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Knigges Briefroman erzählt die Geschichte des Freiherrn Leidthal in Urfstädt und zeichnet dabei ein Bild der Ende des 18. Jahrhunderts herrschenden Gesellschaftszustände, von Adel und Bürgertum, Fürsten und Bauern, Bordellen und Höfen und Soldaten und Schauspielern.
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Seitenzahl: 706
Veröffentlichungsjahr: 2012
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Der Roman meines Lebens
Adolph Freiherr von Knigge
Inhalt:
Adolf Knigge – Biografie und Bibliografie
Der Roman meines Lebens
Erster Theil.
An einige Leser.
Inhalt des ersten Theils.
Erster Brief.
Zweyter Brief.
Dritter Brief.
Vierter Brief.
Fünfter Brief.
Sechster Brief.
Siebenter Brief.
Achter Brief.
Neunter Brief.
Zehnter Brief.
Eilfter Brief.
Zwölfter Brief.
Dreyzehnter Brief.
Vierzehnter Brief.
Funfzehnter Brief.
Sechzehnter Brief.
Siebenzehnter Brief.
Achtzehnter Brief.
Neunzehnter Brief.
Zwanzigster Brief.
Ein und zwanzigster Brief.
Zwei und zwanzigster Brief.
Drey und zwanzigster Brief.
Nacherinnerung an die Leser.
Zweyter Theil.
An die Leser.
Inhalt des zweyten Theils.
Erster Brief.
Zweyter Brief.
Dritter Brief.
Vierter Brief.
Fünfter Brief.
Sechster Brief.
Siebenter Brief.
Achter Brief.
Neunter Brief.
Zehnter Brief.
Eilfter Brief.
Zwölfter Brief.
Dreyzehnter Brief.
Vierzehnter Brief.
Funfzehnter Brief.
Sechzehnter Brief.
Siebzehnter Brief.
Achzehnter Brief.
Neunzehnter Brief.
Zwanzigster Brief.
Ein und zwanzigster Brief.
Zwey und zwanzigster Brief.
Drey und zwanzigster Brief.
Vier und zwanzigster Brief.
Fünf und zwanzigster Brief.
Sechs und zwanzigster Brief.
Sieben und zwanzigster Brief.
Acht und zwanzigster Brief.
Neun und zwanzigster Brief.
Dreyßigster Brief.
Ein und dreyßigster Brief.
Zwey und dreißigster Brief.
Dritter Theil
An die Leser.
Inhalt des dritten Theils.
Erster Brief.
Zweyter Brief.
Dritter Brief.
Vierter Brief.
Fünfter Brief.
Sechster Brief.
Siebenter Brief.
Achter Brief.
Neunter Brief.
Zehnter Brief.
Eilfter Brief.
Zwölfter Brief.
Dreyzehnter Brief.
Vierzehnter Brief.
Funfzehnter Brief.
Sechzehnter Brief.
Siebenzehnter Brief.
Achtzehnter Brief.
Neunzehnter Brief.
Zwanzigster Brief.
Ein und zwanzigster Brief.
Zwey und zwanzigster Brief.
Drey und zwanzigster Brief.
Vier und zwanzigster Brief.
Fünf und zwanzigster Brief.
Sechs und zwanzigster Brief.
Sieben und zwanzigster Brief.
Acht und zwanzigster Brief.
Vierter Theil.
An die Leser.
Inhalt des vierten Theils.
Erster Brief.
Zweyter Brief.
Dritter Brief.
Vierter Brief.
Fünfter Brief.
Sechster Brief.
Siebenter Brief.
Achter Brief.
Neunter Brief.
Zehnter Brief.
Eilfter Brief.
Zwölfter Brief.
Dreyzehnter Brief.
Vierzehnter Brief.
Funfzehnter Brief.
Sechzehnter Brief.
Siebenzehnter Brief.
Achtzehnter Brief.
Neunzehnter Brief.
Zwanzigster Brief.
Ein und zwanzigster Brief.
Zwey und zwanzigster Brief.
Drey und zwanzigster Brief.
Vier und zwanzigster Brief.
Fünf und zwanzigster Brief.
Sechs und zwanzigster Brief.
Sieben und zwanzigster Brief.
Acht und zwanzigster Brief.
Neun und zwanzigster Brief.
Dreyßigster Brief.
Ein und dreyßigster Brief.
Zwey und dreyßigster Brief.
Drey und dreyßigster und letzter Brief.
Der Roman meines Lebens, A. von Knigge
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
86450 Altenmünster, Loschberg 9
Deutschland
ISBN:9783849629663
www.jazzybee-verlag.de
www.facebook.com/jazzybeeverlag
Schriftsteller, geb. 16. Okt. 1752 in Bredenbeck unweit Hannover, gest. 6. Mai 1796 in Bremen, studierte in Göttingen die Rechte, ward 1771 vom Landgrafen von Hessen zum Hofjunker und Assessor der Kriegs- und Domänenkammer in Kassel ernannt, wo er sich aber bald durch amtliche und gesellige Mißhelligkeiten unmöglich machte, und führte dann eine Weile hindurch ein Wanderleben, bis er sich 1777 in Hanau niederließ, wo er, zum weimarischen Kammerherrn ernannt, als gern gesehener Kurzweilmacher viel am dortigen Hofe verkehrte. 1780 siedelte er nach Frankfurt a. M. über, wo er einige Jahre in Zurückgezogenheit lebte, um 1783 in Heidelberg, später in Hannover, 1791 in Bremen seinen Wohnsitz zu nehmen, wo er Landdrost wurde. K. wurde 1780 Mitglied des Ordens der Illuminaten und entfaltete in diesem unter dem Namen Philo eine einschneidende Tätigkeit mit polemischer Spitze gegen Jesuiten und Rosenkreuzer. Wenige Tage nach dem Verbot aller geheimen Gesellschaften in Bayern schied K. durch Vertrag aus dem Orden aus. 1788 erschien in Hannover »Philos endliche Erklärung und Antwort auf verschiedene Anforderungen und Fragen, die an ihn ergangen, seine Verbindung mit dem Orden der Illuminaten betreffend«, und 1793 von gegnerischer Seite »Die neuesten Arbeiten des Spartacus und Philo in dem Illuminatenorden jetzt zum ersten mal gedruckt, und zur Beherzigung bei gegenwärtigen Zeitläuften herausgegeben«. K. war als Romanschreiber, Popularphilosoph, dramatischer Dichter, Publizist, Musiker etc. produktiv. Seine bekannteste Schrift ist die »Über den Umgang mit Menschen« (Hannov. 1788 u. ö.; hrsg. von Berends, Gera 1904; auch in Reclams Universal-Bibliothek), eine einst vielgelesene Sammlung von Lehrsätzen, Lebensregeln und Erfahrungsmaximen, die von großer Weltbeobachtung und Menschenkenntnis zeugt, aber von einer beschränkt-egoistischen Grundansicht ausgeht. Die zahlreichen Romane Knigges (»Der Roman meines Lebens«, 1781–87, 4 Bde.; »Geschichte Peter Clausens«, 1783–85, 3 Bde.; »Geschichte des armen Herrn v. Mildenburg«, 1789–90; »Des seligen Herrn Etatsrats Samuel Konrad v. Schafskopf hinterlassene Papiere«, 1792; »Die Reise nach Braunschweig«, 1792; Neudruck in Kürschners »Deutscher Nationalliteratur«, u. a.) sind im ganzen flüchtige Arbeiten und trotz der überall darin prunkenden Stichwörter Humanität und Aufopferung ohne festen sittlichen Kern und Gehalt; am besten hat der Verfasser den niedrig-komischen Ton getroffen. Eine Sammlung von Knigges Schriften erschien in 12 Bänden (Hannov. 1804–06). Vgl. Goedeke, Adolf Freiherr K. (Hannov. 1844); »Aus einer alten Kiste. Originalbriefe, Handschriften und Dokumente aus dem Nachlaß eines bekannten Mannes« (hrsg. von Klencke, Leipz. 1853). Über Knigges Verhältnis zu den Illuminaten vgl. Kluckhohn in den »Vorträgen und Aufsätzen« (Münch. 1894).
Dem ... gebohrnen,
Allerweisesten und allerhuldreichsten Herrn,
Herrn ...
Ihro Türkisch-Kaiserlichen Majestädt
und der hohen Ottomanischen Pforte
wohlbestallten Groß-Vezir,
meinem gnädigsten Herrn,
widmet dieses Büchlein in tiefster Unterthänigkeit,
der Verfasser.
... gebohrner ...
Hochgebiethender Herr Groß-Vezir!
Ew. Excellenz werden in hohen Gnaden verzeyhen, daß ein armer christlicher Schriftsteller es wagt, diese wenigen Bogen zu Ew. Excellenz Füssen zu legen.
Wer, im ganzen türkischen Reiche, wagt es (seitdem Ew. Excellenz zu der hohen Würde eines Groß-Vezirs sind erhoben worden), zu leugnen, daß Höchstdieselben ein feiner Beurtheiler der schönen Künste, und der in- und ausländischen Literatur, ein Beförderer aller Wissenschaften und Kenntnisse, feiner Menschenkenner, großer General, Staatsmann, Gelehrter – mit Einem Worte, Alles sind, was mit Höchstdero hohen Würde immer verknüpft ist, und Sie, zu Ihrer und Ihres großmächtigsten Herrn (dem Gott ein langes ruhiges Leben, sanften Schlaf und viel Freude in seinem Serail verleyhen wolle) Ehre nöthig haben?
