Der rote Seidenschal - Federica de Cesco - E-Book

Der rote Seidenschal E-Book

Federica de Cesco

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Beschreibung

Federica de Cesco schrieb ihren ersten Roman »Der rote Seidenschal«, als sie gerade mal fünfzehn war. Sie tat es, weil sie fand, die Indianer würden in Filmen und Büchern zu einseitig dargestellt, aber auch, weil sie sich lieber Geschichten ausdachte, als ihren Lehrern zuzuhören. Das Abenteuer – es spielt um die Jahrhundertwende in Arizona – rankt sich um die junge Ann, die durch Zufall Chee kennen lernt, den Jungen mit den goldenen Augen, und durch ihn in die Welt der Indianer gerät. Dass »Der rote Seidenschal« der Beginn eines beispiellosen Erfolgs wurde, hat Federica de Cesco ihrer damaligen Berufsberaterin zu verdanken. Diese beurteilte die Schülerin als völlig fantasielos, worauf sich Federica mit den Worten wehrte: »Das ist nicht wahr! Ich habe gerade einen Roman geschrieben.« Nun, die Berufsberaterin bat darum, ihn lesen zu dürfen, nahm ihren Vorwurf der Fantasielosigkeit zurück und empfahl Federica, das Manuskript an einen Verlag zu schicken. Und ab dem Moment, als klar wurde, dass »Der rote Seidenschal« als Buch erscheinen würde, hatte Federica nur noch nette Lehrer.

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Seitenzahl: 207

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© 2022 Wörterseh, Lachen

Die französische Originalausgabe »Le Foulard rouge« erschien 1957 bei Éditions Gérard in der Reihe Marabout Junior Mademoiselle. Die deutsche Übersetzung von Wolf Kinzel erschien kurz darauf im Schweizer Jugend-Verlag.

Lektorat/Korrektorat der leicht überarbeiteten Jubiläumsausgabe: Andrea LeutholdUmschlaggestaltung: © Thomas Jarzina, unter Verwendung mehrerer Motive von www.shutterstock.com (Frauensilhouette: Peratek, Seidentuch: Jag_cz, Federn: LHF Graphics, Reiterfigur: Cattallina)Layout, Satz und Herstellung: Beate SimsonDruck und Bindung: CPI Books GmbH

Print ISBN 978-3-03763-142-3 E-Book ISBN 978-3-03763-831-6

www.woerterseh.ch

 

Meiner langjährigen Freundin Helga gewidmet

 

Über das Buch

Federica de Cesco schrieb ihren ersten Roman »Der rote Seidenschal«, als sie gerade mal fünfzehn war. Sie tat es, weil sie fand, die Indianer würden in Filmen und Büchern zu einseitig dargestellt, aber auch, weil sie sich lieber Geschichten ausdachte, als ihren Lehrern zuzuhören. Das Abenteuer – es spielt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Arizona – rankt sich um die junge Ann, die durch Zufall Chee kennen lernt, den Jungen mit den goldenen Augen, und durch ihn in die Welt der Indianer gerät. Dass »Der rote Seidenschal« der Beginn eines beispiellosen Erfolgs wurde, hat Federica de Cesco ihrer damaligen Berufsberaterin zu verdanken. Diese beurteilte die Schülerin als völlig fantasielos, worauf sich Federica mit den Worten wehrte: »Das ist nicht wahr! Ich habe gerade einen Roman geschrieben.« Nun, die Berufsberaterin bat darum, ihn lesen zu dürfen, nahm ihren Vorwurf der Fantasielosigkeit zurück und empfahl Federica, das Manuskript an einen Verlag zu schicken. Und ab dem Moment, als klar wurde, dass »Der rote Seidenschal« als Buch erscheinen würde, hatte Federica nur noch nette Lehrer.

 

Über die Autorin

Federica de Cesco, geb. 1938, kam als Tochter eines italienischen Vaters und einer deutschen Mutter im norditalienischen Pordenone zur Welt und verbrachte ihre Kinder- und Jugendjahre in Äthiopien, Frankreich, Norddeutschland und Belgien – das ist der Grund dafür, dass sie neben Italienisch auch fließend Deutsch und Französisch spricht. Sie studierte an der Universität Lüttich Kunstgeschichte und Psychologie und zog 1962 in die Schweiz. Bereits mit fünfzehn Jahren schrieb sie ihren jetzt neu überarbeiteten ersten Roman »Der rote Seidenschal«. Es folgten viele weitere Jugendbücher, bis ihr 1994 – mit »Silbermuschel«, dem ersten Buch für Erwachsene – ein aufsehenerregendes Debüt in der Belletristik gelang. Heute lebt Federica de Cesco mit ihrem Mann, dem japanischen Fotografen Kazuyuki Kitamura, in Luzern.

