Der Schatten im Exil - Norman Manea - E-Book

Der Schatten im Exil E-Book

Norman Manea

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Beschreibung

"Norman Manea ist ein glänzender Schriftsteller, der das Poetische noch im Ungesagten spürbar zu machen vermag." Ina Hartwig, Laudatio zum Nelly-Sachs-Preis

Das beeindruckende Spätwerk des großen rumänischen Autors Norman Manea: Kurz vor dem Fall der Mauer wird „N.M.", der Wandernde, aus Rumänien ausgewiesen. Auf der Suche nach einer neuen Heimat geht er nach Berlin zu einem alten Freund, der sich als noch immer überzeugter Kommunist offenbart. Hier möchte er nicht bleiben, und so zieht er weiter nach New York, wo seine Halbschwester wohnt. Sie beide haben als Kinder den Holocaust überlebt und ringen um ein Gleichgewicht zwischen der Vergangenheit und der Notwendigkeit, sich in einer zunehmend unsteten Gegenwart ein neues Leben aufzubauen. Kunstvoll legt Norman Manea seine eigene Geschichte mit Figuren der Weltliteratur zu einem literarischen Mosaik.

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Das ist das Cover des Buches »Der Schatten im Exil« von Norman Manea

Über das Buch

»Norman Manea ist ein glänzender Schriftsteller, der das Poetische noch im Ungesagten spürbar zu machen vermag.« Ina Hartwig, Laudatio zum Nelly-Sachs-PreisDas beeindruckende Spätwerk des großen rumänischen Autors Norman Manea: Kurz vor dem Fall der Mauer wird »N.M.", der Wandernde, aus Rumänien ausgewiesen. Auf der Suche nach einer neuen Heimat geht er nach Berlin zu einem alten Freund, der sich als noch immer überzeugter Kommunist offenbart. Hier möchte er nicht bleiben, und so zieht er weiter nach New York, wo seine Halbschwester wohnt. Sie beide haben als Kinder den Holocaust überlebt und ringen um ein Gleichgewicht zwischen der Vergangenheit und der Notwendigkeit, sich in einer zunehmend unsteten Gegenwart ein neues Leben aufzubauen. Kunstvoll legt Norman Manea seine eigene Geschichte mit Figuren der Weltliteratur zu einem literarischen Mosaik.

Norman Manea

Der Schatten im Exil

Roman-Collage

Aus dem Rumänischen von Ernest Wichner

Hanser

Für Cella, die Geliebte und Schwester

Do not go gentle into that good night.

Rage, rage against the dying of the light.

Dylan Thomas

Prämissen (Vorvergangenheit)

Das Exil beginnt beim Verlassen der Gebärmutter. Die Mutter ihrerseits, evakuiert aus der Plazenta der Großmutter. Großmutter und Urgroßmutter eignete der gleiche terrestrische Auftritt.

Das Genographie-Projekt hat sich zusammen mit anderen global operierenden spezialisierten Institutionen darangemacht, den Speichel des Antragstellers zu analysieren. Weil dieser die Gebühr für das Gutachten rechtzeitig beglichen hat, konnte ich die Wegstrecke seiner Vorfahren mütterlicherseits nachzeichnen. Diese Vorfahren haben weite Räume durchwandert. Der DNA-Befund zeigt an, dass die mütterlichen Vorfahren dem Haplogruppe genannten genealogischen Zweig angehörten. Dieser enthält die Untergruppen U*, U1, U1a, U1bm, U3m, U4, U7. Die Karte mit den Wanderungsbewegungen der mütterlichen Vorfahren zeigt an, dass ursprünglich alle in Ostafrika aufgebrochen waren. Dabei handelt es sich selbstverständlich um die Resultante einer Wanderschaft von einigen zehntausend Jahren. Die Nachkommen dieser Urahnen, die Mehrheit der Haplogruppe, findet man auch heute noch vor. Wir verfügen über fünfhundertneunundsechzig Buchstaben der mitochondrialen Sequenz mit den Buchstaben A, C, T und G, die für die vier Nukleotide stehen, die chemischen Blöcke, die das Leben erschaffen und die DNA des Probanden bilden. Hin und wieder verändert eine so natürliche wie zufällige und gewöhnlich auch inoffensive Mutation die mitochondriale Sequenz in der DNA. Was wir als eine Art Aussprachefehler interpretieren können: Einer der Buchstaben wird vom C zum T, aus dem A wird ein G. Kommt es bei der Frau zu solch einer Mutation, überträgt diese sich auf ihre Töchter und weiter auf deren Töchter. Sie überträgt sich auch auf die Söhne, aber diese übertragen sie nicht weiter.

Wenn wir die Mutationen analysieren, können wir die Vererbung nachzeichnen, von Urahn zu Urahn. Die Wegstrecke derer, die Afrika verlassen haben, beginnt beim ältesten Vorfahren. Wer war, wo lebte, was war die Geschichte der fernsten »Eva«. Bewegen wir uns auf neuere Zeiten zu, so können wir jeden Schritt unserer Vorläufer markieren: Der Anfang liegt zwischen 150.000 und 170.000 Jahre zurück und bei der Frau, die von Anthropologen »die mitochondriale Eva« genannt wird. Tatsächlich aber war sie nicht die erste Erdenfrau. Wiewohl es den Homo sapiens schon seit etwa 200.000 Jahren gab, tauchte in einem bestimmten Moment vor 150.000 bis 170.000 Jahren die Frau auf, von der wir alle abstammen. Dies geschah 30.000 Jahre, nachdem der Homo sapiens in Afrika seinen Entwicklungsweg begonnen hatte. Wir verzeichnen die Haplogruppen und die eingetretenen Mutationen: L2 zu L3, dann die erste Gruppe M, die sich aus der Migration nach Äthiopien und in der Folge nach Australien und Polynesien ergab, und schließlich die zweite M-Gruppe, die auf die Sinai-Halbinsel gelangte, wo die N-Gruppe auftauchte, die durch Asien, Europa, Indien und Amerika zog. Die Haplogruppe R stammt von einer Frau vor 50.000 Jahren ab, von der sich europäische, nordafrikanische, indische und arabische Untergruppen herleiten. Die Haplogruppe U5 ist auf Finnland beschränkt, während U6, ein Derivat aus der Haplogruppe R des Mittleren Orients, sich nach Skandinavien, aber auch ins Kaukasus-Gebirge, zum Schwarzen Meer und danach in die baltischen Regionen und nach Westeuropa hin verzweigt hat. Die Mitglieder dieser Gruppe, wie auch die aus M und N, für die sich unser Korrespondent interessieren könnte, haben Vorfahren in Europa und im östlichen Mittelmeerraum, wo sie ungefähr sieben Prozent der Bevölkerung ausmachen. Wir wiederholen: sieben, beinahe sieben Prozent. Dies ist das Ergebnis einer Migration durch die Jahrhunderte, von einem Exil ins nächste, wie es unsere Archive verzeichnen.1

