Der Ruhrbaron aus Oberhausen Paul Reusch - Peter Langer - E-Book

Der Ruhrbaron aus Oberhausen Paul Reusch E-Book

Peter Langer

0,0

Beschreibung

Die politische Verantwortung des Konzernherrn der GHH in Oberhausen: Paul Reusch in der Zeit von 1908-1942

Das E-Book Der Ruhrbaron aus Oberhausen Paul Reusch wird angeboten von Karl Maria Laufen Buchhandlung und Verlag und wurde mit folgenden Begriffen kategorisiert:
Ruhrgebiet, Wirtschaftspolitik, GHH, Regionalgeschichte, Industriegeschichte

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 1493

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Peter Langer

Der Ruhrbaron aus OberhausenPaul Reusch

1. Auflage Juni 2019

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH

Umschlaggestaltung: Ika Putantro, Den Haag, NL

Umschlagabbildung: Portrait Paul Reusch, Gemälde von Fritz Erler,RWWA 130-47000/0

ISBN 978-3-87468-391-3

© Karl Maria Laufen, Oberhausen 2019

Alle Rechte vorbehalten

www.laufen-online.com

Inhalt

Vorwort

Einleitung

Prolog

1.Der neue Vorstandsvorsitzende der GHH im Kaiserreich

Der Expansionskurs des neuen Generaldirektors

Wachsende Spannungen mit Gewerkschaften und den Interessenverbänden der Angestellten

Politisches Engagement in nationalistischen und erzkonservativen Gruppen: Die „Deutsche Vereinigung“

Einfluss auf die Nationalliberale Partei vor Ort

Die lokale Verankerung

Der Bergarbeiterstreik im März 1912

Verstärkte Förderung der „gelben“ Werkvereine

Kompromissloser Kampf gegen die Sozialdemokratie

Reusch und Woltmann: Zum Führungsstil des Konzernherrn

Erste Zwischenbilanz

2.Der Konzernherr im Krieg

Reusch als aktiver Teilnehmer in der Kriegszieldebatte: Das Eisenerz in Nord-Frankreich im Zentrum des Interesses

Reuschs Beiträge zur Kriegszieldebatte im weiteren Verlauf des Krieges

„Burgfrieden“ bei der GHH: Personalprobleme in der ersten Kriegshälfte

Kriegsgewinne

Erwerb des Schlosses „Katharinenhof“

Die Realität des Krieges

Im Kriegsernährungsamt

Das Ende des „Burgfriedens“

Träume von der Verteilung der Beute

Durchhalteparolen in den letzten Kriegswochen: Der Propaganda-Apparat der „Deutschen Vereinigung“

Kontakte zu den Gewerkschaften

Fazit am Ende des Krieges

3.In Abwehrhaltung: Der Konzernherr der GHH in der Revolutionszeit 1918/19

Der Ausbruch der Revolution

Arbeiterausschüsse, Arbeiter- und Soldatenräte und die Stadtverwaltung – im Mittelpunkt der Acht-Stunden-Tag

Reuschs Treuebekenntnis zu den gelben Werkvereinen

Unruhen im Dezember 1918 und Januar 1919

Die Wahl zur Nationalversammlung

Der Generalstreik im Februar 1919

Kommunalwahlen am 2. März 1919

Militäreinsatz im Ruhrgebiet

Der Generalstreik im April 1919

4.Republikaner aus Vernunft? Reusch in der Gründungsphase der Weimarer Republik bis zum Kapp-Putsch

Voller Misstrauen und Pessimismus in die neue Republik

Die Kontroverse um Hugo Stinnes und die Verhandlungen mit den Alliierten

Reusch auf Hugenbergs Seite bei der Debatte um die „Sozialisierung“

Die Kohlennot im Winter 1919/20: Schuldzuweisungen

Der Kapp-Putsch und die Folgen

Die Hetz-Flugblätter der „Deutschen Vereinigung“ im Wahlkampf 1920

Bolschewismus-Furcht und Untergangsvisionen

5.Der Ausbau des Konzerns 1919–1920

Prolog 1918: Mehrheitsbeteiligung bei der Deutschen Werft

Die finanzielle Ausgangssituation

„Schwerindustrieller Wucher“

Vertikale Expansion: Erster Akt

Die Übernahme der MAN

Nachwehen der Übernahmeschlacht

Straffe Führung des Konzerns

Weitere Firmenkäufe

Einstieg in die Verbandspolitik

6.Inflation und Streit um die Reparationen

Agitation gegen die Reparationen

Der Streit um die Erhöhung der Rohstoffpreise

Reaktionen auf den Rathenau-Mord

Galoppierende Inflation und verschärfte Spannungen mit den Siegermächten im zweiten Halbjahr 1922

Neue Offensive gegen den Acht-Stunden-Tag

Reusch zum Entwurf eines „Wirtschaftsprogrammes“ des RDI

Am Vorabend der Ruhrbesetzung

7.Die Männerfreundschaft Reusch – Spengler

Spenglers Phantasien von der Lenkung der deutschen Presse

Die Kontakte Reusch – Spengler während des Ruhrkampfes 1923

Reuschs Anweisungen für die Konzerneigene Presse

Spenglers Träume von einer Militärdiktatur

Weitere Gedankenspiele um die Lenkung der Presse

Nach dem Ruhrkampf

Bilanz der Periode 1920–1922

8.Widerstand während der Ruhrbesetzung 1923

Die Ausgangssituation Ende 1922

Die Verlagerung der Konzernleitung nach Nürnberg

Repressalien und Durchhalteparolen

Die Schlüsselrolle der Eisenbahn im passiven Widerstand

Risse in der Einheitsfront gegen die Besatzungsmächte

Verschärfte Schikanen der Besatzungsmächte – Sabotage-Akte von deutscher Seite

Versuche einer politischen Lösung

Sommer 1923: Unruhen in den Werken und auf den Straßen

Die Reaktion auf den Wechsel von Cuno zu Stresemann

Gehälter und Löhne in der Endphase der galoppierenden Inflation

Reuschs zuversichtliche Bilanz nach acht Monaten Besatzung

Verhandlungen mit der Micum

Währungsreform und Abschaffung des Achtstundentages

Reuschs extreme Position in der Arbeitszeitfrage

Feldmans Bilanz

9.Der Sprecher der deutschen Großindustrie in den Goldenen Zwanziger Jahren

Ab Juni 1924 Vorsitzender des Langnamvereins und der Nordwestlichen Gruppe des VdESI

1924: Der Kampf um den Dawes-Plan

Ab 1925 „das übliche Lamento“ auch im Konjunkturaufschwung: „Schuldenwirtschaft“, Steuerbelastung, Sozialpolitik

„Die Schuldenwirtschaft“

„Mehrheit ist Unsinn“

Das schwierige Verhältnis Reusch-Hugenberg

Reaktionäre Positionen zum Jahreswechsel 1925–1926

Internationale Wirtschaftsverflechtungen im Zeichen der Reparationen: Die USA-Reise 1926

Die Rolle Reuschs in der Silverberg-Kontroverse 1926

„Lasst die Wirtschaft doch endlich einmal in Ruhe!“

Konflikte im Winter 1926/27

Das „anonyme Herzogtum“ in der Phase der bürgerlichen Rechtsregierung 1927

1927 weiterhin auf der Tagesordnung: Die Frage der Arbeitszeit

Engagement für den „Deutschen Osten“

Die Gründung der „Ruhrlade“ und des „Bundes zur Erneuerung des Reiches“

Interesse für den Bestseller „Die Herrschaft der Minderwertigen“

Reusch als Scharfmacher im Ruhreisenstreit

Weitere Zwischenbilanz

10. Reuschs Sprache

11. Streit um den Young-Plan und Bruch der Großen Koalition

Die Verhandlungen über den Young-Plan

„Herr mach uns frei“: Die Mitgliederversammlung des Langnamvereins am 8. Juli 1929

Die Anfänge der Kampagne für das „Volksbegehren“

Reuschs Marionette im Reichstag: Oberst v. Gilsa

Der Reichsverband tagt in Düsseldorf

Der heiße Herbst 1929

„Aufstieg oder Niedergang“: Die Denkschrift des Reichsverbandes der Industrie

Der Konflikt um die Arbeitslosenversicherung

Die Steuerung der Marionette in der DVP-Reichstagsfraktion

Bürgerliche Sammlung auf kommunaler Ebene mit Schützenhilfe durch die SPD

Nächtliche Kontrolle im Finanzministerium/Parole: Kampf gegen den Sozialismus

Weitere Zwischenbilanz

12. Paul Reusch in der Ära Brüning

Zurückhaltung in den ersten Monaten der Regierung Brüning

Reuschs Rückkehr in die politische Arena: Der Streit um den Haushalt im Juli 1930

Der Traum von der bürgerlichen Sammlungspartei

Septemberwahlen 1930

Fühlungnahme zur NSDAP / Entfremdung von der Regierung Brüning

Wechsel im Vorsitz des Reichsverbandes der deutschen Industrie (RDI)

Konfrontationskurs gegen Brüning

Die Mobilisierung der Zeitungen des Konzerns für „die kapitalistische Weltanschauung“

Die Harzburger Front

Das Interview mit dem amerikanischen Journalisten H.R. Knickerbocker

Rechte Sammlungspartei durch Übertritt zu den Deutschnationalen

Reuschs Treffen mit Hitler

Die Finanzierung der bürgerlichen Parteien durch die Industrie

Richtlinien für die Zeitungen des Konzerns

Fazit

13. Paul Reusch und die „Machtergreifung“

Der Firmenpatriarch am Vorabend der Machtübertragung an Hitler

Priorität der Firmeninteressen/Risse im Lager der Schwerindustrie

Bemühungen um die Einbindung der Nazis in ein großes Rechtsbündnis

Innenpolitische Einflussnahme im August 1932

Reusch als Zuschauer bei den politischen Ereignissen im September 1932

Herbst 1932: Entfremdung von den Nazis

Skepsis und Zurückhaltung: Reuschs Reaktion auf die Novemberwahl und deren Folgen

Kritik am Programm der Regierung Schleicher

Reusch und die Intrigen im Januar 1933

Reaktionen auf die Machtergreifung im Lager der Unternehmer

Die Besprechung der Großunternehmer mit Hitler am 20. Februar 1933

Handlungsspielräume in der Diktatur

Zwischenbilanz Anfang 1933

14. Als Großindustrieller im NS-Staat

Nach dem Urlaub der Versuch des „business as usual“

Entlassung von Reichsbankpräsident Luther

Reusch contra Thyssen: Die letzte unabhängige Präsidialsitzung des RDI am 23. März 1933

Der Putsch im Reichsverband der Deutschen Industrie (RDI): Reusch wird übergangen

