Der Recke von Calmarck 2 - Orson McLight - E-Book

Der Recke von Calmarck 2 E-Book

Orson McLight

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Beschreibung

Das grausige Kapitel um die Sklavenstadt Raduhn hat Dank Eikes Bestrebungen ein gutes Ende gefunden. Doch zum Ausruhen bleibt keine Zeit. Im Land der Zauberer warten neue Gefahren und ungeahnte Mächte, die sich mit dem Kriegshammer des Ewigen Ritters kaum bändigen lassen. Zusammen mit dem griesgrämigen Bodo von Zolten und der besonnenen Rosa Rabental muss sich Eike auf eine unglaubliche Reise begeben. Denn es geht um nichts Anderes als das Überleben von Hildlin. Und dann ist da noch eine kleine, freche Möwe, die im Schatten eines goldenen Raben ihr Geheimnis offenbart ... Der Funke des Silbermantels ist der zweite Band aus der Reihe »Der Recke von Calmarck«.

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Der Recke von Calmarck 2

TitelWiedergeborenDie Stimme der TotenUnerwarteter BesuchElf WindeDer Drache und die ZauberinAschtehDie KathedraleGranelEine Möwe für alle FälleDer VerflosseneDie Suche nach GeysirDie alte ZauberinDie Aufzeichnungen des RabenDas reine IchDer Funke des SilbermantelsDie Ruhe vor dem SturmDas ImperiumSaerdezis HerzDer letzte FunkeDie RettungFlamme und SteinSeemänner und MonsterVerlorenes ErbeEpilogDanksagungImpressum

Orson McLight

Der Recke von Calmarck II

Der Funke des Silbermantels

Fantasy

Wiedergeboren

Voller Elan flogen die Fensterläden auf und drohten aus den Angeln gerissen zu werden. Im letzten Moment griffen Hände nach den Läden, um zu verhindern, dass sie beschädigt wurden.

Eike war erleichtert, dass er in seiner überschwänglichen Morgenlaune nichts zerstört hatte. Er wagte einen Blick aus dem Fenster und die Sicht aus dem dritten Stock eines Gasthauses konnte fast nichts toppen. Von hier aus hatte er einen wundervollen Überblick über Raduhn – die Stadt, die er mit vielen anderen tapferen Kämpfern, vor einem Jahr von der Sklaverei befreit hatte. Seitdem lebte er hier, um ein Teil des Neuanfangs zu sein. Und um zu bekräftigen, dass die Sklaverei hier keinen Platz mehr hatte.

Obwohl er die morgendliche Ausschau über Raduhn genoss, es sein Herz höher springen ließ, wie die Stadt sich entwickelte, wandte er sich dem Inneren seiner Kammer zu. Am vorherigen Abend hatte ein Bote einige Nachrichten für ihn gebracht, aber er war zu müde gewesen, um sich damit zu beschäftigen. Ausgeschlafen und frisch gestärkt, konnte er seiner Neugier nun freien Lauf lassen. Ungeduldig nahm er sich dem Stapel Papier an.

Der erste Brief in seinen Händen, stammte von seinen Eltern, die er seit vielen Jahren nicht mehr gesehen hatte. Eike fürchtete manchmal schon das Gesicht seiner Mutter oder seines Vaters vergessen zu können. Umso erfreulicher war es zu lesen, dass auf dem elterlichen Pachthof alles nach Plan verlief. Das Schreiben wollte er später beantworten.

Hastig brach er versiegelte Pergamentrollen auf, überflog Zeilen, um sich schnell dem nächsten Schrieb zuzuwenden. Floskelbehaftete Briefe hätte er am liebsten gleich im Feuer verbrannt, aber die Etikette verlangte von ihm Antworten zu verfassen – meistens höfliche Absagen. Seitdem er in Raduhn war, kursierte sein Name in aller Munde. Für adlige Herrschaften Grund genug mit ihm Kontakt aufzunehmen. Einige hatten ihm sogar die Hand ihrer Töchter angeboten. Menschen, deren Namen er noch nie gehört hatte. Naja, er hatte es nicht eilig zu heiraten. Nachdem er die Grußformel des letzten Briefes gelesen hatte, breitete sich Enttäuschung in seinem Herzen aus. Es war so ein großer Stapel gewesen und von ihr war schon wieder kein einziges Blatt Pergament dabei.

Voller Sehnsucht erwartete Eike eine Antwort von seiner Freundin Hildlin, die in der Hauptstadt Lavasteen lebte. Ihre letzte Begegnung war schon ein Jahr her, seitdem hielten sie Briefkontakt.

Wenn doch endlich mal eine Antwort von Hildlin kommen würde, dachte er und kämpfte mit einem Kloß im Hals. Drei Schreiben hatte er an sie verfasst und keines davon war erwidert worden, die letzte Nachricht von Hildlin lag mindestens schon drei Monate zurück. Wenn nicht sogar vier! Sonst hatte sie ihm immer rasch geantwortet.

Langsam machte Eike sich ernsthafte Sorgen um ihr Befinden. War ihr etwas zugestoßen? Oder war sie gar verärgert über ihn? Nachdenklich versuchte er sich an etwas Anstößiges oder Beleidigendes in einem der vorangegangenen Briefe von ihm zu erinnern. Nein, da war nichts, was sie in Aufruhr hätte versetzen können.

Vielleicht war sie einfach zu beschäftigt, um ihm zu antworten. Immerhin war sie eine Leibwächterin der Königin – das bedeutete viel Arbeit und einige Pflichten, die man an keinen anderen abtreten konnte.

Über seinen Schatten springen und einen vierten Brief aufsetzen, konnte Eike jedoch auch nicht, obwohl er es gerne getan hätte. Aber er wollte nicht penetrant erscheinen. Ja, das musste es sein. Seine letzten drei Briefe waren zu aufdringlich, zu fordernd gewesen und Hildlin wollte einfach etwas Abstand gewinnen.

Gemächlich tauchte er eine Feder in ein Tintenfass und beantwortete lieber das Schreiben an seine Eltern. Was gab es Spannendes zu berichten? Als er zu lange innehielt, tropfte ein großer Klecks Tinte auf das Pergament. »Ach, Mist!«

Warum fiel ihm das Schreiben heute so schwer? Ganz einfach – es lag an Hildlin. Sie war Großteil seiner Gedankengänge und nichts von ihr zu hören, bereitete ihm nicht nur Enttäuschung. Schließlich musste er sich schon lange etwas eingestehen: Er liebte Hildlin.

Bei ihrer letzten Begegnung war es ihm gar nicht bewusst gewesen, erst als sie voneinander getrennt waren, schlich sich die junge Ritterin in sein Herz. Wie so oft, wenn er an sie dachte, schlug ihm sein Herz bis zum Hals. Genau deshalb war das Ausbleiben von ihren Schreiben so schmerzhaft für ihn.

Ob sie von seinen Gefühlen wusste und deshalb nicht mehr antwortete? Nein, woher sollte sie das auch wissen? Zu keinem Menschen hatte Eike jemals ein Wort gesagt oder eine Andeutung gemacht. Seine Empfindungen behielt er lieber für sich, gerade auch, weil er nicht wusste, ob Hildlin überhaupt romantische Gefühle für ihn hegte.

Er rügte sich selbst. Wie konnte er von Hildlin verlangen, die viele Tagesreisen entfernt von ihm wohnte, dass sie ihn liebte? Er war nur ein Freund für sie. Das war aber immerhin etwas. Und diese Freundschaft war ihm wichtig. Der Knoten in seinem Kopf platzte und Zeile für Zeile füllte sich das Pergament.

So wie es üblich war, versiegelte er den Brief an seine Eltern mit einem Wachssiegel. Jetzt musste er sich aber beeilen. Es standen einige Termine auf seinem Tagesplan. Sein Morgenritual beinhaltete ein Treffen mit einer altgedienten Ritterin, die ihm das Kämpfen noch näherbrachte. Eine Lehrerin warten zu lassen, ziemte sich nicht, erst recht nicht für den Recken von Calmarck. Außerdem fand heute im Rathaus eine wichtige Sitzung statt, die er auf keinen Fall verpassen durfte.

Kaum hatte er die Herberge Zur neuen Sonne, in der er ein schönes Zimmer bewohnte, verlassen, stürzte das bunte Treiben von Raduhn über ihn herein.