 

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

immer wieder kommt es vor, dass ich auf der Straße, in einer Buchhandlung, im Kino, im Bus, auf dem Gemüsemarkt oder in einer Boutique eine Weile lang beobachtet werde, bevor man sich mir zögernd nähert und mich anspricht: »Entschuldigen Sie, sind Sie nicht Federica de Cesco? Als Schülerin habe ich Ihr Buch ›Der rote Seidenschal‹ gelesen.«

Diese Worte höre ich ebenso aus dem Munde einer Schuhverkäuferin, einer Kassiererin im Warenhaus oder einer Platzanweiserin im Konzertsaal, und dort auch in der Pause beim Anstehen vor der Toilette.

Jedes Mal sehe ich den gleichen Ausdruck im Gesicht dieser Frauen: eine Mischung aus Befangenheit, Rührung und Freude. Und jedes Mal empfinde ich dabei ähnliche Gefühle: Befangenheit, dass ich erkannt wurde. Rührung, dass diese Frauen sich getraut haben, mich anzusprechen. Und Freude, weil ich erfahre, was der »Rote Seidenschal« für meine damaligen Leserinnen bedeutete.

Einige dieser Frauen haben bereits erwachsene Enkelkinder. Doch ich sehe in ihren Augen, wie jung sie geblieben sind. Vor über sechzig Jahren – als sie Schülerinnen waren – wurden sie als Mädchen anders erzogen als die Buben. Man beschränkte ihren Bewegungsdrang, ihre Lebensfreude. Anmut, ja, aber keine Muskelkraft. Sport? Zu gefährlich für die weiblichen Organe! Bücher lesen? Zeitverschwendung! Studieren? Lohnte sich doch kaum für Mädchen, die ohnehin bald heiraten würden. Sie sollten lieber die Haushaltsschule besuchen.

Und dann – wie aus heiterem Himmel – platzte ein Buch in ihre kleine Welt. Geschrieben von einer unbefangenen, komplexlosen Fünfzehnjährigen, die keine Ahnung hatte, was sie da anrichtete. Etliche Lehrpersonen kritisierten den »Roten Seidenschal« als »jugendgefährdend«. Man zeterte und moralisierte. Aufgeschreckte Eltern verboten ihren Töchtern das Buch. Es kamen darin – ach, wie schlimm – »Körperkontakte« vor. Nun, offensichtlich lasen unzählige Mädchen heimlich. Nicht selten unter der Bettdecke, im Licht einer Taschenlampe, und mit klopfendem Herzen.

Rückblickend glaube ich, dass »Der rote Seidenschal« etlichen meiner Altersgenossinnen dabei half, sich gegen die damals vorherrschenden sturen Vorschriften zu wehren, ihren Weg zur Freiheit und in die Eigenständigkeit zu suchen und ihn auch zu finden.

Aus diesem Grund bin ich den Frauen, die mich ansprechen, dankbar, denn ihre Freude ist auch meine Freude. Sie schenken mir das Gefühl, dass ich in ihrem Leben etwas bewirkt habe. Etwas Wesentliches, das in ihrer Erinnerung geblieben ist.

Heute würde ich den »Roten Seidenschal« wohl anders schreiben. Ich würde das Volk der Apachen lebensnaher zeigen, ihr Brauchtum besser erklären, ihre tragische Situation deutlicher dokumentieren. Und natürlich würden sich Ann und Chee, der Junge mit »den goldenen Augen«, nie trennen, sondern – allen Konventionen ihrer Zeit zum Trotz – gemeinsam in den Sonnenuntergang reiten und noch heute glücklich zusammenleben. Es wäre das Ende, das sich alle meine damaligen Leserinnen erhofft hatten.

