Der Rucksack war nie mein Zuhause - Johannes Thon - E-Book

Der Rucksack war nie mein Zuhause E-Book

Johannes Thon

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Beschreibung

Johannes hat es vermasselt: Der Job ist weg, seine Lebenspläne sind verworfen und auch die Beziehung ist soeben zu Ende gegangen. Irgendetwas muss sich ändern, denkt er und nimmt die Gardinenstange von der Wand. Mit seinem kläglichen Versuch eines Wanderstabs sitzt er kurz darauf im Zug in Richtung Spanien. Für ihn scheint es nur allzu logisch, jetzt erst einmal 1.400 Kilometer zwischen sich und alles andere zu bekommen und dann sicherheitshalber weitere 1.000 Kilometer zu laufen. Doch auf dem Camino del Norte, einem dieser bedeutungsaufgeladenen Jakobswege, wartet statt des Selbstfindungs-Crashkurses das Pilger-Karussell auf ihn: essen, rennen, schlafen. War es im Alltag nicht genauso gewesen? Als er dann einem besonderen Menschen begegnet, beginnt für ihn die wahre Reise und seine Suche nach dem »Wie«: Wie gehe ich einen Weg? Mit viel Wortwitz und Selbstironie nimmt Sie Johannes Thon mit auf die wohl unterhaltsamste Pilgerreise der letzten Jahre. Er berichtet von Wahrheiten und anderen Irrtümern seines Weges und trägt Sie dabei mit auf seinen Schultern.

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© Conbook Medien GmbH, Neuss, 2023

Alle Rechte vorbehalten.

www.conbook-verlag.de

www.instagram.com/conbook_verlag

Einbandgestaltung: Favoritbuero, München, nach einem Entwurf des Autors

Vorlektorat: Carolin Jürgens, Frank Hebestreit

Satz und Kartografie: David Janik

Druck und Verarbeitung: CPI Books GmbH, Leck

894617 01 23 5

ISBN 978-3-95889-461-7

eISBN 978-3-95889-471-6

Caro,ich danke dir.

INHALT

Externe Vollbremsung

Pilgerlevel 0

Matetee mit Petrus

Realitätscheck

Problemhierarchien

Weltschmerzdebatten

Tonspuren

Die Sache mit dem ›Wie‹

Der Camino spricht nicht

Das Metronom der Metropolen

Turbopilgern

Himmelfahrtsbriefing

Eine Seifenblase in der Wüste

Im Wackelkontakt

Sechzehn von Sechzehn

Gelborange

Alles ist möglich und nichts

Die Garderobenmarke verlieren

Sacar la basura

Eine Sprache fernab der Worte

Meine schwarze Katze

Supermarkttypischer Rundumblick

Lektion vom Bronzeaugustus

Sie stellten eine Leiter auf

Freiheit und das Rasenmäherwunder

Die Versuchung des Berges

Fallblattmomente

The people are the teacher

Der Camino spricht doch

Loslassen und Losgehen

Igel in den Bäumen

Erfahrungen

Einen Türspalt offen lassen

Einen Weg allein gehen

Bote der Freundschaft

Erwartungen

Etwas Neues

Fusselquote

Im Schuhkarton aus Stein

Der Rucksack war nie mein Zuhause

Nasse Schuhe und nasse Augen

Die Sorgen des Meeres

Zwei Puzzle

Müdigkeit

Das Rascheln des Caminos

Ist die Geschichte wahr? Ja.Wurde alles so gesagt? Nein …

… doch ich verstand es so.

TEIL 1

TAG 1

Externe Vollbremsung

Ich habe eine Gardinenstange in der Hand. Eigentlich ist es bloß ein Ast – aus dem Garten meiner Nicht-Mehr-Freundin, um ganz genau zu sein. Er war das wanderstabähnlichste, was ich in meiner Noch-Wohnung finden konnte. Ohne Gardine, dafür etwas gekürzt und vertikal gehalten, und schon sieht man aus wie jemand, den man nicht mehr ernst nehmen kann. Der Kontextwandel von Ast zu Gardinenstange zum Pseudowanderstab erfährt nun mit dem Ziel von Santiago de Compostela eine Komplettfinalisierung in einen Pilgerstab. Demzufolge bin ich mit ihm in der Hand ein Pilger.

Fühlen tue ich mich allerdings nicht so. Möglicherweise liegt es daran, dass ich mich noch mitten in der Warteschlange des DB-Informationsschalters befinde.

Schon am Morgen, als mir das erste Ausrufezeichen ins Gesicht leuchtete, erahnte ich, dass ich hier bald stehen würde. Der Anschluss könne möglicherweise nicht erreicht werden, hieß es. Grund dafür sei die Unwetterlage über Deutschland. Es klebte also von Anfang an der Zeitdruck wie ein Aneurysma im Fahrplan und wartete nur darauf zu platzen. Und das tat er dann schließlich auch: »Sehr geehrte Fahrgäste, unser Zug hat aktuell eine Verspätung von zwölf Minuten. Alle Fahrgäste, die weiter nach Paris wollen: der Anschlusszug kann leider nicht auf uns warten. Nächster Halt: Bad Wasweißich.«

Ob ich, der noch nach Paris wollte, nun warten könne, fragte man natürlich nicht. Meine Antwort wäre ein empörtes ›Äh nein‹ gewesen, denn ich musste ja heute noch über eintausend Kilometer Luftlinie hinter mich bringen.

In der Warteschlange nehme ich indessen die Poleposition ein.

»Hallo. Ich bin auch einer der Fahrgäste, die nach Paris wollen und den Anschlusszug nicht mehr bekommen haben«, versuche ich das Gespräch vorab auf ein Minimum zu reduzieren. Zwei regungslose Augen eines mittelalten Mannes schauen mich einige Wimpernschläge lang an, und zwischen ihnen spiegelt sich die Blankoseite seiner Lösungsvision.

»Na, der Zug von Karlsruhe nach Paris konnte nicht auf uns warten und ich brauche jetzt neue Fahrkarten von Karlsruhe nach Paris und von Paris nach Hendaye«, führe ich weiter aus. Doch die Augen meines Gegenübers verändern sich nicht. Ihr Träger scheint offenbar keinen blassen Dunst zu haben, wovon ich rede. Den letzten Versuch, hier ohne ausgiebige Problembeschreibung davonzukommen, sehe ich darin, ihm meinen Fahrplan aufgefächert auf den Tresen zu legen.

»Hm.« Die erste wirkliche Reaktion. »Damit müssen Sie zum DB-Reisezentrum.«

»Wo finde ich das denn?« Seine Antwort, repräsentiert durch ein Fuchteln mit seinem Kugelschreiber, verweist mich auf einen knapp sieben Meter entfernten Glaskasten. Von außen wirkt dieser wie ein zu volles Aquarium. Von innen auch. Ich ziehe die Nummer 79 (aktuell blinkt 39) und dann sitze ich müde wie ein schlechtgezeichneter Cowboy zwischen all den Reisenden.

Die Minuten rollen indessen dahin und meine potentiellen Züge gleich mit. Trampen ist wahrscheinlich die einzig ordentliche Art des Reisens, denke ich mir, während ich meinem Sitznachbarn beim Ausziehen meiner Pilgeruniform einen Nierenschlag verpasse. Ich wäre nicht überrascht, wenn er das Gleiche denken würde.

Doch dann endlich. Bing Bing.

»Guten Tag, was kann ich für Sie tun? Also nach Paris wollen Sie… Ach ja und dann noch weiter… einmal durch Frankreich… bis Spanien… nun gut… 15:32 Uhr fährt der nächste Zug nach Paris«, informiert mich ein hektisch klickender DB-Reisezentrumsexperte. »Aber nach Hendaye werden Sie… warten Sie! Nein, also Hendaye werden Sie heute nicht mehr erreichen. Der letzte TGV ist bereits ausgebucht.«

»Ich werde also in Paris stranden?«, frage ich und habe das Gefühl, dass seine Antwort meine Stimmung nachhaltig beeinträchtigen könnte.

»Warten Sie…«, beginnt er, klickt noch zwei weitere Male (wahrscheinlich fährt er bereits seinen Computer herunter) und sagt dann schließlich: »Ja.«

»Und… und wie geht es dann weiter? Also für mich? Dann brauche ich ja ein Hotel und neue Fahrkarten für morgen«, stelle ich fest und spüre, wie mich jemand aus meiner Komfortzone schubst.

»Klären Sie das einfach mit den französischen Kollegen in Paris. Ja? Die stellen sich da manchmal etwas an, da sollten Sie hartnäckig bleiben. Guuut. Also dann. Gute Fahrt«, sagt mein Gegenüber, klopft routiniert meine Karten zusammen und drückt schon mal auf den Nächste-Nummer-Knopf. Bing Bing.

Großartig! Das beginnt ja wirklich großartig! Nicht nur, dass mir die zwölf Minuten Verspätung fast zehn Mal so viel Wartezeit bescheren, ich verliere auch einen ganzen Tag in Spanien. Zudem darf ich mich noch heute mit der französischen Bahn streiten. Wenn ich dort als Verlierer herausgehe, wird meine ohnehin schon leichte Reisekasse gleich noch etwas leichter, und das alles, bevor ich nur einen einzigen Meter an der spanischen Nordküste unterwegs war.

Genervt suche ich mir einen Platz im Grünen. Zwischen einer Schnellstraße und einem Gütergleis findet sich ein kleiner Fluss. Nicht besonders ruhig, dafür aber grün – zumindest die Farbe des Wassers.

Nun sitze ich hier mit meinem Rucksack und einer Gardinenstange zwischen den Beinen und mache nichts. Einfach maln i c h t s.Für gewöhnlich mache ich nämlich alles gleichzeitig. Das fängt morgens schon an, wenn ich das Müsli mit einem Podcast zusammenmische, die Nahrungsaufnahme von einer Serie begleiten lasse und nebenbei noch die Schlagzeilen am Telefon überfliege. Finde ich alles ganz normal. Die Synapsen verwandeln sich zu mehrspurigen Highways ohne Geschwindigkeitsbegrenzung, ohne Standstreifen und ohne Lärmschutzzeiten. Dem Gehirn bloß keine Sekunde im Leerlauf geben – oder anders gesagt: Die Vlogs und Blogs werden zum Schmerzmittel für den Geist. Hier und jetzt bin ich auf Entzug.