Überall waren fleißige Handwerker damit beschäftigt die einst heruntergekommene Stadt wiederaufzubauen. Arbeiter zogen Grundmauern an Stellen hoch, wo vor wenigen Monaten noch baufällige Ruinen gestanden hatten. Fuhrwerker scheuchten ihre mit Maultieren und Eseln bespannten Karren durch die Gassen und lieferten in einem niemals endenden Strom Baumaterialien ab. Balken, Steine, Stroh, Lehm und Werkzeuge wurden an jeder Ecke benötigt.

An jedem Morgen das gleiche Bild und doch kam Eike über diese Emsigkeit immer wieder ins Staunen. Früher war dies ein Ort gewesen, an dem Menschen gegen ihren Willen geknechtet worden waren. Inzwischen wandelte sich Raduhn jeden Tag mehr zum Positiven. Nirgends lauerten mehr Söldner, welche die Sklaven kritisch beäugten, um diese eventuell bestrafen zu können. Die traurigen, eingefallenen Gesichter waren verschwunden. Kein einziger Mensch mehr, der mit Unrecht an anderen seine Brötchen verdiente. Niemand musste mehr Hunger und Durst leiden.

Die Verbrechen, die hier vor nicht allzu langer Zeit täglich begangen worden waren, gehörten zum Glück der Vergangenheit an. Seither hatte Raduhn sogar viele neue Einwohner gewonnen, die ihre Hoffnungen und Träume in das aufblühende Städtchen legten. Auf dem Festland vor der Stadt gediehen die Felder und einige Höfe waren aus dem Nichts errichtet worden. Seifensieder, Kerzenzieher, Schneidermeister, Böttcher, Bierbrauer, Schuhmacher, Stellmacher. Sie alle waren nach Raduhn gekommen. Eine Idylle war entstanden, an die niemand jemals geglaubt hätte.

Dauernd verließen kleine Kutter den erneuerten Hafen, um Fische zu fangen, die noch am selben Tag geräuchert und dann auf dem Marktplatz verkauft wurden. Und seit kurzem wagten sich sogar reisende Händler in die Stadt, die seltene Ware feilboten. Gute Geschäfte wurden auf beiden Seiten geschlossen. Raduhn konnte sich schneller in den Rest von Calmarck integrieren, als gedacht.

Es gab niemanden, der zufriedener über diese Entwicklung sein konnte, als Eike. Immerhin war er derjenige gewesen, der den Stein ins Rollen gebracht hatte. Die Wende hatte viele Leben gekostet. Trotzdem war die Rückeroberung Raduhns aus den Fängen der Sklavenhändler richtig. Und notwendig.

Als er durch die Gassen ritt, seufzte er erleichtert. Die Erinnerung an das Sklavenparadies war nämlich immer noch da. Pfähle, an denen früher die Sklaven wie Hunde angekettet waren, dienten fortan, um Pferde festzumachen, wenn sie nicht gleich schon komplett demontiert waren. Die kleinen Abwasserkanäle, die die Fäkalien oberirdisch durch die Stadt gespült hatten, waren größtenteils unterirdisch verlegt worden, damit niemand durch den Gestank mehr belästigt wurde. Für die Notdurft gab es nun Latrinen, die jeder besuchen durfte, wann er musste. Gerüche von körperlichen Ausscheidungen suchte man in den Straßen vergebens. Stattdessen war die Luft nun geschwängert von Meersalz und dem Duft von angespülten Seetang.

Fast zwei Drittel von Raduhn waren wiederaufgebaut und das restliche Drittel würde nicht mehr lange auf sich warten lassen. Überall arbeiteten Handwerker, besonders die Zimmermänner und Maurer waren mit Sanieren der beschädigten Häuser beschäftigt. Die Steinmetze und Holzfäller kamen kaum mit der Nachlieferung an Materialien hinterher.

Gerade ritt Eike an einem noch baufälligen Gebäude vorbei. Mehrere Männer zogen an einem Seil eines Flaschenzugs, an dessen Ende ein dicker Dachbalken befestigt war.

Der Holzkoloss schwang Eike bedrohlich entgegen, als er mit seinem Pferd Schwarzhammer die Stelle passieren wollte.

»Vorsicht, junger Silbermantel!«, warnte ihn die Stimme eines Arbeiters und im letzten Moment konnte er Schwarzhammer aus der Gefahrenzone lenken.

Junger Silbermantel. Nach den ganzen Monaten, die er in Raduhn verbracht hatte, war es immer noch schwer sich an diese Förmlichkeit zu gewöhnen. Obwohl er sie mehrmals täglich in seinen Ohren klingeln hörte. Meistens musste er darüber schmunzeln und warf dann einen Blick zu seinen Schultern, auf denen der blaue Umhang lag. Jeder Mann, jede Frau und jedes Kind in Raduhn wussten, was er geleistet hatte. Was er allerdings wirklich war, dass er den Platz des Ewigen Ritters einnahm, davon wussten nur seine engsten Vertrauten.

Er spürte in seinem Herzen jedes Mal Stolz brennen, wenn jemand ihn mit Silbermantel oder Herr ansprach. Er war doch gerade erst achtzehn und unter normalen Umständen, wäre er jetzt noch ein Knappe. Es herrschten aber keine normalen Umstände.

Wehmütig dachte er an seinen verstorbenen Herrn, den Silbermantel Wolfram von Tannewick, zurück. Immerhin saß Eikes Hintern auf dessen Pferd und an seinem Gürtel baumelte ein Kriegshammer, der ebenfalls einst seinem Herrn gehört hatte. Wäre Wolfram noch am Leben, hätte Eike sich niemals getraut sich auf dessen Pferd zu setzen oder gar ungefragt den Kriegshammer zu berühren. Immerhin war er stets ein gehorsamer Knappe gewesen.

Nun war er kein Ritterdiener mehr, sondern ein Silbermantel. Sicherlich war es nicht schlecht der Besitzer von Schwarzhammer zu sein und seine Knappschaft beendet zu haben. Wenn Eike die Wahl gehabt hätte, hätte er es allerdings vorgezogen, dass der alte Ritter noch am Leben gewesen wäre. Dann wäre er selbst immer noch ein Lehrling, würde im Kampf unterrichtet werden und jede Aufgabe erledigen, die man ihm auftrug.

Seine neue Situation hieß nicht, dass er minder beschäftigt war. Er nahm die Überwachung des Wiederaufbaus von Raduhn persönlich in die Hand, natürlich mit Unterstützung von anderen Silbermänteln und den bereits erwähnten Handwerkern. Alleine hätte er nämlich nicht viel ausrichten können. Ein Projekt dieser Größenordnung zu bewältigen, bedeutete vor allem dieses auf mehreren Schultern zu tragen, anderen das Vertrauen dafür zu schenken.

Neben den ganzen Aufgaben in der ehemaligen Sklavenstadt, vergaß Eike sich selbst aber nicht. Er war noch jung und musste einiges lernen. Deshalb traf er sich jeden Morgen mit der Ritterin Luisa Hering. Sie war kein Silbermantel, dennoch besaß sie eine Fähigkeit, die seine Aufmerksamkeit geweckt hatte.

Er lenkte Schwarzhammer zu einem kleinen Hinterhof und stieg ab. Sofort packte er seinen Kriegshammer und spürte die Magie seiner Waffe durch den Körper fließen. Keinen Moment zu spät.

Aus einer schwer einsehbaren Ecke sprang Luisa auf ihn zu, aufeinanderprallendes Eisen erzeugte ein klirrendes Geräusch. Die Ritterin gehörte zu den wenigen Menschen, die es beherrschten mit einem Kriegshammer zu kämpfen. Ihre Waffe sah mitgenommen aus, das zeugte von bestandenen Kämpfen und unermüdlichen Übungsrunden.

Von den Übungsrunden konnte Eike ein langes, schwermütiges Lied singen, denn bis jetzt hatte er es noch nie geschafft Luisa zu besiegen. Zwar lag auf seinem Kriegshammer ein Zauber, doch solange er diesen nicht einsetzen wollte, war die Waffe wie jede andere. Es war auch nicht Sinn und Zweck des morgendlichen Trainings die Kräfte des Ewigen Ritters zu nutzen. Außerdem fürchtete er, er könne Luisa ernsthaft verletzen, sie gar töten, wenn er der Magie freien Lauf ließ.

