Der Riese - Stefan aus dem Siepen - E-Book

Der Riese E-Book

Stefan aus dem Siepen

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Beschreibung

»Wenn ich nicht gewachsen wäre, hätte ich mich nicht gesteigert.« Mit siebzehn misst er 2,06 Meter, bald sind es 20 Zentimeter mehr, mit 2,39 Meter wird Tilman Wölzinger zum größten Mann Deutschlands. Und niemand kann sein Wachstum stoppen. Dachdecker hätte er werden sollen, den Betrieb der Eltern übernehmen, doch ist er zu groß für ein normales Leben. Er verliert seine Freundin, baut sich eine Blockhütte im Garten der Eltern. Tilmans Beruf wird es, Riese zu sein, den Medien seine Kuriosität zu verkaufen. Doch er wächst nicht nur, er steigert sich und beginnt Literatur zu lesen, Klavier zu spielen. Sein Leben aber ist bedroht – wächst er immer weiter, so wird sein Herz versagen. Mit zarter Ironie erzählt Stefan aus dem Siepen vom erstaunlichen Lebensweg eines zeitgenössischen Riesen.

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Stefan aus dem Siepen

Der Riese

Roman

Deutscher Taschenbuch Verlag

2014

Originalausgabe

Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

© 2014 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,

KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

eBook ISBN 978-3-423-42234-5 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-26025-1

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website

www.dtv.de/ebooks

»Hüte Dich vor den Nicht-Gezeichneten!«

Lichtenberg

Erster Teil

1Die Dachlatte

Es ließ sich nicht klären, welcher von Tilmans Klassenkameraden zuerst auf den Einfall gekommen war, ihn »die Dachlatte« zu nennen, doch alle schienen nur auf den Namen gewartet zu haben, benutzten ihn von jetzt auf gleich mit munter-mitleidsloser Selbstverständlichkeit; denn er spielte nicht nur in einer für witzig gehaltenen Weise auf Tilmans Körpergröße an, die sein hervorstechendster Zug war und dringend danach verlangte, aufs Korn genommen zu werden, sondern zugleich auch auf den Beruf seines Vaters, der eine in ganz Nagoldshausen bekannte Dachdeckerei betrieb.

An seinem fünfzehnten Geburtstag erreichte Tilman die Größe von ein Meter neunundneunzig, wie der Vater exakt feststellte, indem er seinen Sohn mit einem Zollstock am Türrahmen maß und knapp über seinen Locken einen sauberen Bleistiftstrich auf dem Holz anbrachte, wobei er einen gewissenhaften, um Seriosität bemühten Gesichtsausdruck aufsetzte, als handele es sich um die Eintragung in eine amtliche Urkunde.

Tilmans Größe war umso erstaunlicher, als er sie von seinen Eltern nicht geerbt haben konnte. Der Vater verfehlte die deutsche Durchschnittsgröße um ein beträchtliches Stück; überdies war er stämmig und gedrungen gebaut, besaß einen zu kurzen Hals und bis zum Bulligen gerundete Schultern, was zur Folge hatte, dass er noch um einige Zentimeter kleiner wirkte, als er ohnehin war. Mit der Mutter verhielt es sich ähnlich – nur dass sie ihren Mann an Gedrungenheit und Kurzhalsigkeit sogar noch übertraf. Wer Tilman zwischen seinen Eltern stehen sah, konnte sich unwillkürlich die Frage stellen, wie eine solche ins Auge springende Abweichung von den Gesetzen der Vererbung überhaupt möglich sei. Tilman besaß noch eine Schwester, die um drei Jahre ältere Simone; sie hielt nach Größe und Körperbau die Mitte zwischen Vater und Mutter; so nahm sie sich wie eine beruhigende, die Dinge wieder ins Lot bringende Bestätigung aus, dass in der Natur nicht etwa Willkür herrschte, sondern alles seinen ordnungsgemäßen Bahnen folgte.