Federica de Cesco, im September 2022

 

Inhalt

1 I Die Wüste

Mesilla

Der Junge mit den goldenen Augen

Der Aufbruch

Die Nacht in der Wüste

Begegnung in der Einöde

Der dürre Ast

Gefährlicher Zweikampf

Ann greift ein

Die Indianer

2 I Das Dorf in den Dragoon Mountains

Das Mädchen mit den Feueraugen

Mouna stiftet Unheil

Ein Gewitter

Der Fluss

Sergeant Browns Auftrag

Der Angriff

Die beiden Patrouillen

Der Rückzug

Die Trommel des Todes

3 I Das Abenteuer geht zu Ende

Tante Adele

Der rote Seidenschal

 

1^

Die Wüste

 

mesilla

»Ann, halt dich gerade!«

»Ja, Tante Adele.«

»Leg die Beine nicht übereinander!«

»Ja, Tante Adele.«

»Hör mit dem Daumendrehen auf!«

Die alte Dame, bis ans Kinn in kaffeebraune Seide gehüllt, bekräftigte jede dieser Ermahnungen mit einem Stirnrunzeln, das den auf ihrer Nase balancierenden Zwicker ins Wanken brachte.

Neben ihr auf der Bank hockte eine dicke, kleine Alte, rot und verhutzelt, und strickte an einem Schal. Bei jeder Bemerkung schreckte sie zusammen und ließ die letzte Masche fallen, die sie dann mit bewundernswerter Geduld wieder aufnahm.

Im Übrigen hörte man nur das gleichmäßige Rattern des Zuges, der durch die felsige, dürre Landschaft dahinrollte.

Die gepolsterten Sitze des Damenabteils waren mit blassgrünem Samt bezogen. Vier Personen saßen darin: die beiden alten Damen, eine weitere Frau mittleren Alters in einem kanariengelben Reisekleid und ein sehr junges Mädchen, kerzengerade, die Hände über den Knien zusammengelegt, das Gesicht zum Fenster gewandt. Von Zeit zu Zeit musterte es die beiden Begleiterinnen mit düsterem Blick. Das Mädchen mochte vielleicht siebzehn Jahre alt sein; es war nicht schön, ja kaum hübsch zu nennen. Schlank, fast mager, mit blondem, leicht gewelltem Haar, das von einem schwarzen Samtband gehalten wurde, mit einem schmalen Gesichtchen, etwas zu breitem Mund und zu schmaler Nase. Das einzig Schöne an ihr waren die Augen, groß und grau, umschattet von langen Wimpern und dunkelbraunen, fast schwarzen Augenbrauen, die von dem Blond ihres Haares seltsam abstachen. Sie trug ein hochgeschlossenes weißes Kleid. So unbeteiligt sie sich gab – ihre nervösen Hände und ihre lebhaften, unruhigen Augen zeigten, dass sie es in Wirklichkeit nicht war.

Die Dame im kaffeebraunen Seidenkleid dämmerte mit halb geschlossenen Augen vor sich hin. Die kleine Alte strickte; die Reisende in Kanariengelb blätterte in alten Modejournalen … und das junge Mädchen ließ gelangweilt seine Blicke über die Landschaft gleiten. Felsen und immer nur Felsen, hier und da Dornengestrüpp, riesige Kakteen, unförmigen Kandelabern gleich – und immer wieder Felsen, deren Färbung von hellem Ocker bis zu dunklem Rot spielte, bis an den diesigen Horizont.

Während sie die Landschaft betrachtete, gingen die Gedanken der jungen Ann ihre eigenen Wege. Arizona war doch wirklich eine fremdartige Gegend! Dieses dürre, feindselige Land war so völlig anders als Georgia, wo Ann geboren war. Dort war alles heiter, lachend und frisch; Ann erinnerte sich an tiefe grüne Wälder, Seen, üppige Plantagen, die sich zwischen sanfte Hügel schmiegten.

Damals wohnten sie am Ufer eines Flusses, in einem großen weißen Haus. Ann verbrachte dort ihre Kindheit – heiter und sorglos, obwohl sie ihre Mutter früh verloren hatte. Dann, als sie elf Jahre alt war, sah sie auch ihren Vater sterben, und das war ein großer Schmerz für sie; sie ahnte auf einmal, ja sie wusste es mit Bestimmtheit: Nun waren die schönen Kinderjahre zu Ende.