Seine Lehrerin dachte in eine ganz andere Richtung. Meistens legte sie so viel Elan in das Training, wie bei einem richtigen Kampf. Strohpuppen zum Üben? Fehlanzeige! Blaue Flecken und blutige Schrammen sollten einen daran erinnern, besser zu werden und nichts auf die leichte Schulter zu nehmen.

»Du hast diesen Schlag ausgezeichnet pariert«, lobte Luisa, die trotz ihrer Unnachgiebigkeit, ein freundliches Wesen besaß. Dieses Wesen wurde nur durch eine lange Narbe getrübt, die sich von ihrem Nasenbein bis zu ihrem rechten Ohrläppchen zog und ihr ein mürrisches Aussehen verlieh. Ein nettes Andenken aus einem großen Kampf, mochte man denken, dabei war die Ritterin als junges Mädchen lediglich unglücklich mit dem Gesicht nach vorne eine Treppe hinuntergestürzt. Mit dem einstigen Missgeschick ging sie offen um, sie versuchte erst gar nicht irgendeine heldenhafte Geschichte mit der Narbe zu verknüpfen.

Luisa war eine der wenigen Menschen, die Eike ohne höfliche Form ansprach, schließlich war er als Silbermantel ihr eigentlich überstellt – aber sie waren schlichtweg Freunde.

»Trotzdem wirst du mich nicht besiegen!«, änderte Luisa ihr Lob in eine Feststellung. Sie drehte sich um die eigene Achse, um einen immensen Schwung zu holen.

Eike rollte sich zur Seite ab und holte tief Luft. Die Waffe von Luisa zischte an ihm vorbei. Manchmal dachte er, seine Trainingspartnerin wollte ihn tatsächlich umbringen. Bei solch einer Attacke war es am besten einen Gegenangriff zu starten und den Gegner in die Verteidigung zu zwingen. Also preschte er hervor und versuchte auf Luisas Kopf einzudreschen. Wer austeilen konnte, musste auch einstecken. Wäre jemand anderes sein Trainingspartner gewesen, hätte er nicht mit solcher Härte gekämpft. Eher hätte er es sogar bewusst vermieden, auf dessen Kopf zu zielen. Luisa und ihre Reflexe kannte er inzwischen so gut, dass er wusste, auf diese Weise konnte er keinen Treffer landen. Tatsächlich wich sie geschickt aus und rammte ihm dann den Stiel ihrer Waffe in die Magengrube.

Schon seit eh und je landete Luisa genau dort einen Treffer, Eike spürte es kaum noch, hatte er doch zuvor seine Muskeln angespannt, um die Attacke abzufedern.

»Mich macht es echt traurig, dass du nicht mal mehr stöhnst«, spielte Luisa enttäuscht.

Darauf erhielt sie keine Antwort, denn Eike rammte sie mit der Schulter voran und brachte sie so zu Fall. Einen Angriff wie diesen hatte er bei Luisa noch nie gewagt und war umso erstaunter, dass sie resignierend liegen blieb. »Du bist mutiger geworden, den Sieg für heute hast du dir verdient.«

Für Eike war es ein bisschen unbefriedigend, es schien fast ein geschenkter Sieg zu sein. Dennoch schob er seinen Kriegshammer zurück in seine Gürtelschlaufe und reichte Luisa die Hand. Während er sie hochzog, rammte sie ihm die Faust in den Bauch. Ihre Augen blitzten verschlagen auf und doch hatte sie es nicht böse gemeint. Dieses Mal war er unvorbereitet gewesen und ließ einen großen Seufzer entweichen.

»Ob du daraus was lernen wirst?«, grinste Luisa frech.

Eike schalt sich selbst. Sein Gegenüber kannte er nun schon einige Monate und Luisa war nicht der Typ für einfache Kämpfe, geschweige denn halbe Sachen. Bevor sie ihn freiwillig zum Sieger kürte, müsste er ihr eine Hand abhacken oder ein Bein ausreißen.

»Den Hieb werde ich bestimmt nicht vergessen«, gestand er und rieb sich verlegen über seinen Bauch. Ihre Schläge konnten ganz schön wehtun, wenn er nicht darauf vorbereitet war.

Nachdenklich blickte Luisa zum Himmel. Die Sonne zog langsam gen Mittag. »Du solltest dich beeilen, oder willst du die anderen Silbermäntel warten lassen?«

Stimmt ja! Heute war ein weiterer Wendepunkt in der Geschichte Raduhns. Da Eike oder die Silbermäntel nicht auf alle Ewigkeit die Aufpasser für die Stadt spielen sollten, musste sie in würdige Hände übergeben werden. Die Bürger waren aufgerufen worden Vorschläge zu erbringen, um einen Stadtrat aus fünf Mitgliedern zu erstellen. Es durfte sich dabei nicht um Herzöge oder andere Adelige handeln, die alleine schon durch ihr Geburtsrecht Grund und Boden besaßen.

Nein, der Rat sollte aus ganz gewöhnlichen Bürgern aus Raduhn bestehen, die nach bestem Gewissen für die Stadt agieren sollten. Jemand von außerhalb durfte nicht gewählt werden, ebenso wenig Bürger, die sich nicht am Wiederaufbau beteiligten.

Diese Regelung musste getroffen werden, um diejenigen zu belohnen, die nach Raduhn gekommen waren und sich mit dem Wiederaufbau abmühten, ohne zu wissen, ob die ganze Plackerei am Ende einen Ertrag brachte.

Wenig später stieg Eike von Schwarzhammer ab und befestigte die Zügel an einem Pfahl. Für das Wohl des Pferdes war in Form einer randgefüllten Tränke gesorgt. Zum Abschied gab er dem Pferd einen Klaps auf den Hals.

Das Gebäude, vor dem Eike nun stand, war das Rathaus. Zu Sklavenzeiten war das ebenerdige Bauwerk die Unterkunft für Söldner gewesen. Aufgrund des weitläufigen Grundrisses lag es nahe, es nun für Sitzungen zu nutzen, an denen viele Einwohner teilnehmen konnten. Hier sollten zukünftig nicht nur Entscheidungen für die Stadt getroffen, sondern auch die Probleme der Bürger erhört werden – ein zweckmäßiger Kreislauf, der Missgunst und Missbrauch verhindern sollte.

Im Inneren gab es nur einen Raum – eine große Halle. An den Wänden hingen schöne Banner mit dem Stadtwappen, welches erst vor kurzem neu entworfen worden war. Ein Hirsch, der in Bezug des Königshauses ein wichtiges Symbol war, und eine Welle teilten sich das blaue Stück Stoff. Die Schneider in Raduhn hatten gut damit zu tun, das Stadtwappen auf Mäntel, Waffenröcke, Fahnen und Banner zu sticken. Längst hatten die Einwohner ihr Wappen ins Herz geschlossen und wollten offen zeigen, welche Stadt sie ihre Heimat nannten.

An langen Tafeln saß ein Pulk von Silbermänteln, die vor sich einen Schwung von Zetteln liegen hatten. Eifrig wurde in Papieren geblättert und sich Notizen dazu gemacht.

»Wie steht es mit der Auszählung der Stimmen?«, erkundigte sich Eike, ohne sich gezielt an eine der anwesenden Personen zu wenden.

Die Männer und Frauen sahen auf. Einer von ihnen, ein greiser Silbermantel mit schneeweißem Bart und wuchtigen Augenbrauen gleicher Farbe, nahm sich seiner Frage an. »Edler Eike. Wir sind soeben mit der Auszählung fertig geworden. Die fünf zukünftigen Ratsmitglieder stehen fest und meiner Einschätzung nach, sind diese fünf die beste Wahl.«

Edler Eike. Bevor Eike weitere Hintergründe erfragen konnte, überlegte er, ob er den Fehler von dem Weißbärtigen korrigieren sollte. Eike mochte zwar ein Silbermantel sein, aber er war nie zum Ritter geschlagen worden, was ihm den Titel des Edlen beschert hätte. Da in der Regel aber nur Ritter zum Silbermantel ernannt werden konnten, schien die Ansprache irgendwie doch rechtmäßig. Andersrum war es dann aber auch irgendwie falsch. Er war tatsächlich ein besonderer Einzelfall.