Die Mutter war eine herzensgute Frau und bediente in der Dachdeckerei das Telefon. Sie besaß die Gewohnheit, mehrmals im Laufe des Tages einen versonnenen Blick auf ihren Sohn zu werfen, leicht den Kopf zu schütteln und vor sich hinzusagen: »Ja, ja, unser Tilman, der wächst und wächst …« In diesen Worten drückten sich drei Empfindungen zugleich aus: mütterlicher Stolz zunächst, die schlichte und unschuldige Freude, dass ihr Kind gut gedieh, sich zu einer stattlichen Erscheinung, ja mehr noch, zu einem rechten Prachtexemplar von Mann entwickelte; sodann die Genugtuung, dass Tilman nicht so unvorteilhaft pummelig wie alle übrigen Wölzingers geriet und zumal über die Maße ihres Mannes, den sie zwar von Herzen liebte, mit dessen körperlicher Statur sie jedoch heimlich unzufrieden war, weit hinausschoss; schließlich auch eine gewisse Nachdenklichkeit, die Anfänge eines mulmigen Gefühls, das wie ein leises Gewicht auf ihrer Brust und ihrem Magen lastete: Sie sagte sich, dass ein so übergroßer Bursche, der im Übrigen mit seinen gerade einmal fünfzehn Jahren schwerlich schon ausgewachsen sein konnte, im Leben wohl nicht nur Angenehmes zu erwarten habe.

Tilman war ein freundlicher und so gut wie normaler Junge, der schon im Kindergarten eine solide Zahl von Freunden besessen hatte und ein beliebter und unkomplizierter Stammgast auf Geburtstagen gewesen war. Gegenüber Vater und Mutter verhielt er sich fast immer brav, war noch als Fünfzehnjähriger ein folgsamer und erfreulicher Sohn, der sich selbst beste Gelegenheiten, seinen Eltern die Stimmung zu verderben, entgehen ließ; und wenn er ausnahmsweise doch einmal die Lust am Aufbegehren verspürte und eine jener Flegelhaftigkeiten beging, die seinem Alter gemäß waren, empfand er sogleich Reue und ließ zum Ausgleich mehrere Tage von herausgekehrter Nettigkeit folgen.

Überhaupt war er seinen Eltern, wenn man von den Besonderheiten des Körperbaus absah, auf den ersten wie auf den zweiten Blick durchaus ähnlich. So riss er bei jedem Gähnen mit einer lustvoll-kräftigen Bewegung den Mund auf, stieß eine Folge von fauchenden Lauten aus dem Rachen hervor und presste dazu, wie in einem Anfall von Schmerz, die Augen zusammen; bei den Mahlzeiten leckte er sich in regelmäßigen Abständen mit der Zunge über die Lippen oder reinigte, ohne dabei sein Besteck aus der Hand zu legen, mit den Fingernägeln die Zwischenräume seiner Zähne; und wenn er erkältet war, ließ er ein brüllendes, mit elementarer Wucht aus dem gesamten Körper hervorstürzendes Niesen hören, das jedem, der sich in seiner Nähe aufhielt, einen Schrecken in die Glieder jagte.

Einmal fand im Wölzinger’schen Hause eine Familienfeier statt. Tilman saß zwischen mehreren Onkeln und Tanten, die alle in deutlicher Weise dem Vater und der Mutter ähnelten, am Esstisch des Wohnzimmers. Da fiel ihm ein Stück Bockwurst aus der Hand, rollte zwischen Tellern und Tassen quer über den Tisch und stürzte zu Boden. Ohne zu zögern, rutschte er von seinem Stuhl herab und kroch, fest entschlossen, die Wurst nicht aufzugeben, auf allen vieren zwischen den Beinen der Gäste umher. Nach einer Weile schob er seinen Kopf unter dem Tischtuch hervor, rief triumphierend: »Ich hab’s! ’s war bei dem Fuß von der Mama!«, und drückte sich die Wurst mit Genuss in den Mund. Alle Gäste strahlten und lachten, zwei oder drei Tanten streckten die Arme aus, um ihm lobend über den Kopf zu streichen; der Vater griff nach seinem Bierhumpen, wuchtete ihn voller Begeisterung in die Höhe und rief: »Ein echter Wölzinger!«, womit er die allgemeine Meinung bündig zusammenfasste.