5./6. April 1933: Reuschs Einschwenken auf Anpassungskurs

Ratlosigkeit im Umgang mit den NS-Machthabern

Reusch schweigt bei der vollständigen Gleichschaltung des RDI

Gleichschaltung des Deutschen Industrie- und Handelstages

Gründung des „Reichsstandes der Deutschen Industrie“

Fortbestand der Ruhrlade

Das Verhältnis Reusch-Schacht

Die Zäsur im Sommer 1933: Das scheinbare Einschwenken des Regimes auf einen pragmatischen wirtschaftspolitischen Kurs

15. Paul Reusch und die Gleichschaltung der ’Münchner Neuesten Nachrichten’ 1933

Die „Münchner Neuesten Nachrichten“ vor der Gleichschaltung

Staatsstreich in Bayern: Terror gegen eine kritische Zeitung

Das „Eingreifen“ von Haniel und Reusch

Beschlagnahme des Kapitals: Zerwürfnis zwischen Reusch und Haniel

Reuschs Verhandlungen mit Himmler

Reuschs Rückzug auf eine Beobachterrolle

Die Situation der Verhafteten

16. Zwischenbilanz am Ende der Gleichschaltungsphase

17. In der konsolidierten Diktatur 1933/34

Die Einstellungspolitik der GHH in der Phase der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen

Reuschs Rückzug aus Verbandsposten auch im Dritten Reich

Vertretung der GHH im „Russlandausschuss der deutschen Wirtschaft“

Die Treuekundgebung der deutschen Wirtschaft

Reuschs persönliche Bilanz im Herbst und Winter 1933/34: Nach außen forcierte Anpassung, intern skeptische Distanz

Regieanweisungen für die Einweihung des Kriegerdenkmals der GHH

Reuschs Umgang mit den Opfern der Gleichschaltung

Die Übernahme der GHH-Anteile am Verlag Knorr & Hirth durch den Eher-Verlag der NSDAP

18. Aufrüstung – Die GHH im Rüstungsboom bis zu Reuschs Abgang 1941/42

Pflege der Kontakte zu Reichsbankpräsident Schacht: Mit Volldampf ins Rüstungsgeschäft

Enge Kontakte zu Reichskriegsminister Blomberg und zur Wehrmacht

Die konsequente Ausrichtung des GHH-Konzerns auf das Rüstungsgeschäft

Die „Denkschrift über die Aufwendungen der GHH im Zuge des Vierjahresplanes“

Das Rüstungsgeschäft der MAN und anderer Tochterfirmen des GHH-Konzerns

Das „Motorenwerk der Howaldtswerke AG“ in Hamburg

Die Auswirkungen des Rüstungsbooms auf den Konzern insgesamt

19. Autarkie: Erschließung und Aufbereitung inländischer Erze

Inländische Erze und deutsche Stahlindustrie

Die Aufschließung der Erzgruben der GHH

Der Kontaktmann der GHH in der Reichskanzlei: Wilhelm Keppler

Subventionen und Konkurrenzdruck

Verschärfter Druck der Regierung: Pleiger verdrängt Keppler

Intensivierung des „Lobbying“ im Reichswehrministerium

Pleiger macht Druck im Revier / Keppler auf dem Rückzug / Melancholie bei Schacht

Die Rolle der GHH in der Rohstoffpolitik des Vierjahresplans

GHH-Bergassessor Kipper als Rohstoffexperte in Görings Behörde

Fast vollständige Unterwerfung unter Görings Kommandowirtschaft

Das Ende der Ruhrlade

Reusch wird 70

Hauptversammlung des Vereins deutscher Eisenhüttenleute im November 1938

Fazit

20. Aggression: Die Einbindung der GHH in Hitlers Angriffskrieg

Reusch in der Phase der Blitzkriege

Zwangsarbeit bei der GHH

21. Als Unternehmer im Widerstand?

Das Verhältnis der GHH-Firmen zur NSDAP im Alltag

Reusch als Aufsichtsratsvorsitzender der Bayrischen Vereinsbank

Der Konflikt Reusch – Franke 1941

Wertung

Der „Reusch-Kreis“

Die Kaltenbrunner-Berichte

Ulrich von Hassell über Reusch

Vergleiche

22. Die Verantwortung des mächtigen Großunternehmers Paul Reusch

Epilog

Archive

Literatur

Abkürzungen

Register

Zum Autor

Vorwort

Zwei Bücher gaben den Anstoß, eine biographische Studie über den Oberhausener Großindustriellen Paul Reusch zu schreiben.

Anfang der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts stellte Hans Mommsen in der Stadtbibliothek von Oberhausen sein Buch über die Weimarer Republik vor: „Die verspielte Freiheit“. Nachdrücklich verwies er bei dieser Vortragsveranstaltung auf die fatale Rolle der Schwerindustrie und namentlich auf die persönliche Verantwortung von Paul Reusch für die Zerstörung der ersten deutschen Demokratie. Mommsens harsches Urteil war für einen Teil des Oberhausener Publikums nicht ganz leicht zu verdauen, umrankt doch den früheren Vorstandsvorsitzenden der GHH bis heute der Mythos des autoritären, aber gerechten Konzernlenkers, der den braunen Machthabern ab 1933 unbeugsam die Stirn bot.

Etwa zur gleichen Zeit stieß ich auf das Buch von Henry A. Turner über die Rolle der deutschen Großunternehmer beim Aufstieg Hitlers. Turner widerlegte die allzu vereinfachende Sicht, wonach „die Industrie“ Hitler für ihre Zwecke engagierte, finanzierte und lenkte.

Zwingende Schlussfolgerung dieser beiden Bücher war, dass auch bei den lokalhistorischen Forschungen die Frage nach der Rolle des Generaldirektors der GHH zu stellen ist.

Nachdem ich einen ersten Aufsatz über „Paul Reusch und die Machtergreifung“ im Haus der Geschichte des Ruhrgebiets in Bochum hatte vorstellen können, ermutigte mich Klaus Tenfelde, an diesem Thema weiter „dran zu bleiben“. Nach drei Aufsätzen kam von ihm die Aufforderung: „Machen Sie doch ein Buch über Paul Reusch!“ Seine Kritik und seine inhaltlichen Anregungen haben mir geholfen, mehr als ein Jahrzehnt, trotz vieler Unterbrechungen, durchzuhalten. Klaus Tenfelde ist im vergangenen Jahr ganz plötzlich gestorben. Es ist unendlich traurig, dass ich ihm das Buch nicht mehr persönlich präsentieren kann.

Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der genannten Archive haben mir bei den Recherchen immer mit klugen Hinweisen und viel Geduld geholfen. Besonders hervorzuheben ist das Rheinisch-Westfälische Wirtschaftsarchiv zu Köln, wo sich die Bestände des früheren GHH-Archivs jetzt befinden. Dass die Bestände seit einigen Jahren online erschlossen sind, erleichtert die Arbeit des Historikers sehr. Seit Mitte der neunziger Jahre fuhr ich unzählige Male nach Köln und traf immer auf freundliche und kompetente Helfer, die mir bei der Durchforstung der Aktenberge mit Rat und Tat zur Seite standen. An erster Stelle möchte ich die Unterstützung durch Herrn Dr. Weise hervorheben. Besonders möchte ich aber auch Herrn Greitens danken, der sich auch inhaltlich für die Dokumente interessierte, die er für mich bereit hielt, und mir manchen nützlichen Hinweis gab.

Besonders danken möchte ich aber meiner Frau, die Teile des Manuskripts gelesen und mir dadurch vor allem geholfen hat, in einer verständlichen Sprache zu schreiben. Sie musste es ertragen, dass ich in den vergangenen Jahren große Teile unserer – eigentlich gemeinsamen – Freizeit in Archiven oder vor dem Computer verbrachte.

Im Juni 2012

Peter Langer

Einleitung

Karl Jaspers schreibt in seinem Geleitwort zu Hannah Arendts Buch über die „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“: „Für die Verfasserin gilt nicht der alte Satz: So musste es kommen. Die Konstruktionen der Sinnzusammenhänge, die zu Kausalitäten in der Geschichte werden oder werden können, sind nicht als schlechthin zwingend gemeint. Denn erkannt, sind sie revidierbar. Es liegt am Menschen und nicht an einem dunklen Verhängnis, was aus ihm wird.“1 Es gilt also der Frage nachzugehen, wer die großen Katastrophen in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts verursacht hat, wer die Täter und ihre Helfer waren und wer versucht hat, die Verbrechen zu verhindern. Vor diesem Hintergrund wird gefragt, was „an Paul Reusch lag“.

Paul Reusch war kein Politiker. Aber was immer er in den 33 Jahren als Vorstandsvorsitzender der GHH-Konzerns tat oder sagte, war eminent politisch.2 Vor allem in den Jahren der Weimarer Republik, aber keineswegs nur da, übte er politische Macht aus und ist deshalb in die Verantwortung zu nehmen für die politischen Katastrophen in den drei Jahrzehnten seines Wirkens von 1909 bis 1942. Denn Verantwortung ist das Korrelat der Macht (Hans Jonas) – je mehr Macht, desto mehr Verantwortung.

Wenn diese biographische Studie das besondere Augenmerk auf das politische Handeln legt, so darf der Begriff „politisch“ nicht zu eng gefasst werden. Das politische Handeln eines einflussreichen Großunternehmers umfasst mehr als die direkte Lobby-Tätigkeit bei Regierungsangehörigen und Parlamentariern, wenngleich diese Art der Einflussnahme immer mit im Zentrum des Interesses steht. Das Engagement in der Verbandspolitik geht über gezieltes Lobbying weit hinaus. Die Beeinflussung der öffentlichen Meinung, z. B. durch den Kauf von Zeitungsverlagen, gehört in diesen Zusammenhang. Aber auch vermeintlich unpolitische, „rein geschäftliche“, ausschließlich an den engeren Firmeninteressen orientierte Aktivitäten können immense politische Auswirkungen haben. Dies gilt vor allem für die betriebliche Sozialpolitik, für das Verhältnis zu Betriebsräten und Gewerkschaften, aber auch für die Expansion zum Großkonzern. Wenn „Expansion“ das zentrale Element und Kennzeichen des Imperialismus ist und wenn der Imperialismus eine der Wurzeln des Nationalsozialismus ist (Hannah Arendt), dann kann die vertikale Expansion eines schwerindustriellen Konzerns nicht „unpolitisch“ sein. Die Unternehmensgeschichte kann daher nicht ausgeblendet werden. Dennoch ist hier eine Grenzziehung unvermeidlich: Eine biographische Studie über einen Unternehmer kann die Unternehmensgeschichte nicht ersetzen.

Die Frage nach der Verantwortung des mächtigen Großunternehmers Paul Reusch wird also in erster Linie an der politischen Dimension seines Handels festgemacht. Gliederungsprinzip ist natürlich die Chronologie, lässt sich doch seine sehr lange Zeit als Vorstandsvorsitzender von 1909 bis 1942 in klar voneinander zu trennende Zeitabschnitte einteilen: Es geht um die Rolle von Reusch in der „fatalen imperialistischen Hochrüstungsepoche“ (Klaus Tenfelde) vor dem Ersten Weltkrieg, dann im Verlauf dieser „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts 1914 bis 1918, danach während der ersten deutschen Demokratie bis 1933 und schließlich in der Barbarei des Dritten Reiches.