Sollten es Ew. Excellenz daher ungnädig aufnehmen können, wenn ein fremder Schriftsteller bemüht wäre, diesen Ruhm Höchstdero erhabenen Talente, auch auswärts auszubreiten, indem er Ihnen ein geringes Zeichen seiner tiefen Ehrerbiethung dadurch zu geben sucht, daß er Ew. Excellenz ein Werk zueignet, welches ihm manche saure Stunde gekostet hat, als er es schrieb, und noch mehr, als er die Materialien dazu in dem Laufe seines unruhigen Lebens samlete?
Ew. Excellenz sind zwar sehr über alles Lob erhaben, und aus der kleinen einsamen Hütte, in welcher ich lebe, Ihren Ruhm erschallen zu hören, wird Ihnen freylich eine Sache von sehr geringer Wichtigkeit seyn. Allein, vielleicht um desto unpartheyischer muß Ihnen dies Lob vorkommen. Ew. Excellenz haben nach Ihrer Weisheit gewiß bemerkt, wie wenig man oft Ursache hat, auf die Posaunen des Gerüchts zu rechnen, welche sich ein Minister unter dem Haufen derer, die ihn fürchten, oder auf seine Hülfe hoffen, erkauft. Ich, der ich nicht erkauft bin, keinen Minister fürchte, und auf nichts hoffe, ich kann also um desto aufrichtiger diese Zueignungsschrift meinem Werke vorsetzen.
Zu mehrerer Sicherheit aber habe ich Raum für Höchstdero hohen Nahmen gelassen, damit, wenn indessen ein unglückliches Strick Sie ans Ende Ihrer ehrenvollen Laufbahn führen sollte, dieser Brief sich auch für Ew. Excellenz Nachfolger paßte. Auch ist kein Jahr noch Tag angezeigt worden, so daß meine Zueignungsschrift sich für jeden Groß-Vezir schickt, dessen Bescheidenheit ihn überzeugt, daß er das Lob verdient, welches ich Ew. Excellenz zolle.
In Erwartung einer gnädigen Aufnahme meiner Freyheit, ersterbe ich in tiefster Ehrerbiethung,
Ew. Excellenz,
Meines gnädigsten Herrn,
unterthänigster Knecht,
D.B.A.R.V.S.
Fürchten Sie nichts, meine Herrn und Damen! Ich werde Sie hier nicht in einer Gestalt auftreten lassen, der man entgegen rufen könnte: »Das sind sie!« Haben Sie mir gleich manche trübe Stunde gemacht; hat Ihre Bosheit gleich mannigfaltigen Verdruß über mein Haupt gezogen; hätten mich Einige von Ihnen gleich gern muthwillig verkannt, gedrückt, verfolgt; – den Menschen verfolgt, der nicht Einen seiner Brüder mit Vorsatz je gekränkt hat, der, bey tausendfältigen Schwachheiten und Fehlern, gewiß ein liebe- und friedenvolles Herz in seinem Busen trägt, der Ihnen nie hinderlich in Ihren Entwürfen war, dessen Weg ja ganz im stillen, einsamen Thale fortgeht, ohne irgend jemandes Straaße zu durchschneiden! – so bin ich doch der Mann nicht, welcher sich rächen, und Sie öffentlich preis geben könnte. Auch würde mir das nicht gelingen. Was eigentlich Spott und Hohn heißt, dazu ist mein Witz so wenig abgerichtet, daß ich gern gegen jeden, der mich auf diese Art herausforderte, die Segel streichen würde.
Ich überlasse der Zeit und dem Schicksale, welches früh oder spät (das ist heilig gewiß!) jeden Bösewicht entlarvt, und jedem Redlichen Gerechtigkeit verschafft, Ihnen den Lohn Ihrer Handlungen zu geben. Mein Glück ist in meinem Herzen. In häuslichem Frieden lebe ich still, ruhig, heiter, arbeite an mir selbst, um klüger und besser zu werden, und geniesse das Glück der Freundschaft und Achtung derer, die mich nicht miskennen, und mich, mit allen meinen Schwachheiten, ertragen.
Die Arbeit, dieses Buch zu schreiben, soll mir meine Erholungsstunden versüßen, und diese würde ich sehr schlecht angewendet glauben, wenn ich sie mit Verfertigung elender Pasquillen verschwendete. Einige Blicke auf meine vergangene Tage zurück, in welchen ich vieles erlebt, vieles gesehen, viel gelitten habe, manches durch die Bosheit Anderer, manches durch eigene Unvorsichtigkeit, werden mich zwar in den Stand setzen, Ihnen hie und da getreue Bilder von nicht ganz uninteressanten Scenen vor Augen zu legen, also werde ich nicht nöthig haben, Begebenheiten zu erdichten; aber wo ich es nöthig finde, werde ich doch, um sie unkenntlich zu machen, entweder mehrere zusammenschmelzen, oder den Schauplatz verrücken. Und so sollen auch die Schilderungen von Höfen und Personen nicht von einzelnen Originalen copiert, sondern bald hier bald dort ein Stück abgezeichnet werden, wie es sich gerade an die Stelle passen wird, denn, wie ich schon gesagt habe, obgleich ich von keinem Hofe noch Gönner abhänge; so beleidige ich doch nicht gern jemand. Es ist daher meine Schuld nicht, wenn einer sein oder eines Andern Bild hier zu finden glaubt. Ich verachte vornehme und geringe Schurken, aber ich entsage allen Ansprüchen, auf den Plan sie zu bessern.
Wahre Begebenheiten also, welche ich theils selbst erlebt, theils in der Nähe oder von Weitem beobachtet habe, Character-Züge von verschiedenen Gattungen Menschen, und hie und da eigene Gedanken über allerley wichtige und unwichtige Dinge, sollen hier in einer Art von Verbindung erscheinen. Das Ganze kann man hernach etwa einen Roman nennen – oder wie Sie wollen! Wenn nur etwas darinn steht, das dem bessern Theile des Publicums gefällt, bey dessen Lesung ein guter Mensch sich eine heitere Stunde machen, und woraus irgend jemand, in seiner Lage, einen practischen Vortheil ziehen kann.
Erster Brief,von dem Freyherrn von Leidthal in Urfstädt an den Herrn Meyer, Hofmeister eines jungen Herrn von Hobenau, den er an Kindes Statt angenommen hat, in Göttingen. Misvergnügen über ihre Trennung. Anmerkungen über die verschiedenen Arten, wie die Menschen periodenweise diese Welt ansehen. Der Hauptmann von Weckel hat ihn besucht. Lob dieses muntern Mannes. Nachricht von Herrn und Madam Becker, die kürzlich in die Stadt gezogen sind, und die niemand kennt. Ueber die Neugierde in kleinen Städten. Er bittet Herrn Meyer um Mittheilung seiner Lebensgeschichte.
Zweyter Brief.Antwort des Herrn Meyer. Nachricht von ihrer zurückgelegten Reise und Einrichtung in Göttingen. Geschichte des unglücklichen Commerzienraths Müller, den sie unterwegens angetroffen und mit nach Göttingen genommen haben. Ueber die Art, wie vornehme Leute reisen. Sie wollen, weil die Collegia noch nicht angehen, nach Cassell, woselbst Müller Dienste sucht.
Dritter Brief,von dem jungen Hohenau an Leidthal. Beschreibung von Cassell. Lob der Stadt, der Gegenden und des Fürsten. Ueber die Lage von Münden. Ueber falsche Zierathe und verdorbenen Geschmack.
Vierter Brief,von Meyer. Ueber den ausländischen Ton in Deutschland. Ueber Religions-Gespräche. Er empfiehlt den armen Müller zu Leidthals Hülfe. Verspricht seine Lebensbeschreibung.
Fünfter Brief,von Hohenaus Bedienten Christoph Birnbaum an die Haushälterinn Anna Sievers in Urfstädt. Beschreibung von Cassell und Göttingen. Versicherungen treuer Liebe und Beständigkeit. Hohenau hat Bekanntschaft mit dem jungen Herrn von Hundefeld gemacht, dessen Bedienter Haber heißt.
Sechster Brief,von Leidthal. Ueber Vorsichtigkeit an fremden Oertern. Ueber den Handel in Münden. Ueber Fürsten-Charactere und Erziehung. Ueber den Styl unsres Jahrhunderts. Ueber Müllers Character. Er will ihn zu sich nehmen. Von der Wohlthätigkeit. Er verspricht auch seine Lebensgeschichte aufzusetzen. Ueber das Studieren auf Universitäten. Von der Freymaurerey etwas.
Siebenter Brief,von Madam Müller, gebohrne von Blüm, an ihren Mann. Nachricht von ihren Kindern. Sophie, welche Madam Bovis Kinder erzieht, hat einen Brief verlohren, der vermuthlich ein an sie gerichteter Liebesbrief ist. Fritz wird ein guter Kaufmann. Ludwig scheint zu Ausschweifungen geneigt, lernt aber fleißig. Die beyden jüngsten sind gesund. Klagen über ihre Situation.
Achter Brief.Liebesbrief des jungen von Hörde an Sophien, aus Hamburg.
Neunter Brief.Müllers Antwort an seine Frau. Trost. Nachricht von Leidthals Anerbiethen. Er ist im Begriff, hinzureisen.
Zehnter Brief,von Müller an den Banquier von der Hörde. Nachricht von dem geheimen Verständnisse ihrer Kinder. Er überläßt das Uebrige seinem Wohlgefallen.