Ein paar Tage später hatte Tante Adele sie zu sich geholt. Sie war eine Halbschwester des Verstorbenen und besaß in Phoenix, Arizona, ein altes Haus und einen kleinen Garten. Eine schwere Umstellung war das für das freiheitsliebende Kind, das gewöhnt war, den kleinsten Wunsch erfüllt zu bekommen. Tante Adele hatte sich in den Kopf gesetzt, aus ihrer Nichte eine tüchtige Hausfrau zu machen; daneben versuchte sie mit allen Mitteln, ihren Freiheitsdrang zu zähmen – ohne sonderlichen Erfolg allerdings. Denn wenn Ann schließlich auch Lauchsuppe kochen, Leintücher säumen, Spitzen klöppeln und sticken lernte, so versäumte sie doch keine Gelegenheit, sich davonzustehlen und zusammen mit anderen Kindern ihres Alters irgendwo draußen vor der Stadt umherzustreifen.

Aber das Mädchen wurde allmählich vernünftiger – wenigstens schien es so –, und die alte Dame vermerkte mit Freude, wie schön sie es gezähmt hatte. Dabei sah sie nicht, dass Ann, wie ein Vogel im Käfig, nur auf eine Gelegenheit wartete, auf und davon zu fliegen und dieser engen und steifen Umgebung zu entwischen.

Aufseufzend schüttelte Ann ihre Haare. Was war das doch für eine langweilige Fahrt! Sie hatte Mitleid mit sich selbst: Tante Adele fuhr nämlich zu einer alten Freundin, die in Tucson ein Hotel besaß, nun aber erkrankt war und Hilfe brauchte.

Und Tante Adele war wie geschaffen dafür, das Zepter zu schwingen!

Natürlich fiel es der alten Dame nicht im Traum ein, in der Zwischenzeit ihre Nichte sich selbst zu überlassen; sie hatte sie mit sich genommen, ohne nach ihrer Meinung zu fragen. Übrigens haben junge Mädchen ja gar keine Meinung zu haben, das weiß man doch!

Mit einem Seufzer wandte Ann sich von der eintönigen Landschaft ab und nahm das Abteil und seine Insassen in Augenschein. Tante Adele saß mit geschlossenen Augen da; Eulalie, Anns alte Kinderfrau, strickte unentwegt, die Nase über ihre Arbeit gebeugt. Oh, jetzt eine Maus oder irgendein anderes kleines Tierchen hier im Abteil loslassen – wie hätte das Spaß gemacht! Mit einem spitzen Schrei würde Tante Adele auf die Bank springen und sich die Röcke zuhalten … Ein urkomisches Bild!

Vorsichtshalber nahm Ann die Hand vor den Mund – da fiel ihr Blick auf die Dame in Gelb, die immer noch las. Ann starrte sie neidisch an – anscheinend mit solcher Kraft, dass die Lesende plötzlich aufschaute.

»Sie langweilen sich doch sicher? Möchten Sie gern etwas lesen?«, fragte sie und reichte der verdutzten und zugleich entzückten Ann eines ihrer Hefte herüber.

Tante Adele zuckte zusammen – Ann fühlte das mehr, als dass sie es sah; aber sie achtete nicht darauf, sondern nahm das Heft und bedankte sich. Rasch machte sie sich ans Lesen und fühlte dabei den zornigen Blick ihrer Tante auf sich. Nach einer Weile begann diese zu hüsteln. Ann blickte nicht einmal auf, sie war völlig in die Betrachtung der Modebilder vertieft, in diese Gestalten in weiten Seiden- und Samtkrinolinen mit gewaltigen, manchmal fast komischen Hüten, die so groß waren wie Wagenräder!

Ann unterhielt sich königlich dabei und genoss es, von Seite zu Seite zu blättern. Als aber schließlich Nachthemden und Unterwäsche mit Bändern und Spitzen sichtbar wurden, da verschluckte sich Tante Adele und erlitt einen Hustenanfall.

»Hm … ch … Ann, mein Kind, zeig mir doch bitte mal diese Zeitschrift; die scheint ja sehr interessant zu sein«, säuselte sie mit honigsüßer Stimme.