Die Rolle der führenden Politiker der drei Jahrzehnte von 1909 bis in den Zweiten Weltkrieg hinein ist bis in alle Details von Historikern ausgeleuchtet worden. Dies gilt nicht in gleichem Maße für die Großunternehmer, mit denen Paul Reusch ständig zu tun hatte – als Konkurrenten, als Verbündete, zum Teil als Gleichgesinnte, zum Teil aber auch als politische Gegner. Dass das Drama dieser Jahre in eine unvorstellbare Katastrophe mündete, „lag auch an ihnen“ – um die Formulierung von Karl Jaspers erneut aufzugreifen.

Das Drama von Reuschs drei Jahrzehnten als Vorstandsvorsitzender der GHH – fast deckungsgleich mit der Periode, die heute bisweilen als zweiter Dreißigjähriger Krieg bezeichnet wird – hat seinen Niederschlag im Archiv der Gutehoffnungshütte gefunden. Große Teile dieses Buches beruhen auf den Dokumenten dieses Archivs. Wenn ich den Leser sozusagen mitnehme nach Köln ins Rheinisch-Westfälische Wirtschaftsarchiv, wo die Akten heute aufbewahrt und gepflegt werden, so fordere ich ihn damit auf zu beurteilen, ob ich dort alle wichtigen Dokumente entdeckt und diese richtig interpretiert habe.

Ich war nicht der erste, der diese Akten erschlossen hat. Renommierte Historiker haben vor mir im GHH-Archiv gearbeitet und über Reusch publiziert. Natürlich verlasse ich mich im vorliegenden Buch auch auf deren Urteil. Hier sind vor allem zu nennen: Gerald D. Feldman, Bernd Weisbrod und Henry A. Turner, Jr. Bei der Akzentuierung der Sachverhalte und bei der unvermeidlichen Wertung greife ich durchgängig auf die Standardwerke von Hans Ulrich Wehler und Heinrich August Winkler zurück. Vor allem für die Endphase des Kaiserreichs und den Ersten Weltkrieg, aber auch darüber hinaus, orientiere ich mich an den Erkenntnissen von Fritz Fischer, für die Weimarer Republik und für das Dritte Reich an vielen Stellen an den Forschungen von Hans Mommsen.

 
 

1Karl Jaspers, Geleitwort, September 1955, in: Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, Pieper, München/Zürich, 6. Aufl. 1998, S. 12; ursprüngliche Originalausgabe: „The Origins of Totalitarianism“, New York 1951.

2Diese Unterscheidung bei: Günter Brakelmann, Zwischen Mitschuld und Widerstand. Fritz Thyssen und der Nationalsozialismus, Essen 2010, S. 7.

Prolog

Paul Reusch wurde am 9. Februar 1868 in Königsbronn in Württemberg geboren. Nach seiner Schulzeit in Königsbronn, Aalen und Stuttgart studierte er an der Technischen Hochschule in Stuttgart Bergbau- und Hüttenwesen. Seine Berufstätigkeit als junger Ingenieur begann er bei den Jenbacher Berg- und Hüttenwerken in Tirol. Nach einer einjährigen Unterbrechung 1890/91 zur Ableistung des Militärdienstes in München ging er für zehn Jahre ins Ausland, zunächst zur Firma Ganz & Co nach Budapest, dann 1895 zur Witzkowitzer Bergbau- und Hüttengesellschaft in Mähren. Die Eindrücke in Osteuropa haben ihn stark geprägt; er berief sich in späteren Jahren immer wieder auf seine Erfahrungen als junger Ingenieur in den östlichen Ländern der Donaumonarchie.

Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, am 1. September 1901, trat Paul Reusch eine Stelle als Direktor bei der Friedrich-Wilhelms-Hütte in Mülheim an der Ruhr an. Er muss in dieser Position herausragende Leistungen gezeigt haben, denn nur vier Jahre später berief der Aufsichtsrat des Gutehoffnungshütte Aktienvereins den 37-Jährigen in den Vorstand nach Oberhausen. 1908 folgte die Ernennung zum Vorstandsvorsitzenden. Als gerade 41-Jähriger übernahm er diese Verantwortung. Er bekleidete diese Position fast 33 Jahre lang bis Anfang 1942.

„Ich habe mir, solange ich im wirtschaftlichen Leben stehe, stets die größte Mühe gegeben, der Sozialdemokratie und den sozialdemokratischen Gewerkschaften das Wasser abzugraben.“ (Paul Reusch am 22. 12. 1913)

1.Der neue Vorstandsvorsitzende der GHH im Kaiserreich

Gemessen an der Zahl der Beschäftigten (21.657) behauptete die Gutehoffnungshütte (GHH) 1907 ihren dritten Platz unter den Firmen der Schwerindustrie an der Ruhr, weit hinter dem Marktführer Krupp (64.354) und knapp hinter der Gelsenkirchener Bergwerks-AG (31.252), aber noch vor Thyssens Gewerkschaft Deutscher Kaiser im benachbarten Hamborn.1 Aus dieser Position der Firma ergab sich aber nicht zwangsläufig ein gleichrangiger persönlicher Einfluss des neuen Vorstandsvorsitzenden der GHH. In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg gaben im Kreis der Ruhr-Barone neben der überragenden Figur des Hugo Stinnes Emil Kirdorf, August Thyssen und der neue Krupp-Direktor Hugenberg den Ton an, sowohl wirtschaftlich und verbandspolitisch als auch hinsichtlich des direkten politischen Einflusses auf staatliche Institutionen.2 Es war für den neuen, noch sehr jungen Generaldirektor der GHH gewiss nicht leicht, gegenüber diesen machtbewussten Gestalten die Stellung zu behaupten bzw. sich überhaupt erst eine unabhängige Machtposition zu erkämpfen. Wenn er für sein Unternehmen und für die Stadt Oberhausen einen „Platz an der Sonne“ reklamierte, so war dies nicht nur eine rhetorische Verbeugung vor Kaiser Wilhelm, sondern hatte seinen realen Hintergrund im Konkurrenzkampf mit den mächtigen Unternehmen in der Nachbarschaft.

Innerhalb des Unternehmens jedoch und auf lokaler Ebene lagen die Dinge anders. Spätestens Reuschs Auftritt bei der 50-Jahr-Feier der Stadt Oberhausen, drei Jahre nach seiner Ernennung, zeigte, dass es nicht die Eigentümer der Gutehoffnungshütte waren, die als Großunternehmer im öffentlichen Leben in Erscheinung traten, sondern der angestellte Vorstandsvorsitzende. Dies setzte bei der GHH eine lange Tradition fort: Auf die Luegs im 19. Jahrhundert folgten im 20. Jahrhundert die Reuschs. Die Verlagerung der Macht hin zu den angestellten Unternehmern entsprach dem Trend, der generell in den Werken der Schwerindustrie zu beobachten war.3 Nicht zufällig berief auch die Konkurrenzfirma in Essen in diesem Jahr 1909 einen neuen Vorstands-Vorsitzenden: Alfred Hugenberg übernahm diese Funktion bei Krupp. Anders als bei der GHH jedoch überließ Gustav Krupp von Bohlen und Halbach seinen angestellten Managern die Unternehmensführung keineswegs in alleiniger Zuständigkeit.

Als Reusch 1909 Generaldirektor der GHH wurde, dominierten in der deutschen Industrie wirtschaftlich – nicht politisch – längst die „neuen Führungssektoren“ Großchemie, Elektrotechnik und Maschinenbau, die alle sehr stark exportorientiert waren.4 Diese Ausrichtung auf die Weltmärkte begründete objektiv ein Interesse am freien Zugang zu den internationalen Märkten, an niedrigen Zöllen, an der Freiheit der Verkehrswege auf den Weltmeeren, d. h. an einer internationalen Verständigung zumindest mit den benachbarten Großmächten, langfristig also an der Erhaltung des Weltfriedens. Es wäre somit naheliegend zu vermuten, dass Reusch seine Unternehmensstrategie ganz auf das weitere Wachstum des friedlichen internationalen Warenaustausches ausrichtete, als er zu Beginn einer langen Hochkonjunkturphase die Führung übernahm. Der politische Kontext dieser Jahre war aber nicht durch friedliche Verständigung sondern durch wachsende Spannungen geprägt. Reuschs Ernennung zum Generaldirektor fiel in „jene fatale imperialistische Hochrüstungsepoche“, die 1914 folgerichtig „in einem schrecklichen Kriegsgemetzel mündete“.5 In diesem Kontext machte vor allem die Firma Krupp glänzende Geschäfte. Die „Waffenschmiede“ des Deutschen Reiches sonnte sich wie kein anderes Unternehmen in der Gunst des Monarchen. Daneben musste die viel kleinere GHH versuchen, sich zu behaupten.

Der Expansionskurs des neuen Generaldirektors

Einer aus dem Kreis der Autoren, die an Reuschs Mythos zimmerten, sah ab 1909 einen „neuen Geist in Oberhausen“ walten. Unter Reuschs Führung habe sich die GHH, das Ziel „restloser Rohstoffautarkie“ im Blick, „unter die ganz Großen“ eingereiht.6 Die Kundschafter der GHH schwärmten in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg in die ganze Welt aus auf der Suche nach zusätzlichen Rohstoffquellen, in Europa neben Frankreich auch in Spanien und Portugal, in Griechenland, Norwegen und vor allem in Schweden, dem für die Zukunft wichtigsten Lieferanten von Eisenerz. Der wichtigste sachverständige Ingenieur bei der Rohstoffsuche war schon vor dem ersten Weltkrieg neben Bergrat Mehner Bergassessor Kipper, der ein Vierteljahrhundert später von seinem Chef Paul Reusch gedrängt werden würde, als Experte für Eisenerz in Görings Vier-Jahresplan-Behörde mitzuarbeiten.7

Die GHH erwarb 1911 Mehrheitsbeteiligungen an großen Erzgruben in der Normandie. Reusch engagierte sich bei diesem Projekt persönlich sehr stark. Er machte später im Krieg diesen Besitz, wie die anderen Konzernherren der deutschen Schwerindustrie auch, zum Ausgangspunkt der Annexionsforderungen, die bis in den Spätsommer 1918 hinein alle Bemühungen um die Beendigung des längst aussichtslos gewordenen Kriegs torpedierten.