Es gab auch diesen und jenen Zug, mit dem Tilman, ohne dass es ihm bewusst geworden wäre oder dass er es gar darauf angelegt hätte, aus dem Wölzinger’schen Rahmen fiel. So war ihm eine gewisse Wortkargheit zu eigen: Er pflegte seine Gedanken für sich zu behalten wie Schätze, die ihm allein gehörten, und verlegte sich gern auf ein ruhiges und nachdenkendes Zuhören, bei dem sich seine blassblauen Augen wie hinter einen Schleier zurückzogen und sein Gesicht einen Ausdruck von familienfremder Feinheit annahm. In solchen Momenten merkte man ihm an, dass er etwas zu sagen gehabt hätte, wohl mehr sogar und Besseres als die, denen er lauschte, doch seine Lippen öffneten sich nicht.

Im heftigsten Trubel eines Kindergeburtstages konnte es geschehen, dass er von einer Sekunde auf die andere in eine seltsame Regungslosigkeit verfiel und, den Blick auf einen Punkt im Leeren gerichtet, in sich hineinhorchte; dort hörte er eine sanfte Stille, die sich gegen den Lärm um ihn her behauptete und ihm das Gefühl eingab, nirgendwo so gut aufgehoben zu sein wie in seinem Innern. Er trug ein unsichtbares Refugium durchs Dasein, in dem er sich, wann immer ihm danach zumute war, verbergen durfte; und besonders in späteren Jahren, als ihm die Welt zu einem Ort geworden war, an dem er sich einer Fülle von Zudringlichkeiten und Nachstellungen erwehren musste, lernte er diese Zuflucht als seinen besten Besitz schätzen.

Beim Abendessen im Familienkreis konnte er sagen: »Reichst du mir bitte die Butterdose, Mama? Vielen Dank«, was eine staunenswerte, kaum zu begreifende Äußerung war, denn für Förmlichkeiten solcher Art ließen sich in der Wölzinger’schen Familie keine Vorbilder ausmachen; auf einen Außenstehenden hätten sie geradezu ironisch wirken können, zumal wenn sich Tilman mit seinen freundlichen Sätzen an den Vater wandte, für den es selbstverständlich war, sich handfest, ohne jeden Höflichkeitsballast auszudrücken, und der, wenn er sich die Butter geben lassen wollte, nicht einmal den Mund öffnete, sondern nur mit einer barschen Geste, als fordere er von einem Lehrling, mit dem er gerade rittlings auf dem Dach saß, einen Hammer oder Schraubenzieher, auf die Butter zeigte.

Tilman liebte Musik. Bereits als kleiner Junge hatte er die Gewohnheit, vor sich hinzusingen, leise und ahnungshaft, als führe er, zum Ausgleich für seine Wortkargheit, Unterhaltungen mit sich selbst und flüchte dazu in eine Sprache, die niemand außer ihm verstand. Auch hatte er sich schon in frühen Jahren von den Eltern einen Plattenspieler schenken lassen, gab seither sein Taschengeld nicht für Süßigkeiten und Verwandtes, sondern für Schallplatten aus, legte sich sogar eine erste Sammlung an, die, was seine Eltern erst recht in Staunen versetzte, nicht bloß aus Popmusik bestand. Allerdings wuchs die Sammlung nur langsam, denn sein Taschengeld war knapp bemessen, und wenn Tilman den Vater oder die Mutter darum bat, es ihm aufzustocken, so schüttelten sie den Kopf, gerade weil sie sahen, welch unnützen Gebrauch er davon machte.