Eilfter Brief,von Meyer an Leidthal. Müller nimt den Brief mit. Die Geschichte seines Lebens, bis zu dem Zeitpunct, als ihn Leidthal zu sich nahm. Einige kleine Umstände von Göttingen. Sie wollen Weinachten zu Hundefelds Vater auf das Land.
Zwölfter Brief,von Weckel an Hohenau. Muntre Beschreibung von kleinen Höfen, die nicht genannt sind, und welche Weckel bey seinem letzten Urlaub gesehen hat. Er wird bald an den Rhein hinauf reisen, und alsdann über Göttingen gehen.
Dreyzehnter Brief.Von der Hörde antwortet Müllern in stolzem Tone, und ohne Gefühl.
Vierzehnter Brief,von der zärtlichen Jungfer Anna Sievers an ihren Geliebten. Enthält auch einige Anecdoten aus der Nachbarschaft und von Herrn und Madam Becker.
Fünfzehnter Brief,von Hohenau an Weckel. Ueber göttingische Bekanntschaften. Studenten-Characters. Er reiset in wenig Tagen auf Hundefelds Gut, der auch eine hübsche Schwester haben soll.
Sechzehnter Brief.Leidthal meldet Müllers Ankunft, und dankt Meyern für seine Lebensgeschichte, erzählt dafür einen Theil seines Lebens, und verspricht die Fortsetzung. Diesen Brief überbringt Weckel.
Siebenzehnter Brief.Hohenau ist durch Weckels Anwesenheit abgehalten worden, eher zu schreiben. Erzählung von seinem Aufenthalte bey Hundefelds Verwandten. Gemälde von Landjunkers. Weckel ist itzt nach Hanau, und kömmt erst im Aprill wieder.
Achtzehnter Brief.Müllers Nachricht an seine Frau, von seiner Ankunft, Aufnahme und Zufriedenheit in Urfstädt. Etwas von Sophiens Liebe.
Neunzehnter Brief,von Weckel an Hohenau. Beschreibung von Hanau, Darmstadt, Manheim, Carlsruhe, Straßburg.
Zwanzigster Brief,von Leidthal. Fortsetzung seiner Lebensbeschreibung.
Ein und zwanzigster Brief,von Madam Müller an ihren Mann, in großer Bestürzung. Nachricht von Sophiens Flucht.
Zwey und zwanzigster Brief,von Meyer an Leidthal. Sie wollen Ostern aufs Eichsfeld. Geschichte eines gefangenen Mönchs. Es scheint, als wenn Hohenau verliebt ist, weil er Ritterstreiche machen will. Vermuthlich ist Hundefelds Schwester der Gegenstand.
Drey und zwanzigster Brief,von Leidthal an Meyer. Geschichte von Hohenaus Vater. Vielleicht ist der derselbe gefangene Mönch.
An den Herrn Meyer, Hofmeister des Herrn von Hohenau, in Göttingen.
Urfstädt den 2ten October 1769.
Mein lieber Freund!
Glauben Sie mir auf mein Wort, daß es meiner Philosophie herzlich schwer wird, mir unsre Trennung als ein nothwendiges Uebel vorzustellen. Ihr angenehmer, freundschaftlicher Umgang war meinem Herzen so theuer geworden, ich war so sehr daran gewöhnt, jeden Gedanken, jede Empfindung meiner Seele, mit Ihnen zu theilen, endlich hatte ich mir auch die Sorge für die Bildung meines Pflegesohns zu einem so süßen Geschäfte gemacht, daß ich es Ihnen gern bekenne, wie hart es mir vorkömmt, auf einmal mich aller dieser Glückseligkeiten beraubt zu sehen.
Aber es hat so seyn müssen. Das ist eine von den leidigen Tröstungen, die auf jede unangenehme Begebenheit in diesem Leben passen, und im Grunde doch keiner einzigen die Bitterkeit benehmen! Da sitze ich nun hier einsam auf dem Lande, nicht ohne Geschäfte, das ist wahr (denn wenn mich diese nicht gefesselt hätten, Sie und mein Carl hätten gewiß nicht allein reisen sollen), aber doch voll zärtlicher Sehnsucht nach Ihnen beyden, und voll Besorgniß, wie es Ihnen in der neuen Welt, in welche Sie Ihren Zögling führen, gehen mögte.
Das weiß Gott, daß ich nicht einen Augenblick darüber unruhig bin, ob er in Ihren Händen gut aufgehoben seyn mögte. Den Mann, dem ich meinen Carl anvertrauet habe, kenne ich zu gut, um nicht die feste Zuversicht zu haben, daß er, wie ein Vater, für sein Glück sorgen, und ihn zu allem Guten leiten wird. Aber auch ohne Betracht auf das, was ich durch Ihre Abwesenheit leide, drängen sich viel ernsthafte Vorstellungen, über den ersten Schritt, den mein Pflegesohn in die größere Welt thut, in meine Seele.
Mich dünkt, es giebt drey wichtige Hauptperioden im Leben, durch welche der wohlerzogene, feine, denkende und fühlende Mann wandert, und nach welchen sich das Interesse bestimmt, welches er an demjenigen, was ihm in diesem Leben begegnet, und an den Menschen, mit denen er in Verbindung kömmt, nehmen muß. Oder, um deutlicher zu reden, fast jeder Sterblicher, dem Madam Fortuna nicht schon in der Wiege einen falschen Streich spielt (denn wenn das ist; so fällt freylich die erste Periode beynahe ganz weg), fast jeder Sterblicher, sage ich, sieht nach und nach alles, was ihn in dieser Welt umgiebt, aus drey verschiedenen Gesichtspuncten an.
Als ein blühender Jüngling tritt er in die Welt. Gesundheit, Vorzüge der Gestalt, die durch Jugend erhöhet werden, ein frohes weiches Herz, gute Laune, Befreyung von Nahrungs- und andern häuslichen Sorgen, Geschmack an schönen Künsten, unverdorbenes Gefühl für die Schätze der Natur, Neuheit aller Gegenstände, die sich seinen Augen darstellen; von der andern Seite aber, Unwichtigkeit seiner Person, welche alsdann selten irgend einem ernsthaften Herrn im Wege steht, Nachsicht weiser Leute gegen seine jugendliche Schwachheiten, der Antheil, den das schöne Geschlecht an ihm nimt, seine Gefälligkeit gegen jedermann, und sein Mangel an Beobachtungsgeist, der ihn verhindert, die Verderbnisse wahrzunehmen; das alles, oder ein großer Theil dieser herrlichen Dinge, spricht für ihn, und schwellt sein unerfahrnes Herz auf. Alles lächelt ihn an. Die Welt ist so schön; Er findet so viel gute Menschen, welche ihm Liebe und Freundschaft beweisen; Er kann nicht begreifen, wie mürrische Grauköpfe so klagen können. – Schade, daß diese Bezauberung nicht ewig dauert!
Aber er wird älter, kömmt bald in allerley große und kleine Verbindungen; Hier vertrauet er sich unwürdigen Freunden, und wird oft und mannigfaltig betrogen, dort untergräbt unglückliche Liebe die Ruhe seiner Seele; Oder er ist in andre üble Hände gerathen, der Misbrauch seiner cörperlichen Kräfte, seiner Freyheit und seiner Thätigkeit, hat seine Gesundheit geschwächt, und ihn welk gemacht. Dies erweckt böse Launen; nun trägt er nicht mehr so viel zu den Annehmlichkeiten des Umgangs bey; Oder er hat übel mit seinem Vermögen gewirthschaftet, Nahrungssorgen drücken ihn, seine Kinder machen ihm Verdruß; Oder er ist klüger, angesehener, reicher, als andre Menschen, und muß durch deren Neid viel leiden, wird verkannt, gedrückt, verfolgt; Oder er ist in irgend ein sclavisches Dienst-Joch gespannt, hat nicht Zeit noch Gelegenheit, sein Gemüth durch den Umgang mit den Musen zu erheitern; Oder er hat so viel Schönes gesehen, daß sein Geschmack eckel geworden ist; Er hat aller Orten Ideale von Vollkommenheit gesucht, und sie nirgends gefunden. – Die Empfindungen, welche durch solche Schicksale, deren jeder in der Welt lebende Mensch einige zu ertragen hat, erregt werden, machen ihn, mehr oder weniger, unzufrieden, feindselig, mistrauisch gegen alles, was ihn umgiebt, und das ist die zweyte Periode. Wohl dem, der nicht darinn stehen bleibt, der nicht mit Gift gegen das gute Menschengeschlecht, mit Wiederwillen gegen die schöne Welt, seine Laufbahn endigt!
Der gutgeartete Mensch kömmt aber von diesem Grolle bald zurück. So, wie er nach und nach kühler wird, kommen ihm die wiedrigen Vorfälle, welche ihm aufstoßen, nicht mehr so entsetzlich vor. Er fühlt sogar, wenn gleich er es nicht immer bekennt, daß er sich das Ungemach mehrentheils selbst, durch Unvorsichtigkeit in seiner Aufführung, zugezogen hat. Die Menschen betrachtet er nun auch näher, und findet, daß ihre Handlungen von Leidenschaften regiert werden, die schwächer, eben so heftig, oder heftiger, als die seinigen sind; Er merkt, daß es dem Einen an Erziehung, dem Andern an Gesundheit, dem Dritten an zufälligen Gütern, dem Vierten an Gelegenheit fehlt, um edel zu handeln; daß dieser ein Schurke geworden ist, blos weil man ihn so lange gekniffen, gedrückt, betrogen, bis man ihn feindselig gemacht, und dahin gebracht hat, das Rauhe auswendig zu kehren. – Kurz! er fängt an, mit der ganzen Welt Frieden zu schliessen, faßt den Vorsatz, so viel Gutes zu thun, als er kann, auf keine Wunder zu rechnen, sondern alles von der Hand des Schicksals so anzunehmen, wie es die Reyhe der Begebenheiten mit sich bringt, und so die letzte Periode seines Lebens in Liebe und Ruhe zu beschließen.