Allerdings erschien die GHH erst auf dem Schauplatz in Nord-Frankreich, als die deutschen Konkurrenzfirmen dort schon mehrere Jahre aktiv waren. Seit 1901 bemühte sich der Thyssen-Konzern um Eisenerzkonzessionen in der Normandie und in Lothringen, stieß aber auf große Schwierigkeiten bei den französischen Behörden. Ein aggressiver Konfliktkurs, bei dem August Thyssen zeitweise von der Reichsregierung Repressalien gegen französische Firmen in Deutschland verlangte, brachte keinen Erfolg.8 Es muss ihm bald klar geworden sein, dass eine Konfrontation weder der französischen noch der deutschen Industrie nützen würde. Der erfahrene Industrie-Stratege August Thyssen, gewiss keiner pazifistischen Neigungen verdächtig, wies deshalb 1907 darauf hin, dass sich Frankreich und Deutschland wirtschaftlich hervorragend ergänzen könnten: „Sie haben in Lothringen ungeheuer viel Eisen, aber gar keine Kohle, während wir einen Überfluss an Kohle besitzen, aber gar kein Eisen. Deshalb ist es durchaus notwendig, dass unsere beiden Länder nicht nur friedlich, sondern auch freundschaftlich miteinander stehen.“9 Krupp, vor dem Krieg der größte Ruhr-Konzern, arbeitete gleichzeitig bei der Erschließung von Erzfeldern in Marokko und Algerien eng mit der französischen Firma Le Creusot zusammen. Die von Fritz Fischer zitierte bemerkenswerte Äußerung von August Thyssen stand also am Ende einer Phase „gegenseitiger Durchdringung der Interessen“. Die „französisch-deutsche Solidarität, wie sie die Eisenhüttenleute anstrebten, [wurde jedoch] von den französischen Behörden gebremst.“10

Was die Wirtschaft anging, so gab es also in der Phase zwischen 1906 und 1910 durchaus Chancen für einen Interessenausgleich zwischen der französischen und der deutschen Seite.11 Die Marokkokrise beendete 1911 jedoch alle Ansätze einer Verständigung zwischen den Nachbarn. Ein wirtschaftlicher Interessenausgleich wurde generell durch den „assymetrischen“12 Charakter der deutsch-französischen Beziehungen erschwert: Dem massiven Eindringen der deutschen Schwerindustrie in Nord-Frankreich stand nämlich kein auch nur annähernd gleichwertiges Engagement französischer Firmen in Deutschland gegenüber. Auf die zweite Marokkokrise folgte denn auch eine „Ära der Schwierigkeiten 1911–1914“; in der französischen Öffentlichkeit brach – spiegelbildlich zum fanatischen Nationalismus in deutschen Massenmedien – eine „Kampagne gegen die germanische Invasion“ los.13 Die deutsche Schwerindustrie ihrerseits nahm in den letzten Friedenswochen 1914 die französische Eisenindustrie als zunehmend unangenehme Konkurrenz war. Reusch beauftragte seinen Stellvertreter Woltmann, ihm für einen Vortrag bei Minister Delbrück Material mit dieser Akzentuierung zusammenzustellen.14 In dieser aufgeheizten Atmosphäre sucht man vergeblich nach nüchternen, die wirtschaftliche und politische Vernunft betonenden Stellungnahmen aus den Kreisen der deutschen Schwerindustrie. Von Reusch ist auch für die früheren Jahre nirgends ein auf Verständigung mit Frankreich drängender, gegen den fanatischen Nationalismus gerichteter Ausspruch überliefert. Reuschs Vortrag bei Delbrück fiel bereits in die ersten Kriegswochen. Für seinen Vortrag bei der Reichsregierung würde er deshalb das Thema „Konkurrenz“ beiseite schieben und dem Geist der Zeit entsprechend nur noch über „Annexionen“ sprechen. Doch greift dies der Entwicklung vor. Zunächst zurück zum Eindringen der GHH in der Normandie.

Im 1871 annektierten „Deutsch“-Lothringen betrieb die GHH bereits Eisenerzgruben gemeinsam mit der Phoenix AG.15 Reusch strebte die Verhüttung des französischen Erzes in eigenen Anlagen vor Ort in Lothringen an, konnte aber dieses Projekt vor dem Krieg nicht mehr realisieren.16

Sein Hauptaugenmerk richtete Reusch jedoch auf die Erzfelder in der Normandie, ein Vorhaben, bei dem er sich persönlich außerordentlich stark engagierte. In den Jahren 1911 bis 1913 reiste er zehn Mal nach Paris, um die Verhandlungen mit den französischen Geschäftspartnern selbst in die Hand zu nehmen.17 Bis Ende 1913 nahm er an neun Sitzungen des Aufsichtsrats in Paris persönlich teil.18 Im Frühjahr 1911 lag Reusch ein ausführlicher Bericht über die südlich von Caen liegenden Erzgruben Barbery, Estrées-la-Campagne, Urville und Gouvix vor. Da nach französischem Recht keine Person oder Gesellschaft zwei Konzessionen erhalten durfte, musste zur Verschleierung der Besitzverhältnisse die „Société anonyme d’Extraction de Minerais“ mit Sitz in Paris gegründet werden.19 Dies geschah am 13. März 1911. Alle Aktien waren im Besitz der GHH. Diese durfte aber zunächst offiziell nicht in Erscheinung treten, weshalb für die Leitung dieser Firma die folgende bemerkenswerte Regelung gelten sollte: „Der Aufsichtsrat besteht vorläufig aus Herrn Schickardt und zwei Franzosen als Strohmännern. Nach Erledigung der Formalitäten werden die beiden Franzosen durch die Herren Reusch und Mehner ersetzt.“20 Dies war eine sehr durchsichtige Taktik, die denn auch vom französischen Präfekten sofort durchschaut wurde. Er erteilte die Abbau-Konzessionen für Gouvix nicht.21 Die GHH gehörte somit zu den deutschen Firmen, die nach der Marokkokrise von 1911 die Verschlechterung des Geschäftsklimas sofort zu spüren bekamen.22

Im April 1911 hatte Bergassessor Kipper seinem Chef eine detaillierte Zusammenstellung der Eisenerzanalysen für die Gruben in der Normandie vorgelegt. Die Verhandlungen mit den französischen Behörden über die Abbau-Konzessionen, vor allem über die Besteuerung, gingen nach dem Misserfolg von 1911 bis Ende 1912 weiter.23 Begleitmusik waren während der ganzen Zeit die von der deutschen Industrie als „willkürlich und schikanös“24 empfundenen Ausfuhrbestimmungen und Zölle der Franzosen und 1914 schließlich die angeblich überhöhten Frachttarife der belgischen Eisenbahnen, die für den Erztransport dringend benötigt wurden.25 Die Konkurrenzfirma Thyssen wollte dieses Problem durch die Verlagerung der Massentransporte auf Schiffe umgehen. Um kostengünstig Erz aus der Normandie nach Rotterdam und auf dem Rhein weiter ins Ruhrgebiet transportieren zu können und für den Kohletransport in der Gegenrichtung wollte Thyssen große Hafenanlagen in der Normandie bauen. In der Nähe der Erzgruben sollte ein großes Hüttenwerk entstehen. Auf diese gigantischen Investitionspläne der Konkurrenzfirma reagierte Reusch nervös. Um bei den Eigentümern nicht den Eindruck entstehen zu lassen, dass die GHH gegenüber Thyssen ins Hintertreffen geraten könnte, betonte er, dass „unser Erzbesitz in der Normandie nach aller Voraussicht wesentlich bedeutender ist als der Thyssen’sche“.26

In den langwierigen Verhandlungen mit den französischen Geschäftspartnern und dem französischen Staat verließ sich Reusch weitgehend auf den Präsidenten der Société des Mines de Barbery, Albert Taraud. Drei Jahre lang, bis zum Juli 1914, pflegten Reusch und Taraud in ihrer Korrespondenz einen persönlichen, ja freundschaftlichen Stil. Taraud schrieb dem „Directeur Général de la Gutehoffnungshutte“ viele Briefe in gestochen schöner Handschrift. Reusch revanchierte sich im April 1912 mit einer Sendung deutscher Qualitätsweine von der Mosel. Im November 1912 lud Taraud Reusch zur Hochzeit seiner Tochter ein; Reusch war jedoch verhindert und sagte telegraphisch ab. Noch am 10. Juli 1914 einigte sich Reusch persönlich mit Taraud über den Ausbau der Bahnlinie längs des Orne-Kanals zum Erzhafen bei Caen.27 Die Niederschrift einer Besprechung mit den französischen Geschäftspartnern vom Juli 1914 endet mit der folgenden Terminabsprache: „Nächste Sitzung 15. September 1914 in Paris.“28

Abb. 1:Taraud an Reusch, 8. 5. 1911, in: RWWA 130-300193006/16

Die Verhandlungen über die Erzgruben in der Normandie, besonders die freundschaftlichen Kontakte mit dem Geschäftspartner Taraud, mussten Reusch an sich deutlich machen, welch großes Interesse international tätige Firmen wie die GHH an einem friedlichen politischen Umfeld, besonders an einer Verständigung mit Frankreich, hatten. Der Krieg drohte die in langen Verhandlungen erworbenen Rechte an den Eisenerzfeldern in der Normandie mit einem Schlage wertlos zu machen. Der abrupte Abbruch der Geschäftsbeziehungen musste einem nüchtern denkenden Unternehmer eigentlich Anlass zur Sorge geben. Von Reusch sind jedoch keinerlei sorgenvolle oder auch nur nachdenkliche Äußerungen über die riskante, den Krieg in Kauf nehmende oder gar bewusst provozierende Politik der kaiserlichen Regierung überliefert. Er ließ sich im August 1914 vom blinden Begeisterungstaumel mitreißen und entwickelte sofort Pläne für die Enteignung der französischen Schwerindustrie nach dem deutschen Sieg. Den deutschen Grubenbesitz in der Normandie wollte er gegen entsprechende Erzfelder in Lothringen, das nach dem Sieg natürlich vollständig zu annektieren war, tauschen.29

Vergleichsweise geringe Probleme stellten sich dem neuen Generaldirektor beim anderen wichtigen Rohstoff der Schwerindustrie, der Kohle. Reusch setzte den Ausbau der Zechen im eigenen Konzern konsequent fort.30 Reusch trieb gleichzeitig die vertikale Expansion in die verarbeitende Industrie voran.31 Verglichen mit dem Erwerb der Deutschen Werft und vor allem der MAN nach dem Kriege waren dies jedoch nur erste kleine Schritte.