Einkehr im Museum Red Star Line

Um das Jahr 2300 vor der christlichen Zeitrechnung traten die ersten großen Reiche des Mittleren Ostens auf, begannen Kriege untereinander zu führen und massive Bevölkerungsdislokationen vorzunehmen. Pythagoras (569—497 v. Chr.), der berühmte Mathematiker, war der Sohn eines Immigranten und reiste auch selber durch Ägypten und Italien, wo er um das Jahr 497 herum starb. Erwähnenswert auch die Seidenstraße (200 v. Chr.—1200 n. Chr.), die großen europäischen und arabischen Migrationen in den Jahren 375 und bis 1000 nach Christus, die Kreuzzüge (1095—1271), der Portugiese João Ramalho, Begründer der brasilianischen Metropole São Paulo, die europäischen Entdeckungsreisen (1418—1580), der Import von Millionen afrikanischer Sklaven in Amerika (1510—1865), die europäische Migration aufgrund von Urbanisierung und Industrialisierung (1815—1930), die Migration nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, die Kolonisierung Afrikas (1870—1975), die Unabhängigkeit und Teilung Indiens (1947), die Anstellung von Saisonarbeitern (1950—1970), die Migration der Osteuropäer (1989 bis heute), die illegale Immigration (1970 bis heute). All dies sind Momente einer »frenetischen Dialektik der Veränderung«, wie Bertolt Brecht das Exil genannt hat. Antwerpen hat sich zu einem bedeutenden Transitpunkt für die europäische Migration entwickelt, und dies im Verhältnis zu Häfen in Russland, zu Danzig in Polen oder Hamburg in Deutschland — wo anscheinend auch der Streuner herkam, der seinen Schatten verkauft hat, die Figur einer berühmten romantischen Geschichte aus dem neunzehnten Jahrhundert, verfasst von Adelbert von Chamisso.2

Die Verkörperung

Peter Schlemihl3 — der das Abenteuer unseres Protagonisten begleiten wird — hat seinen Namen einer burlesken Annäherung von Christentum und Judentum zu verdanken. Peter ist der vom heiligen Petrus übernommene Name, einem der ersten Apostel der Kirche. In Galiläa im Heiligen Land geborener Jude, Vertrauter von Jesus und dessen Bruder, gerät der heilige Petrus in einen Disput mit dem heiligen Paulus, dem visionären Propagandisten des christlichen Internationalismus und einer Konversion der Massen. Petrus vertrat die Ansicht, man müsse, um Christ werden zu können, erst einmal Jude sein wie er selbst und der Erlöser. Paulus plädierte mit propagandistischer Vehemenz für die Öffnung der Kirchentüren vor jedem, der dies wünschte.

Den Namen Schlemihl kann man im Moses-Kapitel des Babylonischen Talmud finden, und er bedeutet auf Hebräisch »von Gott geliebt«, aber er hat auch eine spöttisch-heitere Konnotation, wie sie sich Adelbert von Chamisso, Autor des berühmten romantischen Märchens, dessen literarischer Held er ist, wünschte. Der Name Schlemihl verweist auf den tollpatschigen, von Missgeschick, Pech und allerlei Schadensfällen geplagten Juden, einen verschrobenen, irrlichternden Kerl, der bestenfalls zum Gelächter der Gemeinschaft taugt. Ein unschuldiger Tor und Dummer August.

Die jüdische Tradition schreibt einem ungaren und dümmlichen Kerl, einem dostojewskischen und nicht dostojewskischen »Idioten«, heilige Eigenschaften zu, weshalb er nachsichtig betrachtet und behütet werden muss. Der Talmud erzählt, der arme Schlemihl habe sich mit der Frau eines Rabbis eingelassen, er sei gefangen genommen und umgebracht worden. Was allen anderen wahrscheinlich zum Guten ausschlug, ist dem Schlemihl, Clown des Scheiterns, oftmals umgekehrt ausgeschlagen. Vom Hebräischen schlemiel (beschränkt, ungeschickt) wandelte sich der Name späterhin im Jiddischen, der Sprache des Exils, zu schlimazel (Pechvogel, vom Missgeschick verfolgt, Unglücksrabe) — zu einem Schlemihl. Gott liebt diese Verirrten, sagen die jüdischen Texte.

Die Fiktion beginnt

Es war einmal, wie so oft sonst, das morgendliche Erwachen.

Ein Auge offen, das andere geschlossen. Es sah oder erspähte die Tür, einen gelben Umschlag unter der Tür.

Er schlief viel in letzter Zeit, wachte nur schwer auf und dann auch nicht ganz, fiel bald wieder zurück ins Nichts. Er hatte sich an die lang andauernde Lethargie gewöhnt, schloss das Auge und schlief wieder ein, wachte auf, der gelbe Briefumschlag erschien von neuem. Wiederholte Schläge an die Tür. Der Specht war ungeduldig, die rot angestrichene Tür irritierte ihn. Der Schläfrige hatte sie rot angestrichen, war schließlich die offizielle Farbe, Irritation, Abscheu oder Angst konnte man damit provozieren. In der halboffenen Tür ein Bote, einen gelben Briefumschlag in der Hand. Er trug einen aschgrauen, gut geschnittenen Anzug voller Tourismusembleme und einen zünftigen Gürtel mit einer großen grünen Schnalle. Er war schlank, schmale Taille, der Anzug saß ihm eng auf dem Leib. Die Haare schwarz und verstrubbelt, der Schnauzbart schmal, schwarz, glänzend, mit Schuhcreme eingeschmiert. Der Bote wandte sich der halboffenen Tür zu und flüsterte dem nahebei stehenden Begleiter zu: »Er steht nicht auf. Ist ein Faulpelz.«

»Wer sind Sie, was wollen Sie«, fragte der Schläfrige.

»Wirst du schon erfahren«, antwortete der Bote in der Tür. »Wirst es erfahren, ja, ja, so lautet der Befehl, dass du erfahren sollst.«

Der Schlaftrunkene stieg in Unterhose und Unterhemd aus dem Bett, wandte sich dem Bad zu. In der Badezimmertür stand nun der echte Zwilling des Boten, der wann, wie, durch die halboffene Tür hereingekommen war. In der Hand hielt er ein vielfach gestempeltes Papier.