Sie sehen also, mein lieber Freund! daß, nach meinen Grundsätzen, unsre Kunst darauf beruht, die erste Periode zu verlängern, und die zweyte abzukürzen, und das ist es, wornach wir Beyde itzt unsre Bemühungen einrichten müssen, um meinem Carl, bey seinem Eintritte in die Welt, den Weg, den er, wie jeder Andre, wandern muß, so sanft als möglich zu machen. Im übrigen müssen wir es dem Schicksale überlassen, die feinern Nüancen in seine Begebenheiten zu weben. Einen ganz gemeinen Gang wird er schwerlich gehen, denn seine Composition ist feiner, als mir oft lieb gewesen ist. Doch Sie, mein Freund! haben Gelegenheit und Klugheit genug, seiner Thätigkeit unvermerkt die Richtung zu geben, die sie haben soll, und die Gegenstände zu entfernen, welche wildes Feuer in ihm anfachen könnten. Auf Sie baue ich fest, und wenn ich hier zu lange über Dinge geplaudert habe, die Ihnen nicht fremd sind; so ist das wahrlich nicht geschehen, Sie zu unterichten, sondern weil mein Herz mich drängt, mit Ihnen zu reden, und dies Herz itzt von einem Gegenstande voll ist, der unsre ganze Aufmerksamkeit verdient.
Sie werden Sich wundern, wenn Sie schon so bald einen langen Brief von mir bekommen, ehe Sie mir einmal haben Ihre Ankunft melden können. Allein, übereilen Sie Sich deswegen doch nur nicht, mir eben so weitläuftig zu antworten. Ich weiß, wie unruhig die ersten Tage in einem neuen Wohnorte sind, und wenn ich nur höre, daß Ihr Leutchens wohl seyd; so will ich gern noch ein bisgen Geduld haben.
Sie waren kaum gestern fort, als der Hauptmann von Weckel aus der Stadt zu mir kam. Er war mir willkommner, als jemals, und hat mir mit seiner fröhligen Laune ein Paar trübe Stunden verjagt. Weckel hat mir auch erzählt, daß seit einigen Wochen ein unbekannter Mann mit einer hübschen Frau dorthin gezogen ist, der die Aufmerksamkeit des neugierigen Publicums sehr beschäftigt, weil er mit niemand umgeht, mit Gemächlichkeit lebt, hübsch gekleidet ist, zuweilen Briefe unter andrem Nahmen erhält – und kurz, weil man nicht weiß, wer er ist, und man in einer kleinen Stadt doch gern alles wissen mag.
Ich verdenke es jedem vernünftigen Manne, der die Einsamkeit sucht, wenn er sie in einem kleinen Städtgen zu finden glaubt. Je größer der Zirkel ist, in welchem man lebt, desto unbemerkter wird der Punct, welchen man darinn macht.
Es ist eine recht ärgerliche Sache, daß man in solchen Lumpen-Städtgens einem ruhigen Menschen nicht erlauben kann, in der Stille seinen Weg fortzuwandeln. Ich mußte mich einmal ein Paar Monathe an einem Orte, gewisser Ursachen wegen, die eine große Epoke in der Historie meines Lebens machen, und die ich Ihnen gelegentlich erzählen will, unter fremden Nahmen, aufhalten. Meine Nachbarn konnten nicht ruhig schlafen, bis sie die ganze Stadt aufgewiegelt hatten, Nachforschungen über meine Person anzustellen. Endlich kam es an den Tag, daß ich ein gewisser böser Zeitungsschreiber sey, der eben damals, wegen seiner pöbelhaften Ausdrücke gegen einen mächtigen Fürsten, hatte flüchtig werden müssen. Es fehlte wenig, daß ich nicht wäre in große Verdrießlichkeiten gerathen. Das Einzige, was mich rettete, war, daß ich nicht einmal wußte, daß eine solche Zeitung in der Welt war, und daß man den Pasquillanten irgendwo erwischt hatte.
Ich frage nie jemand um seine Geschichte, liegt mir aber daran, zu wissen, was für ein Mann er ist; so beurtheile ich ihn nach seinen itzigen Handlungen. Einen Beweis davon habe ich Ihnen wohl gegeben, dem ich die Aufsicht über den jungen Hohenau aufgetragen habe, ohne daß ich einmal recht weiß, wo Sie gebohren sind, wer Ihr Vater war, und dergleichen. Allein, Sie müssen mir doch noch einst Ihre Geschichte erzählen. Es müssen Ihnen manche sonderbare Schicksale begegnet seyn, ehe ein so herzlich guter, menschenfreundlicher Mann aus Ihnen geworden ist.
Ob ich den dritten Bogen anfange? Nein! das will ich nicht, es mag damit genug seyn. Ich umarme Sie und meinen Carl in Gedanken, und bin ewig,
Ihr
treuer Freund,
Leidthal.
An den Freyherrn von Leidthal, in Urfstädt.
Sie haben mir erlaubt, verehrungswürdigster Gönner! Ihnen ohne alle Titulaturen, so gerade weg aus dem Herzen zu schreiben; also fange ich diesen Brief auch um eine Hand breit näher am Rande des Papiers an, als ich es billig an einen Herrn von Ihrem Stande thun sollte. Zuerst eine kurze Nachricht von unserer Reise! Erfüllt von Traurigkeit über die Trennung von unserem lieben Wohlthäter, reiseten wir ein Paar Posten, ohne beynahe ein Wort mit einander zu reden. Mein junger Ritter hätte gern laut geweint, aber er dachte, das sey nicht anständig. Er that also lieber, als wenn er schliefe, indeß seine Thränen heimlich aus den halb zugedrückten Augen rollten. Ich schlief nicht, aber ich weinte auch nicht. Sie werden desfalls nicht glauben, mein gnädiger Herr! daß ich weniger gerührt war. Allein in dem Laufe meines Lebens habe ich schon so manche harte Trennung von Menschen, die ich innigst liebte und verehrte, überwinden müssen, daß itzt der Kummer nicht mehr so schnell und so heftig auf mein Nerven-System würkt. Nicht, daß ich unempfindlicher geworden wäre, aber ich habe gelernt mehr auf die Gütigkeit des Geschicks rechnen, welches mich immer wieder zu edlen Freunden zurückgeführt, oder mich andre hat finden lassen. Und diesmal ist ja nur von einer zeitigen Trennung die Rede, wenn ich anders durch Achtsamkeit auf meinen Zögling, durch Eifer und Treue, mir das Glück erwerbe, wieder zu Ihnen zurückkehren zu dürfen. Unterdessen hoffe ich hier schon ein Paar gute Seelen zu finden, mit denen ich von meinem theuren Wohlthäter reden, und mir dadurch meine Entfernung von Ihnen erträglich machen kann. Man trifft noch aller Orten gefühlvolle redliche Menschen an, wenn man sie nur ernstlich, und mit duldendem Geiste, sucht – Das ist wahr, solche findet man nicht oft wieder, die einen verlassenen Unbekannten, der keine andre Empfehlung als das ofne Gesicht eines ehrlichen Mannes hat, in ihr Haus aufnehmen, wie Sie es mir gethan haben – Doch, Sie legen mir ja immer Stillschweigen auf, wenn ich mein von Verbindlichkeiten schweres Herz gegen Sie ergießen will – Also zu unserer Reisebeschreibung zurück! Als wir zum zweytenmal die Pferde wechselten, stieg der Herr von Hohenau aus. Er hatte sich ein bisgen gefaßt, und ich schlug ihm vor, da doch die Wege nicht die besten sind, ein wenig zu Fuße zu gehen. Wir schlenderten also voraus, und ich sah mit Freuden, wie sich sein Gesicht nach und nach aufheiterte. Die herrliche Morgen-Sonne gab der wilden Gegend eine so sanfte Majestät, daß wir Gelegenheit hatten, mehr als einmal gegen die gefühllosen vornehmen Herrn zu eifern, die sich in einen zugeschlossenen Kasten werfen, Laufzettul an alle Post-Aemter schicken, und so durch Thal, Flur und Wald hinrollen, die schönsten Gegenstände, welche die Natur dem empfindenden Beobachter dargestellt hat, zu beyden Seiten liegen lassen, und so lange vor der Langenweile fliehen, bis sie von derselben in einer großen Stadt eingeholt werden. So reisen die mehrsten Menschen! Man wundere sich daher gar nicht, wenn ein Mann, der auch sein ganzes Leben hindurch von einem Hofe zum andern kutschirt ist, dennoch wenig wahrhafte Selenkenntniß hat. Die Leute, welche man in denen Circuln antrifft, sehen sich alle so ähnlich, haben alle so einen gleichen Conventions-Character angenommen, daß man sehr bewafnete Augen haben muß, um, durch diese Oberfläche hindurch, etwas von natürlichem Inhalte wahrzunehmen. Wenn ich zu wählen hätte; so mögte ich noch lieber ein Buch über das Menschengeschlecht von jemand, der dasselbe nur in seiner Studierstube beobachtet hat, als von einem solchen gereiseten Herrn geschrieben, lesen.