Es wundert mich daher kaum, dass ich diesen Moment ›im Grünen‹ trotz des losbrechenden Berufsverkehrs zu meiner Linken und der ächzenden, mit Baumstämmen beladenen Waggons zu meiner Rechten als beruhigend empfinde. So sehr ist mein Gehirn offenbar überreizt.

Vierundvierzig Tage liegen nun vor mir und der Zeitpunkt könnte kaum besser sein. Vor knapp drei Monaten kündigte ich meinen Job und vor drei Wochen neigte sich das Haltbarkeitsdatum meiner Beziehung dem Ende entgegen. Eigentlich müsste ich jetzt vor einem Textdokument mit dem Titel »Masterarbeit« sitzen, jedoch hielt ich es in meiner Noch-Wohnung nicht mehr aus. Ich musste weg – weg von dem Ort, der nun nicht mehr mein Zuhause war. Es schien an der Zeit zu sein, die mentalen Kennwörter zurückzusetzen, den eigenen Beipackzettel auseinanderzufalten, was anderes zu sehen, zu fühlen und zu hören. Bisher klappt das so mittelgut.

Die Audiospur der Infrastruktur hake ich an dieser Stelle schon mal ab und werde ihr ab sofort aus dem Weg gehen. Es sollte ja eigentlich nicht so schwer sein, wenn ab morgen eine Himmelsrichtung bloß noch aus Wasser besteht.

Während rechts von mir ein Güterzug entgleist (zumindest klingt es so), frage ich mich, wie sich wohl der Camino anhört. Damit meine ich nicht etwa, wie das Meer gegen die Felsen klatscht oder sich der Wind in den Baumkronen verfängt, sondern wie der Herzschlag eines Jakobsweges klingt, dem so immens viel nachgesagt wird. Vielleicht gleicht er dem tiefen Freiheitsgedröhne eines ablegenden Containerschiffes, wobei… wahrscheinlich einige Schaltstufen unaufdringlicher, eher wie das Papierdrachengeraschel am ersten Herbsttag.

Bevor ich dies in Spanien herausfinden kann, plärrt aber erst einmal eine Dosentelefonqualitätsdurchsage über den Bahnsteig, den ich gerade wieder betrete. Der Zug habe noch eine halbe Stunde Verspätung. Kombiniert mit meinem abenteuerverneinenden Leitsatz ›Lieber ein paar Minuten früher da sein‹ werden daraus jetzt 60 (!) Freiminuten.

Immerhin nehmen in diesem Moment drei junge Französinnen neben mir auf der Bank Platz. Das Blatt scheint sich zu wenden, ah nein, nur sie tun es – und zwar von mir ab. In den Genuss, der schönsten Sprache der Welt lauschen zu dürfen, komme ich dennoch. Wenn mich jemand fragen sollte, wie viele Wörter sie in jener Stunde sprachen, dann würde ich zweifelsfrei sagen: alle. Und so erlebe ich die Unterhaltung neben mir letztlich als das Pendant zum Knoblauch: So schön es auch ist, irgendwann wird es doch zu viel. Umso erleichterter bin ich, als endlich der komplett überfüllte ICE vorfährt und mich kurz darauf durch Frankreich schießt.

In den nächsten Wochen sollen ziemlich genau 831 Kilometer auf mich warten. Was ich an einem Tag erlaufen könnte, erreicht der Zug in weniger als fünf Minuten.

Ich betrete die Bahnsteigkante von Paris-Est und werde sogleich von einem Menschenhaufen in hektischer Großstadtgeschwindigkeit hinein in die Bahnhofshalle getragen. Noch nie hatte ich Paris besucht, war demzufolge auch noch nie zuvor hier gestrandet (und eigentlich auch sonst nirgendwo). Nervös suche ich daher die französische Version des DB-Reisezentrums auf. Bevor ich mir dort allerdings eine Nummer ziehen darf, werde ich von einer Mitarbeiterin abgefangen und noch einmal quer durch den Bahnhof geschickt. Irgendwo am Gleis 21 sei irgendetwas, was mir irgendwie in meiner Situation helfen solle. Ohne zu wissen, wonach ich eigentlich suche, stapfe ich zum Gleis 21. Dort angekommen, sehe ich nichts – bis auf ein leeres Gleis 21.

Wieder zurück am Reisezentrum will mich die gute Dame ein weiteres Mal dorthin schicken. Wahrscheinlich ein strategischer Versuch, einen Teil der Problem-Reisenden unterwegs irgendwo verloren gehen zu lassen. Aber nicht mit mir!

»I want to talk with someone behind this door!«, sage ich und zeige auf die Herren und Damen hinter den Schaltern. Und dann sitze ich wieder einmal wartend auf einem Plastikstuhl.

Offensichtlich hat der Anfang meiner Reise etwas mit dem Warten zu tun. Dabei bin ich dafür gar nicht der Typ. Ich kann mich einfach nicht dazu hinreißen lassen, stundenlang auf Anzeigetafeln zu blicken und begeistert Bingo zu rufen, wenn auf dem Bildschirm endlich die eigene Nummer blinkt. Ich bin eher der Typ, der spontan beim Bürgeramt vorbeischaut, sich seine Nummer 216 zieht, dann die Straße mit dem Rad hinabfährt, Obst und Nudeln einkaufen geht und 35 Minuten später mal eben auf dem Rückweg mit der Person 215 im Ausgang abklatscht, um sich noch mit dem Rucksack auf dem Rücken seine Meldebestätigung ausstellen zu lassen. Das war jedenfalls schon des Öfteren der Plan. Gewissermaßen trug es sich bei meinem letzten Bürgeramtsbesuch auch genau so zu, bloß dass mir im Ausgang die Person 154 entgegenkam und mit dem Abklatschen nicht so wirklich etwas anfangen konnte.

Was den Camino betrifft, verstärkt sich bei mir das Gefühl, dass mir jemand gerade eine externe Vollbremsung verpasst, bevor es schließlich irgendwann inS c h r i t t g e s c h w i n d i g k e i tweitergehen kann.

Dann endlich – Bing Bing. Während ich versuche, meinem Gegenüber die Situation auf Englisch zu erklären, spüre ich regelrecht, wie meine ehemalige Englischlehrerin in ihrem Besteckkasten nach einem spitzen Gegenstand kramt. Es erscheinen sogar rote Autokorrekturlinien unter meinen imaginären Untertiteln.

»Du kannst dich glücklich schätzen«, entgegnet mir der Herr hinter dem Schalter in einem perfekten Deutsch. Zurückgelehnt und in seinem Drehstuhl wippend lässt er seinen Kugelschreiber einige Runden zwischen seinen Fingern wandern. »In diesem Bahnhof arbeiten genau zwei Menschen, die Deutsch sprechen, und einer davon sitzt vor dir.« Da ist es wieder: das altbekannte Gefühl, einen Vokabeltest mächtig vergeigt zu haben.

Nach einer kurze Klärung der Ist-Situation, beginnt er lässig in seinen Computer zu tippen, macht einige genervte Zauberbewegungen in Richtung des Bildschirms und wippt dann wieder zufrieden vor und zurück. »Möchtest du morgen ausschlafen oder in aller Frühe aufstehen?«, fragt er, und ich habe zum ersten Mal das Gefühl, dass eine Lösung meiner Probleme in Sicht sein könnte. In Anbetracht dessen, dass ich mich in Paris befinde, entscheide ich mich fürs Ausschlafen. Im Grunde ließe aber auch Wolfenbüttel meine Antwort unverändert.

»Trés bien«, sagt mein Gegenüber und lässt hinter sich etwas aus dem Drucker schnurren. »Dann verlässt dein TGV morgen um 10:30 Uhr den Bahnhof. Und jetzt organisieren wir dir noch ein Hotel, dafür müssen wir aber zu meinem Manager. Komm mit!« Eilig schwingt er sich sein dunkelblaues Jackett über die Schultern, knipst den Bildschirm aus und gibt mit schnellem Gang die Laufgeschwindigkeit vor. Weltmännisch schreiten wir durch die Bahnhofshalle. Er in seiner Uniform, ich in meiner.

In dem Versuch, die unbehagliche Konversationsstille zu durchbrechen, frage ich ihn, warum er so gut Deutsch spreche. Nun, er sei als Erasmusschüler in Frankfurt gewesen, informiert er mich. Wir könnten uns aber auch problemlos auf Spanisch, Englisch, Portugiesisch und Französisch unterhalten, schlägt er mir vor. Besser nicht. Warum er denn mit diesen Kenntnissen dann in einem fensterlosen Bahnhofsschalter arbeite, frage ich sensibel weiter.

»Du musst wissen…«, grinst er, »ich lerne lieber durch Erfahrungen als über ein Studium.« Und genau diese Antwort passt zu ihm. Er wirkt nicht wie ein Klarsichtfolien- und Ordnerregistertyp, der vorsichtshalber erst einmal eine Büroklammer setzt. Nein, er tackert, da bin ich mir sicher. Auch werden die Ecken seiner Bücher zusammengedrückt sein und die Seiten nach Rotwein riechen. So etwas wie ein Lesezeichen wird er nicht brauchen, er merkt sich auch nicht die Seitenzahl, er wird einfach das Buch aufschlagen und weiterlesen. Wenn er in einer fremden Stadt strandet, dann läuft er dort nicht weniger selbstbewusst umher als hier in seiner lichtdurchfluteten Bahnhofshalle.