Alter Drachen!, dachte Ann und reichte ihrer Tante das Heft. Die nahm es zwischen Daumen und Zeigefinger, legte es auf die Knie, sah sich die Titelseite an, die ein Ballkleid mit reichem Flitterwerk zeigte, zog dabei ein Gesicht, als hätte sie eine bittere Arznei geschluckt, lächelte schließlich säuerlich und reichte die Zeitschrift, immer noch mit Daumen und Zeigefinger, der gelb gekleideten Dame zurück, die ihr mit belustigter Miene zusah.

»Ich danke Ihnen«, sagte sie steif, »ich bin wohl doch ein bisschen zu alt für eine derartige Lektüre.«

Auf dem Gesicht der Dame lag ein spöttisches Lächeln, doch dann bemerkte sie Anns flehenden Blick und sagte freundlich: »Aber hat das Fräulein das Heft überhaupt zu Ende gelesen?«

Und als Ann strahlend den Kopf schüttelte, nahm sie eine andere Nummer und reichte sie ihr zusammen mit der ersten: »Da haben Sie gleich noch ein Heft.«

Ein entsetzlicher Husten rasselte durch das Abteil. Tante Adele hatte sich schon wieder verschluckt.

Ann aber lehnte sich in ihre Ecke zurück und machte sich mit Wonne von neuem über die Zeitschriften her.

Die Zeit verstrich. Es war später Nachmittag, als die Dame im gelben Kleid unvermittelt ihr Heft zuklappte, eine Uhr aus dem Ausschnitt zog und auf das Zifferblatt schaute.

»Fünf Uhr«, sagte sie zu Ann, die aufblickte, »bald sind wir in Mesilla.«

»Mesilla – ist das groß?«, erkundigte sich Ann.

Die Dame schüttelte den Kopf. »Nein, wirklich groß kann man es nicht nennen.«

Ann hatte die beiden Zeitschriften durchgeblättert; jetzt hatte sie Lust, zu plaudern. Spitzbübisch blickte sie zu Tante Adele hinüber, die mit geschlossenen Augen und verkniffenem Mund schwieg; dann fragte sie unbekümmert: »Mögen Sie diese Gegend?«

»Das nicht gerade, aber ich finde sie schön und interessant. Ich will meinen Bruder in Fort Williams besuchen, mitten im Indianergebiet. Es ist herrlich dort: Ich schwärme für Abenteuer!«

»Ich auch!«, rief Ann mit Nachdruck. Und nach kurzem Schweigen: »Aber die Indianer sind wahrscheinlich gefährlich? Sind sie nicht fast so eine Art Wilde?«

Da lachte die Dame so schallend auf, dass Tante Adele in die Höhe fuhr und die alte Eulalie wieder eine Masche fallen ließ.

»Eine Art Wilde!«, rief sie. »Das ist ja köstlich! Nein, nein! Sie sind eher … Aber sehen Sie doch« – sie wies zum Fenster – »da sind ja schon die ersten Häuser von Mesilla!«

Ann wandte den Kopf. Statt der Häuser sah sie nur Holzhütten, umgeben von weiten Einfriedungen, in denen Schafe herumsprangen. Ein paar zerlumpte Jungen hockten auf den Zäunen und begrüßten den Zug mit Winken und Johlen.

Dann rückten die Hütten enger zusammen, dazwischen tauchte da und dort ein Haus aus rotem Backstein auf. Am Horizont zeichnete sich eine Bergkette gegen den blauen Himmel ab.

Der Zug fuhr langsamer, die alte Lokomotive stieß einen schrillen Pfiff aus. Ann wandte sich wieder der Dame zu, die schon ihr Gepäck zusammenstellte: eine lederne Reisetasche, einen kleinen Koffer und ein Einkaufsnetz mit Paketen.

»Das ist also Mesilla?«, fragte sie und zog die Nase kraus.

»Leider ja«, antwortete die Dame, während sie sich vor dem zerkratzten Spiegel an der Abteilwand einen mit Bändern geschmückten Hut aufsetzte.

Und das war der ganze Bahnhof? Ann sah ein paar Steinhäuser, die unvermeidlichen Hütten und so etwas wie einen Bahnsteig aus wurmstichigem Holz einige Meter entlang der Gleise. Am Balkon eines Lebensmittelladens prangte eine große weiße Tafel, auf die in schreiendem Rot das Wort MESILLA gemalt war. Die Bremsen kreischten, der Zug hielt mit heftigem Ruck. Die Dame nahm Reisetasche, Netz und Koffer, nickte dem Mädchen freundlich zu, verließ das Abteil und schloss die Tür hinter sich.