»Reg dich nicht auf. Bleibst in der Wohnung, kannst nicht raus. Bist verhaftet. Hausarrest. So heißt das, Hausarrest.«

Der Schwächling im grauen Anzug wies auf die offenstehende Badezimmertür, wo der schmale und geschmeidige Zwilling mit den verwuschelten schwarzen Haaren und dem mit Schuhcreme gefärbten Schnauzbart, im gleichen Anzug und in die Lektüre eines Textes vertieft auf dem Klodeckel saß. Auf den Knien ein weiterer gelber Briefumschlag. Der Schlaftrunkene war aufgestanden, nunmehr auf den Beinen und neben den identischen Unbekannten mit den identischen gelben Briefumschlägen in den Händen, die nun mit einiger Frechheit die zerschlissene, aus dem feinsten Leinen gefertigte Unterhose des Gefangenen betrachteten.

Festgenommen, einfach so, ohne jede Begründung! Jetzt, da er eben erst aufgewacht war und darauf wartete, dass die Schwester ihm die dampfende Tasse Milchkaffee und das frisch im Backofen aufgewärmte Hörnchen bringe. Er wollte Tamar rufen, aber die Angst schnürte ihm die Kehle zu. Schließlich befinden wir uns in einer konstitutionellen Volksrepublik, in der weiten Welt herrscht Frieden und Harmonie, die Menschen lieben sich allüberall, die Gesetze werden eingehalten, die Aggressoren dürfen nicht so mir nichts, dir nichts in die legale Wohnung eines friedlichen Menschen eindringen, der mit den Mietzahlungen und der philatelistischen Gebühr auf dem Laufenden ist. Er wandte sich zögernd einem der Zwillinge zu. Er streckte die Hand nach dem Briefumschlag aus, aber der Offizielle ergriff seine Hand und schüttelte sie zartfühlend.

»Ich bin Ed«, flüsterte der Affenartige und verbeugte sich, was auch der andere, der Zwilling tat. Schwer zu unterscheiden, wessen Hand du geschüttelt hast, das heißt, wer dir überaus freundlich die Hand geschüttelt hat.

Der Schläfer versuchte aufzuwachen, ob es ihm gelungen war, war alles andere als sicher. Ein Auge offen, das andere geschlossen, wie vorhin, vor einer Stunde oder zweien oder wer weiß, wann. Seit geraumer Zeit schon schlief er zu viel, das Aufwachen fiel ihm schwer und gelang nicht immer ganz. Nach einer Weile schlug er beide Augen auf, sah die Tür, unter der jemand einen gelben Briefumschlag hindurchgeschoben hatte. Er riss die Augen weit auf, rieb sich die schweißnasse Stirn, war entschlossen, jetzt wach zu sein.

Tamar, wollte er rufen, was eine flehentliche Bitte nach Kaffee gewesen wäre. Aber der Schläfrige erinnerte sich, dass Tamar schon lange nicht mehr bei ihm wohnte. Er erinnerte sich, also wachte er auf, er war wach.

Die offizielle Nachricht war lapidar.

Innenministerium

Staatssicherheitsdienst

Werter Genosse,

Sie werden einbestellt auf unsere Dienststelle in der Arenei-Straße Nr. 27, Zimmer 22 zu Herrn Oberst Vladimir Tudor.

Ja, ja, er hatte in den letzten Tagen so eine Vorahnung gehabt, es musste etwas geschehen. Ich bin Ed … Und der andere ebenfalls Ed. Und jetzt Oberst Tudor! … Wer mag der nun wieder sein? Bislang wurde er nur von Hauptmännern, ganz selten mal von einem Major einbestellt, aber nicht von Obersten, und die beorderten ihn nicht zum Sitz der gefürchteten Institution, sondern zu bizarren Adressen von konspirativen Wohnungen. Nein, keinesfalls zum Sitz der Institution. Der Traum, ja, ja, er hatte ihn nicht vergessen: das nervöse Klopfen an der Tür, den auf dem Klo gelesenen Text. Ed und Ed vor dem Beschuldigten. Tja, beschuldigt, es sollte sich bestätigen, war keine Vermutung. Es bestätigte sich, und dies war keine Überraschung. Die Überraschungen hatten ihr Prestige eingebüßt, nichts mehr geschah unerwartet, niemand konnte sich mehr erlauben, verwundert zu sein.

Ein paar Tage nachdem der gelbe Briefumschlag aufgetaucht war, hatte der Schlaftrunkene aufgehört, sich Fragen hinsichtlich der Schuld zu stellen. Es spielte keine Rolle mehr, welche seiner schuldhaften Handlungen die Genossen beschäftigte, die über die Ordnung und den Frieden des Landes wachten. Die Bürger der Republik verbargen genug. Sie waren alle verdächtig, wiewohl nur einige wenige für die Guillotine ausgewählt wurden.

Bei dem Schalter, über dem Audienzen stand, war dem Offizier die Mütze auf die linke Braue hinabgerutscht.

»Ich bin zu Genosse Oberst Tudor einbestellt. Heute, Freitag, 16 Uhr, Zimmer zweiundzwanzig.«

Der Offizier rückte seine Mütze gerade und reichte ihm ein blaues Stückchen Karton, worauf Audienzen 22 gedruckt war.

Der Oberst trug keine Uniform. Er hatte einen eleganten Anzug von der Farbe des Wirbelwindes an und trug eine Seidenkrawatte mit chinesischen Figuren darauf. Gedrungen und füllig, schwarze Haare, mit Brillantine eingerieben. Brille mit kleinen, graziösen Gläsern. Große Hände, immense. Der Beschuldigte fühlte sich durch die unterwürfige Körpergröße des Vernehmers ebenso geniert wie von seinem eigenen, langen brettdünnen Körper. Er, der Einvernommene, hatte den Schädel kahl rasiert, war nachlässig gekleidet, trug ein schwarzes Vinyl-Blouson über einem Hemd, das mal weiß gewesen war.

»Wie, gefällt dir meine Krawatte? Ich habe sie von der Frau eines Kollegen geschenkt bekommen, sie hat die Chinesische Mauer besichtigt. Ich bin ganz verrückt nach allem, was orientalisch ist. Extrem orientalisch.«

Die Vertraulichkeit des Obersten hatte etwas Fragwürdiges. Das war nicht mehr die Brutalität der Hauptmänner oder des Majors, die ihn immerzu in andere Privatwohnungen einluden, zu denen sie Schlüssel und also Zugang in den Stunden hatten, in denen die Bewohner nicht zu Hause waren. Der höherrangige Kleine mit der Pomade im Haar wird wahrscheinlich bald vom Duzen zur Höflichkeit wechseln und dann wieder zum Duzen zurückkehren, damit man vergisst, wie man ihn anzusprechen hat.

Der Genosse Oberst Tudor hatte eine silberne Tabakdose mit orientalischen Gravuren in der Hand. Extrem orientalischen. Er wies auf einen Sessel vor seinem Schreibtisch und klappte die Tabakdose auf.

»Danke, ich rauche nicht mehr«, wimmerte der Lange.

