Der Regulator und ich - Peter J. Gnad - E-Book

Der Regulator und ich E-Book

Peter J. Gnad

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Beschreibung

Eigentlich ist Hans Maier ein ganz unauffälliger Typ. Er ist Journalist, man kennt ihn, aber dann, man kennt ihn eben doch ganz und gar nicht. Ich bin ja nur sein Freund und Gefährte über die Jahre, sein späterer Mitwisser. Aber das hätte niemand ahnen können, was da im Dunkel schlief... Ich erzähle ja nur, was er mir aufgezwungen hat, es ist eigentlich sein Buch, nicht meines ! Es ist mehr als bemerkenswert, eher schon sensationell, was dieser Hans Maier alles erlebt und daran sein Teil gehabt hat. Mir jagte es, beim Lesen, Schauer über den Rücken. Diese, seine Geschichte musste erzählt werden, so wie er selbst es auch wollte.

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Seitenzahl: 438

Veröffentlichungsjahr: 2020

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"There are more things

in Heaven and Earth,

than are dream't of

 in your Philosophy."

William shakespeare

Verlag: EPUBLI GmbH, Berlin
ISBN: 978-3-752990-28-7
Copyright by :  © 2020, Peter J. Gnad
Umschlaggestaltung, Illustrationen,
Fotos vom Autor selbst
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, ohne Zustimmung des Verlages und des Autors, ist unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Der Regulator