Während ich diese Kapitänsfigur im Gegenlicht bewundere und sie mir mindestens doppelt so groß erscheint wie noch vor einer halben Minute, frage ich mich, ob ich am Ende meiner Reise auch so gehen werde. Eine Gangart, geprägt vom Leben, die mir keine Schule, kein Studium und kein Buch je lehren könnten. Sobald ich wieder zurück bin, schmeiße ich meine Büroklammern weg und kaufe mir einen Tacker.

Wir erreichen das Gleis 21 und betreten dort einen weiteren Glaskasten – das Büro des Managers, wie sich herausstellt. Dort fühle ich mich nun endgültig ins Kleinkindalter zurückversetzt. Zwei erwachsene Menschen unterhalten sich in einer Sprache, die ich nicht verstehe, und organisieren mir ein Bettchen. Während der Manager die Hotels abtelefoniert, schaut sich mein persönlicher Held die Fahrkarten noch einmal genauer an.

»Hmm, das ist schon amüsant. Dein Nachname ist Thon. Im Französischen bedeutet das Thunfisch.« Dann tippt er auf sein Namensschild. Truite. Ich zucke bloß mit den Schultern. »Ah oui… amüsant wäre es für dich, wenn du meinen Nachnamen auch verstehen würdest, das ist nämlich ebenfalls ein Fisch. Forelle im Deutschen.« Na, wenn das nichts zu bedeuten hat. Er grinst noch kurz über den ungewöhnlichen Zufall (?!), dann streckt er mir die Hoteladresse und seine Hand entgegen.

Eine U-Bahnfahrt später stehe ich vor einem schicken, weißen, hohen Gebäude. Drei große Fahnen werfen wellige Schatten vor den gläsernen Eingangsbereich. Die Tür schiebt sich auseinander und ein älterer Mann mit Krawatte und Einstecktuch tritt heraus. Er blickt geschäftig auf sein Handgelenk und geht dann geradewegs die Straße hinab. Während die Hartplastikrollen seines Koffers immer leiser werden, schaue ich an mir herunter. An allem, was ich trage, haftet der Wortstamm ›Wander‹. Wanderhose, Wandershirt, Wandersocken, Wanderfleecepullover, Wanderrucksack, Wanderjacke, Wandergardinenpilgerstange. Dazu kommen noch ein zotteliger Vollbart und lockige Haare in der Übergangsphase. Die Frage der Stunde lautet folglich: ›Wie betritt man ein Pariser Vier-Sterne-Hotel, wenn man aussieht wie das Kind von Lucky Luke und Thomas Gottschalk?‹ Meine Antwort: ›Möglichst unauffällig.‹ Mit diesem Vorhaben laufe ich in das Foyer, schnurstracks auf den Rezeptionstresen zu.

»Welcome Monsieur, how may I help you?«, empfängt mich eine seriös schauende Frau. Meine erdfarbene Pilgeruniform ist alles andere als Camouflage zwischen den petrolblauen Wänden und den wildgemusterten Fliesen. Zu meiner Verwunderung lässt sie sich ihre jedoch kein bisschen anmerken. Wahrscheinlich hat sie schon den Sicherheitsdienstknopf gedrückt. Bing Bing.

»Hello«, sage ich, beinahe flüsternd, um die Trance der fünf Lobbymenschen, die in ihre Telefone starren, nicht aufzulösen. »My Name ist Johannes Thon and… I think I have a room for this night in your Hotel.« Tippend sucht sie nach einem Thunfisch. »Maybe the SNCF called you?«, versuche ich die Situation zu beschleunigen.

»Ah oui, that’s you? Okay. Welcome Mr. Thon. You are staying in room 118. You will find it on the second floor on the left. The elevator is just around the corner. We have an excellent gourmet kitchen and our breakfast buffet starts at half past seven.«

»Excuse me, theb r e a k f a s t?«,frage ich nach. Sie grinst und formt mit den Lippen: ›Yes.‹ Zumindest glaube ich das. Dann tauschen wir einige irritierte Blicke aus.

»That’s all inclusive«, fügt sie nun auch flüsternd hinzu. Zwei Lächeln treffen aufeinander. Jedes auf seine Art verwundert.

Schleichend betrete ich den Fahrstuhl und drücke eilig auf den Knopf, der die Türen schließt. Ich könnte hier genauso gut in einem Pumbaa-Kostüm umherlaufen – meine Garderobenwahl wäre nicht weniger unpassend.

Als ich schließlich in meinem Hotelzimmer stehe, verwandelt sich mein Grinsen in ein lautes Lachen. Ich bin heute mit der Vorstellung in den Tag gestartet, in einem Raum voller Doppelstockbetten zu schlafen, eine Duftmischung von Wanderschuh- und Polyestershirtschweiß einzuatmen und auf vorgewärmten Toilettensitzen Platz zu nehmen. Stattdessen finde ich mich nun in einem edlen Hotelzimmer im Zentrum von Paris wieder (für lau wohlgemerkt). Kein Doppelstock-, sondern ein Doppelbett schwebt auf einem zentimeterdicken Teppich und ist mit fünf wohlüberlegt platzierten Kopfkissen kredenzt. Der Blick ins Badezimmer deutet daraufhin, dass hier der Toilettensitz angenehm kühl ist – oder höchstens maschinell vorgewärmt.

Situationsangemessen lasse ich mich in Slow Motion in die Matratze sinken. Ich bin mir sicher, dass ich soeben mein erstes Geschenk des Caminos erhalten habe. Das ist offenbar die Art, wie ich auf meiner Reise begrüßt werde.

Vor gut 20 Jahren zeigte mir mein Vater einmal einen Stapel Fotos von Paris. Einzig und allein die Aufnahmen des Eiffelturms blieben mir in Erinnerung. Wie er da so stand, so prächtig und stets irgendwo abgeschnitten. Diesem anscheinend extrem hohen Haufen Stahl galt seither meine Faszination.

Nun, 20 Jahre und 20 Busminuten später, ist er in der Tat genauso imposant und abgeschnitten, wie ich ihn mir stets vorgestellt habe. Irgendetwas oder irgendwer steht immer davor. Wobei das Spektakel um ihn herum nicht weniger eindrücklich ist und dabei jeder Sehenswürdigkeitslogik folgt: Das zu bestaunende Objekt gibt es im Radius von fünfzig Metern überall als winzig kleine Plastiknachbildung zu kaufen – für immer dabei und griffbereit. Wen das schon anspricht, der kann sich anschließend mit grünen Laserpointern und Winkekatzen ausstatten lassen. Ebenfalls winkend stehen touristische Grüppchen umher, unter ihnen uniformierte Polizisten, die sich deren plötzlich verschwundene Besitztümer notieren – auch das gehört zu jedem guten Sehenswürdigkeitserlebnis dazu. Genau wie die verdächtig schauenden Gestalten, die in den besonders dunklen Ecken ihre für Drogen zu begeisternde Kundschaft erspähen. Etwas abseits sitzen auf den Rasenflächen klischeehafte Liebespaare mit Picknickkörben und Karodecken. Gleich daneben kichern Jugendliche, in deren Mitte ein glühender Punkt im Kreis wandert.

Wohin ich auch blicke, schleichen Männer in viel zu großen Hemden umher und versuchen unauffällig, den in weißen Plastikeimern liegenden Wein oder Sekt zu verkaufen. Einer dieser Männer bittet mich sogar, mal eben auf seinen Eimer aufzupassen. Wäre ich misstrauisch, würde einfach so tun, als verstünde ich ihn nicht, doch ich bin nett und passe auf seine illegalen Alkoholgeschäfte auf. Als er mir kurz darauf meinen Anteil anbietet, verzichte ich lieber.

Ehe ich noch weiter in die Unterwelt gelange, suche ich mir einen ruhigen Ort mit einem Teilblick auf den Eiffelturm. Auch wenn das ganze Drumherum weitaus weniger romantisch ist als es das Pariser-Universaldogma – Die Stadt der Liebe – einem vorzugaukeln versucht, wünsche ich mir, jetzt nicht allein hier zu sein. Zwar möchte ich nach wie vor diesen Trip allein antreten, doch fällt es mir gerade schwer, ihn allein zu genießen. Wie schön wäre es, zu zweit hier zu sitzen, verliebt das Leuchtfeuer des Eiffelturmes zu beobachten, einen dieser Plastikeimerweine aufzuschrauben und sich mit Rotwein auf den Lippen zu küssen.

TAG 2

Pilgerlevel 0

Nach einem Besuch am Vier-Sterne-Hotelbuffet, checke ich aus mit einem geklauten Baguette, versteckt unter meiner Fleece-jacke. Schon ein paar Minuten später stehe ich zwischen ungeduldigen Reisenden vor einer der vielen Anzeigetafeln der Bahnhofshalle. Allesamt warten wir, bis die entsprechenden Gleise der Züge bekanntgegeben werden. Anstatt diese einfach vorab zu bestimmen, rollt hier in Paris die Roulettekugel bis kurz vor dem Eintreffen eines Zuges weiter, fällt dann ins Gleisbett – und alle stürmen dorthin.

Während sich meine Kugel noch fleißig im Kreis dreht, werde ich zunehmend nervös. Bisher war ich nur selten im Ausland. Und wenn, dann eher als wohlgesonnener Mitläufer und weniger als selbstverantwortlicher Entscheidungstreffer. Die Familienurlaube meiner Kindheit spielten sich in der vier Autostunden entfernten Sächsischen Schweiz, an der Ostsee oder an einem Baggersee bei Göttingen ab. Die weite Welt sah ich als Kind nicht, folglich vermisste ich sie auch nicht. Weder die durchgetaktete Klassenfahrt an den Gardasee oder die wenig interkulturelle Jugendfreizeit in Österreich noch der All-Inclusive-Pärchenurlaub am Mittelmeer weckten in mir die Sehnsucht nach der Ferne. Musste man sich doch vor jedem Seelenbaumeln erst eine Sonnenbrille von diesen weißen Drehständern kaufen, um mit dieser im Haar wiederum zu anderen weißen Drehständern zu schlendern – in aller Regel jenen mit den Kühlschrankmagneten und Sightseeingcollagen. Später am Abend, neben dem türkisfarbenen Zementloch sitzend, kritzelte man dann noch schnell irgendeinen Wetter-, Essens-, Strand- oder Hotelupdatequatsch auf Pappkarten und schickte sie per Luftpost nach Hause.