»Es sind Kent. Imperialistische Zigaretten. Wunderbar.«

Der Beschuldigte kannte die bei den Offiziellen bevorzugte amerikanische Zigarettenmarke, eine Art Emblem der Elite, Bakschisch für die Ärzte, Metzger, Rechtsanwälte, Automechaniker und Benzinverkäufer, die Vermittler, ohne deren Dienste der Alltag nicht funktionierte. Der elegante Oberst zündete sich eine lange Zigarette an, der Gast betrachtete den mit einiger Wirkungsabsicht möblierten Raum.

»Ja, das Büro ist kein gewöhnliches. Ich sehe, du bewunderst die Möbel und die Spiegel. Sie entsprechen der Funktion ebenso wie meine Kleidung. Passabteilung! Sie haben mal einen Pass beantragt.«

Die immense Hand des Vernehmers war viel zu massiv für die dünne Zigarette, von der sich der Rauch in die Höhe kringelte.

»Tja, lang her. Sehr lange her. Ich habe immerzu ablehnende Bescheide bekommen, dann habe ich es aufgegeben.«

»Jetzt aber? Würden Sie jetzt darauf verzichten?«

Der Befragte schwieg, er war kaum mehr zu sehen, so lang er auch sein mochte, verloren im Trog des Fauteuils.

»Jetzt ist die Situation im Land doch viel schlimmer geworden, nicht wahr? Eine Katastrophe! So erzählen Sie’s doch überall.«

»Ich?«, wimmerte der Schatten im Fauteuil.

»Na ja, so reden Sie doch überall herum. Unter Freunden und nicht nur dort. Unter den nicht eben friedfertigsten Freunden, würde ich mal sagen.«

»Aber wie, aber …«, versuchte es der Lange zunehmend verwirrter.

»Eben so! Du frequentierst immer öfter Gruppen, die sich patriotisch geben. Viel zu patriotisch. Verdächtig. Allgemeines Elend, sagen die Plappermäuler, allgemeine Überwachung, die Komödie des Tyrannen. Etwa dies sind die Klischees, die ihr so bedient.«

Der Genosse Oberst hatte eine angenehme Stimme und einen schneidenden Blick; eben hatte er sich eine neue Kent angezündet, die er zwischen zwei dicken Fingern hielt. Der im Fauteuil versunkene Bürger schwieg. Seine Augen erkundeten die Spiegel an den Wänden, die die gewohnten offiziellen Porträts ersetzten. Kein einziges Porträt, nicht einmal das des meistgeliebten Sohnes oder seiner Gattin, der Kleinen mit den goldenen Zähnen und Schnallen. Nur Spiegel in bizarren Rahmen.

»Lassen wir das. Ich habe Sie nicht deshalb hergebeten. Gegen Sie wird nicht ermittelt, die Ermittlungen finden woanders statt. Hier ist das Passamt. Ah, ja, damit ich es nicht vergesse … ein weiteres Klischee, das ihr ventiliert, ist, dass sich die Informanten vermehrt hätten. Darum haben Sie Ihre Tür rot angestrichen, wie bei den Transformatoren der Hochspannungsleitungen, wo Todesgefahr besteht. Kindereien, nicht umsonst sagen deine Kollegen, du seist kindisch. Wenn sich die Informanten vermehrt haben, erschrecken sie nicht vor dem proletarischen Rot.«

Die Kent-Rauchkringel schienen dieser Szene ihre Huldigung darzubringen. Der Offizier war freundschaftlich, elegant, mit allen Wassern gewaschen, die seine Rolle erforderlich machten.

»Sie haben sich auf katastrophale Weise vermehrt, behaupten Sie. Wie die Pilze nach einem Regen mit Graupeln, Gift und Schwefel, so sagen Sie’s. Einer von vier Bürgern? Ein Viertel der Bevölkerung dieser Republik? Und wer soll den Berg von Informationen bearbeiten, welche Divisionen von Analysten, Psychiatern und Propagandisten sollen dieses Material studieren, das unsere Schränke verstopft? Wie viele Verhaftungen pro Tag bei so vielen Denunziationen? An wie viele haben Sie so gedacht? Haben Sie ergebnislos über dieses mathematische Dilemma nachgedacht? Reduktion aufs Absurde, so erklärt sich der Trick, aber erklärt er das Fehlen der Verhaftungen? Haben Sie schon mal an uns gedacht, die Armen, die damit umzugehen haben, erdrückt, ja überwältigt vom Archiv, das Stunde um Stunde an Masse zunimmt? Und an unsere Frustration, weil wir nicht handeln können! Sind wir so klug, geduldig, berechnend, buddhistisch, alles in der Rückhand zu behalten, auf kleiner Flamme, bis zum optimalen Zeitpunkt? Wir dürfen nicht handeln, so lauten die Instruktionen! Lediglich die Informationen in guter Verfassung und bis auf den letzten Tag aufgearbeitet zu bewahren, nur das. Wir haben keinen Bedarf an Presseskandalen wie im fauligen Westen … Wir befinden uns nicht mehr im Stalinismus, wir operieren nicht mehr mit Verhaftungen. Sie wissen das, Gott sei Dank, und profitieren vollauf davon. Wir verhaften nicht, aber wir besitzen sämtliche Informationen. Die Leute wissen, das heißt, die Population der Untergebenen weiß Bescheid, zumal wir einen Informanten auf vier Bürger besitzen, wie Sie sagen. Und wenn … wenn unter den Bürgern, die zu Informanten geworden sind, sich auch jeder vierte Ihrer Freunde befände, der Patrioten? Wissen wir dann nicht über alles Bescheid, was Sie dort in den Kulissen der Zukunft so bequatschen?«

Der Oberst hatte recht. Der brettlange Gefangene war in dem Fauteuil, das ihn nicht mehr beschützen konnte, immer kleiner und kleiner geworden.

»Aber nicht darum habe ich Sie bestellt. Nicht deswegen. Der Pass ist genehmigt worden! Das ist die große Nachricht. Das heißt, wir haben beschlossen, Ihnen den Pass zu geben. Ich werde es Ihnen nicht erklären, aber das ist kein Zufall. Das ist kein schlichter Zufall, die beneidenswerte Nachricht ist alles andere als ein Zufall.«

Der Verstummte verbarg seine Verblüffung im Fauteuil. Solch einen Schlag hatte er nicht erwartet. Der Albtraum mit den beiden Agenten und dem gelben Briefumschlag hatte ihn auf solch eine Begegnung vorbereitet, aber den Bullen waren sogar seine Träume bekannt, selbstverständlich, sie hatten einen ihm würdigen Anschlag vorbereitet, nicht mit einem gewöhnlichen Hauptmann oder Major, sondern mit diesem Schauspieler, der sich in den glänzenden Wänden seines heiligen Amtssitzes spiegelte.