Wir hielten uns oft unterwegens auf, denn die Kutsche konnte uns doch in den schlechten Wegen nicht so geschwind folgen. Als wir nun nahe bey Burgstädt kamen, sahen wir im Walde einen hübschen wohlgekleideten Mann am Wege sitzen. Er schien in Gedanken versenkt. Sein Blick war auf einen kleinen Bach gerichtet, aber nicht, als wenn dessen sanftes Rieseln Ruhe und Heiterkeit in sein Herz wiegte, nein! er sah starr hinein, als wenn er gern gewollt hätte, daß seine kummervollen Tage so geschwind wie das Wasser fortrauschen mögten – Armer Mann! – Als wir ihm näher kamen, warf er nur einen flüchtigen Blick auf uns hin, nahm dann eine etwas gleichgültigere Miene an, und machte sich fertig, uns zu danken, wenn wir ihn etwa grüßen würden. Da wir aber bey ihn kamen, rief er mir sehr freundlich entgegen: »Irre ich mich nicht? Sind Sie es, lieber Herr Meyer? Wie treffen wir uns denn hier an?« Kurz! es war der gute unglückliche Commerzienrath Müller, von welchem ich Ihnen, mein gnädiger Herr! vielleicht schon einmal geredet habe, oder habe ich das nicht; so will ich Ihnen hier einen kurzen Auszug seiner Geschichte liefern.
Der Mann hatte von der Natur viel äussere Annehmlichkeiten, und von seinen Eltern eine gute feine Erziehung erhalten. Das sind ein Paar schöne Vorzüge, aber sie können einen jungen thätigen Mann auch in manche verwirrte Lage bringen, und so gieng es dem armen Müller. Seine Glücksumstände waren nicht die besten, desfalls mußte er seine Talente und Kenntnisse den Diensten andrer Menschen widmen, weil er aber frey, thätig und edel erzogen worden war; so war die Abhängigkeit von schlechteren Leuten oft ein harter Punct für ihn. Er wurde Secretair, Hofmeister, und dann wieder Secretair – aber es wollte nirgends recht glücken. Die Liebe spielte ihm auch böse Streiche, und so hatte er denn mannigfaltige Schicksale, welche mehrentheils die Bosheit, der Neid, und die tumme Ernsthaftigkeit, allein auf seine eigene Schultern zurückwälzte. »Daran ist der Mann selbst Schuld,« hieß es immer; »warum handelt er nicht so, wie andre Leute?« – Großer Gott! als wenn alles in dieselbe Form paßte! Dank, ewiger Dank, der weisen Gottheit, die eine so herrliche Verschiedenheit in die Temperamente der Menschenkinder gewebt hat! Was für ein ödes, kaltes Wesen würde in den menschlichen Dingen herrschen, wenn wir Alle so sehr auf Einen Ton gestimmt wären, daß das Ganze nur wie eine Drehorgel, in Ewigkeit fort, nach derselben Weise abgespielt würde! Bruderliebe, Toleranz! man declamirt so viel über euch, aber wie selten werdet Ihr wahrhaftig ausgeübt! Ja, wenn immer Kopf und Herz zugleich an einem Bändgen zu leiten wären; so wäre das Ding herrlich. Wie gern würde mancher ganz anders, ganz gemein weg handeln! Er würde gewiß ruhiger seyn. Aber er kann nicht. Dort reißt ihn eine unbändige Leidenschaft fort, hier zupft ihn eine andre. Und ist er denn mitten im Laufe, auf einmal wirft ihm ein gelassener weiser Schurke, mit wohlüberlegtem Vorsatze, einen großen Stein in den Weg. Nehmt es ihm nun übel, wenn er in der Angst, um diesem auszuweichen, zur Seite irgend einem schleichenden Fußgänger auf die Schulter springt! –
Nicht wahr, mein gütiger Wohlthäter! ich schreibe, wie ein Buch? – Zürnen Sie nur nicht! Wir wollen gleich zu unserm guten Müller zurück. Nach langem Umherschweifen fand er endlich in Amsterdam eine hübsche reiche Witwe, welcher er, sie ihm, gefiel. Er heyrathete sie, und die ersten Jahre flogen in Wonne und Lustbarkeit dahin. Madam liebte die großen Gesellschaften, Monsieur die schönen Künste. Ein Capitälchen nach dem andern gieng den Weg durch die Finger der Spieler und Modehändler, oder wurde zu Gastereyen, Bällen, Concerten, verschwendet. Als man nun sah, daß dies die Aussichten für fünf Kinder, welche nach und nach ankamen, sehr trübe machte, wollte Herr Müller, der sich indessen von irgend einem der unzähligen deutschen Monarchen einen Commerzienraths-Titel gekauft hatte, mit dem Reste der Vermögens noch wuchern. Er trat mit Kaufleuten in Verbindung, verstand aber die kleinen Vortheile des Handels nicht, und wurde betrogen. Seine Frau hatte auch nicht gelernt sich in die Umstände schicken. An Reichthum gewöhnt, sorgenlos, ohne Kinder, hatte sie nie geglaubt, den Mangel kennen zu lernen, den sie nun in einem Circul von drey Knaben und zwey Töchtern von allen Seiten drohen sah. Sie konnte sich durchaus nicht herabstimmen, machte ihrem armen Manne Vorwürfe, der selbst am mehrsten litt, und alle häusliche Glückseligkeit floh. Seine angelegten Capitale giengen durch muthwillige oder zufällige Bankerotte verlohren. Es wurden Schulden gemacht – Endlich entwich jeder Schatten von Freude und Ruhe; Hofnung, Glück, Ruf, Ehre, alles gieng fort. Er mußte des Nachts aus Amsterdam, mit einer sehr kleinen Summe, entweichen, woselbst er in den Händen seiner Familie nichts, als das unsicherste Capital, ich meine die Ansprüche auf die Wohlthätigkeit guter Freunde, zurücklassen konnte, und also reisete er weg, um in Deutschland sich und den Seinigen irgend eine Aussicht zu eröfnen.
Hier zog er dann von einem Hofe zum andern, fand jede zwey, drey Meilen einen unumschränkten Herrn, dem er irgend ein nützliches Project vorlegte, wollte bald das Cameralwesen auf andern Fuß setzen, bald Schulen verbessern, und dergleichen mehr. Weil er aber ein redlicher Mann ist; so war in seinen Planen gewöhnlich das öffentliche Beste obenan gesetzt, womit denn einigen von den unumschränkten Potentaten wenig gedient war. Sie wollten ihre Privateinkünfte vermehrt haben, um ihre Leidenschaften mehr befriedigen, ihrem übertriebenen Hange zur Pracht und Wollust bequemer genugthun zu können. Ein Mann, der blos Misbräuche abschaffen wollte, war ihnen gar nichts werth, und denen Geheimen Räthen ein gefährlicher Aufseher. Ihro Excellenzen lobten indessen seine Einsichten, samleten aus seinen Aufsätzen die besten Kenntnisse, um sie in ihren Vorrathscammern einige Zeit zu beherbergen, und dann als eigenes Fabrik-Gut zu verkaufen. »Sie bedauerten, daß itzt der Etat mit Leuten übersetzt sey; Vor der Hand könne man ihm also nichts versprechen. Es sey ihre Art nicht, mehr Hofnung zu machen, als sie erfüllen könnten; Das Publicum glaube wohl, daß sie viel bey dem Herrn auszurichten vermögten, aber der Fürst sey seit einiger Zeit so gesinnt, daß er niemand mehr um Rath fragte, sonst könne er fest auf ihre Freundschaft rechnen, und wenn sich in der Folge eine Gelegenheit zeigte; so wolle man ihm gewiß sogleich einen Wink geben. Doch dies alles sey im Vertrauen gesprochen.« Uebrigens gab man ihm Empfehlungs-Briefe an einen benachbarten Hof mit, schrieb aber einen Posttag voraus, um den dortigen Minister zu warnen, auf seiner Hut zu seyn. An einem andern Hofe dachte er gewiß durchzudringen, wenn er ein Lotto daselbst zu etabliren sich erböthe. Dort waren aber zwey Favoriten, die sich beständig entgegen arbeiteten. Er wendete sich an beyde, und richtete daher nichts aus.
Unterdessen schmolz sein kleiner Geld-Vorrath, die Familie wurde von Kummer niedergedrückt, und wenn hin und wieder, indem eine neue Unterhandlung im Werke war, ein schwacher Hofnungs-Strahl sie erheiterte; so war das nur, um nachher, wenn auch dies mislung, sie desto tiefer zu beugen.
In diesem traurigen Zustande ist mein Freund noch immer, und itzt war er im Begriff, zu Fuß nach Cassell zu gehen, und dort sein Glück zu versuchen.