Doch vor knapp zwei Jahren verliebte ich mich in meine Nicht-Mehr-Freundin. Wir fuhren ein paar Wochen mit dem grünen VW-Bus ihrer Eltern an der Küste von Schweden und Norwegen entlang. In dieser Zeit löschte ich so ziemlich alles, was ich bisher über das Reisen zu wissen dachte. Der grüne Bus wurde unser Raumschiff zur fremden Welt. Wann immer wir wollten, konnten wir anhalten, uns auf die Liegefläche verziehen, zu einem für uns besonderen Ort spazieren oder Nudeln mit Pesto kochen. Mehrmals am Tag vermischte sich die Meeresluft mit dem Duft von frischgebrühtem Kaffee, und der Takt des Tages schien langsam ein anderer zu werden. Das Bedürfnis, alles im Griff zu haben, löste sich schon bald in Luft auf. Ich lernte, dass sich an wirklich entspannten Orten auch wirklich entspannte Menschen aufhalten. All jene direkten und indirekten Begegnungen ließen mich auf eine Weise authentisch und glücklich werden, wie ich es zuvor nur schemenhaft gekannt hatte.

Wenn ich morgens aus dem Bus kletterte, brauchte ich keine Rolle spielen. Ich konnte einfach Ich sein. Und gleichzeitig konnte ich mich nach Belieben neu erfinden. Ich konnte jeder sein. Was zuhause so nebenbei passierte, wurde dort zum Wesentlichen. Das Rascheln des Regens auf dem Autodach, der Geruch von gebratenem Knoblauch, ein warmer Duschstrahl oder die ersten Sonnenstrahlen, die durch das Heckfenster blitzen. Im Nu waren all die Kanäle des ständigen Erreichbarkeitszwanges durchtrennt. Ein Schachbrett und eine Handvoll Bücher stellten unser gesamtes Unterhaltungsprogramm dar, die endlosen Strände wurden unser Muschel-Panini-Album, das Meeresrauschen unser Soundtrack und die Wälder, Fjorde, Seen und Berge unsere Kinoleinwände. Es erwachte in mir ein Gefühl, welches ich seither aufs Sehnlichste vermisse: Das Gefühl des Freiseins.

»Hello. You are a pilgrim, right?«, werde ich aus meinen Träumereien gerissen. Ein älteres Pärchen mit kleinen Wanderrucksäcken, beigen Dreiviertelhosen und taschenbesetzen Westen inklusive Hut und Wanderstab steht vor mir. Wie ich erfahre, hat das südafrikanische Pilgerpaar bereits einiges an Camino-Erfahrung vorzuweisen. Der Universitätsprofessor für Geschichte und die Geologin (sie sehen zumindest so aus) geben mir schließlich den Rat, dass es wichtig sei, den Weg in Ruhe zu gehen – ohne Stress.

»Then it’s better to take the bus«, meint sie.

»Rushing along the Way of Saint James and putting yourself under time pressure is not the goal«, ergänzt er mit leichtem Zeigefingergewinke. Mich beruhigen diese wenig ehrgeizigen Worte, denn als ich vor knapp 20 Jahren die Schultür durchschritt und dabei zum ersten Mal diesen Geruch einatmete, der einen dazu verleitet, nach Fluchtwegen zu suchen, da wurde ich ein offizielles Mitglied unserer Leistungsgesellschaft. Automatisch und ungefragt. Gedrillt auf Lernen, gut Abliefern (besser sehr gut Abliefern) und das Ganze immer wieder von vorn. Zwei Jahrzehnte Schule und Studium fraßen sich tief in meine Gehirnstrukturen hinein, und nun gilt es auf einmal (zumindest wenn es nach dem Pilgerpaar geht), die Konditionierung auf Leistungsnachweise so schnell wie möglich abzuschütteln. Keine Ahnung, wie man das macht.

Zwanzig Minuten später sitze ich im TGV. Das Abteil ist leer und das stimmt mich zuversichtlich, eine introvertierte Fahrt genießen zu können. So anregend der kurze Plausch auch war, so sehr zeigte er mir auch, dass mein Bedarf nach Konversationen noch zu sehr gesättigt ist. Ich brauche Zeit für mich. In meinem Kopf stehen all die Stimmen und Gedanken ungeduldig in einer Schlange und wollen ihre Anliegen loswerden. Die Angst erkundigt sich, wie es jetzt in meinem Leben weitergeht, die Skepsis stellt diesen Weg infrage, die Hoffnung möchte von der nächsten Romanze träumen, die Dankbarkeit mir von Paris erzählen, die Trauer von der gescheiterten Beziehung und mein verletztes Ich von all den seelischen blauen Flecken – und nun möchte ich ihnen endlich einmal zuhören und hoffentlich herausfinden, wie ich es geschafft habe, mit fast 27 Jahren so irritiert vom Leben zu sein. Wenn ich so überlege, weiß ich gar nicht, welcher Rucksack schwerer ist – der große Grüne mit der geklauten Baguettestange darin oder der imaginäre mit dem Stimmensammelsurium. Und obwohl mir beide gerade ziemlich vollgestopft erscheinen, fühle ich, dass in ihnen etwas fehlt – und dass ich womöglich auch noch etwas loslassen muss.

Je näher ich der Grenze zu Spanien komme, desto nervöser werde ich. Bisher konnte ich mich hinter der Zugfahrt verstecken, doch danach würde es auch schon beginnen: das Pilgern. Was ist das überhaupt – Pilgern?

Ich habe ja keinen blassen Dunst. Als würde ich gleich eine neue Arbeitsstelle antreten. Ach diese Treppe nach oben, den Gang entlang und die zweite Tür links zum Konfi. Konfi? Ah, Konferenzraum! Okay, und diese Tür muss immer verschlossen bleiben. Gut zu wissen. Und das Formular erst zusammenheften – nicht tackern – und dann in die grüne Ablage legen. Ach so, davor unbedingt eine Kopie an die Hauptverwaltung schicken. Alles klar. Und wo war noch gleich der Kaffee? Pilgerlevel »0«.

Doch es ist nicht nur meine absolute Planlosigkeit davon, im Ausland unterwegs zu sein, die mich kopflos macht, es ist auch mein Fuß. Vor zwei Wochen gelang es mir, meine bisher weiße Krankenakte der unteren Extremitäten mit einem Wort zu verunstalten: Sehnenscheidenentzündung. Es schien, als hätten meine Füße schon zu jenem Zeitpunkt erahnt, was für Strapazen demnächst auf sie zukommen sollten. Nun, Füße können davonlaufen oder stehen bleiben. Da ich Ersteres wollte, blieb ihnen nur noch Letzteres übrig. Die Quintessenz der verordneten Physiotherapie war: Tausend Kilometer mit einem schwerem Rucksack zu laufen, ist grundsätzlich eine gute Idee, jetzt aber wenig zu empfehlen. Besser wäre es, den Fuß zu schonen, damit er in einigen Wochen wieder langsam belastet werden kann.

Meine Hausärztin ging das etwas pragmatischer an und verschrieb mir 50 Schmerz- und ebenso viele Magentabletten. Wahrscheinlich wäre es das einfachste gewesen, den Trip zu verschieben, aber was war in diesem Moment schon einfach?

Das Begrüßungskomitee der französischen Grenzstadt Hendaye ist von spezieller Art. Statt Blümchen zu verteilen, werden die Personalausweise eingesammelt. Und statt einer gutgelaunten Blaskapelle wartet eine Truppe gutbewaffneter Polizist:innen auf uns Reisende. Wir stehen wie im Sportunterricht unsicher nebeneinander, und ich warte nur darauf, ans Reck beordert zu werden. Soweit kommt es jedoch nicht. Taschenkontrolle und Abtasten heißt es stattdessen – und das ganz ohne Grinsen. Bei den meisten Leidensgenoss:innen, die maximal einen Aktenkoffer oder Jutebeutel bei sich tragen, geht alles ganz schnell. Bei einem Thunfisch mit Rucksack nicht.

Also packe ich mein materielles Leben der nächsten sieben Wochen fein säuberlich aus. Kritisch beäugt eine Polizistin den Zip-Beutel mit den 50 weißen Tabletten und auch der kleine Titantopf sowie der Gaskocher werden auf gefährliche Inhalte untersucht. Doch ich scheine tatsächlich bloß ein Pilger zu sein.

Ich lasse den Bahnhof hinter mir und schon ein paar Minuten später überquere ich den Fluss Bidasoa, der die zwei Grenzstädte Hendaye und Irun voneinander trennt. Während ich sonst von Brücken hinabschaue, blicke ich dieses Mal nur nach vorn – in Richtung Spanien. Hinein in das Land, dessen Nordküste ich in den nächsten Wochen ablaufen werde. Dass die Brücke ›Santiago Brücke‹ heißt, ist sicherlich kein Zufall und so überkommt mich eine große Vorfreude. Mit diesem Gefühl mische ich mich direkt unter das baskische Volk – hinein in einen kleinen Lebensmittelladen.

Ab sofort müssen die warmen Mahlzeiten gut durchdacht sein. Denn mit dem Vorratsregal und der Küche auf dem Rücken werde ich mit jedem Blumenkohl langsamer. Daher gelten nun folgende Filterkriterien für jeden Einkaufsbummel: nahrhaft, proteinreich, vegan, günstig, geringes Packmaß, leicht, wetterbeständig und möglichst gassparend.

In dem engen Lebensmittelladen steht die Luft und die Nachmittagssonne knallt durch die staubigen Fenster. Ich lege eine einzelne Banane auf den Tresen, öffne das Münzfach meines Portemonnaies und blicke meinem Gegenüber fragend in sein bärtiges Gesicht.