»Bitte«, versuchte Eike dieses Missverständnis aus der Welt zu räumen. Bevor ihn noch jemand beschuldigte, sich diesen Titel zu Unrecht angeeignet zu haben. »Nur Eike. Der Titel Edler gebührt Männern wie Euch, Edler Konstantin.«

Der Angesprochene schüttelte verlegen den Kopf. Konstantin Hermsknecht sah keinen Unterschied zwischen sich selbst und dem jungen Silbermantel vor ihm. »Bei den Gebeinen meiner Mutter, Euch gebührt dieser Titel wie jedem anderen hier. Macht Euch um den fehlenden Ritterschlag keine Sorgen. Schließlich war es die Königin selbst, die Euch zum Silbermantel ernannt hat. Niemand, der bei Verstand ist, würde Euch den Makel des fehlenden Ritterschlags ankreiden. Ihr habt Euch durch Eure Taten verdient gemacht. Jeder weiß um Eure Großtat und bei allem Respekt, wer Euch das Edler verwehrt, gehört in den Kerker gesperrt.«

»Danke, Edler Konstantin«, rutschte es Eike heraus. Dann sollte man ihn eben wie einen Ritter ansprechen und auch wer es nicht tat, würde dadurch keinen Nachteil erfahren. Um auf so einer Förmlichkeit rumzureiten, war er nicht der Typ. »Wo waren wir stehengeblieben?«

»Der zukünftige Stadtrat.«

»Ja. Erzählt mir mehr darüber. Mich interessiert es brennend, wer in das Gremium gewählt wurde.« Für Eike war es ausgesprochen wichtig zu erfahren, wer die Geschehnisse in Raduhn lenken würde. Seine Mission hier sollte bald beendet sein. Dennoch wollte er die Stadt nicht verlassen, ohne zu wissen, in welche Hände er sie legte.

Konstantin wühlte in den Papieren herum, bis er schließlich eine fein säuberliche Auflistung in den Händen hielt. »Also. Nach sorgfältiger Auszählung gehören dem Rat an: Kornelia Emmerich. Soweit ich weiß, kam sie aus Lavasteen und hat dort als Gelehrte Schüler im Schreiben, Lesen und Rechnen unterrichtet. Direkt nach der Befreiung, hat sie ihren Wohnsitz hierher verlegt.«

»Jemand, der junge Menschen unterrichten kann. Sehr gut.«

Konstatin fuhr fort. »Dann die Geschwister Michael und Martha Hornauge. Michael bewirtschaftet einen der neuen Bauernhöfe vor Raduhn, Martha arbeitet als Hebamme. Sie haben beide eine kurze, aber prägende Zeit als Sklaven verbracht.«

»Zwei, die dem gemeinen Volk angehören und das Unheil selbst miterlebt haben. Bis jetzt ist die Mischung ausgewogen. Es ist wichtig, dass jemand im Rat sitzt, der sich an die schlechte Zeit erinnert. Genauso habe ich es mir vorgestellt.«

»Der Name des vierten Mitglieds ist nicht minder erfreulich. Ulmar Rorsch. Er war Hauptmann der Stadtwache von Croitz und befehligt nun die Soldaten in Raduhn.«

»Croitz? Davon habe ich noch nie gehört«, musste Eike zugeben. Calmarck war ein weitläufiger Kontinent. Alle Ortschaften zu kennen, war schier unmöglich.

Der weiße Bart von Konstatin räusperte sich. »Croitz ist eine ziemlich kleine Hafenstadt im Norden und geht neben Metropolen wie Hanse oder Altruh unter. Dennoch möchte ich die Verdienste von Ulmar Rorsch nicht schmälern. Er war sogar nach Lavasteen berufen worden, zog es aber vor in Croitz zu bleiben.«

»Ein bodenständiger Mann«, frohlockte Eike. »Und wer ist das fünfte Ratsmitglied?«

Ein unglaublich breites Lächeln zuckte durch Konstantins Gesicht. »Der letzte Name wird Euch kaum überraschen, denn es ist Eurer.«

Da täuschte sich Konstatin aber gewaltig. Mit jedem Namen hätte Eike gerechnet, aber doch nicht mit seinem eigenen. Um seine Überraschung in Zaum halten zu können, ließ er sich auf den nächsten Stuhl plumpsen und legte schockiert eine Hand auf sein Herz. »Mich haben sie gewählt? Ich bin doch nur ein Junge!«

»Ihr wisst, dass das nicht stimmt«, begehrte Konstatin auf. »Ohne Euch würden wir jetzt nicht in dieser Halle stehen. Nein, dann würden hier stinkende Söldner sich zur Ruhe betten, Schnaps trinken und darüber nachdenken, wie sie die nächste unehrenhafte Münze verdienen könnten.« Der alte Silbermantel holte weiter aus. »Ein Blick aus den Fenstern würde Euch Sicht auf arme, gequälte Seelen geben und zugleich auf Menschen, die sich daran freudig ergötzen! Die Scheiße stand in dieser Stadt kniehoch. Also sagt nicht, dass Ihr nur ein Junge seid!«

Eike stand von seinem Stuhl auf, ging zum nächsten Fenster und spähte hinaus. Was Edler Konstantin sagte, mochte vielleicht stimmen und dennoch konnte er die Wahl der Bürger nicht annehmen. »Ich habe bereits eine Entscheidung getroffen. Sobald der Rat steht, werde ich Raduhn verlassen.«

Nun war es Konstantin, der völlig überrascht war. »Was? Die Bürger brauchen Euch. Sie sehen voller Dankbarkeit zu Euch auf und möchten, dass Ihr sie führt. In niemanden wird größeres Vertrauen gesetzt.«

Eike legte dem Mann, der etwas größer als er selbst war, die Hand auf die Schulter. »Ich habe meine Pflicht erfüllt. Sagt mir den Namen, der nach mir auf der Liste steht.«

Edler Konstantin gehorchte. »Karl Unrad. Er ist nichts weiter als ein Totengräber.«

»Dann wird er jetzt ein Totengräber sein, der im Stadtrat sitzt.«

Ein Mann mit unehrenhaftem Beruf im Stadtrat. Für Eike schien das kein Problem zu sein, für sein Gegenüber umso mehr.

»Edler Eike! Ich weiß, die Bürger haben diesen Mann selbst gewählt. Aber was sollen denn Fremde vom Stadtrat denken? Die Mitglieder repräsentieren nicht nur Raduhn, sondern auch einen Teil von Calmarck. Ich glaube kaum, dass sich Adelige mit einem Totengräber an einen Tisch setzen. Stadtgeschäfte könnten ein Konfliktpotenzial bieten.«

Eike musterte den Silbermantel von oben bis unten. »Was sie denken sollen? Das kann ich ihnen wohl kaum vorschreiben. Aber ich hoffe, dass sie alle Menschen als gleich ansehen, und sich an die Wiedergeburt der Stadt erinnern, und sie die alten Fehler nicht noch einmal begehen. Ihr werdet doch in Raduhn bleiben, Edler Konstantin?«

»Natürlich«, gestand der weißhaarige Silbermantel ein. »Ich habe mir bereits ein Heim für mich und meine Familie errichtet.«

»Dann verlasse ich mich ganz auf Euch.« Das Grinsen in Eikes Gesicht war selbstsicher. »Sollte jemand Karl Unrad nicht respektieren, werdet Ihr dafür sorgen, dass er in die Schranken gewiesen wird. Egal, ob die Zunge eines Bauern oder eines reichen Kaufmanns den Totengräber verhöhnt. Es wird Eure Aufgabe sein das zu bewahren, was wir geschaffen haben. In Raduhn herrscht ab sofort der Stadtrat und ein jeder hat dessen Mitglieder zu respektieren!«

»Ja, Edler Eike«, gehorchte Konstantin.

Die Stimme der Toten

Eike band ein größeres Bündel an Schwarzhammers Sattelknauf fest. Darin befanden sich alle Habseligkeiten des jungen Silbermantels. Viel besaß er nicht, aber hätte er diese Dinge in Raduhn zurückgelassen, würde er sie bald schon schmerzlich vermissen. Inzwischen hatte er viele Andenken aus der Stadt gesammelt. Das meiste waren Geschenke aus Dankbarkeit und Freundschaft.