Ob die große Nachricht eine Falle zur Vermehrung der Informanten war? Ob auch der stimmlose Lulatsch kooptiert werden sollte?

»Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich darauf verzichtet habe«, stammelte der Verwunderte schließlich.

»Warum das denn? Weil Ihr Antrag ein paarmal abgelehnt wurde? Der übliche Vorgang. Hochmut ist hier fehl am Platze. Es gibt nur wenige Genehmigungen, dies wissen auch Ihre Spielkameraden. Möchten Sie nicht Ihre Schwester wiedersehen? Soweit wir wissen, sind Sie mit ihrer Schwester jenseits des Ozeans eng verbunden.«

»Agathe?«, murmelte das Kleinkind im Fauteuil.

»Tamar, will mir scheinen. Oder Tamara. Kosename Amara, nicht? Oder Mara? Ich scherze, ja, ich scherze, weiß doch, dass Sie sie Agathe getauft haben. So nennen Sie sie in den Briefen, und wir haben diesen Beinamen nicht entschlüsselt.«

Mithin die Informanten! Einer von vier ehrenwerten Bürgern kannte die enge, die zu enge Beziehung mit Agathe, aber sie verfügten nicht über den Code. Tamar, Tamara genannt, sie hatten keine Ahnung, wie da auch Agathe auftauchte, wussten eben nicht alles. Es gibt Geheimnisse, die sind diesen Eingeweihten unzugänglich, dies war nun tatsächlich eine bedeutende Nachricht, wofür sich die Audienz beim Sitz des Geheimdienstes gelohnt hatte.

»Ja, ja, Tamara, nicht Agathe.«

»Sie verzichten also? Sie verzichten tatsächlich? Können Sie sich nicht von Ihren patriotischen Freunden trennen und vom Vaterland, das in Elend und Tyrannei versinkt, oder den idiotischen Informanten und deren noch idiotischeren Chefs?«

»Ja, ich verzichte«, winselte der stumme Bock.

Der Oberst zog an einer neuen kapitalistischen Zigarette.

»Echt jetzt, Sie verzichten? Bleiben hier im Terror? So sagen es doch Ihre Freunde, das Elend hat zugenommen und der Terror …«

»Ich kann das Land nicht gerade jetzt verlassen. Wir gehen zusammen, das Land und ich, den Weg bis zum Ende.«

»Sie haben Ihre Schwester verlassen! Oder aber Sie haben sie angestiftet, Sie zu verlassen … Sie möge sich retten, das haben Sie zu ihr gesagt. Aber Günther? Wie steht es mit ihm? Ihr Freund Günther, der mit unserem kommunistischen Regime unzufriedene Kommunist. Balkanisch, sagte er, nicht kommunistisch. Und nun schreibt die sogenannte freie, also von den Kapitalisten bezahlte Presse, wir würden die beiden für das Land entscheidend wichtigen Minderheiten vertreiben — die ernsthaften und fleißigen Deutschen und Ihre Religionsgefährten.«

»Ich habe keine Religion«, brummelte der Minderheitler.

Es war still geworden, absolute Stille. Kein Erzittern etwa eines Spinnennetzes war zu hören, und auch die Wörter drangen nicht bis zum Vernehmer.

»Also, Sie wollen das Land nicht verlassen, das Sie verfolgt hat!! Das ist Heldentum!! Das Land verlassen? Es verlassen?! Wieso eigentlich? Sind wir kleine Kinder? Wir sind große Kinder, mein Herr, das wissen wir! Wiewohl manche noch Kleinkinder und auf Streiche und Scherze aus sind, doch die werden ihnen zu den Ohren rauskommen, auch wenn sie schon einen Personalausweis besitzen, einen Gewerkschaftsausweis und vielleicht sogar ein Parteibuch. Können Sie die armen Dissidenten-Kinderchen nicht verlassen? Was wird der Herr Schwager da sagen? Er hat schon vor ein paar Jahren persönliche und offizielle Anstrengungen unternommen, damit dieser Pass genehmigt wird.«

»Aber er ist nicht genehmigt worden, trotz all seiner Bemühungen wurde er nicht genehmigt.«

»Jetzt ist er genehmigt worden! Auch wir können unsere Fehler korrigieren, wir sind Menschen, keine Monster, wie Ihre Freunde meinen. Wir machen Fehler und korrigieren sie, machen andere Fehler und werden sie korrigieren. Bittschön, entscheiden Sie, ich habe Ihnen die Genehmigung mitgeteilt. Sie können Ihre Schwester und Ihren Schwager wiedersehen. Das ist alles. Vielleicht auch Herrn Günther oder den Genossen Günther, so sprechen sich doch die Nachfolger von Marx und Engels an, will mir scheinen: Genosse Günther.«

Die Amtsperson erhob sich auf ihre kurzen Beine, der Gast erhob sich, ein langes und dünnes Brett. Er fragte sich, ob die patriotischen Freunde nun Gesprächsgegenstand waren oder der Yankee-Schwager oder der deutsche Marxist.

»Und Sie kommen doch sicher zurück! Kehren nach einem Monat oder zweien heim ins Land. Ins Vaterland. Zu den Freunden. Der Ort des Aufbruchs ist auch der Ort der Wiederkehr. Und der Geburtsort ist unersetzlich. Ein einzigartiger Ort, die Geburtsgeographie. An die Sie sich gebunden fühlen, das wissen wir. Sie legen davon Zeugnis ab. Sie fühlen sich sehr damit verbunden, das sieht man. Wie Ihr Freund Günther, auch er wollte das Land nicht verlassen, das seine Vorfahren vor achthundert Jahren zu kolonisieren gekommen waren! Er wollte hierbleiben und uns kritisieren, wir seien halt- und fassungslos, und unser Kommunismus sei eine primitive Inszenierung. Inszenierung, Zirkus. Sie haben etwas gemeinsam, sieh an!«

Der Einvernommene schwieg. Der Zigarettenrauch war dünn und parfümiert wie alle verbotenen Genüsse.

»Sie haben Zeit, nachzudenken. Der Pass ist hier, er wartet. Der Aufenthalt im Ausland kann bei unserer dortigen Botschaft verlängert werden, wenn Sie das Bedürfnis dazu verspüren.«

Der Pass war kein Zufall, aber wie sollte die Großzügigkeit der Autorität rückvergütet werden? Durch mehr Konzessionsbereitschaft in der Haltung des Yankee-Schwagers gegenüber dem Vaterland seiner Frau?

Die Zigarette war aufgeraucht, die Audienz zu Ende, der Rauch verzog sich. Der Oberst lächelte nicht mehr.