Irgendetwas scheint nicht zu stimmen. Weiterhin auf seinem Barhocker sitzend, nun auch noch mit verschränkten Armen, schüttelt er leicht, aber entschlossen den Kopf. Meine Spanischkenntnisse gehen nicht über einen nur in Kolumbien funktionierenden Anmachspruch, das Wort quesito (Käschen), den Satz No te entiendo (Ich verstehe dich nicht) sowie die Aufforderung Sacar la basura (Bring den Müll raus) hinaus. Hier jedenfalls erscheint mir nichts davon passend und so hebe ich die Banane nochmals hoch, jetzt aber mit einer wackelnden Bewegung. Auch nicht zielführend, wie sich zeigt. Verunsichert lege ich die Banane zurück auf den Bananenhaufen und verlasse den Laden.

Die Interaktionen der letzten halben Stunde vermitteln mir den Eindruck, dass es ab jetzt nur besser werden kann.

Die nächste Tuchfühlung mit der spanischen Bevölkerung lässt auch nicht lange auf sich warten. Ich werde doch endlich von einem Restaurantbesitzer als Pilger identifiziert. Er heißt Dario und preist mir sein Pilger-Menü an. Das ist in aller Regel ein Drei-Gänge-Menü auf der Basis von Fleisch, Fleisch und Schnitzeln, alternativ auch mit Fleisch. Es soll hier und da auch mal ein veganes Pilger-Menü geben, doch mit dem Blick auf die Bilder schlussfolgere ich, dass es sich dabei wohl eher um eine Parodie handelt als um ein ernstzunehmendes Speiseangebot. Dennoch freue ich mich über diese erste Interaktion, die nicht in einer Durchsuchung endet oder in der mir Waren verweigert werden. So höre ich Dario interessiert zu und stütze mich dabei auf meine Gardinenstange. Eigentlich ganz bequem. Irgendetwas mit Käse hat er gesagt. Den Rest hab ich nicht verstanden.

Ein wenig sehe ich mich noch in Irun um und esse mein geklautes Baguette nahe eines kleinen Flusses, doch schon bald erreiche ich das Refugio, wie die öffentlichen Herbergen in Spanien auch genannt werden. Ein gutgelaunter Spanier mittleren Alters sitzt hinter einem weißen Tisch mitten im Flur und scheint hier das Sagen zu haben. Schwungvoll drückt er mir den ersten Stempel in meinen Pilgerausweis – eine Art Eintrittskarte für die öffentlichen, extra nur für Pilgernde bestimmten Herbergen. Nachdem der Hospitalero seinen Teil der Vereinbarung erfüllt hat, tippt er geduldig mit seinem Zeigefinger auf die Kasse. Er wird erst damit aufhören, wenn dort meine freiwillige Spende hineinflattert. Sein Blick unterstreicht, was ohnehin schon klar war: Ein Flattern sollte es sein, ein Klimpern wäre schlecht.

Nach dem bürokratischen Verwaltungsakt trotte ich die Treppe hinauf. Mir kommen Menschen mit Handtüchern oder Nudeln entgegen und allesamt haben sie eine Planlosigkeit in den Augen – vielleicht ist es auch bloß meine eigene. Vor den Schlafsälen werden Rucksackinhalte auf dem Linoleumboden sortiert oder Fußsohlen begutachtet, die gerade von Wanderschuhen befreit wurden. Mit einem Nicken gehe ich an ihnen vorüber und betrete einen Schlafsaal. Hier liegen einige Pilgernde noch in ihren Outdoorklamotten auf den Matratzen, ihre Bauchdecken heben und senken sich rhythmisch.

Ich lasse mich auf die untere Liegefläche eines der freien Doppelstockbetten fallen und sofort klebt meine Wange auf dem blauen Gummikopfkissen.

Um mich herum knistern Schlafsäcke und ein leises Gemurmel in fremden Sprachen schwebt durch den Raum. Kompromisslos verteidigt die warme Luft ihr Monopol gegen die leichte Brise, die durch das geöffnete Fenster hinein weht. Eine Geruchsmischung aus durchschwitzten Socken, shampoonierten Haaren und gebratenen Zwiebeln kreiert eine Reihe von Flashbacks zurück an all die vergangenen Klassenfahrten und Jugendfreizeiten; mit dem Unterschied, dass ich nun allein mit der Fremde des Landes, der Unvertrautheit der Herberge, den namenlosen Gesichtern und den verborgenen Emotionen unterwegs bin.

Als ich mich auf die andere Seite drehe, liegt in dem gegenüberliegenden Doppelstockbett ein Pärchen. Sie, eine junge Frau, ist mir zugewandt und scheint zu schlafen. Eine ihrer lockigen Haarsträhnen hat sich auf ihre Nase verirrt, eine weitere auf ihre Lippen. Ihre nackten Beine liegen über ihrem Schlafsack. Ein tiefer Atem fährt aus mir heraus, dann drücke ich mich aus dem Bett.

Während die bereits frisch geduschten und zumeist älteren Pilgernden aus der Herberge stolzieren, um in einem der Restaurants oder bei Dario ihre Pilgermenüs zu ordern, schlendere ich in die kleine Küche im Erdgeschoss. Es dauert keine fünf Minuten und es gesellt sich ein Partnerlook-Pärchen in den Fünfzigern zu mir. Sie grinsen begrüßend, ich grinse zurück und schnitze weiter an meiner Paprika. In den Unterschränken suchen sie ausdauernd nach etwas Bestimmtem – der größten Pfanne, wie sich zeigt. Dann erhitzen sie darin eine Unmenge von Öl und werfen anschließend einen zusammengeklebten Speckstreifenhaufen hinein. Akustisch verwandelt sich die Küche in ein unruhiges Meer, in das gerade ein glühender Meteorbrocken eingeschlagen ist. Im Nu riecht es überall nach Freibadfritten und der Gestank des gebratenen Specks sickert tief in das Polyestergewebe meines T-Shirts ein. Genervt rette ich mich mit meinen halbgaren Nudeln in den Garten.

Willkommen in der Wohngemeinschaft.

Mittlerweile konkurrieren die Neonröhren mit der Abendsonne und der angrenzende Kreisverkehr schleudert Motorengeräusche durch den Maschendrahtzaun. Aus dem Haus schallt das heisere Gelächter des Hospitaleros und im Sekundentakt knallt mechanisch eine Getränkedose nach der anderen in den Ausgabeschlitz eines Automaten. In der Küche wird noch ausdauernd gekocht, während man in den Nischen und Ecken der Herberge mit den Daheimgebliebenen telefoniert. So mancher kommt in diesen Minuten von Dario zurück, das Abendessen dort muss sehr weinlastig gewesen sein, das lassen jedenfalls die glühenden Wangen vermuten.

Ich unterdrücke ein Gähnen, als ich auf die Uhr meines Telefons blicke. Zum Schlafen ist es noch viel zu früh, denn die Herberge ist noch viel zu wach. Von nun an werde ich mich wohl dem Rhythmus des Kollektivs anpassen müssen. Müde greife ich nach meiner Cola-Dose und lasse mich seufzend in den Metallstuhl sinken.

Ich kann es kaum glauben, ich bin tatsächlich in Irun. So oft habe ich diesen Namen in der letzten Woche gelesen und jetzt, in diesem Moment der Besinnung, begreife ich, dass meine Reise begonnen hat. Wochen des Pilgerns stehen mir bevor. Fast eintausend Kilometer mit hunderten Höhenmetern.

Ich lasse die unberührten Seiten meines Tagebuchs wie ein Daumenkino schnippen und frage mich dabei, was dort in 43 Tagen stehen könnte.

TAG 3

Matetee mit Petrus

Der Wecker bimmelt. Meiner ist es nicht. Auch ist es nicht einer, es sind mehrere, wahrscheinlich alle. Müde öffne ich die Augen und sehe nichts – nichts als nächtliche Dunkelheit mit einem Hauch Straßenlaternengelb. Während mein Gehirn langsam hochfährt, vernehme ich aus allen Ecken ein Reißverschlussgezerre, Schlafsackgestopfe und Doppelstockbettgepolter. Irritiert taste ich nach meinem Handy unter der Pritsche und das grelle Bildschirmlicht zwingt mich dazu, ein Auge wieder zu schließen. Es ist gerade einmal kurz nach fünf. Noch ehe ich mich aufrichten kann, wird wortwörtlich zum Marsch geblasen und aus dem Erdgeschoss schallt lautstark eine Blechblasmusik empor, so als würde gleich die Kavallerie von irgendeinem Fort die Treppen hinaufjagen.

»Was ist denn hier los?«, flüstere ich vor mich hin, während ich der aufgeschreckten Herde konform folgend meinen Kram zurück in den Rucksack quetsche.

Unten im neonlichtdurchfluteten Speiseraum stehen halbdurchsichtige Plastikkrüge mit Kaffee und eine Skyline aus Baguettescheiben für uns bereit. Die allgegenwärtige Hektik der Pilgerschaft und das unbegründete Gefühl, viel zu spät dran zu sein, lässt mich diese schlichte, aber wohlgemeinte Bewirtung nur wenig genießen. Die Stimmung gleicht eher den letzten Minuten vorm Ladenschluss. Da ist das Einkaufsgedudel längst ausgeknipst, Obst und Gemüse sind weggefahren und hinter einem wird schon gewischt. Wie beruhigend ist es dann, wenn irgendein Schlendrian mit dem Einkaufswagen an einem vorbeidonnert. Doch hier gibt es diesen Schlendrian nicht – und wenn es ihn nicht gibt, dann liegt die Vermutung nahe, dass man es selbst ist.

»Buen camino!«, sagt der Hospitalero, als ich 30 Minuten später als Letzter vor das Refugio trete.

»Warum rennen denn alle so früh los?«, frage ich, doch da fällt hinter mir bereits die Tür ins Schloss.