»Hm … Annette-Beatrix, du hast dich ja wieder einmal unmöglich aufgeführt!«

Tante Adele hatte jetzt die Augen offen und durchbohrte Ann mit wütenden Blicken. Das Mädchen faltete die Hände über den Knien.

»Ja, Tante Adele«, sagte es zerstreut.

Die alte Dame hob die Arme gen Himmel, dass man die Nähte ihrer engen Ärmel krachen hörte: »Ohne Rücksicht auf deine Würde, auf deine Herkunft und auf deine Erziehung wagst du es, an diese … diese Person das Wort zu richten? Wagst es – ich sage: wagst es, dich durch den Anblick solch unmoralischer Abbildungen zu besudeln? Schäm dich! Aber – hörst du mir überhaupt zu?«

Ann schien offenkundig durch irgendetwas abgelenkt zu werden. Plötzlich sprang sie vom Sitz auf.

»Na, was gibt es denn nun schon wieder?«

Ohne zu antworten, trat das Mädchen zu dem Platz, auf dem die Dame in Gelb gesessen hatte, bückte sich und hob einen ziemlich zerknitterten Schal auf, der unter die Bank geglitten war. Ann breitete ihn auseinander.

»Oh, ist der schön!«, rief sie.

Es war eine Art Stola mit Fransen. Die rote Seide glänzte und erzeugte beim Anfassen ein angenehmes, kühles Gefühl. Rasch sah Ann aus dem Fenster: Die Reisegefährtin verschwand gerade hinter einem Haus, ihre langen, weiten Röcke wippten bei jedem Schritt. Ann presste das Tuch an sich.

»Der Schal war bestimmt teuer … sie war so nett zu mir … ich muss ihn ihr bringen …«, murmelte sie. Und plötzlich stürzte sie zur Tür. »Ich bin gleich wieder da!«, rief sie zurück.

»Annette!«, entrüstete sich Tante Adele.

»Kindchen!«, schrie Eulalie auf und ließ gleich eine ganze Reihe von Maschen fallen.

Mit einem Krach schlug die Tür vor der Nase der beiden alten Damen zu.

Auf dem Gang drängte Ann sich durch die schmunzelnden Mitreisenden.

»He, Kleine«, rief einer, »beeile dich, der Zug fährt gleich weiter!«

Aber da sprang das Mädchen schon auf den Bahnsteig. Einen Augenblick blieb Ann stehen und sah sich unschlüssig um.

Ein paar rohe Kerle mit wenig ansprechendem Äußerem schauten sie grinsend an, die Hände in die Seiten gestemmt. Vor dem Laden spielte eine Horde Jungen mit Murmeln. Ann raffte mit einer Hand ihren Rock zusammen, rannte in die Richtung, in der die Dame verschwunden war, und als sie um das Haus bog, sah sie eine schmutzige Gasse vor sich. Sie folgte ihr und bog in eine breitere Straße ein. Auf jeder Seite waren Bars, aus denen Grölen und Lachen schallte. Pferde waren dort angebunden und warteten mit gesenkten Köpfen neben ihren Futtersäcken, während Cowboys auf dem hölzernen Gehsteig saßen und lärmend Karten spielten.

»Verzeihen Sie: Haben Sie vielleicht eine Dame in einem gelben … einem hellgelben Kleid gesehen?«, fragte Ann eine junge Mexikanerin.

Die Frau starrte sie aus großen schwarzen Augen verständnislos und erstaunt an. »Qué sé yo?«, fragte sie und hob die Schultern. Offenbar hatte sie kein Wort verstanden.

Ann ließ ihren Arm los und strich sich über die Stirn. Wo mochte nur die Dame geblieben sein? Sie zuckte die Achseln und wandte sich ab. Aber da durchfuhr sie plötzlich ein heilloser Schrecken: »Mein Gott, der Zug!« Sie ließ die Mexikanerin stehen, machte kehrt und lief los. Wie der Wind hatte sie diese und eine weitere Straße durchquert – und hielt plötzlich inne, die Hand vor dem Mund.