»Gehen Sie noch ins Theater? Wachsendes Elend, zunehmende Tyrannei, aber das Theater überlebt! Ein großartiges Theater, das zu den besten auf der Welt zählt, nicht wahr? Große Talente, große! Die nationale Bühne ist immerzu lebendig, selbst in schweren Zeiten. Die Bühne ist lebendig, die Straße ist lebendig, ebenso wie der Fußballplatz und das Restaurant und der Marktplatz und die Lieder und die Witze. Geben Sie’s zu, selbst die Witze. So regenerieren wir die Energien, in der Kneipe, auf dem Markt und im Dampfbad. Und im Zirkus, gewiss, auch im Zirkus. Ich habe Ihre Texte über den Zirkus gelesen. Ich habe sie aufmerksam gelesen, und ich weiß, dass sie nicht jedem zugänglich sind. Ich habe sie entspannt und mit Vergnügen gelesen, habe keinen Subtext gesucht. Der interessiert mich nicht, ich bin nicht auf der Jagd nach Fußangeln und Fallgruben.«

Der Schauspieler erwartete eine Antwort des Einvernommenen, dem er mit seiner provozierenden Interpretation seine Ehrerbietung zu erweisen fortfuhr. Aber er erhielt die erwartete Antwort nicht.

»Unsere Leute haben ein paarmal versucht, Sie zu kontaktieren, Sie haben sich davon nicht begeistert gezeigt. Wir haben verstanden, Sie wurden in Ruhe gelassen. In der nicht eben ruhigen Ruhe Ihrer alles andere als ruhigen Freunde. Nun, wie verbleiben wir mit dem Pass? Mit dem langersehnten Pass, mit der Schwester, von der Sie lange schon träumen? Und mit Günther in Berlin, dem unbeirrbaren Kommunisten, dem Träumer. Dem unheilbaren Träumer.«

»Ich werde darüber nachdenken. Sie waren sehr freundlich, danke. Ich werde nachdenken, es ist eine wichtige Option.«

Ja, sie war wichtig, seitdem auch das Theater sich … nicht allein das Elend, das Theater, es knirschte und stöhnte vor zu viel Groteske. Er war stehen geblieben, der kleine Oberst schaute ihn an, von unten bis oben.

»Könnte ich eine Zigarette haben?«

Der Einvernommene lächelte, der Oberst lächelte nicht, aber er zog prompt das Zigarettenetui aus der Tasche.

»Oh, gewiss. Sieht so aus, als hätten Sie sich entschieden. Der Pass bedeutet feine Zigaretten … Obwohl Doktor Sima Sie anscheinend vom Rauchen entwöhnt hat, und das schon vor ein paar Jahren. Der gleiche kurzsichtige Eduard hat Ihnen auch jene Krankheit behandelt … oder das Syndrom, irgend so ein Syndrom, keine Ahnung. Doch, ich weiß, WA, so heißt das, glaube ich. Wirklichkeitsangst, ja, WA. Angst vor der Wirklichkeit, so hat das wohl geheißen. Doktor Eduard Sima glaubt, die abenteuerliche Reise über Länder und Meere hinweg wird zu einer endgültigen Heilung führen. Sie haben ihn schon lange nicht mehr getroffen, zu lange …«

Der Verstummte war gelähmt, er rührte sich nicht mehr. Der letzte Schlag war machtvoll, magistral, er hatte auch die Zigarette vergessen, obwohl das Feuerzeug des Genossen Oberst weiterhin brannte. Er beugte sich hinab, zündete die Zigarette an, verbeugte sich ein weiteres Mal, um der Autorität zu danken, die eine große weiße Hand ausstreckte.

Die längste Nacht

Die Nacht des Selbstmords, der nicht mehr stattfand, profitierte von einem Päckchen billiger Zigaretten, starker und stinkender Machorka, einer Flasche billigem Wein, einem Krätzer, wie die Leute sagen, und langwierigen Pausen zwischen den Fragen, auf die es keine Antworten gab. Bis zum Morgengrauen, als die Antwort keiner Fragen mehr bedurfte.

Das in einen neuen Anfang gewendete Ende? Exil? Ein weiteres Exil, das wievielte? Er hatte sich an das Exil an seinem Geburtsort gewöhnt, hatte nach und nach seine Befreiungsreflexe niedergemacht. Das allwissende Lächeln des Operetten-Obersten war wieder da.

»Sie haben schon in Ihrer Kindheit gelitten, wir wissen das. Wie auch Ihre Schwester.« Ließ ihn der allwissende Oberst wissen. Wie die Schwester oder mit der Schwester?

»Nicht genug«, brummte der Leidende.

»Haben Sie etwas gesagt?«, wollte der Schauspieler wissen.

»Nein, nichts«, antwortete der Lange und wiederholte für sich, »nicht genug, nicht genug.«

Nicht genug, Genosse Tudor, wenn ich da herumlaufe, esse und schlafe und mir sogar beim Hauptsitz des Staatssicherheitsdienstes den Vorschlag zu meiner Befreiung anhöre. Eine therapeutische Lösung, wie es scheint, nach Meinung eures Mitarbeiters Doktor Eduard Sima. Die Reflexe der Larve können nicht durch die der Wiedergeburt ersetzt werden, das hätte der Spezialist euch sagen müssen, aber ihr wisst das, ihr habt uns so dressiert, dass wir aus der Erstarrung eine Praxis gemacht haben, aus dem dösenden und gegenstandslosen Warten in der kleinen Zelle mit der blutenden Tür, die ungebetene Gäste fernhält. Zwischen Büchern und Albträumen habe ich das Diplom des stoischen Autodidakten erworben, der die Jagd nach Besitztümern und Abenteuern verachtet, nach den Phantasmen des Glücks. Das WA-Syndrom? Ja, ich bin stolz wie ein Hochstapler, dass es mir gelungen ist, mich klein zu machen, meine Vitalität eingebüßt zu haben und die Schutzreflexe. In die Welt hinausgehen, wohin denn und warum? Die Isolation in der roten Zelle eröffnet endlose imaginäre Horizonte, die nicht zu erfassen sind, unzugänglich für die armen, vom Rauch ihrer vergoldeten Zigaretten betäubten Bezwinger des Alltags.

»Wir wissen, wir wissen sehr gut, was der Albtraum des Lagers, wo Sie Ihre Eltern verloren haben, bedeutet hat. Krieg, was kann man da tun … Wir wissen das, und vor allem, wir können es uns vorstellen. Der Beruf verpflichtet uns zur Imagination.«

»Ja, Genosse Oberst, der Gefangene ist mit den Jahren gleichgültig geworden hinsichtlich seiner Gefangenschaft«, wollte der Befragte antworten, der aber schwieg.

»Haben Sie etwas gesagt«, fragte nun wiederum der professionelle Befrager.