2Das Kettenglied

Tilmans Vater war Dachdecker mit Leib und Seele. Er hatte die Firma »Wölzinger & Söhne« von seinem Vater übernommen, so wie dieser vom Großvater und dieser wiederum vom Urgroßvater, und fühlte sich als Glied in einer würdigen Kette. Die Geschäfte gingen ordentlich und zuverlässig, ohne dass sie allerdings floriert hätten: Der Betrieb war gesund, brachte jedoch nicht allzu viel ein – so war es bereits beim Vater, beim Großvater und beim Urgroßvater gewesen. Jeder Wölzinger in der Kette bemühte sich, die Firma auf ein weniger bescheidenes Niveau zu heben, musste jedoch früher oder später feststellen, dass seinen Bemühungen der Erfolg versagt blieb, und übertrug seine unerfüllten Hoffnungen auf den Nachfolger. Auch Tilman sollte, so war es vom Tag seiner Geburt an beschlossen, die Dachdeckerei einmal fortführen und das, was seit Generationen überfällig war, endlich zuwege bringen.

Der Vater war für seinen Jähzorn berüchtigt, für seine herrische Ungeduld, die selbst bei kleinen Anlässen in Rabiatheit umschlagen konnte und mit der er nicht nur seine Lehrlinge im Betrieb, sondern auch Bekannte, Freunde und Familienangehörige traktierte. Sein Gesicht, das von Natur aus kräftig durchblutet war, hatte in langen Jahren der Arbeit unter freiem Himmel eine ziegelrote Färbung angenommen; wenn ihn ein Wutanfall heimsuchte, gewann dieser Ton zusätzlich an Kraft, steigerte sich zu einer furiosen Mischung aus Karmesinrot und Violett, und selbst bei kältestem Wetter trat zwischen Mund und Nase ein schimmernder Schweißfilm hervor.

Zumal seine Angestellten versetzten ihn immer wieder in Zorn. Sie hatten, so glaubte er, wenig anderes im Sinn, als seine Anweisungen zu missachten und ihn auf alle nur möglichen Arten zu hintergehen und zu schädigen. Mit einer sprachlichen Originalität, die sonst nicht typisch für ihn war, nannte er sie »meine bezahlten Feinde«, und oft geschah es, dass Passanten auf der Straße erschrocken stehen blieben und in die Höhe hinaufblickten, wenn der Vater auf einem Dach mit brüllender Stimme, voller Wut seine Arme schwenkend, einem Lehrling eine Standpauke hielt. Zuweilen beging er auch kleine bis mittlere Tätlichkeiten, versetzte seinen Angestellten kurze, ansatzlos aus dem Unterarm hervorschießende Puffe gegen die Brust und die Schultern; dies tat er freilich nur, wenn er sich zu ebener Erde befand, denn so aufbrausend er sein mochte, besaß er doch einen nüchternen Sinn für die praktischen Folgen seines Tuns.

Der Vater war von der Vorstellung, dass Tilman eines Tages sein Nachfolger sein würde, ganz und gar, bis zur Unvernunft durchdrungen. Er brachte es nicht fertig, Tilman auch nur ein einziges Mal anzusehen oder mit ihm zu sprechen, ohne dass sogleich, und sei es nur in flüchtigster Form, der Gedanke an die zukünftige Geschäftsübernahme durch seinen Kopf huschte. Wenn Tilman, als er noch ein kleiner Junge war, im Wohnzimmer auf dem Fußboden saß und mit seinen Bauklötzen Häuser, Türme oder sonstige Gebilde errichtete, rieb sich der Vater voller Behagen die roten Hände und sagte: »Gell, ein kleiner Dachdecker!«

Eines Sonntagmorgens nahm er seinen fünfjährigen Sohn bei der Hand, setzte ihn in den Lieferwagen der Firma und fuhr mit ihm zu einer Baustelle. Dort kletterte er mit ihm über das Gerüst auf den frisch fertiggestellten Dachstuhl hinauf, trug ihn in seinen kräftigen Armen über das Gebälk und zeigte ihm sein künftiges Wirkungsfeld. Der kleine Tilman, der kaum begreifen konnte, was geschah, schlang seine Hände um den Nacken des Vaters und blickte mit aufgesperrten Augen, das Gesicht blass wie Kreide und am ganzen Körper zitternd, mal auf die schrägen Balken, über die sie balancierten, mal auf den Richtkranz, dessen bunte Bänder im Wind flatterten. Die starrenden Blicke des Söhnchens hatten es dem Vater angetan: Er las in ihnen eine allererste, noch scheue Begeisterung für seine kommende Tätigkeit und fühlte sich in den Plänen, die er für ihn hegte, in schlagender Weise bestätigt.

