipfel strich.

Eine Weile stand er so da, bis er jemanden seinen Namen rufen hörte. Eilig kehrte er zur Terrasse zurück.

Julian hatte sich mittlerweile zu ihnen gesellt, Mama und Papa standen schon an der Terrassentür. Vincent wurde im Näherkommen etwas mulmig. Seine Eltern würden nun gehen und in ein Flugzeug nach Paris steigen. Eine ganze Woche kam ihm furchtbar lang vor. Und was, wenn etwas passierte? Erst vor Kurzem hatte er bei logo etwas über einen Flugzeugabsturz gesehen. Plötzlich spürte er einen Kloß im Hals.

»Na, mein Kleiner.« Mama ging in die Hocke und nahm ihn in die Arme. »Freust du dich, bei Oma zu sein?«

Er nickte tapfer.

»Du wirst sehen, die Woche geht ganz schnell vorbei. Und Oma wird viele tolle Sachen mit euch machen«, munterte sie ihn auf.

Papa trat neben sie und strich ihm übers Haar. »Du bist doch jetzt schon groß. Und Julian ist ja auch noch da.«

Das ist es ja gerade, hätte Vincent am liebsten geantwortet, doch er schwieg lieber und schniefte. Mama löste sich von ihm und verabschiedete sich von Julian und Oma.

»Wenn Julian dich schlimm ärgert, dann sagst du es Oma, versprochen?«, flüsterte Papa.

Er nickte wieder.

Auch Papa nahm ihn in den Arm. Die Verabschiedung von Julian fiel weniger herzlich aus, weil er sich nicht von Papa umarmen lassen wollte. Schließlich gingen alle zur Haustür, wo Vincent so lange winkte, bis das Auto außer Sicht war.

»Jetzt kommt, ihr beiden«, sagte Oma. »Wir setzen uns auf die Terrasse, essen ein Stück Kuchen und ihr erzählt, was es Neues gibt.«

Er ging mit hängendem Kopf in die Küche, aber als ihm der Duft seines Lieblingskuchens in die Nase stieg, besserte sich seine Laune gleich wieder ein bisschen. Schon weniger bedrückt trug er den Teller mit dem extragroßen Kuchenstück auf die Terrasse, wo Julian mit finsterer Miene auf der Holzbank saß und vor sich hin stierte.

»Willst du keinen Kuchen, Julian?«, fragte Oma und tat, als bemerkte sie seine miese Laune nicht.

»Doch«, grummelte Julian und rang sich sogar ein »Danke« ab, als Oma ihm einen Teller reichte.

Vincent registrierte zufrieden, dass das Kuchenstück seines Bruders deutlich kleiner war.

»Fangt ruhig an«, ermunterte Oma sie. »Ich hole mir noch einen Kaffee.«

Beinahe andächtig spießte Vincent ein erstes Stück seines Kuchens auf und schob es sich in den Mund. Es schmeckte herrlich. Keiner konnte Quarkstreuselkuchen so backen wie Oma. Mama hatte es mehrmals versucht, es war gut gewesen, aber eben nur ein Quarkstreuselkuchen und nicht Omas Quarkstreuselkuchen.

»Jetzt erzählt doch mal«, meinte Oma und ließ sich etwas schwerfällig in ihren mit Kissen ausgepolsterten Schaukelstuhl sinken. »Wie läuft es denn so in der Schule?«

Julian brummte ein »Geht so«, Vincent hingegen erzählte zwischen den Kuchenstücken von seinem ersten Schuljahr, das gerade hinter ihm lag. Als er zum Ende kam, war auch sein Teller leer.

Eine Weile saßen sie schweigend da und währenddessen kam Vincents Sehnsucht nach Mama und Papa zurück, deren Abschied er über den Kuchen kurzzeitig beinahe vergessen hatte.

Oma stemmte sich aus dem Schaukelstuhl und setzte sich zwischen Vincent und Julian auf die Holzbank. Sie legte jedem einen Arm um die Schultern und zog sie an sich, wobei sie Julians Widerwillen ignorierte. Von der Bank aus sahen sie über den Garten zu den Wipfeln des Waldes.

»Hört ihr sie wispern?«, flüsterte Oma geheimnisvoll und Vincent spürte sein Herz heftiger klopfen. Jetzt würde wieder eine von Omas Geschichten kommen.