Sein Character hat nun, durch diese vielfältigen Zwängungen, eine große Biegsamkeit erhalten. Jahre und Schicksale haben seine Lebhaftigkeit sehr herabgestimmt. An der Unsicherheit seiner Plane gewöhnt, hat er gelernt, nicht mehr von jeder fehlgeschlagenen Hofnung gänzlich zu Boden geworfen zu werden, und die natürliche Thätigkeit, die ihn, in minder unglücklichen Umständen, oft zu gefährlichen Schritten verleitete, giebt ihm jetzt eine unüberwindliche Beständigkeit, kein Mittel unversucht, sich durch keine Schwierigkeiten hindern zu lassen, alles in Bewegung zu setzen, um sich eine Aussicht zu eröfnen, sich und den Seinigen ein Stückgen Brod zu erringen. Er ist so nachgebend geworden, daß er stundenlang das leere Gewäsche eines hirnlosen Hofmanns, die wichtige Miene eines Mäcenaten, die Selbstgenügsamkeit eines gereiseten Herrn, vornehmen und reichen Unsinn, Minister-Blicke, Kenner-Sprüche, Fürsten-Plattitüden, und alle Arten von Persiflage anhören kann, ohne sich zu rühren – Wo man nicht bessern könnte, meint er, da müsse man schweigen und dulden, besonders wenn man durch ein freyes Wort sein und seiner Familie Glück tödtete – Dabey hat er bemerkt, daß man nie in dieser Welt klagen darf, wenn man Freunde haben will, und daß uns jeder flieht, sobald er Kummer auf unserer Stirne liest; der eine Theil der Menschen aus Verzärtlung und Schwäche, um sich gegen die beunruhigenden Eindrücke des sanften Mitleidens zu wafnen, der andere aus Geld- und Menschlichkeits-Geiz, um nicht zu Hülfe gerufen zu werden. Deswegen weiß er stets den Jammer seines Herzens hinter einer heiteren Miene zu verstecken, und hört nicht auf, ein angenehmer Gesellschafter zu seyn – Wie manche Thräne mag indessen sein einsames Lager benetzen! – Er reiset, wie er sagt, nur deswegen zu Fuße, weil ihm das mehr Vergnügen macht, und wir hatten in der That Mühe, ihn zu bewegen, einen Platz in unsrem Wagen anzunehmen.
Mit ihm sind wir nun hier in Göttingen angekommen, wo ich nebst dem Herrn von Hohenau gleich eine gute Wohnung fand, in welcher wir uns auch, wie das bey Studenten-Haushaltungen nicht schwer fällt, in wenig Stunden eingerichtet haben.
Diesen Brief schrieb ich stückweise unterwegens, deswegen ist er so verwirrt und unordentlich gerathen.
Göttingen den 5ten October.
Nun haben wir einige Besuche abgestattet, und alles in Ordnung gebracht, was dazu gehört, gelehrte Leute zu werden. Indessen gehen die Collegia noch in vierzehn Tagen nicht an. Werden Sie es uns verzeyhen, mein theuerster Herr! daß wir uns daher geschwind entschlossen haben, den Herrn Müller nach Cassell zu begleiten?
Weil wir doch hier nichts versäumen, und ich aus viel Ursachen nicht eben wünschte, daß der Herr von Hohenau, ehe er in Thätigkeit kommt, viel Bekanntschaften von andren jungen Leuten machte; so habe ich dies für den bequemsten Zeitpunct gehalten, ihm, Ihrem Befehl gemäß, eine der schönsten Städte von Deutschland zu zeigen. Nachmittags 4 Uhr. Eben bekomme ich Ihren gnädigen Brief. O, mein bester Wohlthäter! wie innig hat mich dies neue Zeichen Ihrer Güte erfreuet! – Allein itzt antworte ich nicht darauf. Ich will das Paquet schliessen; Die Einlage1 ist von dem lieben Pflege-Sohne.
Morgen reisen wir fort, und von Cassell aus werde ich die Ehre haben, meinem gnädigen Herrn die Versicherungen der treuesten Ehrerbiethung zu wiederholen, mit welcher ich stets seyn werde,
Ihr
unterthäniger Diener,
Meyer.
Fußnoten
1 Diese und noch ein Paar Briefe, die Herr Meyer schrieb, sind weggeblieben, so wie man überhaupt eine große Anzahl unbedeutender Briefe zurückgenommen hat.
An den Freyherrn von Leidthal, in Urfstädt.
Cassell den 10ten October 1769.
Theuerster, bester Pflegevater!
Ich schreibe Ihnen diese Zeilen aus einer Stadt, ach! aus einer Stadt, die so schön ist, daß ich wohl schwerlich viel lernen würde, wenn ich, statt in Göttingen zu studieren, unter der Menge von Zerstreuungen, hier arbeiten sollte. Alles athmet nur Freude hier. Herrliche Gebäude, Palläste, bezaubernde Gärten, Music, Malerey, Schauspielkunst, das alles scheint hier zu Hause zu seyn. Und Soldaten, die wie Kinder Einer schönen Familie aussehen, und deren äusseres Ansehn das Gepräge von Wohlstand, Zucht und Fröhligkeit hat – Lachen Sie nicht, theuerster Vater! weil ich armer Junge, der noch wenig gesehen hat, alles hier so schön finde! Aber ich denke doch auch, Cassell hat würklich viel aufzuweisen, welches man in wenig Städten Deutschlands vereinigt antrift.
Wir haben, so viel es die Zeit verstattete, alles Merkwürdige gesehen, aber man wird gar nicht fertig damit.
Den sechsten früh reiseten wir aus Göttingen, und hielten uns, auf des Herrn Müllers Anrathen, in Münden ein Paar Stunden auf, weil in der That dieses Städtgen eine so allerliebste romantische Lage hat, daß ich mich wundern muß, warum so wenig freye Menschen aus Liebhaberey dahin ziehen. Da, wo sich die Fulda und Werra vereinigen, der kleine Hafen voll Fahrzeuge; einzelne Gartenhäuser, die hie und da zerstreuet liegen; und dann zu beyden Seiten die majestädtischen Berge und Wälder; die große Straße, welche mitten durch die Stadt läuft; Diese würklich großen Gegenstände müssen nothwendig auf ein malerisches Auge (ich sollte wohl sagen auf ein romantisches Herz, welches Sie mir zuweilen Schuld geben) würken. Allein es scheint nicht, als wenn die Einwohner sich hierum bekümmern. Man wird aber gewöhnlich undankbar gegen eine schöne Gegend, wenn man sie täglich sieht, obgleich ich das nicht loben kann, doch mag davon unser beständiger Hang nach Neuheit der Grund seyn. Kurz! ich mögte in Münden wohnen – Aber noch nicht, sondern erst dann, wenn mich einst, wie Sie mir das immer vorher prophezeyet haben, einmal ein unruhiges leidendes Herz aus der großen Welt heraustreiben wird, zur Abkühlung, zur Versöhnung mit der wohlthätigen Natur – Doch mögte es wohl noch etwas Weile bis dahin haben –
Etwas weniger lebhaft als gewöhnlich fanden wir Cassell, weil der Hof, eine kleine Stunde von da, auf dem Lustschlosse Weissenstein war. Als wir hörten, daß dort Commödie seyn würde; so fuhren wir gleich hin. Wir kamen noch zu rechter Zeit an, um ein französisches Lustspiel und eine Operette zu sehen. Beydes wurde, so viel ich davon verstehe, gut gegeben. In den Messen und zur Zeit des Carnavals hat man auch in Cassel große italienische und französische Oper, große heroische und andre Ballets, Mascaraden – mit einem Worte alles, was nur Vergnügen erwecken kann.
Wir blieben die Nacht in dem Gasthofe auf dem Weissenstein, und erstiegen dann früh Morgens den prächtigen Carlsberg, ein Werk, welches, in dem größten Styl gebauet, das Ansehen hat, als wenn Riesen diese künstlich aufeinander gekitteten Felsenstücke aufgethürmt hätten. Es war ein Schweizer mit uns in Gesellschaft, der, um etwas zu sagen, das schweizerisch klingen sollte, ausrief: »Mein Gott! wozu nützt das alles? Es ist doch nur eine Wasserkunst zum Vergnügen, und kostet so ungeheure Summen. Wahrlich! die unten gelegenen schmutzigen Bauerhütten sind mir zehnmal lieber.« Das Ding kann etwas wahres enthalten, aber nach dieser Lehre wäre ein Nachttopf viel besser als ein Punschnapf. Und wie viel Menschen haben nicht bey dieser herculischen Arbeit ihren Unterhalt gefunden!
Doch was bedarf ich Ihnen zu beschreiben, was Sie schon oft ehemals gesehen haben? Alle Anlagen des Landgrafen Carls scheinen mir groß und edel, aber sie sind noch nicht vollendet. Da indessen der jetzige Herr Geschmack und Kenntnisse hat, und mit Nutzen gereiset ist; so darf man hoffen, daß bey der weiteren Ausführung dieser Plane nichts Spielendes, Unwürdiges oder Kleinliches mit unterlaufen wird, welches sonst das Gefühl dieser Dinge schwächen könnte.