Wehmütig blickte er zurück zu der Behausung, die ihm das letzte Jahr Unterschlupf geboten hatte. Sein Zimmer hatte er besenrein verlassen, um es für den nächsten Bewohner vorzubereiten. Der alte Verwalter des Gasthauses würde die Kammer im Nu neu verpachten, eventuell würde er dafür sogar etwas mehr Geld verlangen. Langsam aber sicher wurden gute Unterkünfte in Raduhn knapp. Gerüchte besagten, dass sich zwei Kaufmänner wegen eines Grundstücks am Hafen ständig überboten. Sie wollten dort eine Gastanlage mit zahlreichen Unterkunftsmöglichkeiten errichten, um diese dann natürlich teuer zu vermieten.

Eike zog sich auf den Rücken von Schwarzhammer hoch und spornte den Rappen zu einem leichten Trab an. Allzu hektisch, so als sei er auf der Flucht, wollte Eike Raduhn nicht hinter sich lassen. Edler Konstantin gehörte zu den Wenigen, die überhaupt wussten, dass er die Stadt verließ. Auf lange und traurige Abschiedsszenen hatte Eike nämlich überhaupt keine Lust. Also wollte er einfach durch das Stadttor reiten, die lange Brücke zum Festland überqueren und sich klammheimlich wie ein Staubwölkchen verdrücken.

»Guck mal, Mama!«, sagte ein Knirps, der an der Hand seiner Mutter hing. »Da ist der Junge mit dem Hammer!« Das Kind machte keinen Hehl daraus, dass es Eike bewunderte. Es winkte ihm fröhlich zu, obwohl die Mutter es zur Ordnung aufforderte. Das Kind ließ sich kaum beruhigen und die Mutter knickte nun höflich. Fast schon schämte sich Eike dafür, dass manche Leute ihn mit solcher Ehrfurcht begegneten. Er winkte freundlich zurück und zwinkerte dem Kind zu. Das Kapitel Raduhn sollte am Abend dieses Tages für ihn abgeschlossen sein.

Wo ihm am Vortag noch ein großer Balken entgegenschwang, besaß das Gebäude nun einen Dachstuhl, der noch mit Schilf oder Schindeln eingedeckt werden musste. Eike konnte es sich recht gut vorstellen, wie das Haus einmal aussehen würde, wenn es fertig wäre. Schließlich hatte er den Großteil des Wiederaufbaus Tag für Tag miterlebt. Ein Teil von ihm würde nie vergessen, wie aus Ruinen etwas wunderbares Neues entstand.

Trotz der Absicht Raduhn ohne Aufsehen zu verlassen, wagte er noch einen Abstecher. Nicht um einen Krug Met zu trinken oder ein letztes Essen zu genießen. Es gab eine Tradition, die er mit seinem Verlassen der Stadt unweigerlich brechen würde.

Jeden Tag hatte er diesen Ort aufgesucht, um sich zu erinnern, um neue Kraft zu tanken oder einfach nur um zur Besinnung zu kommen.

Ziemlich nah am Marktplatz, gab es einen kleinen Hinterhof. Hochbeete waren dort mit Maiglöckchen und Klatschmohn bepflanzt. So einen blühenden Ort gab es sonst in Raduhn nicht, da fast jedes grüne Fleckchen zugepflastert war. Aber das Besondere an diesem Ort war nicht das Stückchen geschaffene Natur.

Zwischen den Hochbeeten stand ein Mahnmal, um all das Schlechte nicht zu vergessen, was einst hier geschehen war. Seitdem es errichtet worden war, hatte es Eike jeden Tag hierher verschlagen.

Die Stimme der Toten.

An einem hölzernen Gestell hingen drei kupferne Glocken über einem alten Brunnenschacht. Während die Glocken glänzten und in aller Neuheit strahlten, sah der Schacht dagegen aus wie ein Relikt aus der schlechten Zeit. Zwischen dem Gemäuer des Brunnens wuchsen Moose und Farne. An einigen Stellen war sogar der Mörtel herausgebrochen, ein Wunder, dass die Steine noch hielten. Jemand mit Verstand hätte es vermieden sich gegen die kleine Brunnenmauer zu lehnen. Glocken und Brunnen bildeten einen starken Kontrast zueinander. Hoffnung und Verderben nah beieinander. So wie es vor nicht allzu langer Zeit Wirklichkeit gewesen war. Die einen labten sich am Leid und die anderen litten Höllenqualen.

Eine Glocke erinnerte an die Sklaven, die nicht mehr die Gelegenheit hatten, Freiheit zu erfahren. Die Zweite stand für die Befreiten, die einst Opfer des Unrechts gewesen waren, jedoch gerettet werden konnten. Und die Dritte stand für die Sklavenfänger, als Mahnung es nie wieder zu tun.

Eike trat an das Denkmal heran und zog an einem Seil. Die Glocken läuteten und die dumpfen Klänge waren in der ganzen Stadt zu hören. Manche Köpfe von fleißigen Handwerkern lauschten dem Mahnmal und sie hielten währenddessen die Arbeit an. Genauso sollte es auch sein. Solange sich die Menschen an das erinnerten, was einmal gewesen war, würde es nicht wieder passieren.

»Die Toten dürfen nicht schweigen«, kam es Eike über die Lippen und für einen innigen Moment dachte er an die Seelen, die die Wiedergeburt der Stadt nicht mehr miterleben konnten. Er hätte es allen gegönnt. Zumindest ein letztes Wiedersehen mit Freunden und Familien, um selig sein Ableben bestreiten zu können.

Er spürte einen Schlag auf seinen Hinterkopf und geriet ins Straucheln. Mit beiden Händen umklammerte er das Gestell der Glocken, was sicherlich besser war, als den Brunnenrand ungewollt einzureißen und in die Tiefe zu stürzen. Er drehte sich um. Vor ihm stand Luisa, die immer noch die Fäuste geballt hatte.

»Du willst die Stadt verlassen?«

Nicht mal von Luisa wollte sich Eike verabschieden. Leider hatte sie von seinem Vorhaben gehört und sie sah nicht sehr erfreut darüber aus. Konstantin war also vielleicht ein kleiner Schwätzer, sonst wusste nämlich eigentlich niemand von seinen Plänen.

»Kein Grund mich so feige von hinten zu attackieren«, gab Eike etwas trutzig von sich, während er sich den Hinterkopf rieb. Er spürte, wie sich eine große Beule bildete. Solch ein Andenken hätte er lieber nicht mitnehmen wollen.

Nun folgte eine Kopfnuss auf die Stirn. »Ist es so vielleicht besser?«

»Komm schon, Luisa. Wir sind keine Kinder mehr, die schmollen, wenn etwas anders läuft als gewünscht.«

»Erklär mir jetzt bloß nicht wie erwachsen dein Verhalten ist«, geiferte sie. Die große Narbe in ihrem Gesicht glühte vor Wut. »Welcher gestandene Kerl macht sich auf und davon, ohne sich zu verabschieden? Hast du dich mit einer Hure vergnügt und nicht bezahlt? Oder warum willst du ohne ein Wort verschwinden?«

Betreten sah Eike zu Boden. In diesem Moment fühlte er sich tatsächlich wie ein Hurenpreller. Konnte Luisa seine Beweggründe überhaupt verstehen? Bevor er sich jedoch noch einen weiteren Schlag einfing, versuchte er sich ehrlich zu erklären. »Ich wollte nicht, dass die Leute reden. Sie sollen nicht denken, ich hätte kein Interesse mehr an Raduhn.«

»Genauso sieht es aber aus, wenn du einfach gehst.«

»Es gibt keinen besseren Zeitpunkt als jetzt. Luisa, sieh dich einmal um. Raduhn ist im Aufwind, die Menschen sind glücklich und zufrieden. Sie brauchen mich nicht mehr.«

Ganz nachvollziehen konnte Luisa das nicht. »Glaubst du das wirklich? Selbst wenn du es glaubst, erklärt das nicht deinen geheimnisvollen Abgang.«

»Solange ich still gehe, wird es niemand merken. Die Menschen sind beschäftigt und das ist auch gut so. Kannst du mich nicht ein bisschen verstehen?«

Jetzt war es Luisa, die aussah, als hätte sie eine Hure um den Lohn geprellt. Eikes Anwesenheit war lange eine moralische Stütze für die Einwohner Raduhns gewesen, wenn er mit Posaunen verkündete, dass er ging, würde manche Säule der Hoffnung unweigerlich einreißen. Die Bewohner mussten irgendwann selbst merken, dass sie auch ohne ihn zurechtkamen und es ihre Arbeit war, die aus Raduhn etwas Großartiges machen konnte.