»Ich glaube, ich höre Nuval, den Sentar«, sagte Oma leise. »Er ruft nach Dibaster, dem Eichhörnchen, das ihm seine Nüsse gestohlen hat.« Oma lachte leise. »Dibaster ist in letzter Zeit sehr frech. Früher, als er noch ein kleines Eichhörnchen war, hatte er großen Respekt vor Nuval und das war auch gut so. Der Sentar ist einer der Wächter des Wisperwaldes und er beschützt auch die Eichhörnchen, genau wie alle anderen Bewohner und die Bäume und Pflanzen auch. Er sorgt für Recht und Ordnung, so ähnlich wie ein Polizist. Aber seit Dibaster glaubt, erwachsen zu sein, ist er ein richtiges Schlitzohr geworden.« Oma lächelte nachsichtig. »Letzte Woche war er hier auf der Terrasse. Fast hätte er mir den Kuchen vom Teller gestohlen, obwohl ich kaum zwei Meter entfernt saß.«

»Und was hast du zu ihm gesagt?«, platzte Vincent heraus.

Oma schüttelte den Kopf. »Nichts natürlich. Hier, außerhalb des Wisperwaldes, kann ich ihn nicht verstehen und er mich auch nicht. Aber ich habe ihn verscheucht und bin ihm bis zum Zaun nach. Dort habe ich Wumas, die Dächsin, getroffen und sie erzählte mir, dass Dibaster es reichlich bunt treibt im Moment. Er versucht wohl, die kleine Ganuste zu beeindrucken und kennt keinen Respekt. Nicht einmal vor Nuval.«

Sie knuffte Julian in die Seite. »Gibt es auch schon ein Mädchen, das du beeindrucken willst?«

»Was?«, fuhr Julian auf. »Beeindrucken? Wie kommst du denn darauf?«

Vincent verstand auch nicht, was Oma damit meinen konnte, aber die lächelte nur still vor sich hin.

»Jedenfalls wird Dibaster sein blaues Wunder erleben, wenn Nuval ihn erwischt«, fuhr sie fort. »Einem Sentar seine Nüsse zu stehlen, das ist schon allerhand.« Unvermittelt wurde Oma ernst. »Und Nuval hat ohnehin schlechte Laune im Moment. Es steht nicht gut um den Wisperwald.«

»Was meinst du?«, fragte Vincent und empfand ein angenehmes Schaudern bei dem Gedanken daran, wie der schlecht gelaunte Sentar das freche Eichhörnchen jagte.

»Habt ihr die Werbung für die neuen Häuser gesehen? Immer weiter nähern sie sich dem Wald mit ihren Baugrundstücken und die Stadt hat sogar schon einen Teil des Waldes verkauft. Dort soll bald ein Einkaufszentrum entstehen.« Omas Stimme klang nun hart. So kannte er sie gar nicht.

Doch ihre Miene entspannte sich ebenso unvermittelt wieder und sie entließ Julian und ihn aus ihrem Griff. »So, ihr beiden, ich muss noch ein bisschen einkaufen. Geht doch ein wenig Fußball spielen auf der Wiese. Ich habe sie extra für euch gemäht.« Oma scheuchte sie mit einer wedelnden Geste von der Bank, unter der ein altersschwacher Fußball bereitlag. »Und streitet nicht. Versprochen?«

Vincent nickte eifrig, sein Bruder knurrte nur leise etwas. Oma winkte zum Abschied.

Julian sah immer noch verkniffen drein.

Vincent hob den Ball auf und knuffte seinen Bruder gegen den Arm. »Komm, lass uns kicken.« Er lief durch den Garten auf die Wiese zu.

Julian schlurfte ihm lustlos hinterher, aber als Vincent den Ball über den Rasen kickte, grinste er verschlagen und spitzelte ihm den Ball vom Fuß.

»Hol ihn dir doch, hol ihn dir doch«, neckte er und dribbelte mit dem Ball um ihn herum.

Vincent bemühte sich, an den Ball zu kommen, doch sein Bruder ließ ihm keine Chance, spielte ihm den Ball sogar durch die Beine und schoss ihn zielsicher zwischen die beiden Pfosten, die Oma für sie als Tor aufgestellt hatte.

Vincent rannte hoffnungsvoll hinter dem Ball her, doch Julian überholte ihn und dribbelte mit dem Ball wieder auf die Wiese.

»Menno«, maulte er. »Ich will auch mal.«

»Hol ihn dir doch.« Julian grinste weiter.

Vincent versuchte es erneut, aber auch diesmal dribbelte Julian geschickt um ihn herum und schoss ein weiteres Tor. »2:0«, jubelte er und rutschte auf den Knien über den Rasen, wie er es in der Sportschau gesehen hatte. »Julian ist der Torschützenkönig.«

Vincent nutzte die Gelegenheit und holte sich den Ball, lief auf die Wiese und legte sich das Leder zurecht, um ein Tor zu schießen. Er nahm Anlauf, doch der Ball kullerte weit am Tor vorbei.