»Wie denn!«, murmelte sie. »Bin ich denn verrückt? Hier müsste ich doch den Bahnhof schon sehen! Ich …«

Völlig verwirrt blickte sie sich um. Auf einer Treppenstufe saß ein kleiner Junge und sah ihr interessiert zu. Als Ann auf ihn zulief und ihn am Arm schüttelte, sprang er auf.

»Der Bahnhof … Wo ist hier der Bahnhof?«

Der Junge sah sie ohne Aufregung an, dann streckte er unmissverständlich die hohle Hand aus. Wie im Fieber nestelte Ann ihr Geldtäschchen vom Gürtel und drückte dem Jungen mit zitternden Fingern eine Münze in die Hand; was es für ein Geldstück war, darauf achtete sie nicht. Der Junge warf einen raschen Blick auf die Münze und verbarg die Hand sofort hinter dem Rücken. Dann wies er mit dem anderen Arm geradeaus: »Erst rechts, dann links abbiegen«, sagte er und lief davon.

Ann rannte weiter, bog nach rechts in eine Gasse und fand schließlich, völlig außer Atem, den Bahnhof wieder.

Aber dann stand sie da, vor Entsetzen erstarrt: Fort war der Zug, fort die Reisenden, keine Seele mehr weit und breit! Der Bahnhof war völlig leer und verlassen!

Sie musste sich an eine Mauer lehnen, außer Atem, fassungslos …

»Fühlen Sie sich nicht wohl, kleines Fräulein?« Ein Mann trat auf sie zu; halb belustigt, halb gerührt über ihr erschrockenes Gesicht.

»Der Zug …«, stammelte Ann völlig verstört.

»Ach, der Zug? Ja, der ist weg. Sie haben ihn wohl verpasst? Nun, dann warten Sie eben auf den nächsten, Miss. Fragen Sie doch bei Thomson, in dem Laden da drüben, wann der nächste geht.«

Ann kam langsam wieder zu Atem; sie gewann ihre Fassung zurück, hob den Kopf und murmelte etwas, das ein Dankeschön sein sollte.

Nachdem der erste Augenblick der Bestürzung vorüber war, fing sie an, das Erlebnis interessant zu finden. Tante Adele würde sicher schrecklich böse auf sie sein! Aber an die Sorge, die die alte Dame sich gewiss um sie machte, dachte Ann jetzt kaum. Sie betrachtete den Schal, den sie immer noch in der Hand hielt; dann legte sie sich ihn mit einer entschlossenen Bewegung um die Schultern.

Nun, sie wusste, was sie zu tun hatte. Sie stieg die paar Stufen hinauf und stieß die Ladentür auf.

Laut klirrendes Glockengebimmel tönte durch einen düsteren Raum. Neugierig sah Ann sich um.

Da lag Käse neben Vogelkäfigen, ein Paar Schuhe lehnte an einer Kiste Spinat, Konservenbüchsen standen auf einem Wandbord, große Gläser mit roten und gelben Bonbons schimmerten im Halbdunkel, Zwiebelschnüre und ein paar Schinken hingen an der Decke, und über allem schwebte ein undefinierbarer Geruch – wie nach Schuhwichse, Lebkuchen und Leder. Ungeduldig lief Ann zur Theke und begann, nervös auf das alte, raue Holz zu trommeln. Endlich öffnete sich eine Tür in der Rückwand des Raumes, und ein Lichtschein fiel herein. Ein kleiner, völlig kahlköpfiger, alter Mann mit einer Brille auf der Nase trippelte herein.

»Sie wünschen?«

»Ich möchte gern wissen, um wie viel Uhr der nächste Zug nach Tucson fährt«, sagte Ann.

»Der nächste Zug nach Tucson?«, wiederholte der Alte. »Augenblick, muss mal nachsehen …«

Er ging an ein Regal, zog einen verstaubten Wälzer heraus, leckte einen Finger und begann zu blättern. »Der Zug nach Tucson …«, brummte er dabei, »… der Zug nach … Ah, da haben wir ihn ja schon.«

Er hob die Nase.

»Der Zug nach Tucson fährt – Fahrplanänderungen vorbehalten – am elften September um sieben Uhr vierzig … Das heißt«, setzte er hinzu und schlug das Kursbuch mit einem dumpfen Knall zu, »in genau drei Wochen!«

Ann wurde blass.