und ich

Roman

von

Peter J. Gnad

Peter J. Gnad
Bücher:
"Echtes Gulasch"
"Querverkehrt"
"Bin in Afghanistan"
"Kreiss-Lauf"
"Der Regulator und ich"
I
"Was wäre, wenn ich dir sagte, dass ich ein Mörder bin, was würdest du von mir denken?  vielleicht dass ich gar nur ein gemeiner Verbrecher wär' ?"
Mein Gesichtsausdruck musste sowohl Neugierde, als auch Verwirrung widergespiegelt haben, mein Gesprächspartner trug nun ein leicht amüsiertes Lächeln um den Mund, sah mich hintergründig an, so als ob er sich einen Jux machen wollte. So sah er immer aus, wenn er jemand aufs Glatteis führen wollte, ich kannte diesen Gesichtsausdruck – meistens mündete das in eine humoristische Kapriole.
"Du kennst mich zwar besser, als alle Anderen – aber du hast dennoch keine blasse Ahnung und ich denke, das ist auch gut so."
Ich schüttelte den Kopf in schierem Unglauben, das konnte nur ein Scherz sein, ein Wortspiel wahrscheinlich, nicht umsonst war er ein Spezialist in Sachen Sprache. Ich grinste ihn an, meinen alten Freund, der mich in diesem Moment wohl gerade veräppeln wollte.
"Ich mache einen geradezu mörderischen Job…"
"Jajaaa... das weiß ich, gibt es sonst noch irgendetwas Neues ?" - ich blökte amüsiert, lachte ihn geradeheraus an. Der Mann, der diese dann doch so bedeutsamen Worte gesprochen hatte, sah ganz und gar nicht so aus, als ob er seiner Beschreibung gerecht werden könnte. Vielmehr wirkte es schon fast ein wenig lächerlich, ein wenig aufgeblasen, anders als er sich  sonst verhielt. Vielleicht war es doch einem Gläschen Rotwein zuviel geschuldet, dass die Zunge seines Freundes sich auf diese Art löste. 
Sein Äußeres ähnelte mehr einem unauffälligen Bankbeamten, körperlich von eher kurzem Wuchs, die randlose Brille auf einer Nase, die vollkommen unauffällig inmitten eines Aller-Welt-Gesichtes thronte. Sein Haar schon etwas schütter, die Augen des kleinen Mannes, blassblau und wässrig, traten gar nicht in Erscheinung, waren kaum wahrnehmbar.
Man nahm ihn insgesamt fast nicht wahr, er schien mit seiner Umgebung zu verschmelzen, trat in keinster Weise hervor. Erst die sonore Stimme, deren Volumen nicht aus des Besitzers Brust zu kommen schien, aber volltönend den Raum erfüllte, erweckte Aufmerksamkeit, dann erst sah man ihn und das nicht ohne Erstaunen, denn diese Stimme war wirklich außergewöhnlich. Der kleine Mann wusste um diesen Umstand, sprach gerade deshalb nur mit ganz leiser Stimme. Er wollte um keinen Preis der Welt auffallen oder irgendwie ins Rampenlicht gerückt werden.
"Das ist schlecht für mein 'Geschäft', die Leute sollen mich am Besten ignorieren, mich übersehen, aber dann... am Abend oder am nächsten Morgen gibt’s wieder eine kleine Überraschung. Ich bin dann schon wieder weg, war gar nie da gewesen, niemand hat mich gesehen, gehört oder gar beobachtet."
Ich betrachtete ihn etwas belustigt, nahm seine Aussagen nicht wirklich ernst, hielt alles noch für eine Art ganz persönliches "Jägerlatein". Er war ja nicht gerade ein Märchenerzähler, oder gar ein Aufschneider, aber immerhin doch im Bereich eines Geschichtenerzählers, schon seines Berufes wegen. 
Ich kannte ihn schon aus Kindertagen, wir waren zusammen in die gleiche Schule, wenn auch nicht immer in dieselbe Klasse gegangen. Erst später, im Gymnasium hatten wir dann ein Jahr lang die gleiche Bank gedrückt, in der letzten Reihe, lauschten gemeinsam den Ausführungen der Lehrerschaft. Oder besser, wir hatten den Ausführungen eben nicht gelauscht, weshalb ich auch, dementsprechend, nur mäßigen Schulerfolg hatte. Hans war ein Naturtalent, er lernte quasi nebenbei, hatte zwar keine guten Noten, aber das war ihm immer egal, er war nie ein Streber gewesen.
Die Schule war ganz einfach nur eine lästige Pflicht, so wie ein Gefängnis, in dem man immer vormittags einsitzen musste, zur Strafe, dass man geboren worden war. Das Leben bestand aus Sorgen und Ärger, Not und Nötigungen, Flucht und Schleichwegen, auf denen man sich gerade so durchwurstelte, ständig in Gefahr.
Wir hatten uns nie gänzlich aus den Augen verloren, auch nach der Schulzeit nicht. Eine gemeinsame, erste große unerfüllte Liebe, die nur Sehnsucht geblieben war, für uns beide, verband uns schon seit den Tagen, wo man sich vor Aufregung noch in die Hosen gemacht hatte.
Die Holde endete dann später mit einem völligen Versager, in einer Ehe, die nie eine wirkliche Ehe geworden war. Wir lachten herzlich, als wir in späteren Jahren einmal darüber sprachen. Wie überhaupt, wir konnten ganz hervorragend miteinander lachen, verfügten über einen geradezu nah verwandten, schwarzen Humor.
"Jetzt sag mal, mein Lieber, wen willst du denn ermordet haben, wann und wo ?"
Die anderen Gäste in der Kaschemme, in der wir gelandet waren, beäugten uns misstrauisch, wir passten nicht in ihr Bild, sie empfanden uns als Fremdkörper, was wir im prinzip ja auch waren.
Besondere Umstände hatten uns hierher geführt, in diese schmierige Säuferkneipe. "Ich weiß, dass sich das jetzt für deine naiven Hörgewohnheiten etwas absurd anhört… aber ebenso absurderweise ist es wahr – dieser Hans Maier, den du so lange schon kennst, ist ein ganz anderer, als du denkst, der ist nicht nur irgendein harmloser Kommentator der Realitäten, in der Zeitung oder im Fernsehen – der ist nicht nur das, als was ihn die heimische Welt kennt…"
"Aha, und was soll ich mir darunter vorstellen, raubst du vielleicht nächtens, spaßeshalber, Banken aus, oder pflanzt du Bomben in Blumenkästen?"
"Ja, sicher, lach du nur… später wirst du große Augen machen, wenn es soweit ist… Ich habe meine Geschichte aufgeschrieben, minutiös und akribisch. Wenn ich allein in meinem Hotelzimmer sitze, habe ich nichts anderes zu tun, nach getaner Arbeit, wo immer ich gerade bin. Also setze ich mich hin und schreibe alles auf, ich will ja, dass die Welt das vielleicht irgendwann erfährt."
Hans Maier, der kleine Mann, saß mit nun blitzenden Augen neben mir. Er fühlte sich ein bisschen in seiner Ehre gekränkt, missverstanden, so wie früher. Genau deshalb war er so geworden, wie er eben geworden war. Niemand hatte ihm jemals irgendetwas zugetraut, er war immer nur das personifizierte Mauerblümchen gewesen. Auch beim Tanzkurs, immer die gleiche Geschichte.
Die Anderen hatten ihre Arme bereits um die anmutigen Körper der jungen Partnerinnen gelegt, versuchten sich an sie heranzumachen. Er, Hans Maier, saß am Rand, wie auf dem Fußballplatz, oder beim Völkerballspiel - er durfte nie mitmachen. Nicht dass man ihn ablehnte oder nicht mochte, er war, ganz einfach, immer zu klein und zu schwächlich gewesen. Man hatte Angst, ihm wehzutun, er wirkte zerbrechlich, woran auch seine fast durchsichtig scheinende Haut beteiligt war, man scheute sich ihn anzufassen, oder einen Ball auf ihn zu abzuschießen.
Eigentlich mochten ihn die Mitschüler, er war immer hilfsbereit gewesen, wenn jemand im  Mathematikunterricht nicht aufgepasst hatte, er erklärte, rechnete, schrieb, kam auch zu Mitschülern nach Hause, wenn es nicht anders ging. Einige verdankten ihm, nur ihm, ihre spätere Abschlussprüfung. Ohne seine Unterstützung, auch unter der Oberfläche, mit Spickzettel oder abschreiben lassen, hätten sie es nicht geschafft. Hans war zwar niemals der Klassenbeste, dafür aber doch immer sehr effektiv gewesen, auch in der Wahl seiner Mittel, auch beim Schummeln, er war immer verlässlich in seinen Leistungen.
Wenn er etwas anpackte, dann klappte das auch. So wie im Chemie-Unterricht – der Lehrer lobte ihn außerordentlich. Einmal brachte er sogar seinen Chemiebaukasten mit in die Schule, zeigte unter großem Gejohle der Mitschüler einige Kunststücke. Es rauchte, stank und leuchtete in allen Farben, ein Spektakel, was die Klasse nur allzu gern als Ablenkung vom Unterricht annahm. Wenn einer der Klassenkameraden nicht weiter wusste, ging er nicht zum Klassenprimus, denn dieser war doch nur ein zu nichts zu gebrauchender trockener Auswendiglern-Streber gewesen, sie fragten Hans um Hilfe.