Tilman besuchte, anders als die vorangegangenen Wölzingers, das Gymnasium. Doch als er die Mittlere Reife erreichte, nahm ihn der Vater von der Schule, denn für einen Dachdecker, das verstand sich von selbst, war das Abitur gänzlich unnütz, jedes weitere Jahr, um das die Schule Tilman vom Eintritt in die Firma abhielt, wäre vergeudet gewesen. Mit Tilmans Leistungen stand es ohnehin nicht zum Besten: Er war verträumter und weniger fleißig, als seinen Noten zuträglich war; allzu oft bewegten sich seine Gedanken nicht dort, wo sie sich nach Meinung der Lehrer hätten bewegen sollen; und immer wieder erwies es sich als eine überaus zähe und unerfreuliche Angelegenheit, ihm selbst einfache mathematische Zusammenhänge begreiflich zu machen. So schien er in seiner Klasse lediglich zur geistigen Mittelschicht zu gehören, und die Lehrer hielten seinen Verbleib auf dem Gymnasium zwar für möglich, keineswegs aber für zwingend.

Tilman fügte sich in das Geschehen. Dass er ein Dachdecker werden sollte, gehörte zu den Selbstverständlichkeiten seines Lebens, die er von früh auf eingesogen hatte; selbst der Name »Wölzinger & Söhne« schien es auf ebenso diskrete wie unwidersprechliche Weise von ihm zu fordern. Zwar wäre er nicht ungern noch weiter zur Schule gegangen; auch sagte er sich in seinen selbstbewussten Momenten, dass die Klassenkameraden, die aufmerksamer als er dem Unterricht lauschten, nur eben weniger wählerisch seien und nichts besaßen, wovon sie träumen konnten. Wenn er sich ausmalte, dass er die nächsten vier Jahrzehnte auf den Dächern Nagoldshausens verbringen sollte, befiel ihn eine unterschwellige Nervosität: Gab es wirklich keinen anderen Weg für ihn? Doch Auflehnung war nun einmal seine Sache nicht; und bloß wegen eines Gefühls von Unbehagen, das er kaum in Worte kleiden konnte, seine Bestimmung infrage zu stellen, fiel ihm nicht ein – zumal er voraussah, dass dies ein Beben von ungeheurer Heftigkeit ausgelöst hätte, vor dem selbst andere, zum Widerspruch Befähigtere zurückgeschreckt wären.

3Franzi

An seinem siebzehnten Geburtstag erreichte Tilman, wie der Vater mit dem Zollstock ermittelte, die Größe von zwei Meter acht. Anders als bei früheren Geburtstagen musste der alte Wölzinger den Zollstock nun bereits zweimal anlegen, und auf seinem Gesicht erschien nicht mehr jene plumpe und stolze Genugtuung, die frühere Messungen begleitet hatte, sondern ein Ausdruck von Besorgnis; denn er sagte sich, dass eine solch gewaltige Körperlänge für einen Dachdecker alles andere als günstig sei. Während er nicht mehr auf dem Türrahmen, sondern schon eine Handbreit darüber Tilmans Größe markierte, ließ er ein unfreies Atmen hören, das wie die Vorstufe eines Stöhnens war; auch zog er keinen satten, amtlich wirkenden Strich mehr, sondern begnügte sich mit einem zarten Kreuzchen, das auf dem lebhaften Muster der Tapete kaum zu entdecken war.

– Na, mit siebzehn bist du ja wohl ausgewachsen!, sagte er, ließ ein längeres Nicken sehen und klappte den Zollstock mit geübten Griffen zusammen. Offenkundig wollte er seinen Sohn beruhigen, der mit etwas kläglichem Gesicht, die Arme vor der Brust verschränkt, am Türrahmen lehnte, doch in seiner Stimme lag ein Ton bemühter, übertriebener Bekräftigung, den Tilman, der für Nuancen dieser Art ein feines Gehör besaß, keineswegs als beruhigend empfand.