»Und wen soll ich dann tagtäglich schinden? Gegen ausgestopfte Puppen zu fechten, macht wirklich keinen Spaß.« Luisa drückte Eike an sich und strich ihm über den Kopf. Da sie einige Jahre älter als er war, durfte sie sich die fürsorgliche Geste erlauben, ohne dass man sie Glucke schimpfte.

»Beim nächsten Wiedersehen, werden unsere Hämmer sich kreuzen und Funken fliegen«, versicherte Eike. Von Luisa hatte er wirklich viel gelernt, wofür er ihr sehr dankbar war. Eventuell würde er sogar einen geschickteren Mentor finden, obwohl er kaum glaubte, dass es noch viele kriegshammerschwingende Recken gab. Das Schwert war seit Ewigkeiten die Waffe für jeden Kämpfer.

»Bis dahin werde ich mich wohl mit den Knappen der Ritter die Zeit vertreiben«, seufzte Luisa mit gespielter Wehleidigkeit. Solange sie jemanden zum Quälen hatte, würde sie Eikes Abwesenheit ohne ein Tränenvergießen überstehen.

Eike lächelte. »Sie werden froh sein, wenn sie mal mit jemand anderen Trainieren können als mit ihren eigenen Herren. Einige der Knappen habe ich die letzten Monate immer in Begleitung der Handwerker gesehen. Sie haben geholfen, wo sie konnten. Aber langsam müssen sie wieder ihren ursprünglichen Weg einschlagen, sonst wird es uns in kommender Generation an fähigen Rittern mangeln.«

»Nur, weil ich ihnen mit meinem Kriegshammer den Arsch versohle, werden aus ihnen bessere Soldaten? Glaubst du das wirklich? Mir wurde schon viel Honig ums Maul geschmiert, aber das ist mit Abstand …«

»Halt einfach den Mund, Luisa.« Noch nie hatte Eike einer Respektperson den Mund verboten. Seine Freundin war vielleicht nicht die allergrößte Kämpferin in Calmarck, dafür aber eine ehrliche Haut und treue Seele. Wenn jemand junge Menschen auf den richtigen Weg führen konnte, dann sie. Keinem ihrer Schützlinge würde sie auch nur einen Hauch schenken, sie würden sich alles verdienen müssen. Nach einer letzten herzlichen Umarmung ging er zu seinem Pferd und nahm die Zügel in die Hand.

»Du machst tatsächlich ernst«, kommentierte sie sein Handeln. »Nun steig schon auf. Du hast das Vertrauen, dass Raduhn ohne dich zurechtkommt, also habe ich das auch. Ich werde die Glocken läuten, damit du nicht vergisst, was du zurücklässt.«

Kein Blick zurück. Es gab nur den Weg nach vorne. Während Eike den Marktplatz, das Stadttor und die Brücke hinter sich ließ, erklangen Glockenschläge in seinem Ohr. Die Stimme der Toten würde nicht sterben.

Unerwarteter Besuch

Die letzten Worte, die Eike an Edlen Konstantin gerichtet hatte, blieben ihm noch Wochen im Kopf. Er hatte sie mit Mut und Überzeugung ausgesprochen – wie hätte Konstantin ein einziges Gegenargument aufbringen können? So war es also beschlossen, dass der Stadtrat aus einer Gelehrten, einem Bauern, einer Hebamme, einem Hauptmann und einem Totengräber begründet wurde.

Nur die Königin selbst besaß die Macht Ratsentscheidungen zu revidieren, was sie aber nicht tun würde, da sie hunderte Kilometer entfernt in Lavasteen regierte und nur eingreifen würde, wenn der Rat seine Macht missbrauchte. Davon war erst mal nicht auszugehen.

Nach mehreren Wochen des Reisens, war Eike an dem Ort eingekehrt, der als Rückzugsort für den Ewigen Ritter bestimmt war. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger, wollte er diesen Ort nicht für sich alleine nutzen. Schließlich war der Gutshof groß genug, um mehreren Knechten und Mägden Arbeit zu geben und so dem ganzen Leben einzuhauchen. Das lange Jahr, welches er in Raduhn verbracht hatte, war sein Hof nicht ungenutzt geblieben.

Drei Knechte und drei Mägde, sowie einen Verwalter hatte er eingesetzt. Diese hüteten das Vieh, bestellten die umliegenden Felder und kümmerten sich um den Erhalt des Wohngebäudes, des Stalls und der Scheune.

Als Eike nach einem Jahr Abwesenheit wieder eintraf, war er sprachlos. Den einst runtergekommenen Hof erkannte er nicht mehr wieder. Um den Hof war eine Umzäunung errichtet worden, damit Hühner und Gänse genug Auslauf hatten, und gleichzeitig vor hungrigen Füchsen oder aufdringlichen Staubgeistern geschützt waren. Der Stall, den früher nur ein einzelnes Maultier bewohnt hatte, beherbergte nun mehrere Schweine und sogar zwei Rinder. Eike überlegte sogar noch ein Ackerpferd zu kaufen, welches den Hofbewohnern die Arbeit erleichtern sollte. Platz gab es genug.

Schwarzhammer ließ sich von einem blühenden Gemüsegarten ablenken und knabberte an einigen Blättern. Nach den Tagen des Reisens, verdiente der Rappe sich die Belohnung. So stieg Eike ab und überließ das Gemüse den gierigen Pferdelippen. Überschwänglich wurde der junge Hofherr von seinem Verwalter Eugen Erdich begrüßt.

»Herr!«

»Eugen«, entgegnete Eike, weniger hochjauchzend und reichte seinem Hofverwalter die Hand. »In meiner Abwesenheit hat sich ja einiges getan. Ich bin mehr als zufrieden. Wenn ich mich an den Tag erinnere, als ich das letzte Mal hier war. Kein Vergleich.«

Eugen reagierte eher etwas zurückhaltend auf das Lob. »Nun alles hatte auch seinen Preis.«

»Was meint Ihr damit?«

»Nun.« Eugen stotterte ein wenig. »Wir haben das Budget etwas überschritten. Herr, es tut mir leid, aber das Dach musste repariert werden, spätestens mit dem Verkauf der Herbsternte werden die Münzen zu Eurer Zufriedenheit in Eurer Tasche klimpern.«

Bevor Eugen als Verwalter bei Eike eingesetzt worden war, war er bei einem feinen Herrn tätig gewesen. Ganz genau wo, konnte Eike sich nicht mehr entsinnen, es musste jedoch ein strenger Haushalt gewesen sein, wo Fehler mit körperlicher Züchtigung bestraft wurden. Deshalb war es nicht verwunderlich, dass Eugen nun dastand, als würde er eine saftige Ohrfeige erwarten.

Seinem Verwalter eine zu verpassen, kam Eike gar nicht in den Sinn. Sollte das Budget überschritten worden sein, es war es wert. Genauso und nicht anders hatte er sich den Ort seiner Einkehr vorgestellt. »Gute Arbeit, Eugen. Wie geht es den Angestellten? Sind alle wohlauf?«

Eugen, der immer noch eine Bestrafung erwartete, kroch nur langsam aus seinem Schildkrötenpanzer heraus. »Ja, es geht Ihnen hervorragend. Die junge Maren wird bald heiraten und uns leider danach verlassen. Dafür wird mit dem Beginn der Ernte eine andere Magd zu uns stoßen. Ich habe bereits alles veranlasst.«

Tiefgründiger würde dieses Gespräch wohl nicht mehr werden, im Moment konnte Eike auch nicht mehr erwarten. Seine Angestellten kannte er nur oberflächlich und noch hatte er zu wenig Kontakt zu ihnen, damit sie ihn richtig einschätzen konnten. Denn er war keiner dieser ausbeuterischen Herren, die ihren Zorn an den Bediensteten ausließen. Sein Ziel war ein freundlicher Umgang mit den Menschen auf dem Hof. Jeder sollte hier gerne leben und zufrieden sein, damit auch er sich wohlfühlen konnte.