Ich selbst war in jenem Jahr so schlecht in der Schule gewesen, konnte, wollte mich einfach nicht konzentrieren, meine Eltern ließen sich gerade scheiden, wir hatten ein ständiges emotionales Chaos zu Hause gehabt, sodass ich schließlich die Klasse wiederholen musste. Hans stieg auf, ich wurde nicht versetzt, ich blieb "sitzen". Damit war der gemeinsame Weg in seiner täglichen Kontinuität unterbrochen, aber das hieß nur, dass ich in der Freizeit noch stärker seine Nähe suchte als zuvor. Hans konnte einfach alles, er war ein Multitalent, auf intellektuellem Sektor, er wusste auf alle Fragen vernünftige Antworten, auch wenn er in Wirklickeit von der spezifischen Materie keine Ahnung hatte. Eine zentrale Aussagen, aus diesen Jugendzeiten, machte seine Haltung vollkommen klar.
"Wenn man will, wenn man etwas wirklich-wirklich will, dann klappt das auch, du musst eben nur wirklich wollen, nicht nur so tun als ob, weil dann geht’s ganz sicher schief, was auch immer es ist." Eines der Dinge, die ich von ihm gelernt und im Leben mehrmals bestätigt gefunden hatte, war eben genau das – zu wollen, wenn man will. Hans hatte zweifellos recht behalten, wie so oft und in so vielen Details des Lebens.
Einige Jahre später waren wir durch berufliche Wege getrennt worden – Hans war mit seinen Eltern für ein Jahr in die USA gezogen, um dort zu studieren – ich nahm einen Job im benachbarten Ausland an, musste mich ja um mein eigenes berufliches und auch finanzielles Fortkommen kümmern. Ich beneidete ihn, auch wegen der blonden Mädels am Strand von Malibu, wo er nun seinen "Luxuskörper", wie er sich ausdrückte, in der Sonne rekelte. Meine Eltern, im Gegensatz zu seinen, gehörten eher nur zur unteren Einkommensklasse, Kalifornien war weit weg, musste bei mir ein nur ferner Traum bleiben.
Als wir einander wieder trafen, waren vier Jahre vergangen. Hans war inzwischen zurückgekehrt, lebte nunmehr in München, da, wo alle Wege so gut vertraut sind, wie die eigene Hosentasche.
Ich war zwar nur zu Besuch aus dem Ausland gekommen, streckte aber doch auch meine Fühler aus, hatte mir in der Zwischenzeit wohl ein wenig Heimweh eingefangen. Ich liebäugelte mit der Idee, mir vor Ort Arbeit zu suchen. Es dauerte nicht lange - Hans bot sich an mir zu helfen, einen Job zu finden und seine Verbindungen erwiesen sich als sehr hilfreich. Ohne diese, seine Zirkel, in denen er schon heimisch war, hätte ich diesen guten Job nie bekommen. Es war sein Schubs, der mich auch gleich anfangs schon die Karriereleiter hinaufbeförderte, ein ordentlicher Schubs, der auch finanziell durchaus seine Früchte trug. Schon bald hatte ich mich wieder völlig eingelebt. In der Heimat war es zwar nicht so exotisch, aber dafür eben heimelig und das war ja auch was wert.
Natürlich verbrachten wir in Folge ziemlich viel Zeit miteinander. Ich verweigerte nur den Golfplatz, weil mir das dann doch zu abgehoben erschien, für mich selbst. Ich fühlte mich da nicht wohl, gehörte da nicht hin, das war nicht die Art von Gesellschaft, die ich suchte. Die sprachen über alles, schaumgebremst - cool, calm and collected – nur nicht aufregen, da entgleisen doch nur alle Gesichtszüge und man fängt womöglich noch zu transpirieren an, das war nicht erwünscht. Gespräche hatten – dort – eine gewisse Form einzuhalten – alles andere war verpönt, keine Emotionen, alles gänzlich keimfrei, keine unerwarteten Abweichungen.
"Ja, da hast du schon recht, aber unter anderem, genau dort werden oft die Dinge in Bahnen gelenkt, die du dann erst viel später aus dem Parlament oder von einem Minister hörst, ganz offiziell, über die Medien… Ich muss dort mitspielen können, sonst tappe auch ich im Dunkel – dort spielt die Musik, in der Oper, auf Wohltätigkeitsveranstaltungen oder auch im Puff." "Jetzt sag bloß, du gehst in einen Puff ?"
"Ja, ich war schon mehrmals im Puff, es gibt Schlimmeres auf dieser Welt !"
Hans heiratete auch nie, nicht wirklich. Einmal, für ein paar Monate, hatte er sich breitschlagen lassen, die Tochter eines seiner wichtigen "Freunde" zu ehelichen. Er hatte hauptsächlich aus geschäftlichen Gründen eingewilligt. Die einzige Bedingung, er wollte unbedingt in Bali heiraten.
"Ganz weit weg, damit es keine Fotos und Zeugen gibt, kein Reporter, der vielleicht auch nur zufällig in der Presse darüber schreibt oder dass irgendwer einen Film, ein Video macht, das man dann im Internet findet."
Das Intermezzo hatte auch nicht lange angedauert, Hans blieb ein Fremder im eigenen Haus, das Bett hatte das Ehepaar ohnedies nie geteilt, die Ehe hätte gut und gern auch als "nicht-vollzogen" geschieden worden sein, aber das wäre schon wieder viel zu blamabel gewesen. Die Scheidung verging wie die Hochzeit, in aller Stille. Sie, seine Ehefrau hatte die Scheidung verlangt, weil sie einen neuen Liebhaber, einen der auch im Bett lag, gefunden hatte.
"Ein Kerl, der wenigstens auf ihr Portemonnaie so scharf war, dass er sich deshalb sogar tatsächlich mit ihr im Bett herumbalgte und das auch noch lautstark. Ich war gerade nach Hause gekommen, unerwartet, von einer Reise, da hörte ich ihn röhren, wie einen Hirsch. Das muss ihr mächtig imponiert haben, so sehr, dass sie ihn sogar heiratete, nur einen Monat nach unserer Scheidung. Ich war froh, sehr froh, diese Last wieder los zu sein, beglückwünschte meinen Nachfolger sogar !"
Er grinste übers ganze Gesicht, schelmisch, wie in der Schule, als wir dem Lehrer, gemeinsam, in seinen dicken Lehrer-Ranzen gepisst hatten. Leider war niemand dabei gewesen, der Lehrer musste das Ungemach erst zu Hause entdeckt haben. In der Schule war dieser Vorfall offiziell nie erwähnt worden, zu groß war die Angst des Lehrers, auch nachträglich noch, Grund für gesamt- schulisches, hämisches Gelächter zu werden. Der Lehrer war unbeliebt gewesen, in allen Klassen. Ein alter Nazi, einer jener Brut, die auch noch lange nach der Schulzeit in den Erinnerungen der Schüler präsent blieb.
Mit seiner Erzählung, als er sich, damals, 1944, blutjung, in diesem "mörderischen Vaterlandskrieg", den man auch in Stalingrad kämpfte, nach verlorener Schlacht, zu Fuß auf der Flucht, nach Hause durchschlug. Er war nicht nur ein "Schwein" gewesen, sondern auch noch ein schlechter Lehrer, wir lernten nur ihn zu vermeiden, das aber dafür gründlich.
Er starb, eines Tages auf dem Weg nach Hause, erlitt einen Schlaganfall, am Steuer seines Wagens, so lautete die offizielle Erklärung der Direktion. Ich war zu dem Zeitpunkt nicht mehr Schüler in Hans Klasse gewesen, aber er erzählte mir die Begebenheit, in allen Details. Die Todesursache war nie genau eruiert worden, man gab sich mit den Beobachtungen der Passanten zufrieden. Auch wollte man das Geschehen nicht noch weiter vertiefen, es lieber aus den Köpfen der Schüler wieder entfernen.
Hans hatte ein ganz bestimmtes Lächeln im Gesicht gehabt, als er mir davon erzählte. Nachträglich betrachtet, erschien mir der Tod des Lehrers dann doch etwas seltsam, aber damals, in der Schulzeit, gab es keinen Verdacht. Nach Lektüre seiner Aufzeichnungen und den zugehörigen Belegen, meist in Form eines Zeitungsartikels, oder sogar eines im Internet abrufbaren Videos, das die Vorkommnisse von offizieller Ebene schilderte, war ich mir nicht mehr so sicher, dass es eine "natürliche Todesursache" gewesen war. Aber selbst Hans schilderte den Tod des Lehrers als Unfall, bei dem er mehr oder weniger nur Zuseher gewesen war. An diesem Punkt war sein Weg auch noch nicht vorgezeichnet gewesen - seine Story, eigentlich eine Autobiografie, ließ daran keinen Zweifel. Andererseits, mein Kopf weigerte sich später des Öfteren, alles zu glauben, was ich da las.
War vielleicht alles doch nur ein Märchen, eine Wunschvorstellung, eine Erzählung, ein Roman, eben Jägerlatein gewesen ?