Tilman leistete auf den Dächern des Städtchens ordentliche Arbeit. Er stellte sich gelehrig an und hatte den Wunsch, seine Sache gut zu machen, die Erwartungen des Vaters, die er auf seinen Schultern lasten fühlte, nicht zu enttäuschen. Zwar besaß er, wie sich bald herausstellte, kein großes handwerkliches Geschick, doch glich er diesen Mangel durch einen Überschuss an gutem Willen aus. Vom Vater hatte er die Schwindelfreiheit geerbt (hier zeigte es sich, dass die Gesetze der Vererbung auch für ihn Geltung besaßen) und bewegte sich in der Höhe mit einer kaltblütigen Unangefochtenheit, über die er in den ersten Tagen selbst staunen musste.

Mit den Angestellten des Vaters versuchte er leidlich auszukommen, behandelte sie mit großer Freundlichkeit, was ihm keine Mühe bereitete, und ließ sich doch nicht vertraulicher, als nötig war, mit ihnen ein. Es handelte sich um drei starkknochige, nicht mehr junge, zum Teil schnauzbärtige Männer, die von Frühling bis Herbst, wenn die Witterung es ihnen irgend erlaubte, mit nacktem Oberkörper arbeiteten und zu jeder Zeit des Tages Bier tranken. In den Pausen genossen sie es, ihre entblößten Bäuche der Sonne entgegenzustrecken, die Bierflaschen in den Händen zu drehen und einander ausführlich, mit großem Sinn für Einzelheiten, über ihre sexuellen Betätigungen vom Vorabend zu berichten. Mit Tilman konnten sie nichts anfangen; es fiel ihnen schwer, auch nur minutenweise zu vergessen, dass er der Sohn des Mannes war, der ihnen Puffe aus dem Unterarm versetzte; und seine höflichen Formulierungen, die auf Baustellen sonst nicht zu hören waren, deuteten sie als Beweis, dass er sich für etwas Besseres hielt.

Von dem kleinen Gehalt, das der Vater ihm zahlte, nahm sich Tilman eine Wohnung am Rand des Städtchens mit Blick auf den Neckar. Von einem Schreiner ließ er sein Bett verlängern, was notwendig war, denn bereits seit längerem schlief er mit angewinkelten Knien. Auch schaffte er sich ein Klavier an: Schon immer hatte er den Traum gehabt, selbst Musik zu machen, doch im Elternhaus war es unmöglich gewesen: Niemals hätte er den Mut aufgebracht, mit dieser Bitte herauszurücken, schon weil der Vater sich unter Lachen geweigert hätte, sein Geld für etwas so Unsinniges wie ein Instrument auszugeben. Jetzt stand in seinem Zimmer ein aus dritter Hand gekauftes Klavier, dessen schwarzer Lack sich blätternd löste und aus dem die Töne dumpf-schollernd hervordrangen wie aus einer Tonne. Er nahm Unterricht bei der einzigen Klavierlehrerin, die sich in Nagoldshausen finden ließ, und es erwies sich, dass er begabt war: Er machte zügige Fortschritte und besaß einen feinen Anschlag, der sich von selbst einstellte, bereits in den ersten Tagen des noch unbeholfenen Klimperns da war wie ein Geschenk; die Lehrerin brauchte ihn weder zu verbessern, noch konnte sie ihn durch ihren ungeschickten Unterricht verderben.

Bei einer Geburtstagsparty lernte er Franzi kennen. Sie gefiel ihm bereits beim ersten Hinsehen, denn sie hatte ein gut gelauntes, wenn auch nicht feines Gesicht mit einer vorteilhaften Stupsnase; dazu trug sie beinahe blonde Haare, die sie sich immer wieder mit einer verspielten Geste hinter die Ohren strich, in manchen Augenblicken aber auch üppig ins Gesicht fallen ließ, sodass sie wie ein Vorhang von beiden Seiten her über ihre Wangen fielen und nichts als die Nase freiließen, die auf diese Weise besonders stark zur Geltung kam.