Nach einem Schulterzucken schlurfe ich die Einfahrt hinunter und durch das Tor im Maschendrahtzaun hindurch. Werde ich auf diese Weise nun sechs Wochen in den Tag finden müssen? Ehe ich dieser Frage nachgehen kann, entdecke ich den ersten gelben Pfeil des Camino del Norte. Einen von vielen tausenden, die mich nach Santiago de Compostela führen werden. Dieser hier klebt an einer leuchtenden Straßenlaterne und zeigt nach rechts.

Da beginnt er also, mein Camino.

Die aufgehende Sonne lässt die wolkenüberzogenen Berge gelblich erscheinen. Über den Sümpfen schwebt ein dünner Nebel und an manchen Stellen spiegelt sich der blasse Morgendunst. Die Vögel fliegen von einem Strommasten zum nächsten und weiter hinaus zu den kleinen Brücken, ehe sie in den großen Bäumen verschwinden. Ein Alltagsstunt der Natur, dem ich endlich mal wieder so nah bin und den ich nicht bloß in den Schnittbildern des Wetterberichts verfolge.

Hinter Irun verschluckt mich ein Waldstück und mit ihm die gesamte menschliche Tonspur. Kein Kreisverkehrsäuseln, nirgendwo Menschengebrabbel, bloß Baumkronengeraschel und Vogelgepiepse. Meditationshintergrundmusik. Ich spüre die kühle Waldluft auf meinen Unterarmen, die Träger des viel zu schweren Rucksacks, den Druck der Wanderschuhe, das Astloch an der Gardinenstange und den kräftigen Herzschlag unter dem Brustgurt. Und dann sackt zum ersten Mal mein Geist zusammen, als würde er einmal tief durchatmen und sich in einen Sitzsack fallen lassen. Mir war gar nicht klar, wie sehr ich das brauchte.

Bereits gestern Abend entschied ich mich für den anstrengenderen, aber auch schöneren Weg über das Bergmassiv Jaizkibel. Ich könnte zwar auch bequem durch das Tal wandern (was sicher meiner Sehnenscheidenentzündung und meiner Physiotherapeutin gefallen würde), doch möchte ich den ersten Höhepunkt des Weges nicht links liegenlassen.

Über Trampelpfade geht es immer steiler hinauf und langsam wird die Küste des französischen Baskenlandes kleiner. Auf den winzigen Straßen verfolgen und kreuzen sich bunte Punkte, ein Flugzeug steht blinkend auf der Rollbahn und gleich daneben reihen sich die Züge am Bahnhof von Hendaye auf. Stirnrunzelnd belächle ich das Treiben der urbanen Miniaturlandschaft. Dann wende ich mich ab und gehe ein paar Schritte dorthin, wo Blau und Blau sich treffen. Es ist meine erste Begegnung mit dem Weltmeer und mit der unendlichen Weite des Atlantiks. Von nun an wird er mich begleiten, über Wochen zu meiner Rechten.

Nahe der Küste gewinnen plötzlich zwei Menschen meine Aufmerksamkeit. Sie stehen weit unter mir, direkt neben einem alten Caravan und halten sich in den Armen. Gemeinsam schauen sie in die Weite des Meeres. Wer weiß, ob sie noch frisch verliebt sind, doch für diesen Moment scheinen sie es zu sein.

Wie von selbst schwenkt mein Blick die Steilküste hinauf und bleibt an meinem Schatten hängen. Ganz allein steht er dort im Gras, irgendwo auf einem Berg in Spanien. Er ist allein. Ich bin allein. Mein Körper lässt einen Atemzug aus – einen Wimpernschlag gleich mit – und still mustere ich meine bewegungslose Silhouette.

Fühle ich mich gerade einsam? Ja, irgendwie schon. Doch ich weiß, dass ich diesen Weg allein gehen muss. Es ist jetzt nicht an der Zeit, dort unten mit einem Menschen zu stehen, ihn im Arm zu halten und gemeinsam zu sein. Meine zwei Ziele, mit denen ich aufbrach, verlangen genau das – das Alleinsein, vielleicht sogar die Einsamkeit – zumindest für eine Weile. Doch wie werde ich damit umgehen? Noch nie zuvor war ich so sehr auf mich selbst gestellt.

Ich blicke zurück zu dem Liebespaar. Noch immer stehen sie dort, so eng umschlungen, so verliebt, so geborgen. Irgendwie fühle ich mit ihnen. Was für ein Moment es für sie sein muss. Auch ich hatte solche und hätte sie noch viel häufiger haben können. Doch ließ ich sie so oft nicht zu oder zerbrach sie durch irgendeine Banalität – ausgelöst durch ein verletztes Ego. Ich stand dann allein an der Küste und sie saß irgendwo traurig daneben. Wie schmerzhaft und gleichzeitig wertvoll jener Ausblick hier oben ist. Ich sollte ihn mir merken.

Die Sonne wandert weiter in den Westen und ich tue es ihr gleich. Hinter einer alten Festungsanlage springe ich von einer Felskante zur nächsten. Ich denke nicht darüber nach, hier irgendwo abrutschen und herunterfallen zu können – nun, für einen Augenblick schon, aber da steige ich schon über den nächsten Spalt hinweg. Auch vergesse ich meinen Fahrradunfall, der zwar einige Jahre zurückliegt, doch seitdem derartige Befreiungsschläge eigentlich verbietet. Es ist im Grunde das Dümmste, was man am ersten Tag tun kann, und das Klügste zugleich.

In den späten Mittagsstunden befinde ich mich wieder auf Meeresspiegelhöhe und betrete die Bucht von Pasaia. Ein altes Containerschiff verlässt gerade die kleine Hafenstadt, die noch in ihrem Mittagsschlaf zu ruhen scheint. Vor der öffentlichen Herberge hocken und liegen bereits allerlei Rucksackmenschen auf dem warmen Sandstein. Sie sehen aus, als täten sie das hier auch zum ersten Mal und ein jeder von ihnen lehnt Körper und Geist irgendwo an. Da die Herberge erst in zwei Stunden öffnen soll, setze ich mich auf ein Geländer und beobachte die kleine Personenfähre, die über das Hafenbecken pendelt.

»Welch’ zauberhafter Ort, nicht wahr?«, sagt eine weibliche, ältere Stimme. Ich drehe mich nach ihr um und neben mir steht eine Frau mit weißem, langem Haar. Ihr Blick ruht irgendwo bedächtig in der Ferne.

»Ähm… ja… stimmt«, stammele ich. »Woher wissen Sie, dass ich…«

»… dass du aus Deutschland kommst?«, eilt sie mir voraus und schenkt mir ein kurzes Lächeln. »Wir besitzen den gleichen Reiseführer.«

Aha, denke ich. Aha, begreife ich, denn da ist es nun, mein erstes Jakobsweggespräch. Der Ruf eilt ihnen ja voraus, jenen magischen Unterhaltungen, die im Ehrlichkeitsschmelztiegel der Gesprächsbereitschaft gebraut werden und deren Elixier bis in die Tiefenporen eindringt.

Bis es allerdings soweit ist, spekulieren wir erst einmal über die geringe Bettenanzahl, lassen uns zu einer Analyse der Windstärke hinreißen und berichten uns stolz über den bezwungenen Berg.

Ja. Ja. Ja. Spannend. Spannend. Spannend. Gut. Gut. Gut. Doch wo ist jetzt der Moment, in dem wir in das Seelenleben des anderen eintauchen und uns zehn Minuten später weinend in den Armen halten? So oder so ähnlich kennt man es ja aus den Filmen und Büchern.

Stattdessen noch eine Schönwetteranalyse? Nein, bitte nicht.

»Ich fand das heute echt ziemlich besonders«, beginne ich. »Also so viel Zeit für mich zu haben und mal nur nachzudenken. Wie war das für Sie?«

Ein langgezogener Gedankenlaut leitet ihre Antwort ein und stimmt mich umgehend zuversichtlich, dass sie jetzt gleich einsetzt… die Magie.

»Ich bin mir unsicher, ob ich das brauche«, entgegnet sie stattdessen und unterdrückt tatsächlich ein Gähnen. »Ich habe heute über nichts Bestimmtes nachgedacht.«

»Nicht?«

»Nein. Ich muss über nichts nachdenken. Ich habe nichts aufzuarbeiten.«

Verwundert drehe ich mich um und schaue wieder hinab in die Bucht.

»Wirklich nicht?«, frage ich nach einem Moment noch einmal. Sie schüttelt den Kopf. Seltsam, bisher nahm ich an, dass genau die Zeit zum Nachdenken der Sinn des Weges sei.

»Und… und warum sind Sie dann unterwegs?«, hake ich nach.

»Mir war einfach danach. Ich bin vor fünf Monaten in Rente gegangen und wollte schon immer mal einen Jakobsweg bewandern.«

Nun löst sich in mir ein langgezogener Gedankenlaut. Nach Jakobswegromantik klingt ihre Aufbruchsstimmung ja nicht unbedingt.

»Also… Reiselust?«, frage ich und versuche nicht enttäuscht zu wirken. Sie nickt etwas geistesabwesend. Die Frage, ob denn wenigstens ein kleines bisschen Depression oder Burnout im Gepäck seien, verkneife ich mir. Offenbar gibt es viele Antworten auf das ›Warum‹. Meine haben weniger mit Reiselust zu tun.

Gegen 16 Uhr steht endlich die Hospitalera vor uns. Ohne ein Wort der Begrüßung zählt sie die vor ihr liegende Pilgerherde durch. Als ihr ausgestreckter Zeigefinger über dem letzten schlafenden Schäfchen schwebt, legt sie erleichtert ihre Hand aufs Herz und ruft: »Buenos días peregrinos!« Offenbar hat sie genügend Betten in ihrem Häuschen – und das mag man gern als sicherheitsorientierter Pilger.