Der Landgraf ist von seinen Unterthanen geliebt. Bey allen äusserlichen Vorzügen, Kenntnissen aller Art, Geschmack an schönen Künsten und feinem Witze, der jede Seite eines Dinges schnell und richtig zu fassen weiß, besitzt er ein gefühlvolles Herz. Er läßt auch den ärgsten Verbrecher keine harte, und überhaupt selten jemand irgend eine Todesart leiden. Er verzeyhet gern, wenn er beleidigt ist, und rächt sich nicht. Er hat eine Seele für die Freundschaft, und läßt sich von seinen Freunden leiten. Er liebt den Soldaten-Stand, aber weit entfernt, die kleinen Details desselben als eine hauptsächliche, eines Fürsten würdige Beschäftigung anzusehen, ist er nur in sofern Soldat, als er es dem Genie seines Landes angemessen findet, und hat die Wissenschaften vollkommen inne, welche zum Großen des Dienstes gehören. Das ist das Urtheil, welches uns jemand, der sehr unpartheyisch ist, und doch den Landgrafen gewiß kennt, von ihm fällte. Viel Menschen werden wohl anders von ihm urtheilen, denn wenn ein großer Herr nicht jeden befriedigen kann; so giebt mancher Unzufriedener die unächtesten Farben zu seinem Gemälde her, und also mag wohl nichts unsicherer als der Ruf eines Fürsten seyn, so daß man nur gar zu oft, wenn man den Mann in der Nähe beobachtet, sein Urtheil wird zurücknehmen müssen. Schwachheiten mag er vermuthlich auch haben, weil er ein Mensch ist. Wie könnte sich aber Hessen je einen besseren Herrn wünschen, wenn er alle diese guten Eigenschaften besitzt?
Es wird beständig in Cassell viel gebauet, um die Stadt zu verschönern, und bey dem allen ist doch das Schloß nichts weniger als hübsch. Man muß sogar eine kleine Windeltreppe hinaufkriechen, um in die Zimmer des Fürsten zu kommen, welches, im Vorbeygehen zu sagen, bey Hofe eine gefährliche Sache ist. Denn da man schon behauptet, daß die Wände der Vorzimmer Ohren haben, wie vorsichtig muß da nicht ein Hofmann mit seinen Intriguen zu Werke gehen, wenn auch die Treppen wie ein Ohr gebauet sind, wo man ganz unten hören kann, was unter dem Dache leise gesprochen wird? Uebrigens macht es dem Fürsten, denke ich, Ehre, daß er früher an Verschönerung der Stadt, zum Vergnügen andrer Menschen, als an sein eignes Haus gedacht hat.
Hier in Cassell ist alles nach französischem Schnitte. Die Hälfte der Einwohner ist auch wohl von dieser Nation, und der Ton in allen Gesellschaften und am Hofe also gestimmt.
Der Hof ist glänzend und zahlreich, und wer daran dient, wird gut, und Mancher sehr reichlich bezahlt.
Das Orangerie-Schloß und der große Park sind ein herrliches Werk; doppelt schön, weil man immer Menschen, zu Fuße, zu Pferde, und in Kutschen daselbst sieht. Denn was ist ein Garten, der nicht jedem offen steht, und kann wohl ein angenehmerer Anblick für einen Menschen seyn, als der Anblick von Menschen?
Wilhelmsthal, ein Lustschloß nicht weit von hier, welches des jetzigen Landgrafen Herr Vater gebauet hat, so prächtig und artig es auch gebauet und verziert ist, gefällt mir, seiner Lage nach, und überhaupt gar nicht.
Hier haben wir aber ferner Bibliothek, Cabinet, Bildergallerie und so viel Dinge gesehen, daß ich lange darüber reden könnte, wenn ich Ihnen eine Reisebeschreibung liefern wollte, und wenn Sie nicht, mein theuerster Pflegevater! in Ihrem Leben so viel Schönes gesehen hätten, daß Ihnen dergleichen gar nicht fremd seyn kann.
Weil Sie mir erlaubt haben, über alles, was ich sehen würde, mein Jünglings-Urtheil geradezu zu fällen; so muß ich noch etwas von den inwendigen Verzierungen des Schlosses sagen. Es hat mich nemlich gefreuet, wahrzunehmen, daß in allen Meubles desselben ein edler, einfacher Geschmack herrscht. Dabey fiel mir denn ein, daß ich mich immer ärgere, wenn ich sehe, daß wir in unserm Zeitalter so viel Verzierungen haben, die gar nichts bedeuten. Ist nicht schon alles, was den Nahmen Cartouschen führt, ein Unding? Indem ich nun dies schreibe, sehe ich im Zimmer dieses Gasthofs umher. Da finde ich denn eine papierne Tapete, wo Ranken von Blumen, die nie in der Natur gewesen sind, sich mit einem Streife von Gitterwerke durchkreutzen, zwischendurch in den viereckten Feldern aber ist immer ein Stück von einem verfallenen Gebäude, ruhend auf einer Muschel, und ein Papagey, der eben so groß als das Gebäude ist. Nun spotte man einmal über chinesische Malereyen! Die Stühle stehen, ohne allen Nutzen, auf krummen Beinen, welches eine Idee von Krüppeley giebt. Auf dem Tische liegt ein hessischer Addreß-Calender, an welchem der Rücken des französischen Bandes auch eine Menge vergoldeter, nichts vorstellender Schnörkel enthält.
Es ist wahr, daß man anfängt die gothischen Verzierungen abzuschaffen, aber man trift, dünkt mich, noch immer nicht den geraden Weg der Natur und Schönheit. Daß man, zum Beyspiel, etwas, das den Kopf eines großen Nagels vorstellen soll, mit einer Rose verziert, lasse ich gelten, daß man aber hin und wieder Widderköpfe, die man in den Metopen der dorischen Friese an den alten Tempeln und an Opfergefäßen und Sarcophagen sehr schicklich angebracht gefunden hat, jetzt an Consol-Tischen und Theemaschinen schnitzt, das ist lächerlich und ekelhaft. Unterdessen scheint mir diese Sache nicht so unwichtig zu seyn, als man sie gewöhnlich ansieht, und ich bin überzeugt, daß jemand, der von Jugend auf nichts als richtige, bedeutende, zweckmäßige, wahrhafte Gegenstände um sich her sieht, auch richtiger, treffender und genauer denken lernt.
Unsre Kleidertracht ist, leider! auch eins von den traurigen Stücken, die unsre Barbarey auf die Nachwelt verewigen werden. Wie sehr könnte man sich aber irren, wenn man in einigen Jahrhunderten, nach unsren Münzen und Kunstwerken unsre Kleidungen beurtheilen wollte! Ein fleissiger Conrector mögte alsdann über eine braunschweigische Pistolette ein schönes Werk von den Panzern des achtzehnten Jahrhunderts schreiben. Das Gemälde eines geharnischten Landjunkers und eines Gelehrten, der einen Mantel, den er nie trägt, um seinen Bauch geschlagen hat; des Landgrafen Carls Bildsäule, welche die französischen Colonisten demselben haben errichten lassen, und an welcher über ein griechisches Gewand her der dänische Elephanten-Orden hängt; das alles beleidigt Augen, welche den Sinn für Wahrheit und ächte Natur haben.
Herr Meyer will seinen Brief hinter den Meinigen schreiben, also muß ich ihm wohl Platz lassen, so gern ich auch noch ein Stündgen lang meine Weisheit ausplauderte. Indessen küßt Ihnen, bester Vater! in Gedanken ehrerbiethig die Hände
Ihr
gehorsamster Pflegesohn,
Carl von Hohenau.
An den Freyherrn von Leidthal, in Urfstädt.
Cassell den 11ten October 1769.
Ich erstaune, verehrungswürdigster Gönner! über des Herrn von Hohenau allgewaltige Beredsamkeit, wünschte aber herzlich, er hätte seine Abhandlung etwas mehr in die Kürze gezogen, damit ich nicht hier so klein, wie ein Magister, schreiben müßte, um nicht noch einen Bogen anzulegen.
Im Grunde gefällt mir indessen, was er gesagt hat, recht gut, obgleich ich dem jungen Herrn das nicht merken lassen darf, denn wozu wäre ich denn sein Hofmeister, wenn ich nicht an allem etwas zu tadeln fände, was er nur unternimt?
Diesen Nachmittag reisen wir zurück nach Göttingen. Wie uns aber die ernsthaften Collegia schmecken werden, nachdem wir uns hier so sehr an den schönen Künsten gelabt haben, das ist eine andre Frage.
Unser junger Held ist ganz von Cassell eingenommen. Nun! ganz Unrecht hat er auch wohl nicht, obgleich seine Sinne leichter bezaubert werden, als die meinigen.
Bekanntschaften haben wir hier wenig gemacht. Während eines so kurzen Aufenthalts sich bey Gelehrten aufzudringen, dabey kömmt nicht viel mehr heraus, als daß man ihnen ein Paar kostbare Stunden stiehlt; unter den Officiers hingegen haben wir sehr feine, sitsame, wackre und bescheidene Leute angetroffen, wovon wir wohl Einige, wenn wir öfterer hierher kommen, näher kennen zu lernen suchen werden.
Die Bibliothek hat wenig sehr Merkwürdiges. Der Landgraf hat aber eine schöne Privat-Büchersammlung, die er nicht blos hingestellt hat, sondern auch liest, welches ihm wohl mehr Ehre macht, als wenn er jährlich für eine große Summe einige Ellen Bücher zu der öffentlichen Bibliothek kaufen liesse, damit, an gewissen Tagen, die Fremden die schönen Bände angaffen könnten.