»Mensch Vini, du bist echt ‘ne Flasche«, ätzte Julian.

»Ich bin keine Flasche. Du sollst nicht immer so schlimme Sachen zu mir sagen.«

»Sag’s doch Papa, du kleine Kröte.«

»Du bist gemein.« Er schniefte.

Julian kickte den Ball lustlos in Richtung Tor. »Mit dir Fußball zu spielen macht keinen Spaß.«

Das sah er andersherum ganz ähnlich. »Dann lass uns was anderes spielen«, schlug er dennoch vor, auch wenn er keine Idee hatte.

Auch Julian überlegte eine Weile und rupfte gedankenverloren Grashalme aus dem Boden. »Lass uns die Kaninchen freilassen«, schlug er vor. »Wir können mit ihnen Kani-Hopp machen.«

Vor Kurzem hatten sie eine Wissenssendung im Fernsehen gesehen, in der es um Kaninchen ging. Dabei wurde auch das Kani-Hopp vorgestellt, bei der die Kaninchen beinahe wie Springpferde durch einen kleinen Parcours gelotst wurden.

»Au ja«, stimmte Vincent zu. »Hol du die Hasen und ich baue die Hindernisse auf.« Sogleich machte er sich daran, Äste zu sammeln und kleine Hindernisse aufzubauen, während Julian zur Terrasse ging.

Als Erstes brachte er Bommel. Kaum hatte Julian das Kaninchen auf die Wiese gesetzt, begann es sich für die Hindernisse zu interessieren. Allerdings dachte Bommel nicht im Traum daran, rüberzuhüpfen, so sehr Vincent ihn auch anfeuerte. Stattdessen begann er, an den Ästen zu knabbern.

»Im Fernsehen hatten sie die Kaninchen an der Leine«, meinte Vincent, als Julian mit der strampelnden Rita zurück auf die Wiese kam. »Ich glaube, ohne Leine klappt das nicht.«

Julian ließ sich aber noch nicht entmutigen. Er setzte Rita auf die Wiese und die Kaninchendame setzte sofort ein Warnklopfen ab und hüpfte von ihm weg. »Wir müssen aufpassen, dass sie uns nicht abhaut«, sagte Julian.

Im gleichen Moment fiel Vincent wieder ein, wie er im letzten Sommer mit Papa eine halbe Stunde lang Rita durch den heimischen Garten gejagt hatte, nachdem diese aus dem Außengehege ausgebüxt war. »Ich glaube, das war keine so gute Idee, Rita freizulassen«, meinte er und bekam ein mulmiges Gefühl.

»Na ja, wir kriegen sie schon wieder«, winkte Julian ab. »Wir müssen nur aufpassen, dass sie nicht zu nah an den Zaun kommen.«

Die Kaninchen fühlten sich auf der großen Wiese sichtlich wohl. Während Rita die Bewegungsfreiheit genoss und umherhoppelte, interessierte sich Bommel für das Futterangebot und knabberte an Grashalmen, Löwenzahn und was er sonst noch so fand. Julian und Vincent gelang es, Rita weitgehend in Schach zu halten. Immer, wenn sie sich dem Zaun oder einer der Hecken näherte, eilte einer von ihnen dazwischen und scheuchte das Kaninchenweibchen wieder weg. Sie hatten sogar Spaß dabei, sich gegenseitig herumzukommandieren.

Plötzlich stellte sich Bommel auf die Hinterbeine und sah konzentriert auf etwas, das sich hinter Julian befand. Zunächst dachte sich Vincent nichts dabei, folgte dann aber doch dem Blick des Kaninchens und erschrak. Eine schwarze Katze näherte sich geduckt.

»Julian, hinter dir, eine Katze«, rief er panisch. »Sie will Bommel und Rita fressen.«

Sein Bruder fuhr herum. »Kusch, verschwinde«, schnauzte er die Katze an.

Kurz sah die Katze zu ihm auf und machte einen kleinen Bogen, nahm aber sofort wieder eines der Kaninchen ins Visier und schlich geduckt weiter.

Julian sprang auf die Katze zu. »Verschwinde, weg mit dir«, rief er wieder.

»Nicht so laut, du erschreckst Rita.«

Doch es war bereits zu spät. Auch die Kaninchendame hatte die Katze nun entdeckt, klopfte einmal laut und schoss wie der Blitz an Vincent vorbei und verschwand durch den Zaun im Wisperwald. »O nein«, jaulte Vincent auf.