Hans war nicht der Typ, dem man zutraute, einen phantasievollen Krimi zu schreiben, er war eher Realist. Auch in beruflichen Dingen waren es Dokumentation, an denen er arbeitete, nicht Fiktion. Er wirkte immer sehr abgeklärt und unaufgeregt, sachlich und nüchtern und ohne jegliche Ambitionen, die Welt zu belehren, ihr persönliche Botschaften zukommen zu lassen oder sie gar läutern zu wollen.. Er wusste, dass dies sinnlos war. Dennoch gab es da diese ganz persönliche Geschichte, mit dieser bemerkenswerten Entwicklung, weg von kühlen Kommentator, hin zum kalten Täter –  seine "Kräfte", sein Lernen und sein Weg – alles ganz genau geschildert.
Seine Erzählung diente, wenn überhaupt, ja ohnedies nur noch als eine Art von Nachruf. Denn, Hans Maier war zu diesem Zeitpunkt bereits tot. Das stand fest, beglaubigt, von der Polizei in Griechenland, wo das traurige Ereignis stattgefunden hatte.
Ich hatte dann auch bald sein Manuskript in Händen und konnte alles nachlesen.
Sein Leichnam war noch vor Ort, in Kalamata, verbrannt worden. Wozu den Leichnam "nach Hause" transportieren, wenn der Körper auch hierzulande ohnedies nur eingeäschert werden sollte.
Hans Bruder hatte es so verfügt, als einzig verbliebener Verwandter, welcher ja logischerweise auch gleichzeitig Erbe aller Hinterlassenschaften war. Das war nicht unwichtig zu wissen, denn ich würde den Mann vielleicht noch besuchen müssen, um in Hans Unterlagen zu kramen, um weitere Details des Puzzles zusammentragen zu können. Dieses Rätsel musste gelöst werden.
Es gab eine offizielle Trauerfeier, mit einer Quasi-Bestattung, bei der die Urne in einem Bannwald, unter einer alten Eiche, vergraben wurde, ein Gitarrist spielte klassische Musik dazu.
Der Bruder hatte ausgerechnet mich gebeten, doch noch einige salbungsvolle Worte zu sprechen, den Verblichenen noch einmal zu ehren. Was mir nicht leicht fiel, denn ich hatte da ja bereits einen Teil seiner Aufzeichnungen gelesen, wusste genau, dass alles was man hier nun, an seinem Grab sagen konnte, weit von der Wahrheit entfernt bleiben musste. Aber schließlich willigte ich ein, sprach von den intellektuellen Fähigkeiten meines Freundes Hans Maier. Schon in der Schule, aber auch später, auf der Universität, hatte man seine Fähigkeiten bald erkannt. Er promovierte sogar "Sub-Auspiciis", selbst der Bundespräsident war gekommen, hatte Hans die Hand geschüttelt, wie es bei studentischen Sonderleistungen üblich war.
Die Luft in der Kaschemme in der wir saßen war zum Schneiden dick, es roch nach altem Bier und Rauch. Hans trug ein schiefes Grinsen im Gesicht, es wollte  nicht so recht Platz greifen, und eigentlich war da auch nichts zu lachen, die Situation durchaus traurig. Mit einem Mal stand mir vor Augen, dass dies ein Abschied war.
Aber Hans ließ keine Sentimentalität aufkommen, was auch zu verstehen war, denn er brauchte, gerade nun, alles andere, als eine Trauerweide neben sich, die alle ihre trauernden Zweige noch tiefer als sonst sinken ließ.
Noch immer lächelnd sagte er, dass sein Anwalt den Auftrag habe, mir seine Geschichte auszuhändigen, sollte etwas Dramatisches geschehen, er das Zeitliche gesegnet haben.
"Schau, ich bin nicht sonderlich stolz auf die ganze Geschichte… Ich habe meine eigenen Bedenken und Zweifel, aber… ich glaube, das die Geschichte so außergewöhnlich ist, dass man sie dir entweder aus der Hand reißen wird oder dich als Lügner diffamiert - sei vorsichtig damit, überlege gut, was du damit machst."
Ich hatte nur den Kopf geschüttelt, die Hände abwehrend ausgestreckt, war aber dann doch auch neugierig geworden. Wenn Hans sagte, dass die Geschichte eine Sensation sei, dann musste man sich gefasst machen, tatsächlich genau das zu finden. Er neigte nur selten zu Übertreibungen, viel eher schon zum Gegenteil. Er hatte es nicht nötig sich oder den Nachrichtenwert aufzublähen, Eitelkeit hatte noch nie zu seinen Eigenschaften gehört. Ich musste des Öfteren Nachfragen, Details aus ihm herausquetschen, damit ich ein vollständiges Bild einer aktuellen Erzählung erfassen konnte. Nein, Hans war kein aufgeblasener Schaumschläger, wie man sie sonst so oft in dieser Klientel der Journalisten fand. "Journalisten und sonstiges Gesindel."
Hans verzog sein Gesicht zu einer Grimasse, er liebte seine Kollegen nicht unbedingt und schon gar nicht alle. Er verachtete deren billige Oberflächlichkeit, bei der oft kaum tiefer, als gerade noch an der Oberfläche  einer Story gekratzt wurde, die sich aber gerierten, als hätten sie die unteilbare einzig-gültige Wahrheit erfunden.
"Da ist dieser bescheuerte Subkutan-Journalismus, der Leser versteht nie das gesamte Bild, oder schlimmer, die wirkliche Geschichte dahinter, oft ist alles ganz anders... es hängt ja auch vom Medium ab, wem gehört die Zeitung, der Sender - wer zahlt schafft an."
Hans Ansatz war da anders, er recherchierte genauestens, bevor er auch nur die Absicht fassen wollte, aus den ihm vorliegenden Fakten eine Geschichte für die Zeitung oder fürs Fernsehen zu machen. Man bewunderte ihn dafür, in der Redaktion, ganz besonders in den Redaktionskonferenzen, die sich mit Kritik an Artikeln des Vortages befassten. Seine scharfe Zunge war gefürchtet, weil jeder drankommen konnte, niemand war gefeit davor, seinen Spott zu hören zu bekommen. Er konnte einen Artikel Wort für Wort auseinandernehmen, zerlegen und aufzeigen, woran die Geschichte krankte, wo der Autor Fehler, Unterlassungen oder sogar Interpretationen vorgenommen hatte. Ein verbales Fallbeil, das aber Köpfe nicht abschlug, sondern ihnen zu neuem Leben verhalf. Man liebte ihn nicht, das war klar, aber man respektierte seine fundierte Meinung, es war erstaunlich, wie oft er recht behielt, gerade wenn sich Geschichten, über Tage oder Wochen hinweg, weiterentwickelten. Er hatte ein "Nase" dafür, das konnte man nicht lernen, entweder man hatte "es" oder eben nicht, er jedenfalls hatte "es", seine Analysen waren treffend, wie die berühmte Faust aufs Auge.
Es dauerte auch nicht allzu lange, dass Hans Maier des ganzen Kleinkrams einer lokalen Zeitung überdrüssig wurde. Als die ersten Wiederholungen anstanden, sich die Arbeit auch noch in den Details zu wiederholen begann, als es Routine wurde und die sich anfangs noch gegebene Erregung zunehmend in Gähnen verwandelte, begann er nach anderen Wegen zu suchen. Es machte keinen Sinn immer wieder die gleichen oder ähnliche Situation zu beschreiben. Das war vegetierende Langeweile, meist dann auch noch mit Desinteresse gepaart, ganz einfach, weil er ja wusste, was da des Weges kam und auch wusste, was man von ihm, dem "Redakteur" nun erwartete.
"Ich bin kein Diener der bestehenden Strukturen, will nicht teilhaben an der Misere, in die sich die Gesellschaft nun zunehmend hineinmanövrieren lässt, getrieben von den Märkten, vom Konsum und deren Proponenten, den Geldhaien, das sind nicht meine, unsere 'Freunde', das sind Blutsauger, man hat das nur noch nicht so ganz erkannt."
Und wie recht sollte er behalten, er hatte auch die große Krise vorhergesehen, kommentierte sehenden, klaren Auges, das jeweilige Stadium, in dem sich der Fortschritt in Richtung Rückschritt ausbreitete. Alles deutete darauf hin, dass die Gesellschaft wieder zurückgeführt werden solle, in die Abhängigkeit der frühen Jahre des Industriezeitalters – so lautete seine Einschätzung. Natürlich mit anderen Vorzeichen, denn nun ging es nicht mehr um Mangelerscheinungen, zumindest nicht die alten, man wollte neue Mangelerscheinungen erzeugen und es klappte auch.
Aber so weit wollte ich an dieser Stelle nicht vorausdenken, dem Verlauf der Geschichte nicht vorgreifen. Es galt den Weg des Hans Maier nachzuvollziehen, den Teil des Weges zu erklären, den wir gemeinsam, als Freunde gegangen waren und was er anschließend machte, warum er es machte, wie er es machte. Er lebte ein Doppelleben, in den Augen der Welt würde er als Verbrecher gesehen werden, darüber hegte ich schon nach anfänglicher Lektüre seines Manuskriptes keine Zweifel mehr. Seine direkte, gleichlautende Aussage, die er auch ein bisschen humoristisch verbrämte, begleitet von einer Grimasse, in komödiantischem Ton vorgebracht, in der Kaschemme in der wir damals saßen, war nicht geeignet gewesen mich zu überzeugen. Ich dachte, es sei einer seiner schwarzen Scherze, als er andeutete, dass er quasi  ein Triebtäter sei, aber wenigstens "edelmütig", weil er ja eben nicht aus niedrigen Motiven handelte.