Schon bevor Reusch die Leitung des GHH-Konzerns übernahm, hatte die Schwerindustrie im Bündnis mit der Groß-Landwirtschaft gegen die Interessen der stark exportorientierten verarbeitenden Industrie die Wiedereinführung stark überhöhter Schutzzölle durchgesetzt.32 Als im Frühjahr 1914 die Frage der Schutzzölle wieder auf die Tagesordnung kam, „arbeiteten Schwerindustrie und Landwirtschaft“ wieder „Hand in Hand“ gegen die im Bund der Industriellen (BdI) zusammen geschlossene Fertigwarenindustrie, den Handel und die Banken. Alle bedeutenden Industriellen des Reviers (Hugenberg, Kirdorf, Stinnes, Reusch u.a.) waren beteiligt, als im März 1914 die „Auslands GmbH“ zur Verteidigung der speziellen handelspolitischen Interessen der Schwerindustrie ins Leben gerufen wurde.33

Während sie einerseits den deutschen Markt rigoros abschotteten, verlangten die Ruhrbarone gleichzeitig den freien Zugriff auf die Eisenerzlager in aller Welt. Diesen Anspruch sollte die kaiserliche Regierung durch eine energische imperialistische Politik durchsetzen, z. B. 1911 in der Marokko-Krise. Denn der „Anteil am Erzreichtum Marokkos ist für [die deutsche Schwerindustrie] eine Lebensfrage.“34 Paul Reusch, der noch sehr junge Nachkömmling unter den Ruhrbaronen, sah die Dinge offenbar genauso; er sah die Interessen der Schwerindustrie durch eine hoch riskante Politik der Konfrontation mit den benachbarten Großmächten am besten gewahrt.

Der nach außen gerichteten Expansionsstrategie des Konzerns entsprach im Innern die Konfrontation mit den Gewerkschaften.

Wachsende Spannungen mit Gewerkschaften und den Interessenverbänden der Angestellten

Der neue Generaldirektor Paul Reusch hatte seinen Posten in einer Situation verschärfter Spannungen zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften angetreten. Die freien Gewerkschaften hatten nach dem großen Streik von 1905 erheblich an Selbstbewusstsein gewonnen und waren deshalb spätestens 1910 nicht mehr bereit, die Reallohnverluste der vorausgegangenen Jahre seit der Hochkonjunktur 1907 hinzunehmen. Die Arbeitgeber der Schwerindustrie versteiften sich jedoch nach 1905 auf einen kompromisslosen Herr-im-Haus-Standpunkt; durch ihre Ablehnung jeglicher Verhandlungen mit den Gewerkschaften versuchten sie, die noch unorganisierten Arbeiter von einem Beitritt zur Gewerkschaft abzuschrecken. Noch vor der nächsten großen Kraftprobe mit den Gewerkschaften im Bergarbeiterstreik von 1912 jedoch ging die GHH unter Reuschs Führung gegen die Verbände der Techniker in die Offensive.

Der wachsende Einfluss der Interessenverbände der Angestellten alarmierte die Arbeitgeber fast noch mehr als das Anwachsen der streikbereiten Gewerkschaften der Arbeiter. Denn die unerschütterliche Gemeinsamkeit der Interessen von „Beamten“ und Werksleitung geriet dadurch ins Wanken. In den Verbänden der Techniker und der kaufmännischen Angestellten regte sich ein neuer Mittelstand; deshalb gab es in den liberalen Parteien große Sympathien für diese Bestrebungen, was die Schwerindustriellen veranlasste, umso härter gegen die unabhängigen Organisationen in ihrem Mittelbau vorzugehen.35

Die GHH erregte im Herbst 1911 durch die Maßregelung organisierter Techniker im Werk Sterkrade landesweit Aufsehen. Seit einer Resolution beim „Gautag“ des Bundes der technisch-industriellen Beamten (Butib) am 28. Mai 1911 in Duisburg stand dieser Verband unter verschärfter Beobachtung, weil seine Mitglieder es in diesem Beschluss abgelehnt hatten, sich als Streikbrecher einsetzen zu lassen. Dies – so der Duisburger Beschluss – sei mit der Standesehre der technisch-industriellen Beamten nicht vereinbar. Noch Monate später auf der Hauptversammlung von „Arbeitnordwest“36 wetterten die Unternehmer gegen diesen Beschluss als Wurzel allen Übels.37 Reuschs Stellvertreter Woltmann schrieb den Werksleitern der GHH in „streng vertraulichen“ Briefen, dass der Butib seitdem „völlig in radikalem Fahrwasser“ schwimme. Beim „Gehaltskampf“ im September 1911 in Berlin werde dies besonders deutlich. Ausdrücklich im Auftrag von Reusch wurden die Werksleiter verpflichtet, festzustellen, wer diesem Verband angehörte, und die Listen mit der Aufschrift „privat“ auf dem Umschlag Woltmann zukommen zu lassen.38

Die Erfassung der Verbandsmitglieder konnte nicht geheim bleiben, was den „Deutschen Techniker-Verband“ zu einem besorgten Brief an den Konzernherrn persönlich veranlasste. Schon der Stil der Anrede lässt erkennen, dass hier niemand „in radikalem Fahrwasser“ agierte: Der Geschäftsführer des Verbandes in Dortmund wandte sich an den „Hochwohlgeboren Herrn Generaldirektor P. Reusch, Königlicher Kommerzienrat“ in der Hoffnung, „bei Ihrem bekannten Wohlwollen den Angestellten gegenüber keine Fehlbitte zu tun“. In den Werken der GHH seien die Angestellten von den Abteilungsdirektoren einzeln vernommen worden, zum Teil seien sie zum Austritt aus dem Techniker-Verband gedrängt worden, „mit der gleichzeitigen Androhung, dass im Weigerungsfalle gekündigt werden würde“. Der Verband glaubte, dass hier ohne Reuschs Kenntnis „übereifrige Vorgesetzte den Staatsbürgerrechten der Angestellten zu nahe getreten sind“, und bat Reusch, Vertretern ihres Vorstandes „gütigst eine Unterredung gewähren zu wollen“.39 Reusch war wohl nicht „gütig“ in dieser Sache. In den Akten findet sich kein Antwortschreiben und auch kein Hinweis auf die höflich erbetene Unterredung, stattdessen ein Schriftstück, in dem ein Beamter in gestochener Sütterlin-Handschrift „ergebenst“ seinen Austritt aus dem Technikerverband mitteilt.40

 
Abb. 2:Deutscher Techniker-Verband, Geschäftsstelle Rheinland-Westfalen, Dortmund, an Reusch, 24. 10. 1911, in: RWWA 130-3001038/1b
 

Die angedrohten Entlassungen wurden zu diesem Zeitpunkt bereits eingeleitet. Bei dieser Aktion zeichnete sich Direktor Häbich im Werk Sterkrade durch besondere Härte aus. Dieser hatte in einer Konferenz mit den Abteilungsleitern die Vorgehensweise genau festgelegt. Der Nordwestlichen Gruppe des Vereins Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller teilte er konkrete Details mit: Die Verbandsmitglieder würden in Einzelgesprächen „zunächst mündlich dahin belehrt, dass sie durch ihre Berufsverbände irre geleitet und auf den Weg des Klassenkampfes gedrängt würden“. Man ließ ihnen nur die Wahl zwischen dem Austritt aus dem Verband und der Kündigung. Wenn sie sich weigerten, sofort eine Austrittserklärung zu unterschreiben, folgte die Entlassung. Von 44 so behandelten Technikern blieben nur sechs standhaft. Die Namen der Entlassenen wurden, mit Geburtsdatum, Geburtsort und genauer Berufsbezeichnung, dem Arbeitgeberverband mitgeteilt, damit alle Mitgliedsfirmen unterrichtet werden konnten.41 Bei Einstellungen mussten die Bewerber eine schriftliche Erklärung abgeben, dass sie keinem Berufsverband angehörten. Von Seiten der Firma sei, „zur Pflege der Geselligkeit“, die Gründung eines Beamten-Vereins in die Wege zu leiten.42 Die Direktoren ließen also keinen Zweifel daran, dass zwischen betriebsinterner Wohlfahrtspflege und Disziplinierung ein enger Zusammenhang bestand. Es wurde genau Buch geführt, welche Gehaltszahlungen den „ausgesperrten Technikern“ noch zustanden. Gleichzeitig erhielten sie ihre Beiträge zur Pensionskasse zurück vergütet. Alle Schritte der Sterkrader Werksleitung waren mit der Hauptverwaltung der GHH bis in alle Einzelheiten abgestimmt.43 Die GHH ließ also keinen Zweifel daran, dass eine Wiedereinstellung ausgeschlossen war.

Der harte Kurs der GHH stieß selbst in Unternehmerkreisen nicht überall auf Beifall. Reusch berichtete über die Maßnahmen seiner Firma bei einer Sitzung des Gesamtverbandes Deutscher Metallindustrieller in Berlin. Kein Geringerer als sein Unternehmerkollege Borsig kritisierte bei dieser Gelegenheit die Entlassungen als zu weitgehend. Er befürchtete negative Rückwirkungen bei den bevorstehenden Reichstagswahlen. Reusch beharrte aber auf seinem Standpunkt; der „Missstimmung in Beamtenkreisen“ glaubte er durch positive innerbetriebliche Maßnahmen entgegenwirken zu können.44

Die Maßregelung der Angestellten bei der GHH löste einen Sturm der Entrüstung aus. Die „Deutsche Industriebeamten-Zeitung“ erschien am 3. November 1911 mit der Schlagzeile „Der Tag von Sterkrade“ und kommentierte die Ereignisse auf der Titelseite, wie folgt: „Der Tag von Sterkrade ist ein schwarzer Tag in der Angestelltenbewegung. Mit Hilfe eines brutalen Gewissenszwanges hat die Gutehoffnungshütte einer Anzahl Kollegen ihr gesetzlich gewährleistetes Koalitionsrecht abgepresst. … Rücksichtslos, großartig. Bewundernswert, wenn solche Energie einmal für den Fortschritt der Menschen aufgewandt würde; verdammenswert, und alles Edle im Menschen zum Kampfe herausfordernd, wenn, wie hier, von dem Throne eines viele Millionen zählenden Aktienkapitals herunter Menschen, die nichts als ihr bisschen Ehre und Selbstachtung besitzen, auch dieses noch geraubt, die Menschenwürde mit Füßen getreten wird. … Was nun? Was tun?“45 Der Techniker-Verband und der Butib riefen zu großen öffentlichen Protestversammlungen in Köln, Düsseldorf, Elberfeld und Essen, aber auch in weit entfernten Städten wie Hamburg, Breslau oder Nürnberg auf.46

Eine besondere Wirkung versprachen sie sich von der Versammlung in Köln, da dort die Stadtverordnetenwahlen anstanden und das neue Stadtparlament über den Auftrag für den Bau einer neuen Rheinbrücke würde zu entscheiden haben. Bei der Ausschreibung lag die GHH gut im Rennen. Daher bestand bei den Techniker-Verbänden die Hoffnung, „dass die Versammlung die Kandidaten für die Stadtverordnetenwahlen veranlassen wird, ihr Amt von vorneherein mit dem festen Entschlusse anzutreten, der Gutehoffnungshütte, die das Recht ihrer Angestellten so schmählich mit Füßen getreten hat, den Auftrag auf keinen Fall zukommen zu lassen“.47