Julian sah sich verwirrt um. Er hatte nichts mitbekommen, weil er nach wie vor versuchte, die Katze abzudrängen. »Was ist …? Pass auf, Bommel haut ab.«

Vincent wirbelte zu dem zweiten Kaninchen herum, das nun ebenfalls auf den Zaun zuhielt. Er versuchte noch, Bommel aufzuhalten, doch auch der duckte sich unter dem Zaun hindurch und verschwand zwischen den dunklen Bäumen.

»Blöde Katze, hau endlich ab«, rief Julian außer sich und sprang auf sie zu.

Fauchend drehte die Katze ab und zwängte sich durch eine der Hecken in einen Nachbargarten.

»Sie sind weg«, heulte Vincent. Dicke Tränen rannen ihm über die Wangen. »Bommel und Rita sind weg. Wir finden sie nie wieder.«

Julian verzog den Mund. Es war seine Idee gewesen, die Kaninchen frei laufen zu lassen. Er trat zu Vincent und legte ihm sanft den Arm um die Schulter. »Wir kriegen sie schon.«

»Aber wie denn? Sie sind im Wisperwald.« Vincent heulte weiter. »Und Oma ist nicht da.«

Julian seufzte, dann straffte er sich entschlossen. »Dann müssen wir die beiden eben allein suchen.«

Vincent hörte auf zu weinen und riss die Augen auf. »Im Wisperwald?«, hauchte er.

Julian nickte. »Los, komm! Sie sind bestimmt irgendwo in der Nähe des Zauns. Wir finden sie bestimmt.« Entschlossen schritt er auf die Stelle zu, wo Bommel verschwunden war. »Komm, Vini.«

Julian half ihm, über den Zaun zu klettern, und sprang dann selbst herüber. Kaum hatten sie einen Schritt zwischen die Bäume gemacht, umfing sie das Zwielicht des Wisperwaldes.

2. Der Wisperwald

»Siehst du etwas?«, fragte Vincent. Er flüsterte unwillkürlich und sah sich ängstlich um. Der Zaun zu Omas Garten lag nur zwei Schritte hinter ihnen, dennoch kam er sich vor wie in einer anderen, düsteren Welt.

Julian spähte angestrengt ins Zwielicht. Nur wenig Helligkeit drang durch die dicht beieinanderstehenden Baumkronen bis zum moosigen Grund des Waldes.

»Da, ich sehe sie«, flüsterte Julian plötzlich und deutete in die dichten Schatten unter einer Fichte.

Vincent kniff die Augen zusammen. Tatsächlich, da hockten die beiden Kaninchen eng aneinandergeschmiegt. Vorsichtig traten Julian und er näher. Rita schien sich vor der ungewohnten Umgebung zu fürchten. Ihr Atem ging schnell und sie presste ihre Schnauze an Bommels Seite, während der genüsslich an einem Tannenzapfen nagte.

»Wir müssen sie einkreisen«, sagte Julian. »Geh du links herum.«

Sie trennten sich und schlichen von zwei Seiten an die Kaninchen heran. Vincent hörte ein Wispern, das immer lauter wurde. Erst dachte er, es wäre der Wind, der durch die Baumkronen strich, dann aber meinte er sogar, Worte herauszuhören. Er konzentrierte sich, achtete einen Moment nicht darauf, wohin er trat, und prompt zerbrach ein Zweig lautstark unter seinem Fuß.

Rita klopfte einmal mit den Hinterbeinen und flitzte an ihm vorbei. Bommel, ebenfalls aufgeschreckt, huschte um einen Baumstamm und damit aus seinem Blickfeld.

»Mensch Vini, du Blödi, kannst du nicht aufpassen?«, schimpfte Julian und verdrehte die Augen. »Los, du schnappst dir Rita, ich jage Bommel«, befahl er, und ehe Vincent noch etwas sagen konnte, hastete Julian schon dem größeren Kaninchen nach.

Vincent blieb keine Zeit, ihm hinterherzurufen. Eben sah er noch Rita in einem Busch verschwinden und musste ihr folgen, um sie nicht aus den Augen zu verlieren.

Schnell, aber doch so leise wie möglich, setzte er der Kaninchendame nach, während er Julian in der anderen Richtung nach Bommel rufen hörte. Doch die Stimme seines Bruders wurde immer leiser und so vernahm er wieder das Wispern.

Diesmal blieb er stehen, um nicht noch einmal einen unbedachten Schritt zu machen.

Angestrengt lauschte er und ja – er hörte Worte, Stimmen.

---ENDE DER LESEPROBE---