Ich hatte dabei mehr an seine berufliche Tätigkeit gedacht, dass er Menschen medial "hinrichtete", aber nicht im wahrsten Sinne des Wortes, sondern nur mit seinen Kommentaren, Artikeln in der Zeitung, Berichten im Fernsehen.
Später wusste ich, dass Hans sich ganz korrekt ausgedrückt hatte. Es war nicht gelogen gewesen, die Andeutungen die er machte, bewahrheiteten sich gnadenlos. Aber schon allein das Wort "Mörder" konnte in diesem Fall nicht so ganz genau, im Sinne eines Straftäters angebracht werden. Ja, sicher, Hans hatte einige Menschen auf dem Gewissen, wenn er denn diesbezüglich ein Gewissen hatte. Mitleid kannte er jedenfalls nicht, wenn er sich einmal für eine Aktion entschieden hatte, ein Opfer ausgewählt war.
"Diese Leute haben ihr Recht auf Leben verwirkt, sie haben so viel Unglück über andere gebracht, dass ihre Beseitigung wie eine Operation anzusehen ist. Das ist eine sozio-sanitäre Angelegenheit, bei der der Volkskörper von dem ihn am Leben bedrohenden Subjekt befreit wird, wie ein Krebsgeschwür, extrahiert. Ich sehe mich mehr als Sanitäter, als einen Straftäter, man müsste mich geradezu belohnen, für diesen Dienst an der Allgemeinheit !" schrieb er, erklärend in seinem Text.
Einmal, aber nur einmal, in seinem Manuskript, verwendete er auch selbst die schwarzhumorige Formulierung, dass er wohl eher als "Rächer" angesehen werden wollte. Hans Maier zauderte oder verzagte nicht, er tat was er glaubte tun zu müssen, nämlich die Welt von so manchem gemeingefährlichen Zeitgenossen zu erlösen.
Nie, zu keinem Zeitpunkt, während seiner "aktiven Zeit", hatte ich gewusst, was Hans machte, dachte eher, dass er in der großen weiten Welt herumfuhr und da und dort mit der Untersuchung von Situationen, dem Beobachten, als Zaungast befasst war. Auf diesem Feld hatte er sich auch bereits einen Namen gemacht, man lud ihn immer wieder ein - auch durchaus zweifelhafte Charaktere, Despoten, wollten von ihm interviewt werden, genau von ihm und nur von ihm. Es schien etwas absurd.
Nach seiner Zeit bei der Zeitung wechselte er das Medium, hin zum bewegten Bild, der übliche Weg, von der Redaktion eines Printmediums, hin zum Fernsehen. Da war das Feld breiter, er war auch nicht mehr in der Lokalschiene gefangen, nun ging die Arbeit auch über die Landesgrenzen hinaus.
Ich hörte seine Begeisterung, als er sein "neues Medium" pries, er war euphorisiert, anfangs, wie bei jeder neuen Sache die er anpackte. Wir trafen einander nicht mehr so häufig, allein schon deshalb, weil Hans ein nunmehr unstetes Leben führen musste. Heute da, morgen dort und wenn man glaubte, er war da, war er bereits wieder fort.
"Das Beste an dieser Arbeit ist, dass ich dabei so viele Menschen kennenlernen kann und damit erweitern sich natürlich auch meine Möglichkeiten…"
Wieder trug er dieses etwas süffisante, spöttische Lächeln im Gesicht, ich konnte es damals noch nicht richtig deuten. Wahrscheinlich resümierte er in solchen Sekunden manche seiner Erlebnisse. Er sprach manchmal etwas nebulös von "Erlebnissen", die er nie genau definierte, ich dachte lange, dass er nur seine Begegnungen mit bekannten Persönlichkeiten oder seine Reisen und damit verbundene Begebenheiten meinte. Weit gefehlt, wie ich mir am Ende eingestehen musste.
Der Abend in der Kaschemme, als Hans das bedeutungsschwangere Geständnis ablieferte, war das letzte Mal, dass ich ihn lebend sah. Kurz darauf verschwand er aus meinem Blickfeld. Ich lachte über seine Worte, hielt damals ja alles nur für Gebrabbel, ein paar Drinks waren auch schon durch unsere Kehlen geflossen, nicht jedes Wort war auf die Waagschale zu legen gewesen. Ich hatte da ja auch die Unterlagen, sein Manuskript, seine Geschichte, noch nicht in der Hand gehabt, wusste noch nichts von den Taten, von dem höchst geheimen Doppelleben, der zweiten Persönlichkeit meines Freundes Hans Maier. Ich sollte noch in fassungslosem Erstaunen versinken.
An dieser Stelle musste nun ein erster Ausschnitt aus seinem Text folgen, sonst war es zu schwierig sich vorzustellen, wie die Dinge überhaupt in Gang kamen, wie sich das Tor, das sonst für alle Normalbürger, gesetzlich, wie auch ethisch-moralisch, vor allem aber physisch verschlossen blieb, für Hans öffnete und ihn einließ. Hans beschrieb im ersten Drittel seiner Geschichte, wie es kam, dass er diesen Weg ging, wie er lernte, was es zu lernen gab. Ich fand die Details unter einer gesonderten Überschrift, einer Einführung in die Vorgänge, zum Aufwärmen sozusagen, das Kapitel hieß "Grundlage".
II
Alles fing mehr oder weniger mit einem Zufall an. Es war kein erfreulicher Zufall, denn dabei starb ein Tier, ein schneeweißer Schwan, und obwohl ich "etwas Gutes" getan hatte, nämlich einem anderen bedrohten Tier zu helfen, empfand ich anschließend mehr Trauer als Genugtuung oder Freude. Das Tier tat mir mehr leid, als so manches der menschlichen Opfer, die ich da auf meinem Weg hinter mir ließ.
Der Schwan ging auf eine kleine Ente los, schnäbelte auf das kleine Wesen ein, verfolgte es regelrecht, auch ins Wasser, wohin sich das Entlein retten wollte. Da war schon wieder der  große Schwan hinter ihm, drückte es unter Wasser, hieb mit seinem Schnabel auf das Tierchen ein, als ob es der übelste Feind wäre, den sich das große Tier nur finden konnte. Man wusste  von Fällen, wo Schwäne andere Mitbewohner ihrer Sphäre einfach töteten, wenn ihnen danach war. Formale Gründe, zumindest wie wir sie verstehen, gab es nicht. Da war nur der große  weiße Vogel, der unerbittlich auf das kleine Entlein einhackte, es konnte nicht mehr lange dauern und das grausame Schauspiel käme zu Ende, genau so, wie dann eben die kleine Ente ihr Ende fände.
Ich musste ihr einfach helfen, warf zuerst nur ein paar Steine nach dem Schwan, was aber dessen Wut noch stärker anfachte. Ich warf einen kleinen Ast ins Wasser, aber außer einer kleinen Ablenkung war da nichts zu erreichen, der Schwan ließ von seinem Opfer nicht ab. Wäre es nicht Februar gewesen, das Wasser eiskalt, ich wäre hineingesprungen, ich hätte ihm den Hals umgedreht, diesem Ungeheuer. Ich lehnte am Zaun, sah verzweifelt hin zu dem ungleichen Kampf, denn das Entlein kämpfte um sein Leben, das war ganz offensichtlich. Ich sah mich um, ob ich irgendwo Hilfe holen konnte, irgendetwas, das den Schwan davon abbringen konnte, das kleine Entlein weiter zu bedrängen. Und dann passierte es einfach. Ich schloss die Augen, konzentrierte mich auf den Schwan und sagte ganz leise, eher nur zu mir selbst.
"Du bösartiges Vieh, wenn du derartig böse bist, dann solltest du einfach sterben… jetzt !"
Plötzlich gab es einen lauten, klagenden, krächzenden Ton, der da übers Wasser schallte und mich unwillkürlich wieder umdrehen ließ.
Der Schwan paddelte hin zum Ufer, seine Bewegungen waren fast schon als panisch zu bezeichnen, er sah zu, dass er an Land kam, schaffte es aber nicht. Mit einem weiteren  Klagelaut richtete er sich kerzengerade auf, um anschließend in sich zusammenzufallen, den Kopf seitlich unter Wasser. Der Schwan war tot, da gab es keinen Zweifel. Die kleine Ente kam an Land gewatschelt, lief sofort zu ihren Artgenossen hin, wo heftiges Geschnatter  einsetzte.  Der Schwan trieb als weißes Bündel im Wasser.
Langsam löste ich mich vom Zaun, völlig verwirrt und verstört, ich hatte das doch nicht gewollt. Man sprach doch oft mal irgend so einen Satz aus, irgendwelche Drohungen, verbale Entgleisungen, mit denen die Emotionen ausrauchen konnten, eine Art Dampfablassen, ohne das Gesagte wort-wörtlich zu meinen.
Das Entlein lief wieder herum, das Verbrechen verhindert, der potenzielle Täter beseitigt, das Problem war als gelöst zu betrachten. Ja, sicher, es war schon traurig, den  Schwan  dahintreiben zu sehen, aber andererseits, die körperliche Überlegenheit gegen das kleine Tierchen war erdrückend gewesen. Da musste man doch einschreiten, oder hätte ich einfach zusehen wollen, wie da gerade ein Mord stattfand, wo ein hoffnungslos unterlegenes Wesen einem überlegenem Monster zum Opfer fiel ?