Für die Versammlung in der Düsseldorfer Tonhalle liegt ein ausführlicher „Stenographischer Bericht“ vor, wobei offen bleiben muss, auf welchem Weg dieses aufschlussreiche Dokument in die Akten der Konzernleitung der GHH gelangte. Der Hauptredner beschrieb die Vorgänge im Werk Sterkrade höchst anschaulich: „Es lässt der Direktor den Vorsitzenden der dortigen Ortsverwaltung des Deutschen Technikerverbandes zu sich kommen und gibt ihm auf, eine gemeinsame Austrittserklärung seiner Mitglieder einzureichen. Dem Vertrauensmann, dem die Mitglieder dieser Gruppe doch anvertraut sind und der ihre Rechte doch zu wahren hat, dem gibt man so kaltlächelnd den Auftrag, sammel mal die Austrittserklärungen deiner Mitglieder ein (Lachen!), die 22 Jahre dem Bunde angehört haben, ältere Leute, Familienväter, die sich freuen, dass sie versorgt sind, durch die Organisation mit dem ganzen Gros der Deutschen Techniker Fühlung zu haben. Für die Mitglieder des Bundes technisch-industrieller Beamten ging es etwas anders zu, für die hatte man hektographisch vervielfältigte Erklärungen ,Sterkrade, den 25. Oktober 1911. Ich verpflichte mich hiermit, sofort meinen Austritt aus dem Bunde anzumelden.’ Gleich für alle hergestellt.“48 Der „Gauleiter“ und andere Verbandsvertreter seien noch am gleichen Tag nach Sterkrade gefahren. „Wir fanden 37 Kollegen vor, die sich in außerordentlich gedrückter Stimmung befanden und sich immer fragten, was könnten wir tun gegen diese übermächtigen Geldmenschen. Nur 50 Minuten war Zeit zum Verhandeln. … Im Übrigen war allen gesagt worden, dass kein Zappeln etwas helfen würde, die Direktion hat es beschlossen und der Vorstand hat es beschlossen und was der Vorstand beschließt, das geschieht. Es ist ein sehr trauriges Kapitel, dass das alles geschieht. … Die Kollegen sahen sich sehr gedrückt gegenseitig an, sie hatten wenig Hoffnung, der Gutehoffnungshütte gegenüber etwas machen zu können.“49 Nachdem die Verbandsvertreter ihre Unterstützung versprochen hatten, wurde in geheimer Abstimmung beschlossen, dem Druck der Betriebsleitung nicht nachzugeben. 31 Unterschriften standen unter einer entsprechenden Erklärung, die die Verbandsvertreter dem Vorstandsvorsitzenden Reusch übergeben wollten. Der jedoch habe es abgelehnt, sie „zu empfangen“.50 Danach fiel einer nach dem anderen um. „Man holte den jüngsten herein. Man schnauzte ihn an, er unterschrieb. … Die Verhältnisse in diesen Werken sind dazu angetan, Charaktere zu fällen, wer einmal in diesem Betriebe gewesen ist, wer einige Jahre Beobachtungen gemacht hat, der weiß, dass dort Charaktere gebrochen wurden, systematisch, planmäßig. Man hat mit den Jüngsten angefangen, man hat ihnen einfach befohlen, sie haben unterschrieben. Sie fühlen sich nicht berufen, Vorkämpfer für andere zu werden. ,Wir setzen Sie einfach auf die schwarze Liste, und Sie werden nie wieder Arbeit finden’ (Pfui!).“51 Besonders hervorgehoben wurde danach sogleich der Mut der Wenigen, die dem Druck standgehalten hatten und sofort entlassen worden waren. Im Spektrum der gewiss nicht gewerkschaftsfreundlichen Schwerindustrie hatte sich die Konzernleitung der GHH mit dieser Aktion als besonders reaktionär profiliert. „Die Herren von der Gutehoffnungshütte vergessen aber … eins, dass nicht alle Betriebe so sind wie die der Gutehoffnungshütte. Dass nicht in allen Betrieben jener Geist umhergeht, der die Menschen, die Angestellten einander gegenüber misstrauisch macht, der es nicht dazu kommen lässt, sich zu verständigen. So sieht es aus. Aber Gott sei Dank nicht überall, und wo sie hinfassen werden mit tückischer Hand, die Geldleute, da werden sie sich das nächste Mal die Finger verbrennen.“52

Weitere Redner prangerten die Vorgehensweise der GHH an. In teilweise sehr pathetischem Stil beriefen sie sich auf die Menschenrechte, verlangten das Eingreifen des Staatsanwaltes zum Schutz des Koalitionsrechtes der Angestellten und forderten immer wieder dazu auf, bei der kommenden Reichstagswahl, Kandidaten zu unterstützen, die für die Rechte der Arbeitnehmer eintraten. Kein Redner ließ sich die Gelegenheit entgehen, durch Wortspiele mit dem Namen der GHH zu punkten: „Es ist ein eigentümliches Wort, das sich die Gutehoffnungshütte genommen hat (Lachen). Gute Hoffnung. Die Hoffnung, die wir hatten, dass es endlich im Deutschen Vaterlande anders gehen sollte mit den Menschenrechten, gerade diese Gutehoffnungshütte hat uns die gute Hoffnung und den Glauben daran gründlich versalzen. … Wem liegt nicht daran einzutreten für Menschenrecht, wem liegt nicht daran, für Staats- und Bürgerrecht einzutreten? Diejenigen, die nicht davon überzeugt sind, dass wir uns unser Recht erkämpfen müssen, können gestrichen werden wie die Umgefallenen von Sterkrade, sie gehen heute als Knechte einher und das in einem Werke, das sich Gutehoffnungshütte nennt.“53 Auch wenn man rhetorische Überspitzungen in Betracht zieht, so drängt sich doch der Eindruck auf, dass in den Betrieben der GHH, und dort wiederum vor allem in Sterkrade, unter Reuschs Führung ein extrem harter Kurs gegen die Arbeitnehmer gefahren wurde. „Sterkrade“ wurde zum Symbol für die kompromisslose Durchsetzung des Herr-im-Haus-Standpunktes: „Was wird aus uns werden, wenn in dem Kampf das Arbeitgebertum Sieger bleibt, das sich den Scherz von Sterkrade geleistet hat. Was wird aus uns werden, wir alle werden Nummern und bleiben Nummern in dem bewegten großen Betrieb, der uns beherrscht. Wird unser Schicksal glücklicher sein, wenn wir willenlos alles mit uns geschehen lassen müssen, was die Großindustrie mit uns vor hat?“54 Ein Redner nach dem anderen kritisierte die extreme Härte des „Arbeitgebertums“ in der GHH, wetterte „gegen das Herrentum von Sterkrade“55, auch gegen Reusch ganz persönlich: „Mag Sterkrade einen Direktor haben, der Kommerzienrat oder wer weiß was ist, wir werden ihm zeigen, dass unsere Organisation stark ist.“56 Niemand jedoch rief zum Umsturz des wirtschaftlichen und politischen Systems auf. Im Gegenteil: Es sollte im Rahmen des bestehenden Systems bei der Vergabe von Staatsaufträgen Druck ausgeübt werden: „Ich frage Sie, wie stellen sie sich dazu, soll der Bau der neuen Rheinbrücke [in Köln] der Gutehoffnungshütte übertragen werden?“57

Es muss noch einmal daran erinnert werden, dass diese Reden nicht von Arbeitern oder Gewerkschaftsführern gehalten wurden. Dies waren keine marxistisch orientierten Sozialdemokraten, sondern Vertreter des „neuen Mittelstandes“. Sie waren nicht auf Umsturz aus, sondern wollten, wie gerade die Vorgehensweise in Köln zeigt, die vorhandenen halb-demokratischen Institutionen auf legalem Wege nutzen. Ihre Kritik und Strategie war also ganz „systemimmanent“. Reusch war offenbar unfähig, dies zu erkennen. Er sah sich, wie er wenig später in selbstgefälligem Ton bemerkte, im Kampf mit umstürzlerischen Reichsfeinden.

Die Zeitungen der Region und darüber hinaus berichteten ausführlich über die Kundgebungen. Der Arbeitgeberverband seinerseits registrierte aufmerksam, welchen Widerhall der Konflikt in der Öffentlichkeit fand. Reusch wich trotz der schlechten Presse jedoch keinen Millimeter von seiner harten Position ab; er bestand darauf, dass auch Beamte mit langfristigen Verträgen zu entlassen seien.58 Gleichzeitig versuchte der Arbeitgeber-Verband, seine Sicht der Dinge in die Presse zu lancieren, was sich jedoch selbst bei Industrie-abhängigen Blättern als schwierig erwies. Der Geschäftsführer von „Arbeitnordwest“ schickte Reusch deshalb zur Entschuldigung die Abschrift eines Schreibens, in dem der Chefredakteur der „Rheinisch-Westfälischen Korrespondenz“ die Probleme erläuterte: „Der Fall der Gutehoffnungshütte contra Bund technisch-industrieller Beamten hat die öffentliche Meinung sehr erregt.“ Bei der Kundgebung in der Tonhalle in Düsseldorf habe sich der Reichstagsabgeordnete Haberland von der SPD „rückhaltlos auf die Seite der Techniker gestellt“. Unter denen, die ihm „lebhaft zustimmten“, seien „nicht etwa nur kleine Techniker, sondern auch sehr angesehene Ingenieure und Betriebsführer in großer Zahl“ gewesen. „Würden nun nationalliberale und konservative Blätter im gegenwärtigen Augenblick gegen den Bund technisch-industrieller Beamten und gegen das Koalitionsrecht der Techniker und Ingenieure Stellung nehmen, so würde die direkte Folge die sein, dass auch diese bedeutsamen Kreise des Mittelstandes … bei den bevorstehenden Wahlen in Scharen der Sozialdemokratie zugeführt werden.“59 Daher sei die Redaktion einstimmig der Meinung gewesen, dass die „Rheinisch-Westfälische Korrespondenz“ den Artikel der Arbeitgeber nicht veröffentlichen sollte.