Franzi war klein, kam über ein Meter sechzig nur wenig hinaus, und überdies war sie zart und schlank gebaut, ein beinahe knabenhaftes Mädchen. Wenn sie neben ihm stand, reichte ihre Stirn gerade bis an den Ansatz seiner Brust, und wenn er von oben her den Arm um sie legte, konnte sie bequem ihren Kopf in die Beuge seines Ellbogens schmiegen. Das gefiel ihr, denn sie »mochte große Jungs«, wie sie mit einem Lächeln erklärte, »je größer, desto besser!« Wenn sie mit Tilman durch das Städtchen ging, registrierte sie aufmerksam und mit weiblichem Stolz, dass kaum ein Passant sich enthielt, das stark kontrastierende Paar in Augenschein zu nehmen. Sie küssten sich schon beim zweiten Wiedersehen. Tilman war zwar nicht so selig, wie er es sich erhofft hatte, kam aber doch auf seine Kosten.

Franzi kannte in Nagoldshausen und der weiteren Umgebung Gott und die Welt, und es war ihre hauptsächliche Beschäftigung, auf Partys und ähnliche Veranstaltungen zu gehen. Anfangs staunte Tilman, dass nicht nur am Samstag, sondern auch an allen übrigen Tagen mit großer Zuverlässigkeit irgendwo ein lustiges Zusammensein stattfand; und überall gehörte Franzi zu den Eingeladenen und trug nach Kräften dazu bei, das Zusammensein noch lustiger zu machen. Wohin sie auch kamen, stellte Franzi Tilman mit den Worten: »Das ist mein Langer!« vor, wobei sie ein lustiges Lächeln aufsetzte, den Kopf in den Nacken legte und, die Augen zusammenkneifend, als richte sie ihren Blick auf einen Punkt in weiter Höhe, zu ihm emporblickte.

Tilman sammelte binnen weniger Wochen einen großen Kreis von Bekannten. Alle besaßen so starke Ähnlichkeit miteinander, dass er nur die wenigsten von ihnen mit einem Namen, geschweige denn einer Persönlichkeit in Verbindung bringen konnte: Sie verschwammen in seiner Erinnerung zu einem einzigen Gewimmel aus Leibern und Gesichtern. Bald kannte er Dutzende und niemanden; und wenn sich auf einer Party das Gewimmel teilte und dieser oder jener mit fröhlichem Lächeln auf ihn zukam, wusste er beim besten Willen nicht, ob er ihn schon einmal gesehen hatte. Dann war er erleichtert, wenn Franzi ihr »Das ist mein Langer!« ausrief und schelmisch die Augen zusammenkniff, denn es zeigte ihm, dass er den Betreffenden nicht etwa vergessen hatte, sondern in diesem Moment erst seine Bekanntschaft machte.

Es entging Tilman nicht, dass Franzi ein einfaches Mädchen war, wie es sie in großen und munteren Scharen gab. Des Öfteren kam es vor, dass er einen ganzen Tag und eine ganze Nacht mit ihr verbrachte und sich beim Abschied nicht erinnern konnte, auch nur einen einzigen Satz von ihr gehört zu haben, der über das Simpelste hinausgegangen wäre. Doch seine Zuneigung ließ ihn über derlei mit einem Lächeln hinwegsehen. Er hatte sich schon immer eine Freundin gewünscht, und nun, da sein Wunsch in Erfüllung gegangen war, wollte er sich die Freude nicht ankränkeln lassen, scheute er sich, ein allzu genaues Auge auf gewisse Dinge zu werfen, die ihn an Franzi hätten irremachen können. Ja, es wäre ihm geradezu unbescheiden erschienen, an sie große Ansprüche zu stellen, denn er selbst hatte doch auch nichts vorzuweisen, das beeindruckend gewesen wäre! Niemand hatte ihn je gelehrt, einen Menschen in sich zu sehen, der etwas besaß, das ihn über andere hinaushob. Und überdies war er von klein auf daran gewöhnt, dass um ihn her nur selten Sätze fielen, die über das Simpelste hinausgingen.

4Die Musterung