Umgehend rauscht die Zukunftsprojektion eines frischgeduschten Thunfisches an mir vorbei, der irgendwo in der Bucht sitzt und etwas Reis und Gemüse kocht, während sich der Himmel über ihm rot färbt. Doch schon im nächsten Moment wird meine Gedankenwolke verwischt, denn irgendetwas scheint nicht zu stimmen. Die Hospitalera gestikuliert in Richtung der Berge, schaut dabei besorgt und redet unaufhörlich. Wie gewohnt verstehe ich kein Wort. Schließlich schaut sie erwartungsvoll in unsere Gesichter, worauf sich unsicheres Gemurmel ausbreitet.

Meine reiselustige Pilgerbekanntschaft erklärt mir, dass die Hospitalera die Hoffnung habe, dass sich vielleicht doch noch zwei oder drei (besser vier oder fünf) Freiwillige finden würden, die eine Herberge weiter liefen. Sie wolle gern ein paar Reserveplätze für ältere Pilgernde freihalten, die nicht so schnell unterwegs seien. Mich, meine Sehnenscheidenentzündung und mein imaginäres Ärzteteam spricht dies eher weniger an.

Um jegliche Aufmerksamkeit gar nicht erst auf mich zu lenken, handhabe ich es genauso wie einst in der Schulzeit: Ich krame in der Federmappe, also im Rucksack. Daraufhin folgen Sekunden im Unbehagen und ich warte nur darauf, dass gleich jemand meinen Namen sagt und mich bittet, das Klassenbuch zur nächsten Herberge zu tragen.

Zwei Dinge stimmen mich dann allerdings von selbst um. Zum einen die Angst vor potentiellen Minuspunkten im Karmabonusheft (das wäre für eine lange Wanderreise sehr ungünstig) und zum anderen, nun ja, eine hübsche junge Frau mit schulterlangen blonden Locken und ziemlich blauen Augen. Sie hat bereits ihren Rucksack geschultert und erkundigt sich nach dem Weg. Ich gehe also mit. Hauptsächlich aber wegen der Karmasache. Wirklich.

Wir sind nicht zu zweit, sondern zu viert. Dass ich bereits am ersten Tag in einer Pilgergruppe laufen würde, hätte ich nicht erwartet – und vor allem hatte ich das auch nicht vor.

Wir sollen uns in drei bis vier Kilometern nach einer Bäckerei umschauen, meint die hübsche Blondine. Es bleibt also genug Zeit, um uns erst einmal ausführlich einzuschweigen. Wenn unterwegs doch mal ein paar Gesprächsbrocken fallen, dann eher im Bereich des Zahnarztsmalltalks.

Von Roman, einem Tschechen, erfahre ich, dass er bereits den Caminho Português und Camino Francés lief. Bisher nahm ich an, dass der Jakobsweg so eine einmalige und unwiederholbare Angelegenheit sei. Roman jedoch schmiss in den letzten Jahren all seine Urlaubstage zusammen und pilgerte. Was er im nächsten Jahr machen wolle, das wisse er noch nicht – welch sympathische Antwort. Miriam, so die hübsche junge Frau, ist Mitte 20, hat gerade ihr Designstudium beendet und zieht jetzt bald mit ihrem Freund zusammen. Folglich plaudern wir ein wenig über ihr Studium. Mit Viola, der Dritten im Bunde, komme ich nur kurz in ein Was-für-ein-Ausblick- Gespräch. Wir vier befinden uns auf der Unterhaltungsebene eines Schlaglochs. Alles poltert nur vor sich hin. Vom Caminotalk also wieder kilometerweit entfernt. Es scheint, als seien wir noch zu sehr in unseren Welten. Womöglich gibt es diese magischen Jakobsweggespräche aber auch gar nicht.

Mit den Nachmittagsstunden wird es noch einmal richtig heiß. Darin ist Spanien ja besonders gut. Erst nach etlichen Höhenmetern, die uns die Hospitalera geschickt verschwieg, taucht endlich ein Gebäude in einem Waldstück auf. Optisch gleicht die urige Finka wohl eher keiner Bäckerei, geografisch könnte sie es aber durchaus sein.

Da die Hoffnung auch bei 30 Grad im Schatten zuletzt stirbt, folgen wir dem Weg hinauf zum Haus. Zahlreiche Palmen und allerlei subtropisches Gewächs erheben sich in den Himmel, was unsere Chancen nicht besonders verbessert. Je näher wir der gläsernen Eingangstür kommen, umso mehr verwandelt die tiefstehende Sonne sie in eine strahlende Himmelspforte. Als wir die Terrasse erreichen, schreitet aus dem Lichtkegel ein alter Mann auf uns zu und breitet seine Arme aus. Er hat langes, weißes Haar und einen dazu passenden Vollbart, trägt ein helles Leinenhemd und eine ebensolche Leinenhose. Und ich frage mich: ›War’s das jetzt?‹

Ehe ich meine Vitalfunktionen überprüfen kann, erkundigt sich Miriam bei ihm, Petrus höchstpersönlich (!), ob dies die Bäckerei sei. Sein leises Sí löst ein erleichtertes Synchronseufzen aus und ich nehme den Ring- und Mittelfinger von meiner Hauptschlagader.

Hier läuft alles ein wenig anders. Statt mit der bürokratischen Lesung des Waschzettels zu beginnen, reicht uns das Petrusdouble erst einmal einen Matetee mit schwimmenden Eiswürfeln. Wir werden gebeten, im Schatten Platz zu nehmen und erst jetzt fallen mir die anderen Pilgernden auf, die an den Hängen sitzen und uns zuwinken. Um Geld bräuchten wir uns keine Gedanken machen, übersetzt Miriam, hier laufe alles auf einer Spendenbasis.

Beim Abendessen befinden wir uns dann endgültig in einem dieser romantisierten Jakobswegfilme. Wir sind etwa ein Dutzend Pilgernde aus aller Welt und sitzen an einem großen Tisch auf der Terrasse. Die letzten Sonnenstrahlen suchen sich einen Weg durch die Bäume des Gartens und die warme Sommerluft trägt die Note gebackenes Brot. Eine weitere Mateteerunde steht schon in großen Glaskrügen bereit und die Hospitaleros tragen dampfende Speisen aus der Küche. Uns wurde eine Bäckerei versprochen, doch dies scheint das Musterhaus vom Paradies zu sein.

Die Atmosphäre erweist sich als ungewöhnlich aufmerksam. Wir werden bewirtet und bedient und es wird ein Ort mit uns geteilt, der zweifelsohne eine besonderer ist. Dabei fühlt es sich nicht wie ein Vorschuss an, den wir am nächsten Morgen begleichen müssen. Eher scheint es die tiefe Freude am Geben zu sein, welche die Tore für uns geöffnet hat. Eine ältere Hospitalera schaut uns mit einer so großen Glückseligkeit an, als wären wir ihre ersten Gäste. Dabei wird sie Tag für Tag und Jahr für Jahr diesen Ritus wiederholen, ohne je zu wissen, wen sie heute in ihr Haus lassen wird.

Diese großzügige Geste färbt auf uns alle ab. Aufmerksam werden Sätze gewechselt und in unseren Gesichtern liegt eine sichtbare Zufriedenheit. Wir sprechen ungewohnt leise und langsam, denn es bedarf weder der Eile, noch eines lauten Wortes. Es ist nicht die Höflichkeit, die sich ausbreitet – es ist die wahre Wertschätzung für einander. Es scheint, als wären wir hier alle genau richtig.

»Johannes war dein Name, nicht?«, fragt das Petrusdouble auf Deutsch. Er zieht den Stuhl neben mir zurück und setzt sich. Wir kommen ins Gespräch.

Wie ich von ihm erfahre, ist er ein Freund der Hospitaleros und packt hier für ein paar Wochen mit an. Er schätze die Ruhe dieses Ort sehr, ebenso wie die Möglichkeit, sich mit fremden Menschen auszutauschen. Als ich mich nach seiner Herkunft erkundige, berichtet er mir erstaunlich routiniert aus seinem Leben und es scheint, als hätte er die Geschichte schon häufiger erzählt. Seit den Sechzigern habe er in ganz unterschiedlichen Gemeinschaften gelebt, erzählt er mir, so auch in Deutschland. Dort habe er viel gelernt und die Jahre sehr genossen, doch heute sei er froh, ein eigenes Türschloss zu seinem Besitz zählen zu können.

»Ein Leben in einer Gemeinschaft ist geprägt vom Teilen«, meint er und streicht sich ritualisiert immer wieder über seinen langen Bart. »Sei es das Teilen von Arbeit, Geld, Besitz oder Zeit, aber vor allem das Teilen der Verantwortung. Dabei müssen einfache und schwere Entscheidungen gemeinsam getroffen werden, findest du nicht? Und wenn Dinge schief laufen, dann ist es wichtig, zu verzeihen… das ist wohl das Allerwichtigste«, fügt er hinzu und schaut in den entfernten Horizontstreifen. »In Gemeinschaften muss einander verziehen werden können«, wiederholt er.

Das, was er sagt, passt zu ihm und ich kaufe ihm jedes Wort ab. Er scheint keine hohlen Phrasen mit mir zu teilen, die sonst an Teebeuteln baumeln, sondern persönliche Lebenserfahrungen.

»Wie ist es bei dir, Johannes?«, fragt er und schaut mich an. »Kannst du verzeihen?«

Ich weiche seinem Blick aus und bin versucht, es auch einmal mit dem Bartstreicheln zu probieren. »Ja, ich denke schon«, sage ich schließlich. »Ich habe mir und anderen die großen und kleinen Patzer im Leben eigentlich verziehen.«

»Eigentlich? Eigentlich verziehen?«, fragt er und mustert mich warmherzig. »Beim Verzeihen gibt es keine Grauzone.«

Und sofort schießen mir Bilder aus meiner letzten Beziehung durch den Kopf. Am Ende einer Liebe geht so vieles verloren und das, was bleibt, ist ein Gefühlskabinett aus Schmerz, Wut und Enttäuschung. Doch eigentlich sind wir im Guten auseinandergegangen. Was für mich bedeutete, erst einmal 1400 Kilometer Luftlinie von ihr entfernt sein zu wollen. So weit, wie ich noch nie zuvor gereist war. Dabei war mir vollkommen klar, dass ich meine Vergangenheit und meine Sorgen mit hierher nehmen würde. Sie würden nicht einfach so in meiner Noch-Wohnung zurückbleiben, irgendwo zwischen Palettenbett und Küchentisch. Aber ich hoffte, dass ich hier einen anderen Blick auf sie werfen könnte. Ja, verzeihen mag einfach sein, wenn sich alles zum Guten wendet – aber es ist schwer, wenn es das nicht tut.