»Nein, nichts«, antwortete der Gefragte und fuhr darin fort, sich im Stillen zu wiederholen, dass der Genosse Tudor recht hatte in seiner Verachtung aller Illusionen von Veränderung und die einzig würdige Veränderung der Pass war. Dort, am anderen Ufer, wartete Tamar, Tamara genannt, Mara, die allein der Bruder mit Agathe, dem geheimnisvollen Codewort, zu benennen berechtigt war.

Mit ihrem Weggang fühlte er sich befreit von der blutenden Fessel, aber die Sehnsucht nach Agathe, wie er diese Erscheinung heimlich nannte, hörte nicht auf, ihn zu verzehren. Jedoch ohne dass er es sich eingestand, ohne den Mut, es sich einzugestehen. Jetzt, in der schier endlosen Nacht, im Zigarettenrauch und mit dem Gift des schlechten Weins im Leib, fühlte er sich wieder in die Vergangenheit zurückgeschleudert, die nicht vergehen wollte.

Also das Exil! Ein anderes Exil als das stacheldrahtbewerte Exil der Kindheit. Exil! Die Befreiung aus Elend und Tyrannei, die Trennung von den Spitzeln, die sich wie die Pilze nach dem Gewitter vermehrt hatten. Einem Platzregen von verlogenen Versprechungen. Wiedergeburt, die wievielte, nach dem langen unvollendeten Sterben, der Regression zum Kleinkind. Er erinnerte sich an den Tag, als sie das Lager verließen, Kriegsende, die Hurrarufe der Gefangenen, die langen knochigen Arme von Debora, der Mutter eines Babys namens Tamar. Debi, die Tante, die seine Mutter geworden war, drückte ihn sich weinend an die Brust. Tante Debi, Mutters jüngere Schwester. Mutter war schon in den ersten Lagermonaten gestorben. Debi die Geliebte seines Vaters geworden, aber der Witwer wurde selber nach einem weiteren Jahr von der Drachennacht verschlungen. Die Unglückseligen benannten den Tod immerzu anders, mal hieß er Krebs und Tuberkulose, dafür nicht mehr Typhus, gegen Ende hin gab es nur noch Un-Wörter: Unterernährung, Unterkühlung, Unverträglichkeit, schließlich wussten auch sie nicht, wie sie das Unheil dieser Verdammnis noch nennen sollten.

Dass der Engel Tamar plötzlich erschien, die Tochter Deboras und ihres zum Liebhaber gewordenen Schwagers, geriet zum heiligen Zeichen der Hoffnung. Das Geschrei der vor Freude schwachsinnig gewordenen Gespenster konnte man nicht vergessen, auch Debi, Tamars Mutter, die zur Stiefmutter des Waisenkindes geworden war, schrie, während er sich verängstigt an ihre Hand klammerte, damit sie ihn bloß nicht verliere, damit nicht auch ihm geschehe, was seiner Mutter und seinem Vater geschehen war, die nächtlichen Tiger hatten sie verschlungen.

Er wird nirgendwo hinfahren! Bis zum Ende wird er hier in der Nähe von Mutters Grab bleiben, eingehüllt in die Briefe Tamaras, mit der er von einem Waisenhaus ins andere gezogen war und von der er sich nicht einmal im Schlaf mehr trennen konnte, waren sie doch in der gleichen Plazenta aneinandergefesselt wie siamesische Zwillinge. Hier im Lande seiner Geburt hatte er sich vertraut gemacht mit der Komplizenschaft der Unterwerfung. Hier hatte er sich in die Wörter verliebt und sich vorgemacht, nicht in einem Land, sondern in einer Sprache zu leben. Nein, er fühlte sich nicht ausreichend darauf vorbereitet, im Paradies der Prosperität taubstumm zu werden, selbst wenn der Herr Schwager dem Drängen seiner Frau, ihr den inzestuösen Bruder in die andere und letzte Welt zu bringen, nachgegeben hatte.

Er zog an der stinkenden Zigarette. Er hätte sich durchaus auch Kent-Zigaretten wie die des Genossen Oberst Tudor beschaffen können … Sie wurden auf dem Schwarzmarkt zum zehnfachen Preis verkauft, ebenso wie der gute Wein, der aus den Luxus-Kellern der Macht gestohlen war. Nein, Genosse Doktor Sima, ich schütze mich nicht mehr vor unserer faulig stinkenden Machorka, auch nicht vor deren parfümierter Machorka, nein, nicht einmal vor diesem sauren und giftigen Wein.

»Es gibt nicht genug Gift«, hatte er ungehört gebrummelt, als der Genosse Vernehmer den passenden Zeitpunkt gefunden hatte, sein Mitgefühl für die Überlebenden der Endlösung zum Ausdruck zu bringen. »Sie haben früh schon viel gelitten, ebenso Ihre Schwester«, rezitierte die Autoritätsperson, ohne sich die Antwort anzuhören. Die auch nicht erfolgte.

Nein, nicht genug, nicht genug, Genosse Oberst. Das Leidensgift hatte seine Wirksamkeit nicht unter Beweis gestellt, schließlich beteiligte sich der von den Toten Auferstandene weiterhin an den alltäglichen Inszenierungen und döste jetzt hier im etwas ausgreifenden Fauteuil des Geheimdienstes so vor sich hin. Das Lager? Die Verfolgungen? Nein, kein Wort! Ich begebe mich nicht in eure heuchlerischen Szenarien. Ich werde schweigen wie ein Toter, wie ein Hingerichteter, ans Krematorium Überstellter, ich stelle euch kein Zeugnis aus über euer opportunistisches Mitgefühl, von mir gibt es keinen weiteren Paragraphen zu diesem tränentreibenden Geschwätz.

Der Oberst war recht genau vorbereitet worden, wann und wie er diese Klaviatur zu spielen hatte, nun war vom Pass keine Rede mehr, sondern vom Verhältnis zwischen den Großmächten, darum hatte man sich für einen Obersten und nicht für einen Hauptmann oder einen Major entschieden, für jemanden, der in Eleganz und höflichen Umgangsformen unterwiesen, darauf vorbereitet worden war, beim zukünftigen Republikflüchtling einen guten Eindruck zu hinterlassen, egal, ob es der zu seinen Teutonen gezogene Günther oder dieser Experte für die Welt des Zirkus war, dem zum Schluss und um ihn vollends zu verwirren, noch die Ehre des »Sima-Anschlags« zuteil wurde.

Eduard Sima? Ed? Nein, nein, das ging überhaupt nicht, die Brüder Ed waren brünett, Haar und Schnauzbärte mit Schuhcreme traktiert, während Doktor Sima kahl und dicklich war, blaue, engelhafte Augen hatte und einen tadellosen Ruf.