»Kümmert Euch bitte um Schwarzhammer«, wies Eike an und schielte zu seinem Pferd. Der Rappe war immer noch dabei den Gemüsegarten zu roden und es wäre schade gewesen, wenn davon am Ende nichts im Kochtopf landete. »Es wäre sinnvoll, wenn in den nächsten Tagen ein Hufschmied sich um neue Beschläge kümmert. Ich muss zugeben die Eisen hätten schon längst ausgetauscht werden müssen.«

Gehörig nickte Eugen. »Natürlich. Ich könnte Bernd oder Seibert mit Schwarzhammer ins nächste Dorf schicken. Dann hätte Euer Pferd noch heute die neuen Beschläge.«

»Nein«, wiegelte Eike ab, so eilig war es dann auch wieder nicht. »Es reicht, wenn Ihr den Hufschmied die nächsten Tage herbestellt. Ich mag es, wenn Menschen auf dem Hof sind.«

In der Tat war Eike froh, dass Eugen, die Knechte und die Mägde hier waren. Nach einem Jahr in Raduhn war er es gewohnt, Menschen um sich zu haben und diese Nähe wollte er nicht missen.

Mit Wolfram war er früher immer von einem Ort zum anderen gereist, dazwischen lagen Durststrecken der Einsamkeit. Nicht, dass Eike die Zweisamkeit mit Wolfram verurteilte, aber irgendwann war man auch froh neue Gesichter zu sehen und wenn es nur bei der Einkehr in einem Gasthaus dazu kam.

Voller Vorfreude stolperte er in die Wohnstube, wohlgemerkt bot sie nur ihm Unterkunft. Eugen und die anderen teilten sich zwei Kammern über dem Stall. Männlein und Weiblein streng getrennt natürlich.

So groß die Vorfreude auch war, sie wurde Eike gleich wieder genommen. Die Wohnstube war genauso, wie der vorherige Bewohner sie verlassen hatte. Falkmar, Wolframs Vater und der Ewige Ritter vor Eike, hatte hier viele Jahre zusammen mit Azra verbracht.

Ein Portrait an der Wand, welches Falkmar mit seiner Familie vor ewigen Zeiten zeigte, ließ Eike nachdenklich werden.

Was wäre wohl, wenn der Held von Calmarck gar nicht mehr gebraucht wird? Dann wäre dieser Hof Eikes letzte Station.

Der Hof war mehr, als er sich als Kind erträumt hätte. Er war selbst Sohn von Bauern, die einen gepachteten Hof bewirtschafteten und somit Lehnsherren dienten. Trotzdem. Das konnte nicht alles sein. Eike atmete aus. Der Wiederaufbau von Raduhn war fast abgeschlossen und jetzt war er hier, um sich zu erholen. Irgendwo würde es schon eine Aufgabe für ihn geben. Wenn nicht, dann … ja, was dann?

Dann blieb ihm nichts Anderes übrig als ein ganz normales Leben zu führen. Eine Frau zu suchen, mit ihr eine Familie zu gründen und das zu tun, was jeder Mann tun sollte. Eigentlich hörte sich das doch gar nicht schlecht oder gar verwerflich an. Nicht jeder konnte von sich behaupten, einen Hof mit Angestellten zu besitzen.

Eine Frau suchen. Dabei gab es schon eine Frau, der sein Herz gehörte. Die Auserwählte wusste nichts von seinen Gefühlen, wie denn auch, wenn sie sich über ein Jahr nicht mehr gesehen hatten? Schon wieder dachte er an Hildlin und seine unbeantworteten Briefe.

Er öffnete sein Gepäck, damit er seinen wichtigsten Besitz sicher verstauen konnte. Das Wertvollste, was er besaß, waren die Briefe von Hildlin. Jetzt musste er schon wieder eine Antwort finden, warum er keine Nachricht von ihr erhielt. Vielleicht … der Gedanke war so grausig, aber vielleicht gab es längst einen anderen Mann in Hildlins Leben. Lavasteen war eine große Stadt, und eine hübsche Frau wie sie, musste sicherlich nicht lange warten, um von einem ebenso ansehnlichen Mann ein Angebot zu bekommen. Im königlichen Palast war sie umgeben von höfischen und bedeutsamen Männern, denen keine Frau widerstehen konnte.

Über diese Möglichkeit mochte Eike gar nicht nachdenken, dabei musste er sich schnell selbst eingestehen, dass er keinen Einfluss darauf nehmen konnte, wenn es tatsächlich so wäre. In seinen Gedanken spielte sich eine Szene ab, die sein Herz zusammendrückte. Ein Geck knickste vor Hildlin und versetzte sie mit seiner Geste in volle Entzückung. Daraufhin gingen sie Arm in Arm ihres Weges.

Für Eike gab es nur eine Erkenntnis: Es war einfach keine gute Idee sich in eine Frau zu verlieben, die so weit weg war. Manchmal, an Tagen voller Regen und grauem Himmel, flüchtete er sich in die Hoffnung, dass Hildlin sich auch in ihn verliebt hatte. Dass sie vor einem Fenster saß und glaubte, die Regentropfen an der Scheibe würden sein Gesicht formen. Oder dass sie mit ihren Fingerspitzen kleine Herzen im Staub zeichnete, während sie an ihn dachte. Unbewusst zeichnete er den Anfangsbuchstaben ihres Namens mit dem Zeigerfinger an der Wand. Schluss damit!

Seine Selbstermahnung nahm sich Eike nicht lange zu Herzen. Heimlich, so als würde er etwas Verbotenes tun, zog er den letzten Brief von Hildlin aus einem Stapel Papier. Er roch an dem Pergament, strich über das gebrochene Wachssiegel und konnte nichts gegen seinen beschleunigten Herzschlag unternehmen. Er verzichtete darauf den Brief erneut zu lesen, es würde nichts an der Situation ändern. Wehleidig verstaute er den Brief mit den anderen in einer Holztruhe und ging dann zum Fenster, von dem aus er Eugen beobachtete, der Schwarzhammer striegelte. Der Hof würde noch eine ganze Weile ohne ihn auskommen, vielleicht wäre es eine gute Idee Lavasteen einen Besuch abzustatten. Natürlich in erster Linie wegen Hildlin, in zweiter Hinsicht wegen Azra, die Königin und eine Art Mentorin für ihn war. Jedenfalls gab es genug Gründe diese Reise anzutreten, ohne ein auffälliges Handeln vermuten zu lassen. Wobei. Belog er sich nicht selbst dabei? Und wenn schon! Er war verliebt! Unglücklich verliebt. Eingestehend verwarf er den Gedanken nach Lavasteen zu reisen. Wenn Hildlin ihn auch nur halb so annähernd vermisste wie er sie, hätte sie ihm längst schon geschrieben. Diese Erkenntnis war bitter.

Die Eingewöhnungsphase als Hofherr verging zäh wie alter Leim. Eike fiel es schon schwer als Silbermantel seinen Platz zu finden, nun als Oberhaupt eines Hofes zu fungieren, fiel ihm noch schwerer, da es niemanden gab, zu dem er aufblicken konnte. Eine Azra an seiner Seite hätte er dringend benötigt.

An einem trübsinnigen Vormittag, es schüttete wie aus Kübeln, sodass die Knechte und Mägde gezwungen waren Arbeiten in den Hofgebäuden zu verrichten, änderte sich Eikes Leben erneut mit einem Schlag.

Während die Mägde damit beschäftigt waren Früchte für den Winter einzumachen und die Knechte kleinere Reparaturen im Stall erledigten, kam Eugen aufgeregt in die Wohnstube geplatzt. Inzwischen hatte der Verwalter des Hofes verstanden, dass Eike kein strenger Herr war und vergaß deshalb auch des Öfteren anzuklopfen.

»Herr!«, verkündete der pitschnasse Verwalter aufgeregt, wobei er noch so viel Anstand besaß und Eike niemals bei seinem Vornamen nannte. »Ihr werdet es kaum glauben!«

»Was denn?«, seufzte Eike, der kaum annahm an diesem Tag könnte irgendetwas Interessantes passieren. Er schaute nicht mal von seinem Buch auf, welches vor ihm auf dem Tisch lag. Dabei war Die südlichen Ländereien von Gemarand nicht besonders spannend. Es handelte von einem längst untergegangenen Kontinent, der womöglich nicht mal wirklich existiert hatte.