Was der Herr von Hohenau von dem hier herrschenden französischen Tone schreibt, ist sehr wahr. Mich hat das aber nicht gefreuet. Ueberhaupt ist es ein großes Elend, daß itzt der Deutsche sich wenig um einen eigenthümlichen, festen Character bekümmert. An einem Orte, wo etwa eine englische Prinzessinn ist, muß alles geengländert seyn, und drey Meilen von da findet man wieder ein kleines Volk von Halbfranzosen. Wenn werden wir einmal anfangen einen eigenen Weg zu gehen? Die allgemein in Deutschland nachgeamte feine politische und galante französische Lebensart, der Ton von falschen Artigkeiten und von verbindlichen Dingen, welche man sich vom Morgen bis zum Abend herplappert, macht uns zu elenden Puppen, und verdrängt alles Gefühl von Eigenheit aus unsren zusammengeflickten Conventions-Charactern. Ein Mann, der feinen Weltton hat, muß gerade eben so seyn und handeln, als ein anderer von der Art. Wer daher viel in der großen Welt lebt, wird beynahe immer schon voraus sagen können, was Dieser oder Jener auf dies oder das antworten wird. Und die feinen Züge des Gesichts, in denen sich das Bild der Seele und die kleinen unmerklichen Ebben und Fluthen der Leidenschaften, welche dem Umgange ein so herrliches Interesse geben, abdrücken, das sanfte Lächeln, die zärtliche Unruhe, die Sehnsucht, die edle Schamröthe, und der Abdruck von tausend andern seligen Empfindungen, überkleistern unsre Damen mit einer rothen Farbe, die ihnen das Ansehn einer am hitzigen Fieber leidenden Person giebt – Doch was hilfts, darüber zu reden? allein das alles ist eine höchst jämmerliche Barbarey.
Man hatte mir gesagt, daß man in Cassell sehr frey über Religion denke. Das kann wahr seyn; was mich aber gefreuet hat, ist gewesen, daß man wenigstens nicht frey darüber redet. Der Mann, welcher öffentlich über Dinge spottet, worauf andre Menschen ihre Ruhe bauen, ist ein schlechter Kerl, wäre er auch der Erste im Staate. Ueberhaupt, denke ich, soll man über Religion nie, weder im Guten noch Bösen, in Gesellschaften reden. Zu einer flüchtigen Unterredung ist das keine Materie; überlasse man doch einem Jeden, für sich in der Stille, an der Ruhe seiner Seele zu arbeiten!
Der arme Müller weiß noch nicht recht, wie er das Ding hier angreifen soll. Könnten Sie, mein theuerster Wohlthäter! nicht etwas für ihn thun? Mein junger Freund wollte Sie schon darum bitten, aber er hat den Muth dazu nicht. Er sagt, man müsse nicht immer auf Ihre Wohlthätigkeit losstürmen. Doch, kenne ich Sie denn nicht, verehrungswürdiger Herr? Wie sollte ich mich scheuen, Ihnen eine Aussicht zu zeigen, den Würkungskreis Ihrer großmüthigen Seele zu erweitern?
Mein Papier geht zu Ende, in ein Paar Stunden wollen wir fort, und gegen Abend sind wir in Göttingen, denn die Wege sind ziemlich, und werden bald vortreflich werden. Auch durch Hessen wird, wie ich höre, der Landgraf, der so viel für das gemeine Beste thut, alle Landstraßen bauen lassen, welches sehr nöthig seyn mag.
Habe ich doch kaum noch so viel Platz, den Nahmen zu schreiben,
Ihres
unterthänig treuen Dieners,
Meyer.
N.S.
Ich habe würklich schon angefangen, einige Hauptscenen aus meinem Leben aufzuzeichnen. Wenn das Ganze fertig ist, werde ich so frey seyn, es Ihnen zu schicken. – Aber Toleranz! Toleranz!
An die ehr- und tugendsame Jungfer, Anna Maria Sievers, Haushälterinn in Diensten von Ihro Gnaden, den Herrn Baron von Leidthal, in Urfstädt.
Göttingen den 20ten October 1769.
Meine hertzlich liebe und werthe Jungfer!
In der Hofnung, daß diese wenigen Sie werden in guten Gesundheits-Umständen antreffen, kann ich nicht unterlassen, an Sie zu schreiben, wie ich versprochen habe, wiewohl dieses spät, welches zu excusiren bitte, Ursach dessen, weil wir in Cassell gewest seyn.
Ach! meine liebe Jungfer! was ist das vor eine charmante Stadt, und für ein excellent Leben in dem Cassell! Und alles ist so lustig da. Was müssen die Herrn nicht alle vor Geld haben! Auch seyn sehr artige und freundliche Frauenspersonen da, und wenn einer des Abends spazieren geht; so sieht man Damens, die so hübsch angezogen seyn, als die Frau Pfarren in Urfstädt, und noch hübscher, die einen doch grüßen, und gar nicht stolz seyn, aber das habe ich nun erfahren, daß eine gar böse conduite gefunden werden soll in dem Cassell, doch ist keine so hübsch, als meine liebe Herzens-Jungfer Sievers.
Und wann mir auch mein Herze bricht,
Vergeße ich doch Ihrer, meine allerliebste Jungfer Sievers! nicht.
Ich habe auch ein Paar Kummedien gesehen, aber das hat mir, die Wahrheit zu sagen, nicht gefallen wollen. Da war Eine, die sollte ganz unschuldig thun, und liebäugelte doch immer nach einem Officier, von den großen schönen Ofciers, die der Herr Landgraf sich hält. Was sie sagten, das verstand ich eigentlich nicht, obgleich ich ein bisgen französch kann. Sie plappern das gar zu geschwind weg, weil sie es auswendig wissen, und gern bald fertig seyn wollen. Aber alle Augenblick fieng einer mitten im Sprechen an zu singen, das konnte ich auch nicht begreifen warum.
Göttingen ist gar nicht schön, aber die Herrn Pursche seyn doch sehr lustig. Spazieren gehen kann man gar nicht, denn es ist hier kein Garten. Wenn mein Herr sich im Sommer wird wollen eine Verlustirung machen; so wird er müssen ausreiten auf ein Dorf, und da ist auch kein gut plaisir. Die Herrn Professors sollen nicht sehr lustig in Gesellschaft seyn, und haben alte Frauen. Es ist gewaltig theuer hier, und die Juden wird man gar nicht los. Sie betrügen die Herrn Studenten gar abscheulig, aber das darf jedermann hier thun, besonders der eine Gumprecht das ist ein rechter Schelm. Mein Herr und Herr Meyer die gehen nicht viel aus, ausser in die Collegi, und dann, so wohnt in unserm Hause ein junger Herr von Hundefeld, mit dem gehen sie viel um, und sein Bedienter, der Musjö Haber, der ist mein sehr guter Freund.
Adje, meine herzliebe Jungfer! Ich schreibe heute keinen weitläuftigen Brief, weil ich meines Herrn seine neue Stiefel in Glänz-Wachs setzen muß; so kann ich Ihr heute keinen längeren zufügen.
Doch verbleibe ich stets im Herzen,
Im Glück und Unglück, Noth und Schmerzen,
Meiner allerliebsten Jungfer Sievers
Ihr treu ergebenster Freund
Christoph Birnbaum.
An den Herrn von Hohenau, in Göttingen.
Urfstädt den 8ten November 1769.
Mein lieber Hohenau!
Du wirst ein Paar Zeilen von mir bey Deiner Zurückkunft in Göttingen gefunden haben, und eben erhalte ich auch des Herrn Meyers kleinen Brief,1 darinn er mir den Anfang Eures Fleißes meldet. Ich habe aber nicht ehr als itzt Muße gehabt, auf jeden Punct in Deinem und Deines lieben Mentors Briefen zu antworten. Wir wollen nun einen Vertrag zusammen machen: Ihr sollt mir immer nur gemeinschaftlich Einen Brief schreiben, und so will auch ich, wenn ich zuviel Geschäfte habe, Deinen Freund, den Hauptmann von Weckel, für mich antworten lassen.
Ich wundre mich gar nicht, daß Dir Cassell so sehr gefallen hat. Ich habe dort auch manche fröhlige Stunde gehabt, und kenne den Landgrafen, denn ich habe viel an seinem Hofe und sonst mit ihm in Hamburg und Braunschweig gelebt.
Einige Deiner Anmerkungen über diese Stadt haben mir sehr gefallen; laß mich nur eine kleine Erinnerung dabey machen, die Dir indessen nicht neu seyn wird. Hüte Dich nemlich, an einem fremden Orte gar zu genau nach kleinen Umständen zu kundschaften, welche die Regierungsart, Hof- und Stadt-Annecdoten u.d. gl. angehen. Man kann dadurch oft in große Verlegenheit kommen. Ueberhaupt rede davon, von Krieg und Frieden, vom Wetter, von Verwandtschaften, von Vorzügen Deines Vaterlandes u.s.f. so wenig, als möglich. Man erfährt von diesen Dingen, wenn man auf die rechte Art reiset, und sich unter allerley Gattungen von Menschen mischt, doch immer genug, und oft am mehrsten, wenn man am wenigsten das Ansehn hat, etwas davon wissen zu wollen. Es giebt ja der müssigen Geschöpfe so viel, die ein lebendiges Register solcher Nachrichten sind, und nur gar zu gern einen Reisenden davon unterhalten.
Es würde dem Landgrafen von Hessen ein großer Schatz seyn, wenn Dein romantisches Münden ihm zugehörte, weil dadurch seine Schiffahrt uneingeschränkter würde. Vielleicht könnte Hannover sich auch wohl dabey befinden, wenn es einen Tausch gegen das schöne Schaumburgische zu Stande brächte. Doch gäbe es wohl Mittel, wodurch der Landgraf die Handlung der Mündenschen Schiffer und Kaufleute ziemlich lahm legen könnte. Da ich aber nicht davor bezahlt werde, denen deutschen Fürsten Projecte zu machen, und Du itzt den Commerzienrath Müller nach Cassell gebracht hast; so überlasse ich diesem die Ehre, einen solchen Plan anzugeben.