Reusch aber wich keinen Jota zurück. Er nahm die Öffentlichkeitsarbeit nun eben selbst in die Hand. Der Kölner Oberbürgermeister Wallraf erhielt eine 11-seitige Darstellung des Standpunktes der GHH. Der „Kölnischen Zeitung“ schickte Reusch persönlich einen 7-seitigen Artikel über den Techniker-Verband: „Ich nehme an, dass die ,Kölnische Zeitung’ das ,audiatur et altera pars’ in der Techniker-Bewegung nicht übersehen wird.“60 Wegen des Auftrages für die neue Rheinbrücke war die Kölner Presse für die GHH besonders wichtig. In der Öffentlichkeit wurde vermutet, dass bei der Stadtverwaltung in Köln die „Neigung besteht, die starke wirtschaftliche Macht der Stadt bei einer großen Auftragserteilung (ein Brückenbau, um den die Gutehoffnungshütte-Sterkrade konkurriert) für die Arbeitnehmer in die Waagschale zu werfen.“61

Ganz offen verlangten die Interessenverbände der Angestellten, „dass in den Lieferungsverträgen der Stadt Cöln eine Bestimmung aufgenommen wird, wonach bei Vergebung von Arbeiten nur solche Firmen berücksichtigt werden, die das Koalitionsrecht der Angestellten und Arbeiter achten; ferner bei der Vergebung der zu erbauenden neuen Rheinbrücke die Gutehoffnungshütte in Sterkrade nicht zu berücksichtigen.“62 Die Technikerverbände beriefen sich auf ein Gesetz, das schon 1869 alle Koalitionsverbote aufgehoben habe. Es liege deshalb „ein öffentliches Interesse vor …, eine derartige Herrenmoral, wie sie von der Gutehoffnungshütte bestätigt worden ist, als unsittlich zu brandmarken. Die Proteste der Öffentlichkeit bleiben auf Arbeitgeber vom Schlage der Leiter der Gutehoffnungshütte und auf Werke von dieser Größe so lange ohne Eindruck, dass [sic!] ihnen die Missbilligung ihres Verhaltens nicht an der Stelle fühlbar gemacht wird, wo sie am empfindlichsten sind, nämlich an ihrem Gewinn.“63

Reusch schickte den Direktoren Häbich (Sterkrade) und Woltmann, seinem Stellvertreter, sofort eine Abschrift dieser Eingabe und ordnete an, „sämtlichen Stadtverordneten von Cöln in einer ruhig und sachlich gehaltenen Zuschrift die Verhältnisse auseinander[zu]setzen“. Unsachlich waren natürlich nur Reuschs Gegner: „Auf die Tatsache, dass das Gros der Techniker die maßlose Agitation und Verhetzung selbst auf das allerschärfste verurteilt“ sei besonders hinzuweisen. Bei den Techniker-Organisationen hätten „die sozialdemokratischen Tendenzen … Oberwasser bekommen“.64 Sozialdemokratische Tendenzen – dies war ins Reuschs Augen die schlimmste Sünde.

Wenige Tage später ging das Erwiderungsschreiben der GHH an 52 Kölner Stadtverordnete, zwölf Beigeordnete – u. a. an den Beigeordneten Konrad Adenauer – und an den Oberbürgermeister. Es enthielt keinerlei Signale der Kompromissbereitschaft, es enthüllte vielmehr erneut die gewerkschaftsfeindliche Gedankenwelt, in der die Konzernleitung der GHH offenbar stärker als andere Unternehmer gefangen war. Die Techniker seien „die Vertrauensleute des Unternehmers im Verkehr mit der Arbeiterschaft. Gleiten diese Vertrauensleute in das Fahrwasser des zielbewussten Klassenkampfes, so ist damit die Fortdauer des ganzen Betriebes überhaupt in Frage gestellt. Es ist daher einfach Pflicht des Unternehmers, Verbände, welche die Techniker durch systematische Verhetzung aus Vertrauensleuten zu Gegnern der Betriebsleitung machen wollen, energisch zu bekämpfen.“ Der Unternehmer dürfe nicht „untätig zusehen, dass die in seinem Betriebe beschäftigten Beamten Verbänden angehören, die nicht davor zurückschrecken, durch Anwendung der allerschroffsten Kampfesmittel wie Ausstand und Verhängung der Sperre ein ganzes Werk zum Stillstand zu bringen und damit die Arbeiter erwerbslos zu machen.“ Als Beleg wird auf den Beschluss verwiesen, in dem die Techniker es abgelehnt hatten, sich als Streikbrecher einsetzen zu lassen. Der GHH gehe es nicht „um einen Angriff auf die Koalitionsfreiheit, sondern um die rechtzeitige Abwehr gefährlicher Ausschreitungen in der deutschen Techniker-Bewegung und um den Schutz der größeren Mehrzahl unserer Beamten gegen den Koalitionszwang und den Gewerkschaftsterrorismus.“ Im Schatten des Kölner Doms erschien der preußisch-protestantischen Konzernleitung am Ende des Appells auch der Hinweis auf einen Artikel in der katholischen „Oberhausener Volkszeitung“ angebracht, in dem die „katholischen Techniker und ihre evangelischen Kollegen“ vor dem Butib gewarnt wurden.65 Die „Kölnische Zeitung“, die in den Dezembertagen davor den Arbeitgebern und den Technikerverbänden auf der Titelseite viel Raum gegeben hatte, widmete Reuschs Eingabe an die Kölner Stadtverordneten nur eine kurze Notiz.66

Alle Mühen waren vergebens. Am Bau der Dombrücke (Eisenbahn- und Straßenbrücke), die 1911 endgültig dem Verkehr übergeben worden war, war die GHH beteiligt. Bei der Deutzer Brücke – um die drehte sich der Streit – erhielten nach zweimaligem Wettbewerb MAN (Werk Gustavsburg) und die Klöckner-Humboldt AG den Zuschlag für die Stahlarbeiten. Für die Stadt Köln federführend war dabei der Beigeordnete Adenauer. Die Bauarbeiten an der Deutzer Brücke begannen 1913. Am 15. Juli 1915 wurde sie dem Verkehr übergeben.67

In der liberalen Presse blies Reusch der Wind ins Gesicht, selbst industriefreundliche Blätter neigten zur Zurückhaltung, im Kreise der Unternehmer aber fand sein harter Kurs an einigen Stellen sofort Nachahmer. Im Bezirk der Nordwestlichen Gruppe des VdESI machten jetzt auch andere Werke Front gegen die „arbeitgeber-feindlichen Anschauungen“ und die angeblich „sozialistischen Tendenzen“ in den Verbänden der Angestellten.68 Gleichzeitig erhöhten die Arbeitgeber des Ruhrbergbaus den Druck auf die Steiger. Ein Polizeispitzel in Essen hatte dem Zechenverband die Postversandsliste der Zeitschrift des Deutschen Steigerverbandes besorgt. Aufgrund dieser Liste wurden ca. 500 Steiger zum Austritt gezwungen; allen anderen wurde mitgeteilt, dass die Zugehörigkeit zum Steigerverband ein Entlassungsgrund sei. Die Mitgliederzahl dieses Verbandes schrumpfte unter diesem Druck von 1.600 bis zum Ende des Jahres 1911 auf 200.69 Generell verschärft wurde die Konfrontation durch den lange vor 1912 einsetzenden Reichstagswahlkampf.70 Reusch erhielt auf der Jahresversammlung der Deutschen Arbeitgeberverbände im Dezember 1911 einen Vertrauensbeweis, als er demonstrativ in den Ausschuss der Hauptstelle gewählt wurde.71

Auch außerhalb des Reviers und der Schwerindustrie wurde Reuschs Kampf mit den Verbänden der Angestellten aufmerksam verfolgt. Im folgenden Februar informierte der Geschäftsführer des Vereins der Hamburger Reeder die GHH über einen ähnlich gelagerten Arbeitskampf auf den Schiffen der Hamburger und Bremer Reeder. Diese meinten, beim „Verein Deutscher Kapitäne und Offiziere der Handelsmarine“ eine gefährliche Radikalisierung festzustellen: Die Offiziere hätten sich auf den Schiffen mit den Seeleuten solidarisiert. Wenn sie das hingenommen hätten, wäre den Reedern die Verfügung über ihre Schiffe auf See entzogen worden. Daher hätten die Reeder alle ihre Kapitäne und Offiziere verpflichtet, aus dem Verein auszutreten. Nur ca. 40 Männer hätten sich geweigert und seien deshalb sofort entlassen worden. Der Vergleich mit der See-Schifffahrt und der uneingeschränkten Kommandogewalt des Kapitäns und letztlich der Reederei muss Reusch besonders gefallen haben. Er hatte den Hinweis auf die Verpflichtungserklärung und die Entlassung in diesem Schreiben dick angestrichen.72

Beim Spitzenverband der Arbeitgeber würde man sich noch sechs Jahre später, im November 1917, an den Konflikt der GHH mit dem Butib erinnern. Woltmann schickte der Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände das gedruckte Schreiben der GHH an die Kölner Stadtverordneten.73

Reuschs Härte im Umgang mit den Angestellten wurde ein Vierteljahr später beim Bergarbeiterstreik erneut auf die Probe gestellt. Die erschreckende Kompromisslosigkeit, mit der er allen gewerkschaftlichen Bestrebungen entgegen trat, mag teilweise darauf zurückzuführen sein, dass er im Vorfeld der Reichstagwahlen gerade die Erfahrung gemacht hatte, dass auch die Gremien der Nationalliberalen Partei sich von den Großunternehmern nicht einfach herumkommandieren ließen. Auch in der Parteipolitik profilierte sich der junge Generaldirektor auf dem äußersten rechten Flügel des politischen Spektrums.

Politisches Engagement in nationalistischen und erzkonservativen Gruppen: Die „Deutsche Vereinigung“

Reusch sondierte zunächst sorgfältig, wo im bürgerlich-nationalen Lager für ihn als Spät-Starter die besten Profilierungschancen bestanden. Im Alldeutschen Verband dominierte der Chef seiner Konkurrenzfirma Krupp Alfred Hugenberg. Dort wurde Reusch folglich nicht aktiv.

Auch im „Hansabund“, am 12. Juni 1909 in Berlin gegründet, um die Interessen von Handel und Industrie bei der Reichsfinanzreform gegen die großagrarischen Junker zur Geltung zu bringen, überließ Reusch das Feld den alten Recken der Schwerindustrie. Auf der Liste des Direktoriums finden sich so prominente Namen wie Kirdorf, Springorum von der Hoesch-AG in Dortmund, Franz Haniel und natürlich Hugo Stinnes, nicht aber Paul Reusch.74 Die Mitarbeit der Schwerindustrie in dem gemäßigten bürgerlich-liberalen Hansabund war von Anfang an eher taktisch motiviert. Man wollte verhindern, dass politische Aktivitäten im bürgerlichen Lager bzw. in der Nationalliberalen Partei in ein allzu „links“-orientiertes Fahrwasser gerieten. Sobald jedoch klar wurde, dass sich der Hansabund nicht „als politisches Instrument der Großindustrie … nutzbar machen“75 ließ, kam es, noch vor der Reichstagswahl von 1912, zum Bruch: Die Schwerindustrie beteiligte sich an der Gründung der „Niederrheinisch-Westfälischen Bezirksgruppe zum Schutz und zur Förderung der Interessen von Gewerbe, Handel und Industrie“, einer Organisation, die offen zum Austritt aus dem Hansabund aufforderte. Kirdorf übernahm in diesem Konkurrenzverband den Vorsitz; im geschäftsführenden Ausschuss war die gesamte Crème der westlichen Industrie vertreten; Reusch delegierte seinen Stellvertreter Woltmann in dieses Gremium.76