Von dem nicht vorhandenen Interesse seines Herrn ließ sich Eugen nicht beirren. Er schlug den Wälzer vor Eikes Nase zu, sodass dieser empört aufsah. Bevor Eike sich über die Dreistigkeit seines Angestellten beschweren konnte, frohlockte Eugen: »Seht aus dem Fenster! Hoher Besuch hat sich auf Eurem Anwesen eingefunden, und das bei diesem furchtbaren Wetter!«

»Besuch?« Wer sollte sich schon an solch deprimierenden Tag auf Eikes Hof einfinden? Er erwartete niemanden. Trotzdem folgte er Eugens Aufforderung und sah aus dem Fenster. Als er die blauen Banner im Wind sah, wie sie vom Regen ausgepeitscht wurden, ergriff ihn die Hektik. Auf seinem Hof stand eine prächtige Kutsche, die von zwei Dutzend Silbermänteln zu Pferden begleitet wurde. Das konnte nur die Königin selbst sein! Wenn Azra hier war, dann war auch Hildlin nicht weit.

Ohne weiteres Nachdenken riss er die Tür auf und eilte nach draußen, wo ihm Regentropfen ins Gesicht schnitten. Es dauerte nicht lange, bis seine Kleidung durchnässt war, was ihn aber wenig störte.

Einer der Silbermäntel stieg von seinem Pferd ab und öffnete die Kutsche. Im Inneren mussten sich Azra und Hildlin befinden, so war zumindest Eikes Hoffnung. Obwohl er nicht sehen konnte, wer als erstes aus der Kutsche trat, verbeugte er sich hingebungsvoll und hielt seine Hand hilfsbereit hin. Bei dem miesen Wetter war diese Geste nützlich, so konnte ein Ausrutschen während des Aussteigens verhindert werden. Niemand wollte den Morast näher kennenlernen und sich zum Gespött der Anwesenden machen.

Anstatt einer zarten Frauenhand, ergriff eine kräftige Pranke Eikes Hilfe. Obwohl der Hofherr von dem festen Griff überrascht war, war er auch einem gestandenen Silbermantel dabei behilflich, damit dieser ohne Schaden aus der Kutsche aussteigen konnte.

»Wo ist der Hofherr?«, bellte der unbekannte Silbermantel, der aus der Kutsche ausgestiegen war. Suchend blickte er umher. Die nächste Aussage brachte dem Fremden keine Sympathiepunkte ein. »Es schickt sich nicht einen Knecht vorauszuschicken. Dazu noch einen ohne Schirm.«

Eikes Antwort kam zähneknirschend. »Ich bin der Hofherr! Vergebt mir, hätte ich gewusst, wen ich heute auf meinem Anwesen begrüßen darf, hätte ich mich wohl besser vorbereiten können. Mit wem habe ich das Vergnügen?«

Die grauen Augen des Unbekannten musterten Eike argwöhnisch. Arroganz. Hochmut. Respektlosigkeit. Diese drei Eigenschaften fielen dem Hofherrn als erstes ein. Dann endlich stellte sich der unsympathische Kerl vor.

»Mein Name ist Bodo von Zolten.« Die Information kam äußerst kühl herüber, er gab sich kein bisschen Mühe für etwas Freundlichkeit. Doch es wurde sogar noch frostiger. »Eigentlich sollte jemand wie Ihr wissen, wer ich bin. Immerhin bin ich ein Beschützer der Königin.«

Der da ist ein Beschützer der Königin? Eike konterte geschickt. »Ebenso solltet Ihr wissen, dass ich kein Knecht bin. Immerhin bin ich der Eigentümer dieser bescheidenen Ländereien und dazu noch ein Freund der Königin!« Der Hofherr ließ es sich nicht nehmen, seinen Konter genauer auszuführen. »Ein sehr enger Freund. Falls Ihr meinen Namen vergessen habt, Eike Kreuzdeck.«

Bodo zog die Mundwinkel nach unten. Touché! Eike hatte ihn mit den eigenen Waffen geschlagen.

Anstatt sich mit dem Hofherrn zu streiten, gab Bodo den Reitern Befehle und demonstrierte somit, welcher der Ritter das Oberkommando hatte. »Seht zu, dass ihr ins Trockene kommt.« Mit scheuchenden Bewegungen führte er die Reiter zum Stall.

Für Eike blieb zum Glück keine Zeit sich lange über Bodo von Zolten zu ärgern. Erwartungsvoll stierte er in das Innere der Kutsche. Wenn ihn nicht alles täuschte, musste als nächstes Hildlin aussteigen, da die Königin sich immer zuletzt aus ihrem Reisegefährt wagte. Doch leider wurde das Fünkchen Hoffnung Hildlin bald wiederzusehen jäh zerschlagen.

Anstelle seiner guten Freundin trat ein weiterer, fremder Silbermantel aus der Kutsche heraus. Im Gegensatz zu Bodo, kannte Eike diese Person. Gut, persönlich hatte er Rosa Rabental noch nicht kennengelernt, aber er war schon in den Genuss gekommen, sie in einem Turnier kämpfen zu sehen.

Sie war eine spindeldürre, zierliche Frau, deren Erscheinung über ihre Fähigkeiten hinwegtäuschte. Freundlich verbeugte sich die Ritterin und nickte Eike mit einem verhaltenen Lächeln entgegen. »Edler Eike.«

»Edle Rosa. Geht ruhig schon in den Wohnbereich. Es brennt ein Feuer im Kamin, die Sessel sind recht gemütlich.«

Beide zollten sich den Respekt, wie es sich die Silbermäntel untereinander mit einem Eid geschworen hatten. Auch wenn man sich noch nie persönlich getroffen hatte, galt immer die Wahrung des Anstandes. Zum Glück schien nur Bodo über diese Gepflogenheit hinwegzusehen. Nicht auszudenken, was für ein chaotischer Haufen die Silbermäntel wären, wenn niemand Regeln und Prinzipien zu schätzen wusste.

Eikes logischer Verstand vermittelte ihm eine Nachricht: Die Kutsche bot für vier Personen Platz. Folglich musste jetzt Hildlin das Gefährt verlassen. Doch als die Königin ausstieg, verfiel er in eine Starre der zerstörten Hoffnung.

Wo ist sie? Er legte seinen Kopf schräg und stierte ins Innere der Kutsche. Da war niemand mehr. Dabei war Hildlin doch eine Leibwächterin der Königin! Sie musste dabei sein!

Seine Gedanken kreisten so intensiv um seine Freundin, dass er sogar vergaß Azra beim Aussteigen behilflich zu sein.

Deshalb wurde er von Bodo zur Seite gedrückt, der fürsorglich der Königin aus dem Wagen half. Der Silbermantel warf Eike einen vorwurfsvollen Blick zu. »Tölpel.«

Sofort geleitete Bodo die Königin zur Wohnstube, damit sie nicht allzu nass wurde.

Die Reiter kamen in den Kammern der Knechte und Mägde unter. Das Hofpersonal wiederum musste für die Zeit des hohen Besuchs in der Scheune unterkommen. Solange es dort trocken war, störten sie sich an diesen Umständen jedoch nicht.

Wie es sich gehörte, bot Eike der Königin, Rosa und Bodo, eine Unterkunft in seinem Wohnbereich an. Wobei es ihm wirklich nicht gefiel mit Bodo unter einem Dach zu nächtigen.

Bodo und Rosa wärmten sich am Kamin, während Eike mit Azra am großen Esstisch saß. Vorsichtig wandte er sich in einem Flüsterton an seine Freundin. »Wer zum Henker ist dieser Bodo von Zolten? Muss ich überhaupt jemals von ihm gehört haben?«

»Ich weiß Eike, er ist ein bisschen mürrisch«, versuchte Azra die gute Seite von Bodo zum Vorschein zu bringen, »aber er ist ein ehrbarer Mann und das ist eine Eigenschaft, die man sich mit keinem Geld der Welt erkaufen kann, und die ich sehr an ihm schätze.«

»Er ist ein Riesenarschloch«, rutschte es Eike heraus, wobei er sich nicht sicher war, wie nah Bodo Königin Karlena stand, deren Rolle Azra nun schon seit einem Jahr innehatte. Es konnte ja genauso gut sein, dass Bodo auch ein Freund von Azra war.