Mürrisch schüttelte der alte Mann den Kopf.

»Am elften September, sieben Uhr vierzig«, wiederholte er. »Soll ich es Ihnen aufschreiben?«

Ann musste sich an der Theke festhalten.

»Oh nein … ich … Bemühen Sie sich bitte nicht …«

Wie im Traum wankte sie zur Tür und die Treppe hinunter. Drei Wochen! Mit wütendem Griff zerknüllte sie den Schal, den sie um die Schultern trug.

Einen Moment lang fühlte sie sich schwach werden, aber dann erwachte in ihr ein mächtiger Tatendrang, und sie spürte, dass sie hungrig war. Mit einem Dollar und ein paar Cents in der Tasche kommt man nicht weit, dachte sie. Und wo bleibe ich über Nacht? Ich werde mir Arbeit suchen müssen. Also gut, da hab ichs nun! Ich wollte ja schon immer ein Abenteuer erleben!

Sie setzte sich auf die Treppenstufen, nestelte ihr Geldtäschchen los und schüttete den Inhalt in ihren Schoß. Ein paar Münzen fielen heraus. Ja, aber wo war der Dollar geblieben? Sie schaute in das Täschchen hinein. »Mein Gott«, murmelte sie, »wo kann denn bloß …« Und dann fiel ihr plötzlich ein: Das Dollarstück musste sie vorhin dem Jungen gegeben haben … und sie hatte es überhaupt nicht gemerkt!

Da verließ sie der Mut.

Bald senkte sich die Dämmerung über die trostlosen Häuser und Hütten von Mesilla. Ann fühlte sich sehr einsam und verlassen. Der Hunger begann, sie zu quälen, sie zählte ihren Reichtum: Er reichte gerade für ein Brot. Aber das würde sie sich erst morgen kaufen.

Ann erhob sich langsam und machte sich auf den Weg. Wo sollte sie übernachten? Die verrücktesten und unmöglichsten Einfälle schossen ihr durch den Kopf: sich in ein Hotel einschleichen und in irgendeinem Zimmer einschließen? In der Kirche um Aufnahme bitten? Auf einer Bank im Freien schlafen? Oder würde sich vielleicht ein feiner Herr ihrer annehmen und sie im vierspännigen Wagen weiterbringen? Unsinn! So etwas gabs ja nur im Roman. Im Übrigen schien diese Stadt von Gentlemen nicht gerade zu wimmeln, jedenfalls wenn man nach den finsteren Gestalten urteilen wollte, die da überall herumlungerten.

Inzwischen hatte sie die Hauptstraße erreicht. Aus den hell erleuchteten Bars drangen Gesang, Gelächter und vereinzelt Gitarrenakkorde. Der Geruch von gebratenem Fleisch und Tabaksqualm hing in der Luft. Irgendwo in der Ferne fiel ein Pistolenschuss.

An eine Mauer gelehnt, blickte Ann neugierig um sich. Männer bummelten vorüber, einige musterten sie interessiert. Ein Kerl mit schiefem Gesicht trat ihr im Vorbeigehen auf den Fuß und sah sie herausfordernd an. Ann wurde ärgerlich und versetzte ihm einen Stoß – zur Belustigung der Vorübergehenden.

Da wurde sie unruhig. Um sie herum lauter fragwürdige oder feindselige Gesichter: Hier grinste sie ein dunkelhäutiger Mann, die Mütze in die Stirn gezogen, blöde an und ließ dabei eine Reihe Goldzähne sehen; dort stand ein Mexikaner mit fettig glänzendem Gesicht, einen ausgefransten Sombrero auf dem Kopf; da drüben ein bärtiger, alter Cowboy mit einem wahren Urwald von Augenbrauen; neben ihm eine hässliche Frau mit violetten Lippen.

Wütend drängte Ann sich durch die Gaffer und lief davon, auf gut Glück, irgendwohin. Gelächter und Spottrufe erhoben sich hinter ihr; keuchend rannte sie vorwärts und musste ihren langen Rock anheben, um nicht zu stolpern.

Es war nun völlig dunkel geworden; wunderbar klar glitzerten die Sterne am schwarzen Himmel – ein tröstlicher Gegensatz zu den Gassen mit ihren Hütten und den dunklen Winkeln.