Ich dachte noch lange nach, über das Geschehene, mir war mittlerweile auch klar, dass dies kein Zufall gewesen war, ich vielmehr wirklich die Verantwortung für des Schwanes Tod trug, ich war der "Täter" gewesen. Ich hatte keine Ahnung, wie ich das gemacht hatte, war mir keiner außerordentlichen eigenen Fähigkeit bewusst, um solcherlei Gewalt bewirken  zu  können, jemand, sei es auch nur ein Tier, vom Leben zum Tode zu befördern. Ich war verwirrt, mehr als nur verwirrt, ich war verstört, war mir selbst nicht geheuer. Was  war das, was da in mir wohnte ?
An jenem Abend zog ich mich noch mehr in mich zurück, wäre am liebsten aus mir selbst geflüchtet. Ich betrank mich ziemlich sinnlos, obwohl mir das sonst  fernlag, wollte das, was  ich gesehen und erkannt hatte, wegschieben, verdrängen, ins Reich der Fantasie verbannen. Aber das ging so einfach nicht !
Sicher, irgendwann schlief ich dann ein, mit schwerem Kopf und erwachte mit noch  schwererem Kopf, dumpfem Bewusstsein, aber immer noch präsenten Bildern vom Vortag, vom Schwan, als er langsam auf die Seite sank und starb.
In den Tagen darauf gelang es mir nur mühsam, mich wieder auf meinen Beruf zu konzentrieren. Journalismus verlangte unbedingte Aufmerksamkeit und  Genauigkeit,  wenn man den Beruf ernst nahm. Ich nahm meinen Beruf immer sehr ernst, da war ich noch bei dieser Zeitung gewesen, in meinem zweiten Jahr, war noch nicht abgefackt von den Spielen, die man da in dieser Stadt spielte, Hand in Hand, alles nur des schnöden eigenen Vorteils wegen. Die Korruption blühte in allen Farben, wenn man denn bereit war, die rosarote Brille abzunehmen und Klarsicht einzusetzen. Damals hatte ich noch an das Gute im Menschen geglaubt, an die "Gemeinschaft", dass man doch gemeinsam auf ein Ziel hinarbeitete, den Menschen das Leben zu erleichtern, die Umstände zu verbessern - wie naiv und kindlich ich doch gewesen war, damals.
Nicht dass es nicht auch solche Menschen gab, die da reinen Herzens zu helfen versuchten, wo sie konnten, aber das war wohl eher nur die Ausnahme. Die meisten der Mitmenschen waren ausschließlich aufs eigene Wohl bedacht - erst komm' ich, dann komm' ich, und  nach mir kommt dann wer kommen will. So sah es doch aus, in dieser Gesellschaft. Dass man dabei auch so manch anderen Mitmenschen übervorteilen musste, war die andere Seite der Medaille, das schien Teil der Realität, in der man sich bewegte. Das sollte nicht so sein, im idealen Zustand, nur gab es eben keinen Idealzustand, das war ein Wunschtraum nur, ein imaginärer Nebelstreif am fernen Horizont, nicht mehr.
Mit der Zeit verdrängte ich dann die Angelegenheit mit dem Schwan, wollte alles besser vergessen, wollte mich auch gar nicht mehr und tiefer mit dieser "Sache" befassen, es war mir vielleicht sogar selbst ein bisschen unheimlich. Die Frage war ja, welche Kräfte da in mir schlummerten. Aber eben genau das wollte ich nicht wahr haben, wollte doch lieber nur "normaler Mensch" sein, wie alle anderen, ein frommer Wunschtraum, wie sich später herausstellte. Der Verdrängungsmechanismus funktionierte, anfangs, zumindest einige Monate lang. Ich begann meinen eigenen Beteuerungen zu glauben, dass das alles doch sicher nur Zufall gewesen sei, wer konnte schon sagen, woran der Schwan tatsächlich gestorben war. Vielleicht ein Herzinfarkt, ein Gehirnschlag, ein Aneurysma, akutes Nierenversagen oder irgendeine sonstige Ungemach, Krebs, ein Tumor, Lungenembolie, an  einem  Frosch verschluckt oder einfach nur Altersschwäche.
Das alles waren nur Ausflüchte, ich spielte das Spiel vom Straußenvogel, dem man nachsagte, seinen Kopf in den Sand zu stecken, um herannahendes Unheil nicht zu sehen. Aber Straußenvögel waren nicht so blöd, die konnten sich auch ganz gut ihrer Haut wehren, wenn es sein musste. Nur ich war so blöd, zu versuchen, das, was da in mir brannte, zu ignorieren.
Ich arbeitete wie ein Besessener, oft an mehreren Reportagen zugleich, nur keine Müdigkeit,  nur keine Langeweile und nun auch noch: "nur keine Zeit zum Nachdenken". Ich war getrieben, von mir selbst, im Beruf voranzukommen, mir einen Namen zu machen, mich als  feste Größe in der lokalen Gesellschaft zu integrieren, meine in dieser Tageszeitung veröffentlichte Meinung zu einem Meilenstein zu machen, an dem die Entfernung zur öffentlichen Wahrheit gemessen werden konnte. Dies war an vielen Kleinigkeiten zu erkennen, wie man mir begegnete, nämlich mit großem Respekt, wobei Respekt vielleicht das falsche Wort an der richtigen Stelle war. Sie hatten vielmehr ein bisschen Angst, vor meinen zielsicheren Stichen. Ich entschied selbst, über meine Arbeit, ich hatte bald schon freie Hand. Da war niemand, außer vielleicht meinem Chefredakteur, der aber doch auch genau wusste, was er an mir hatte, jemand der journalistisch attraktiv war, jemand  den "der  Leser" lesen wollte, weil ich immer einen Brennpunkt fand, die Strukturen herausarbeitete und mit scharfem Schnitt auch die vordergründig noch verborgenen Krankheitsherde schonungslos offen legte.
Der Auflage schadeten diese Tiraden, die ich manchmal ritt, jedenfalls nicht. Manche sagten, dass sie immer, jeden Morgen erst nachsahen, was oder wen ich denn heute wieder in die Mangel nahm. Ich wurde immer frecher und gleichzeitig auch unbarmherziger in  meiner Kritik, sodass dann auch bald die ersten Drohungen auftauchten, man werde darauf hinwirken, dass ich meinen Job verlor – ich lachte ihnen ins Gesicht - man werde sich "meiner  annehmen", ich solle mich vorsehen.
Ein Politiker erdreistete sich sogar persönlich in der Redaktion zu erscheinen und mich, vor allen anderen anzubrüllen, mit wüsten Schimpfworten  zu belegen. Wären die anderen Kollegen nicht im Raum gewesen, der hätte sich glatt auf mich gestürzt. Nur weil ich beweisen konnte, dass er als "stiller Teilhaber" – allein schon diese Formulierung - in ein Puff involviert war, was ihn wohl auch berechtigte mit den "Damen vom Haus" gelegentlich Freiräume zu nutzen, ganz neben den Ausschüttungen, seiner Gewinnbeteiligung, es gab da auch Fotos, die "jemand" gemacht hatte.
Es war anlässlich dieses Ereignisses, dass ich –  mehr unwillkürlich, als absichtlich – wieder  eine Reaktion hervorrief, die vielleicht ebenfalls auf der Ebene des Schwanes einzuordnen war. Ich dachte mir: "Kotz dich nur aus, du Drecksack oder noch besser kotz dich selbst an !"
Eine Wandlung vollzog sich im Gesicht des wütend brüllenden Mannes – er wurde fast grün im Gesicht. Anschließend ging alles ganz schnell, er begann zu würgen, hielt sich die Hand vor den Mund, aber der Druck war wohl zu hoch gewesen. Eine braune Soße quoll aus seinen Mundwinkeln hervor, verband sich schnell zu einem unaufhaltsamen Schwall, der dem Mann nun von der eigenen Brust tropfte. Er stieß einen wütenden Laut aus, kotzte noch einmal, diesmal auf einen der vor ihm stehenden Schreibtische, von wo der Brei auf den Boden lief. Der Mann war sprachlos, starrte wütend in die Runde. Ich konnte nicht umhin, anzumerken, dass die Redaktion ihm die Reinigungskosten in Rechnung stellen würde, logischerweise direkt an sein Büro adressiert Fotos mit eingeschlossen. Der Mann stürmte zur Tür hinaus. Ich war mir in Klaren, dass ich mir soeben einen Todfeind eingehandelt hatte, aber das scherte mich einen Dreck, zumindest jetzt noch. Später würde ich mich seiner noch einmal annehmen müssen, aber das wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
Später dann, in der Nacht, dachte ich das erste Mal daran, mich mit diesen, meinen mysteriösen Fähigkeiten auseinandersetzen zu müssen. Aber der Entschluss brauchte noch viel Zeit um die nötige Tiefe und Umsetzung in die Tat zu erreichen.
Ich arbeitete weiter, als sei nichts geschehen, ging unverdrossen meiner Tätigkeit nach, vergaß meinen Vorsatz wieder, konzentrierte auf die Themen die mir meine Arbeit boten. Mein Engagement war aber auch zu dieser Zeit bereits zielgerichtet, ich hatte meine "Schiene" gefunden.