»Kann schon sein, dass ich nicht immer verziehen habe«, gebe ich schließlich zu. »Ganz sicher sogar. Aber warum ist es für dich das Allerwichtigste?«, frage ich im Versuch, den Ball schnell wieder auf seine Seite zu werfen. Doch er lächelt bloß.

»Du willst bis Santiago, nicht? Dann wirst du ja viel Zeit haben, um das herauszufinden«, sagt er und schenkt uns noch einmal Matetee nach.

Okay. Halten wir einmal fest. Ich soll hier also irgendetwas über das Verzeihen lernen. Das stand eigentlich nicht auf meinem Plan.

Aber gut, bis Santiago ist es ja noch ein Weilchen.

TAG 4

Realitätscheck

In einem stockfinsteren Tipi wache ich auf. Dass ich das tue, verdanke ich der strikten Geschlechtertrennung mit einem Gruß aus dem Mittelalter. Die weibliche Pilgerschaft nächtigt im Dachgeschoss des Hauses, die Herren im Zelt. Das ist schon ein wenig albern, doch so sind nun einmal die Regeln der christlichen Herberge und wir als Gäst:innen stellen sie auch nicht infrage. Glücklicherweise gab es in dieser Nacht keinen Trennungsschmerz, denn das einzige Liebespaar war – ta-da: homosexuell.

So eine Zeltplane würde ich allerdings immer wieder den Schlafsaalwänden vorziehen, denn hier unten im Kreise der Schaumstoffmatratzen trägt die Luft das seltene Siegel: »Kühl und schweißfrei«. Wenngleich dieses Frischluftvergnügen ein sehr frühes Ende findet, denn in dem Moment, als die Sonne den Himmel in ein sehr dunkles Blau färbt, meinen alle, dass es nun an der Zeit wäre, aufzubrechen. Wundern tut mich das kaum noch, obwohl ich es immer noch nicht verstehen kann.

Einen starken Espresso und ein wirklich gutes Brötchen später, stehe ich vor der Himmelspforte. Der Wind hinterlässt kleine Hügelchen auf meiner Haut und der Rucksack liegt schwer auf den verspannten Schultern, so als würde er mich daran erinnern wollen, dass ich nicht nur mal eben spazieren gehe. Genauso wie das Holz des Pilgerstabes mich darauf besinnt, dass ich nicht irgendeinen Wanderweg gehe, sondern den Camino de Santiago – einen jahrhundertealten Pilgerweg. Mich überkommt ein Stoß der Freude, der sich von meiner Brust in alle Richtungen verteilt – wie einst als Kind, wo jedes Gefühl einfach explosionsartig entwich, statt eine kanalisierende Überprüfungsschleife im Gehirn zu fahren. Mit der aufgehenden Sonne im Rücken folge ich den Pfeilen nach Donostia-San Sebastián. Willkommen im Tag 2.

Es soll ja Menschen geben, die meinen, man müsse aufhören, wenn es am Schönsten ist. Dass sich nun ausgerechnet mein linker Fuß diesem Unfug annimmt, lässt meine euphorische Stimmung mit jedem Schritt etwas schwinden. Offenbar bietet der steinige Waldweg den optimalen Nährboden für meine Sehnenscheidenentzündung. Die Ärztin prognostizierte mir, dass ich in den kommenden Wochenj e d e neinzelnen Schritt spüren würde. In Paris war dies auch noch so gewesen, doch gestern schienen die Schmerzen, auf wunderliche Weise, verschwunden zu sein. Dass die Halbwertszeit von Wundern bei diagnostizierten Sehnenscheidenentzündungen derart gering ist, darauf war ich nicht vorbereitet. Nun zieht es bei jedem Abrollen höllisch im Fußrücken, so als würde jemand mit Stollenschuhen auf mich eintreten.

Kann es also sein, dass ich es gestern doch übertrieb? Und falls ja, was hat das zu bedeuten?! Könnte dieser stechende Schmerz das langsame Ende meiner Reise prognostizieren? Werde ich schon bald wieder auf einer gepolsterten Sitzfläche zurück in mein altes Leben katapultiert? Die Gardinenstange, der fast leere Pilgerausweis, das große Stück Seife, die Euphorie – all das sah eines nicht vor: einen Abbruch an Tag vier. Dabei möchte ich so sehr nach Santiago! Nicht der Stadt wegen (im Grunde ist sie bloß ein geografisches Ziel), ich möchte diesen Weg gehen. Ich brauche unbedingt diese Zeit und vor allem diese Erfahrung.

Obwohl ich ja einen Sack Betäubungsmittel mit mir rumtrage, verbiete ich mir jede einzelne Tablette. Wenn ich damit erst einmal anfange, dann bringt sich die berühmte Frage – Wie soll das denn enden? – in Stellung, und diesen Realitätscheck gilt es solange wie möglich hinauszuzögern.

Nach einer Stunde erreiche ich den Stadtrand von Donostia-San Sebastián. Wann immer es möglich sei, solle ich auf weichem Untergrund laufen, riet mir die Physiotherapeutin. Sofort steuere ich daher einen der großen Sandstrände an und hoffe dort auf eine Spontanheilung.

Während zwei Kinder im knietiefen Wasser kreischen, bemerke ich, dass ich mit meinen Gedanken genauso weit weg bin, wie der zeitungslesende Opa, den sie fast umrennen. Zu sehr kreise ich gedanklich um meinen Fuß.

Vielleicht war es wirklich naiv anzunehmen, mit einer Sehnenscheidenentzündung die Küste Spaniens entlang pilgern zu können. Natürlich habe ich dem ganzen Vorhaben obendrein ein flexibilitätshemmendes Zeitfenster von 45 Tagen übergestülpt. Dann hebt nämlich mein gebuchter und bereits eingecheckter Flieger ab. Vom Zeitstress kann jetzt zwar noch keine Rede sein, aber wie lange noch?

Als sich der Strand in ein Labyrinth aus Handtüchern verwandelt, betrete ich eine sandige Treppe und stehe plötzlich mitten im Stadtzentrum.

Donostia-San Sebastián soll eine der schönsten Städte Europas sein: ringsherum von Bergen umschlungen, Architektur im Jugendstil, eine sehenswerte Altstadt mit historischem Firlefanz an allen Ecken und Enden und sogar eine Seilbahn schwebt hier angeblich umher. Ein Städtchen im Rausch von Kunst, Kultur und Alkohol und formal in diesem Reiseführerargumentationsstil sicher ganz nett. Doch ich vernehme bloß ein konstantes Autogeblubber, telefonierende Menschenhaufen, metronomartiges Lkw-Gepiepe, da eine Sirene, hier eine Alarmanlage, zehn verschiedene Songs aus zehn verschiedenen Läden und dazu einen Beat aus Presslufthämmern und Rüttelplatten. Der ganze Stadt-Flair-Scheiß ist im Alltag ja schon nervig, aber hier mit dem Wunsch nach radikaler Ruhe klingt alles nach einem geistigen Tinnitus.

Zumal diese gepflasterten, verdammt harten Straßen mich konstant an meine Sehnenscheidenentzündung erinnern. Gestern war doch alles noch so schön. Flauschige Trampelpfade, ruhige Weidelandschaften, totenstille Berggipfel und vor allem keine dieser beschissenen Drehzahlen! Meine leise Angst verwandelt sich zunehmend in laute Frustration. Willkommen im Tag 2.

»Buen Camino«, grinst eine Frau, die auf einmal neben mir steht. Sie gleicht optisch dem Paradebeispiel eines modernen pilgernden Menschen: knöchelhohe Wanderschuhe, kniehohe Wandersocken, Hochwasserhose, Funktionsshirt, Outdoor-Cap, zwei ultraleichte Treckingstöcke (die den traditionellen Pilgerstab ersetzen) und allerlei Wanderaccessoires, die an ihrem riesigen Wanderrucksack baumeln.

»Isn’t it beautiful here?«, fährt das Pilgermaskottchen fragend fort. Ich simuliere ein Lächeln und aus irgendeinem Grund gehen wir ein paar gemeinsame Schritte.

»But the Camino Francés is so much easier. Have you walked that one too?«, fragt sie weiter. Offenbar bin ich hier der Einzige mit Pilgerlevel »0«. Ich schüttele bloß meinen Kopf.

Was meine Wahl für den Camino del Norte betrifft, so ist sie einfach zu erklären: Der Blick auf die jährliche Pilgerstatistik deutete darauf hin, dass die Wahrscheinlichkeit, im Entenmarsch zu pilgern, hier am geringsten wäre. Allein um die Einsamkeit geht es mir natürlich nicht, da gäbe es gewiss dünner besiedelte Gegenden als einen Jakobsweg. Teilzeitbegegnungen mit Weggefährt:innen wünsche ich mir schon. Wohl aber weniger mit solchen aus der Kategorie Globetrotterkältekammer, mit denen ich dann über den Wärmedurchgangswiderstand meiner Isomatte debattieren darf – vielmehr suche ich echte Begegnungen mit echten Menschen. Menschen mit Narben, die sie nicht unter einer Thermojacke verstecken.

Ob das Pilgermaskottchen welche hat, weiß ich nicht. Gedankenverloren laufe ich einfach neben ihr her, bis sie sich schließlich von mir verabschiedet.