In der Folgezeit unterband der GHH-Chef jeglichen Kontakt seiner Firma zum liberalen Hansabund, selbst wenn dieser sich für die Interessen der Schwerindustrie einsetzte, so z. B. während des Bergarbeiterstreiks im März 1912, als der Hansabund Maßnahmen zum besseren Schutz der „Arbeitswilligen“ ankündigte und zur Vorbereitung um Material zu diesem Thema aus den betroffenen Firmen bat. Reusch vermerkte auf diesem Schreiben lediglich: „nicht antworten!“77. Nach dem Streit über die Reichsfinanzreform, bei der die konservativen Adeligen im Bündnis mit dem Zentrum jegliche Ausdehnung der Erbschaftssteuer hatten abblocken können, näherte sich die Schwerindustrie den großagrarischen Junkern wieder an und trat gemeinsam mit ihnen für Schutzzölle und die Abschaffung des allgemeinen Wahlrechts ein. Dies war offenbar ganz in Reuschs Sinn: Schon 1910 und 1911 hatte es die GHH abgelehnt, Beiträge für den Wahlfonds der Nationalliberalen Partei oder des Hansabundes zu leisten. In schroffem Ton ließ Reusch dem Präsidenten des Hansabundes mitteilen, „dass die Gutehoffnungshütte keine Veranlassung hat und sich nach Lage der Verhältnisse nicht entschließen kann, für den Wahlfonds des Hansabundes irgend welche Beiträge zu leisten“.78

Reusch selbst war schon im März 1909, noch vor der Gründung des Hansabundes, der erz-konservativen und stramm nationalen „Deutschen Vereinigung“ beigetreten. Dort stand ihm keine der prominenten Gestalten der Schwerindustrie im Wege, so dass er bereits zwei Jahre später Mitglied des Reichs-Vorstandes werden konnte.79

Die „Deutsche Vereinigung“ (DV) war 1907 von katholischen Gegnern der „ultramontanen“ Ausrichtung des Zentrums gegründet worden. Das Zentrum, so der Vorwurf der nationalistischen Kritiker, sei „immer mehr ins demokratische Fahrwasser“ geraten, habe sich den „dringendsten nationalen Forderungen“ der Reichsregierung verweigert und sich im Wahlkampf 1907 „teils offen auf die Seite der Sozialdemokratie gegen das Bürgertum“ gestellt.80 1907 war das Jahr der sogenannte „Hottentottenwahl“, die durch die ungezügelte nationalistische Agitation der Rechts-Parteien geprägt wurde. Es kennzeichnet die Mentalität der Konzernherren der GHH wenn der Aufsichtsratsvorsitzende Franz Haniel und der langjährige Generaldirektor Carl Lueg in dieser nationalistisch aufgeheizten Stimmung den Gründungsaufruf der „Deutschen Vereinigung“ mit unterzeichneten. Ihre Unterschrift stand neben der von 32 Rittergutsbesitzern, 58 Gutsbesitzern, 25 Kommerzienräten, 4 Bankiers, 57 Fabrikanten, 56 Kaufleuten, 16 Offizieren und 326 Beamten.81

Reusch hatte sich zuvor genau erkundigt und dabei erfahren, dass sich die Rechtskreise von der „Deutschen Vereinigung“ die Abwerbung national denkender Katholiken vom Zentrum erhofften.82 Die Satzung legte als Hauptzweck die „kraftvolle Förderung der vaterländischen Interessen“ fest. Dem dienten die „Sicherung und Stärkung der politischen und wirtschaftlichen Machtstellung des Deutschen Reiches, … die Pflege des christlichen und deutschen Charakters unseres Staats- und Volkslebens, … der Ausgleich der konfessionellen Gegensätze, … die Erhaltung eines lebens- und leistungsfähigen Mittelstandes“ und „die Bekämpfung der Sozial-demokratie“.83 In direkter Konfrontation mit dem Zentrum agitierte die DV in ländlichen Regionen vor allem des Ostens gegen das Koalitionsrecht der Landarbeiter und für die Unterdrückung der Polen.84 Diese Themen spielten naturgemäß in der Industrieregion an der Ruhr nur eine untergeordnete Rolle.

Das Aufblühen der Deutschen Vereinigung machte gleichzeitig den „Reichsverband gegen die Sozialdemokratie“ überflüssig. Paul Reusch blieb zwar vorerst Mitglied in diesem „Reichsverband“, zahlte aber nur einen Beitrag von 20 Mark im Jahr und akzeptierte, dass die meisten leitenden Angestellten der GHH ihren Austritt erklärten. Bergassessor Kellermann führte genau Buch darüber.85

Reusch war nach seinem Beitritt zur „Deutschen Vereinigung“ intensiv bemüht, in Oberhausen eine eigene Ortsgruppe ins Leben zu rufen. Am 15. Januar 1911 waren mehr als 100 sorgfältig ausgewählte Honoratioren zur Gründungsversammlung ins Beamten-Gesellschaftshaus der GHH eingeladen. 109 Anwesende trugen sich in die Mitgliederliste ein. Kein Arbeiter war darunter und natürlich keine Frau. Es wurde ein 15-köpfiger Vorstand gewählt mit Reusch als 1. Vorsitzendem.86

Zwei Monate später kam der Reichsvorsitzende, Seine Excellenz Graf zu Hönsbröch, nach Oberhausen, um im Saal des Herrn in der Beek über Zweck und Ziel der Deutschen Vereinigung zu referieren. Reusch betonte bei seiner Begrüßung, dass es ihm zuallererst um die „Förderung des konfessionellen Friedens“ gehe. „Man habe nur einen Wunsch, Frieden zu stiften. Möge es gelingen, diesen Frieden zu fördern nicht nur zum Wohle unserer Stadt, sondern auch zum Segen unseres gesamten deutschen Vaterlandes.“87 Der Hauptredner Graf Hönsbröch machte dann deutlich, auf welcher Grundlage nach den Vorstellungen der Herren in der Deutschen Vereinigung der erstrebte „Friede“ nur möglich war: Die Forderungen der rechts-konservativen Kreise in der Verfassungsfrage bezüglich Elsass-Lothringens, beim Schutz der sogenannten „Arbeitswilligen“ gegen den „Terrorismus der Sozialdemokratie“, beim Protektionismus zugunsten von Schwerindustrie und Groß-Landwirtschaft und allgemein bei der Weiterentwicklung der Sozialpolitik seien zu erfüllen.88 Seine Excellenz ließ es sich nicht nehmen, gegen den politischen Katholizismus zu polemisieren und löste dadurch in der Stadt eine heftige Kontroverse mit dem Zentrum aus.

Der ihm nachfolgende Redner, Pfarrer Wessel aus dem benachbarten Mülheim an der Ruhr, heizte mit überschäumendem nationalistischem Schwulst die Emotionen noch stärker auf. Nach der Warnung der deutschen Katholiken vor der „roten Flut“ verweilte er lange beim Thema Elsass-Lothringen: „Das gemeinsame für unsere Ostmarkenpolitik und für unsere Verbeugungspolitik in Elsass-Lothringen ist, dass wir vergessen, dass wir da etwas überkommen [sic!] haben als ein Erbe von unseren Vätern, das sie uns hinterlassen haben, um dafür einzusetzen alles, was wir haben (Bravo): Gut und Blut, Weib und Kind, Heimat und Herd. Für dieses Elsass haben deutsche Männer geblutet und haben im Feld gestanden, der evangelische neben dem katholischen und haben einander die Hände gereicht, wenn das tödliche Blei den einen zur Seite riss, und haben sich ins Auge gesehen und nicht gefragt, bist du evangelisch oder katholisch, sondern sie haben einander begrüßt, und wars mit dem letzten Lächeln: ,Ich hatt’ einen Kameraden.’ Und darum ist es ein gemeinsames Gut, und das sollten wir den Französlingen ausliefern? Möchte der schwächlichen Regierung noch einmal im letzten Augenblick der furor teutonicus, der echte deutsche Zorn, den Weg zurückweisen.“89 Nachdem alle stehend „Deutschland, Deutschland über alles“ geschmettert hatten, „schloss Kommerzienrat Reusch die Versammlung mit dem Wunsche auf ein weiteres Blühen der Deutschen Vereinigung.“90 Drei Monate später wurde Reusch in den Vorstand der Deutschen Vereinigung für das Industriegebiet berufen.91

Er war am 2. November 1911 bei einer vertraulichen Besprechung der Ausschussmitglieder für das Rhein-Ruhr-Gebiet anwesend, als für die bevorstehende Reichstagswahl vereinbart wurde, die nationalen Parteien zu unterstützen und sich bei einer Stichwahl notfalls hinter den Zentrumskandidaten zu stellen, wenn nur so die Wahl eines Sozialdemokraten verhindert werden konnte.92 Ergebnis der Duisburger Besprechung war ein äußerst polemisch formulierter Wahlaufruf gegen die SPD: Die Sozialdemokratie sei eine „internationale vaterlandslose Partei“. Als in der Marokkokrise eine „gewaltige Erregung“ durch die deutsche Nation ging, „sannen die Häupter der Umsturzpartei auf Hochverrat und hetzten die Massen zum Generalstreik.“ Die Sozialdemokratie wolle die monarchische Staatsordnung zerstören, das Privateigentum aufheben und Religion und Familie vernichten. Aber besonders um die Armee und Marine sorgte sich die Deutsche Vereinigung: Eine starke SPD-Reichstagsfraktion würde „mit Hilfe national unzuverlässiger und schwankender Elemente dieses unser Rüstzeug … schwächen“.93 Reusch erklärte sich mit diesem Aufruf „voll und ganz einverstanden“.94

Danach erreichte der Reichstagswahlkampf seine heiße Phase. Reusch und seine Unternehmerkollegen hatten sich massiv in die Nominierung des Kandidaten der Nationalliberalen Partei eingemischt.95 Der Name der „Deutschen Vereinigung“ wurde bei der Stichwahl herangezogen, um zu erreichen, dass die Katholiken nicht für den Sozialdemokraten, sondern für den Nationalliberalen stimmten. Nach dem Erfolg im Wahlkreis Duisburg/Mülheim/Oberhausen wurde im Vorstand Bilanz gezogen. Reusch hielt fest, dass das Zentrum sich „in nationaler Hinsicht … gebessert“ habe, aber „auf sozialem Gebiete … auch fortan auf der Seite der Sozialdemokratie“ stehen würde. Deshalb sollte die Deutsche Vereinigung den „Kampf suaviter in modo weiter führen“. Auf Reichsebene sollte sie sich verstärkt für ein „Zusammengehen von Industrie und Landwirtschaft“ einsetzen.96

 
Abb. 3:„Deutsche Wacht“, Bonn, 26. 11. 1911, Sonderdruck, Aufruf gegen die Sozialdemokratie, in: RWWA 130-300127/8

Wie groß der Einfluss Reuschs in diesem Verband schon war, ist auch daran zu ermessen, dass die Generalversammlung am 21. April 1912 im Beekschen Saale in Oberhausen stattfand. Reusch lud alle Delegierten ins Hütten-Casino der GHH zum Essen ein.97