Es war in dieser Zeit, dass jemand zu mir sagte, irgendein Kollege, dass ich ja geradezu der "geborene Zorro" sei, der Rächer der Enterbten, Geschlagenen, Erniedrigten, Ausgebeuteten, Versklavten und überhaupt. Irgendwer hatte dann auch noch eine Fotomontage gemacht, meinen Kopf auf den Reiter montiert, mit der obligaten Augenmaske auf einem schwarzen Rappen, mit Degen, vor einem blutroten Sonnenuntergang. Ich lachte ein etwas  schiefes Lachen. Es kam mir fast schon ein wenig komisch vor, jetzt, einige Jahre nach diesen Anfangs-, Einstiegsschwierigkeiten. Heute saß ich in einer Bar, am Strand in Queensland, in Australien, beobachte die wie geölt durch die Brandung gleitenden Surfer, auf ihren Brettern. Hier war  alles voller Touristen, da fiel ich nicht auf, mit meiner kleinen Gestalt, die nahmen mich gar nicht wahr und das war gut so. Denn ich hatte gerade mal wieder einen "Auftrag" erledigt, ein Kerbe mehr, im Griff meines imaginären Colts. Nein, das war nur eine Metapher, ich  verwendete ja keine externen Waffen für meine Vorhaben, das hatte ich nicht nötig - die Waffe war ich selbst !
Ich begann mich ernsthaft mit meinen geheimnisvollen Kräften auseinanderzusetzen,  als  ich die Zeitung bereits hinter mir gelassen hatte und erst einmal – bevor ich dann Fernsehen  machte – einen längeren "Urlaub" antrat, wie ich meinen Freunden sagte, aber eigentlich war es alles andere, als ein Urlaub gewesen.
Ich hatte mich eingelesen in die Materie, obwohl es da, auf ernster Ebene, nicht so viel zu erfahren gab, wie ich es mir wünschte. Da gab es den bekannten VooDoo-Zauber, wo man Puppen mit Nadeln spickte und der Betreffende dann an genau diesen Stellen Schmerzen erlitt, erkrankte oder sogar daran verstarb. Auch dem Schamanismus sagte man nach, dass dessen "Priester" über geheime Kräfte verfügten und sie alles Mögliche an Unheil über Menschen hereinbrechen lassen konnten.
Vieles davon musste man einfach in den großen Bereich von Humbug einordnen, aber da gab es auch Berichte von gar eigenartigen, mysteriösen Geschehnissen. Vielleicht war ja doch etwas dahinter, ganz abwegig erschien es mir, gerade auch in meiner Situation, mit meinen eigenen seltsamen Erlebnissen, dann doch wieder nicht. Wahrscheinlich waren nur ganz wenige dieser Voodoo-Zauberer wirklich fähig Dinge zu bewegen, auf rein immaterieller, abgehobener, komplett vergeistigter Ebene, der Rest war Hörensagen und Märchen. Die Mythen waren aber dennoch so stark, die Menschen die dem jeweiligen Glauben angehörten, in Angst und Schrecken zu versetzen.
Außerdem gab es da noch Hypnose, aber die war nicht auf derselben Ebene, denn die hypnotisierten Menschen vollbrachten in ihrem Dämmerzustand keinerlei Taten, die sie bei klarem Bewusstsein nicht tun würden. Also stand auch, zum Beispiel, ein befohlener Selbstmord, wie auch ein Mordauftrag, völlig außer Frage, das wusste man.
Interessanter war es dann schon, anlässlich einer Reportage in der Schweiz, auf eine Gruppe tibetischer Mönche zu treffen, die man dort, in einem Tal angesiedelt hatte. Insgesamt lebten
2.500 von ihnen in diesem Tal, in dem sie Zuflucht gefunden hatten, als China sie ganz besonders gewalttätig verfolgte, in der Mitte der Siebziger-Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Ich wurde Zeuge einer wunderlichen Begebenheit. Es war leider nicht erlaubt  Kameras dabei  zu haben, es gab deshalb keine Fotos oder Filmmaterial. Es war auch nur eine kleine, ausgewählte Schar von Journalisten zugelassen, ich fühlte mich geehrt, als man mich namentlich nannte und persönlich einlud.
Der Mönch trug das bei den Tibetern übliche Gewand, eine Art Toga, in tiefem Weinrot, kahl geschorenen Kopf mit breitem Lächeln und funkelnden Augen, die die Besucher anstrahlten, als seien sie die erwarteten Freunde.
Man hatte an einem lang gestreckten, eher niedrigen Tisch Platz genommen, der Mönch von  dem ich hier nun berichte, saß am Kopfende, hinter ihm ein atemberaubendes Bergpanorama, das durch das wandgroße Fenster ganz besonders nahe schien. Er selbst wirkte, wie von den hellen Strahlen durchdrungen, als ob er selbst Teil des Lichtes war. Sie murmelten gemeinsam, einige Verse eine Gebets, die Gebetsmühle wurde gedreht, man sang auch gemeinsam, eigenartige Laute, alles in dem ganz spezifisch tibetischen Sing-Sang. Sie verstummten wie auf ein geheimes Kommando, alle auf einmal, der Mönch an der Stirnseite sprach Deutsch, mit etwas kantigem Akzent, Schweizerdeutsch mit tibetischem Akzent – eine doch etwas eigenartige Sprachmischung  -  ich musste unwillkürlich lächeln.
Meine Verwunderung verwandelte sich in Erstaunen, als mich der Mönch ansprach und sagte, dass er es schön fand, wenn Menschen lachen, er müsse sich entschuldigen für seinen Akzent, das werde sicher, mit den Jahren noch viel besser. Er lachte auch, als er direkt zu mir sprach.
Woher hatte er gewusst, worüber ich lachen musste, niemand hatte darüber ein Wort verloren, nichts, alle waren ganz ernst geblieben.
Aber es war nicht Zeit, weiter über dieser Frage zu brüten, denn der Mönch schickte sich nun an, zu seiner Demonstration zu kommen. Zuerst sprach er auch noch über die tibetische  Medizin, die ja, ganz für sich, eigenständige und einzigartige Behandlungsmethoden anwandte. Viele Schulmediziner westlicher Natur reisten genau deshalb an, nach Dharmsala in Nord-Indien, wo die geflüchteten Tibeter eine neue Heimstatt gefunden hatten, einschließlich des Dalai Lama. Man konnte dort auch studieren, eine eigene Universität lehrte verschiedene tibetische Künste, Wissenschaften, Philosophie und eben auch Medizin.
Es war schon ein wenig eigenartig, da saß man in den Schweizer Bergen und lauschte einem Vortrag der lokalen tibetischen Mönche.
"Ich möchte sie nun höflichst und dringend ersuchen, höchste Aufmerksamkeit walten zu lassen, wie auch absolute Stille. Ich darf bei dem, was ich Ihnen nun zeige, auf gar keinen Fall, ich wiederhole, auf gar keinen Fall gestört werden… sonst könnte eventuell großer Schaden entstehen, an meiner Person. Ich kann dabei auch sterben, wenn die Sphären sich plötzlich begegnen, in mir, dann verbrenne ich oder ich ertrinke, vielleicht sogar beides !"
Seine Erklärung war auch vollkommen logisch und verständlich, auch in unserem westlichen Verständnis, zwingend und selbstverständlich, jeder kannte den Vergleich, den  er  gleich brachte.
"Sie müssen sich das so vorstellen, es ist als ob ich Feuer und Wasser, zu einer gezielten, komprimierten, aber immer noch kontrollierten Reaktion bringe… das ist wie eine kleine Explosion. Wenn etwas schief geht, ich gestört, unterbrochen werde, dann kann es  sein, dass  ich dabei auch explodiere und... dass da vielleicht auch noch jemand anders dabei verletzt werden könnte."
Die anderen anwesenden Mönche saßen mit konzentrierten Mienen, leicht vornübergebeugt, sie sahen zu Boden, ihre Hände auf den Knien, völlig entspannt, niemand gab einen Laut von sich. Rimpong, der Chef-Lama, so war sein Name, griff nun nach der Wasserkaraffe, die bis jetzt unbeachtet in der Tischmitte stand, goss ein Glas etwa halb voll, um es anschließend auf eine Papierserviette, direkt vor sich zu stellen.
Seine Augen fest geschlossen, führte er seine gespreizten Hände zusammen, sodass sich die Fingerspitzen leicht berührten, schloss dann die Finger, woraus sich eine fast schon westlich geformte Bet-Haltung ergab. Er blickte nach oben, nach nirgendwo, ich vermeinte sehen zu können, wie sich sein Geist erhob und von ihm löste, ein seltsames Zittern erfüllte den Raum. Aber was zitterte hier, war es der Fußboden oder war es die Luft, die Welt,  der Kosmos. So  etwas hatte ich bislang noch nie erlebt und war sogleich völlig fasziniert, wusste, dass ich nun auch den Anfang meines Weges sehen konnte, ich war am richtigen Ort, bei der  richtigen Person gelandet. Oder war ich hierher geschickt worden und wenn, wer schickte mich, was ging hier vor ? Es machte mich frösteln, und um ein Haar hätte ich nachgefragt, hätte genau jene Störung bewirkt, die dann eben Höchstgefahr bedeutete. Meine Neugier stieg  ins Unermessliche, die Spannung im Raum war fast mit Händen zu greifen, oder erging es nur mir so?
Die anderen Journalisten, Teilnehmer an der Demonstration, saßen ganz unbewegt, beobachteten nur genau, was sich hier, vor ihrer aller Augen abspielte, aber dieselbe Erregung wie ich hatten sie dabei offensichtlich nicht.
Es musste meine eigene Veranlagung sein, die hier, bei diesem Vorgang, in irgendeiner geheimnisvollen und auch tonlosen Sprache angesprochen wurde, ich reagierte heftig darauf, Schweißperlen standen auf meiner Stirn, ich konnte spüren, wie sie mir übers Gesicht, bis in  den Hemdkragen liefen.
Es dauerte nicht lange, nur etwa eine halbe Minute, aber mir schien es wie eine halbe Ewigkeit und als es dann geschah, kam es ganz unspektakulär. Es war keine Explosion, die da den Tisch zum Wanken brachte. Erst knackte es, nur ganz leise, dann erklang ein glockenheller Ton, das Glas fiel auseinander, in lauter kleine Teile, keine großen Scherben, es zerfiel mehr als es zerbrach. Das Wasser im Glas wurde zum größten Teil von der Serviette aufgefangen. Rimpong saß noch immer mit geschlossenen Augen, bewegte sich nicht und auch niemand anderer rührte auch nur einen Finger, man hätte die berühmte Stecknadel fallen hören können.
Rimpong öffnete die Augen, löste seine Hände, sah auf das kaputte Glas vor sich, wischte das restliche Wasser vom Tisch und lächelte sie breit an. Man war fast versucht zu klatschen, wie nach einer Zaubervorführung, im Zirkus oder im Varieté.
Ich griff nach den kleinen Glasteilen, fragte nach, ob ich dürfe, was der Lama lächelnd bejahte. Das Glas war heiß, als ob das Wasser darin gekocht hatte, was aber eindeutig nicht der Fall gewesen war, wir hatten ja alle ganz genau zugesehen, da war keine Hitze zu bemerken  gewesen, das Wasser hatte auch nicht gedampft oder Luftblasen gezeigt. Es war etwas anderes, eine uns gänzlich unbekannte Kraft, die hier eingewirkt haben musste, ich war völlig gefangen genommen, musste nun mehr erfahren und wenn es mein Untergang war.
Die Mönche versanken in einem gemeinsamen, nur ganz leise gemurmelten Gebet, die Räucherstäbchen verbreiteten den angenehmen Duft von Sandelholz im ganzen Raum. Dann wurde es nochmals ganz still, bis Rimpong, der Chef-Lama, seine Augen öffnete und in die Runde lächelte. Das Murmeln der anderen Mönche wurde nun wieder zunehmend lauter, erhob sich schließlich zur üblichen Lautstärke tibetischen Singsangs, Schellen wurden geschlagen, Gebetsmühlen heftig in Drehung versetzt.
Rimpong hob die Hände, das Gebet ebbte ab.
"Danke, für ihre… Aufm… Aufmerksamkeit… und verzeihen Sie meine noch bisschen, Träumen… es ist, wie… Sie können es so vergleichen, als wenn westliche Menschen Haschisch rauchen und der Kopf im Nebel ist und… es dauert noch eine kleine Weile bis wieder alles klar, in mein… Gehirn."
Ein junger Mönch kam, um frischen Tee zu bringen, ja, man hatte sogar – aus Höflichkeit den Gästen gegenüber, sogar Wein und Bier in den Raum gebracht.
Mein Mund war während der Demonstration extrem trocken geworden, ich musste unbedingt etwas trinken, ließ mir eine Flasche Bier geben, schenkte ein und trank ein Glas, nein, ich stürzte es hinunter. Rimpong, der dies beobachtet hatte, lächelte mich an.
"Ihr Mund ist trocken, so wie die Wüste Gobi… ich sehe, sie haben auch reagiert, auf meine… Vorführung. Das ist nicht sehr häufig."
"Ja, mir ist auch recht warm geworden, dabei, ich hätte mir gern das Sakko ausgezogen, wollte aber auf keinen Fall stören."
"Danke, dass Sie ruhig geblieben sind… Ich kenne das auch, so reagieren nur Menschen mit einem gewissen seltenen Talent."
Er lächelte geheimnisvoll, wandte sich dann aber wieder der allgemeinen Unterhaltung zu. Die anderen mitgereisten Journalisten wollten, verständlicherweise, jede Menge Fragen stellen. Ich hielt mich zurück, war noch immer innerlich aufgewühlt, als ob ich unter extremen  emotionalen Stress gestanden hätte, ich zitterte leise.
Die Fragen der Kollegen waren mannigfaltig, wie es sich für ihre Zunft gehörte, sie versuchten alle möglichen Punkte nachzufragen, zu ergründen, was da eben vor ihrer aller Augen stattgefunden hatte. Ein Journalist, der von der größten Tageszeitung - etwas arrogant und unwillig - meinte, dass man das so wohl nicht zweifelsfrei als "wundersam" bezeichnen konnte, es gäbe zu viel Möglichkeiten, dass hier irgendein Trick  angewandt  worden war. Man müsste das unter wissenschaftlichen Bedingungen, wenn überhaupt, noch einmal verifizieren.  Erst dann wäre er bereit zu "glauben", was er eben gesehen hatte.
"Ich war auch schon mal bei diesem amerikanischen Superstar, ein Zauberkünstler, der Menschen schweben lassen konnte oder verdampfen, um sie später an anderer Stelle, im Saal, wieder zu 'materialisieren' – das ist alles zwar sehr erstaunlich, aber…"
Rimpong lächelte ihm offen ins Gesicht.
"Ja, ich kenne diesen Zauberer auch, er ist faszinierend… Aber es hat nichts mit mir zu tun. Und ja, manchmal kann auch ich Dinge schweben lassen, manchmal, nicht immer, es kommt immer sehr darauf an, wie die Umstände sind, der Ort, vielleicht sogar das Wetter."
Wieder lachte Rimpong aus voller Kehle, er war völlig frei von Sarkasmus oder  Doppeldeutigkeit, er sprach und jedermann wusste, dieser Mann meinte genau das, was  er sagte, er war ohne jegliche Arg oder List, sein Herz war rein. Man konnte dies in seinen klaren grauen Augen sehen. Er hielt jedem Blick stand, lächelte dem Betreffenden offen ins Gesicht.
Nach dem gemeinsamen Mahl, es gab Hähnchen mit Reis, mit einer faszinierenden Gewürzmischung - so etwas hatte ich noch nie gegessen, es roch verführerisch gut - wollte ich mich einfach etwas näher an diesen Mönch heranmachen. Ich musste die Frage wohl  in meinem Gesicht geschrieben tragen, denn Rimpong antwortete schon wieder, ohne dass ich ein Wort gesagt hatte.
"Das ist Kardamom, schwarzer und weißer Kardamom, und Kreuzkümmel – aber nicht in der Pfanne braten, sonst wird es bitter und nicht gut für den Magen."
Diesmal wunderte ich mich nicht mehr, dass er meine unausgesprochene Frage beantwortete, bei diesem Mann durfte man sich über gar nichts wundern. Auch nicht, als er sich neuerlich an mich wandte, mich direkt und persönlich ansprach.
"Sie haben Fragen an mich, wollen Sie mit mir kurz nach draußen gehen, auf die Veranda, ich antworte gerne, kein Problem."
Wir gingen hinaus, die trockene kalte Luft fühlte sich gut an, auch in meiner Lunge. Wir lächelten einander an.
"Sie haben… Erfahrungen gemacht, mit ihrem Kopf, mit ihrem Geist, nehme ich an… etwas Geheimnisvolles, Unerklärliches ?"
Ich blickte an ihm vorbei, sah in das gleißende, makellose Weiss des Berges auf der anderen Seite des Tals. Was sollte ich ihm sagen, was konnte ich ihm sagen… was durfte ich ihm sagen, ohne gleich alles zu verraten.
"Ich, äh, ja… da waren schon ein paar eigenartige Ereignisse, in der Tat, wo ich völlig im Dunkeln tappe…"
"Bitte haben Sie keine Angst, stellen Sie sich vor, ich wäre Priester, die müssen auch… schweigen. Sind Sie religiös veranlagt oder sollte ich sagen, spirituell… Das Wort 'Gott' und ganz besonders der europäische Gott, ist ja etwas… bedrohlich. Mit all diesen Die haben da einen Fehler drin, Gott ist Liebe und Wärme, nicht Strafe !“
Er lächelte mich an, sodass mir neuerlich ganz warm wurde, ich zog mein Sakko aus. Er lachte noch mehr.
"Ihre Reaktion zeigt mir, dass ich da wohl nicht ganz falsch liege, Sie reagieren, wie ich es in meiner Jugend getan habe, als ich auch noch nichts wusste…"
Ich verharrte noch eine Weile, den Blick in die Ferne gerichtet, spürte meine Verunsicherung, erst der Anstoß durch die Vorführung, schließlich die klare Ansage des Mönches. Ich musste wissen, woran ich war, musste einfach nachfragen, worauf wollte ich denn warten. Dies hier war die Gelegenheit, die Wahrheit, oder zumindest Hinweise zu bekommen. Vielleicht war es ja doch nur alles Zufall.
"Erzählen Sie…"