Standen die Gebrüder Ed für eine Vorahnung? Der Albtraum war eine Vorahnung, wer hätte solches auch vermuten können? Doktor Eduard Sima war von tadelloser moralischer Verlässlichkeit, niemand hätte so verrückt sein können, sie infrage zu stellen, der Psychiater und Informant der Polizei hütete seinen Ruf und seinen Tarif mit äußerster Strenge.

Allein Agathes Namen wussten die Bluthunde nicht zu entschlüsseln! Es wäre zu viel gewesen für sie, in den Bibliotheken nach dem Band herumzuschnüffeln, der den zum Verhör Einbestellten dazu inspiriert hatte, sich selbst für einen »Paria ohne Eigenschaften« zu halten, der dazu noch eine an Geheimnissen überreiche Schwester besaß. »Hast du vergessen, wer dich deportiert und deine Eltern umgebracht hat?«, hatte ihn Agathe gefragt, als er sich weigerte, ihr zu folgen.

»Sonst hätte ich dich nicht kennengelernt«, hatte der Schmierenkomödiant in der Absicht von sich gegeben, sie zu verletzen. »Der Hass auf die Mörder des Erlösers und die Schläfenlockigen, die Gold liebenden Geldwechsler«, fragte das Brüderchen genervt. »Ich weiß das, ich weiß auch, was der Prä- und Post-Lager-Hass bedeutet hat, die ständigen Verdächtigungen, die fortwährende Verfolgung und der Neid in der heutigen Hölle.«

Er war Agathe nicht gefolgt. Der Zyniker war zurückgeblieben, um die Geschichte des Zirkus zu erforschen und die Mobilisierungserfolge der Utopie als eine Farce zu entlarven. In Wahrheit war nicht dies der Grund. Sondern die Angst vor dem Unbekannten, WA, aber auch vor dem nur allzu Bekannten namens Agathe. »Ja, ich bleibe hier, ich ertrage es nicht, ein solcher Wandersmann zu werden, wie man ihn mir immer auf den Kopf zugesagt hat. Soll ich ein Anonymus in der Wüste sein, ohne eine andere Identität als die eines vom Yankee-Pragmatismus zugewiesenen Gehalts?« Dies etwa war die Antwort, die der Doktor in Kunstgeschichte und Zirkuswesen dem Yankee-Journalisten gegeben hatte, der sein Schwager geworden war. Von einem vagabundierenden Straßenköter gebissen, gelangte der Journalist ins Krankenhaus und auf die Abteilung für Infektionserkrankungen, wo er die schöne Ärztin entdeckte. Das Opfer eines hündischen Wutanfalls wurde zu einem Schlafwandler, süchtig nach ihrer blendenden Ausstrahlung. Nun erblickte das Brüderchen Agathe in seinem Glas mit gelblichem Fusel und zwischen den Kringeln giftigen Rauchs, wo er immer und immer wieder den gleichen, von niemand anderem als von ihr selbst gelernten elenden Refrain wiederholte: »Aber deine Mutter und dein Vater und die Onkel und Tanten, die in den Gräbern jener fremden Wälder geblieben sind? Zählen die etwa nicht? Und meine Mutter, die deine Mutter wurde und uns als Waisenkinder im Heim zurückgelassen hat?«

Er zog noch einmal an der giftigen Zigarette, nahm einen Schluck vom ekligen Wein und prüfte die ins Glas und die giftige Plörre verirrte Schwester, die in seiner verschwitzten Hand zitterte.

»Ich will diese Schatten nicht in die fremde Welt mitschleppen. Bleibe, wo ich bin, in Elend und Terror. Unter Freunden und Spitzeln und Polizisten, dressiert, die Quadrille der Anpassungen zu tanzen. Ich habe mich an sie gewöhnt, habe nicht die Kraft, die Manieren der Prosperität zu erlernen.«

Dann murmelte er noch einmal mutlos: »Wenn ich bleibe, musst auch du bleiben.« Er hörte auch die flüsterleise Antwort aus dem Glas, und die wollte er nicht unbedingt hören: »Wenn ich gehe, musst auch du gehen.«

Er war nicht gegangen, jetzt war noch später als damals. Was konnte er denn noch verkaufen auf dem Markt der Freiheit, was konnte er tun, was hatte er denn anzubieten, und wem? Die Doktorarbeit über Kunst und Geschichte des Zirkus? Er war kein Arzt, wie Agathe, auch verfügte er nicht über ihren Zauber. Die Flasche war leer, die Zigarettenpackung noch nicht. Agathe war immer noch hier, wie stets erstarrt angesichts des brüderlichen Widersinns. Er schien entschlossen, die Schuld bis ans Ende abzutragen, ohne ausreichende Leiderfahrung überlebt zu haben, wie er behauptete, ohne, wie so viele andere, ausreichend gestorben zu sein.

»Ich bin nicht mehr konkurrenzfähig, Schwesterchen. Vielleicht war ich das auch nie. Ich bin der Schatten ohne Eigenschaften, wie es der Autor genannt hat, den du ablehnst. Ich kann weder Maler sein noch Chauffeur, nicht einmal Zauberkünstler, mich fesseln die Ketten, die ich mir geschaffen habe. Ich hänge keinen Nostalgien nach, glaube an die Vergeblichkeit der Asche, zu der wir alle werden, wenn wir die Verbrennungsöfen der Illusion durchschritten haben. Ja, hast schon recht, wir werden miteinander telefonieren, wie üblich. Und wir werden nicht über den Mut zur Sühne verfügen, wieder einmal werden wir diesen Mut nicht aufbringen, nicht einmal den, uns in der Zündschnur des Telefons zu verheddern, die am Sprengstoff der Sehnsucht steckt, womit die Farce beendet wäre.«

Agathe schwieg und lächelte über sein altes Palaver. Das bekannte, unwiderstehliche Lächeln, wie es sich erhob über das Gestammel des Zirkusspezialisten, der sehr bald schon schweißgebadet zum Flughafen rennen wird, auf die Freiheit zu und das Abenteuer, einer Zukunft entgegen, die auf den Namen Agathe hört, von einem Leser so benannt, der sich für eigenschaftslos hielt. Nein, er wird nicht gehen, der sündige und faulige Wein hatte ihn verbittert, er war kurz davor, diese Ungewissheiten zu erbrechen. Nackt auf dem Boden neben der blutroten Tür hörte er dem Glas zu, das wütend und abgehackt zischelte. »Du bist nicht mehr konkurrenzfähig, das sagst du, du Heuchler? Fragen des Anstands, Brüderchen! Es reicht doch, dich umzusehen auf diesem Jahrmarkt der verlogenen Losungen, und schon wirst du die Kraft haben, die blutrote Tür zu zerschlagen und abzuhauen, weit weg von dem Land, das uns geboren und ins Nichts gestürzt hat, um uns dann als dressiertes Versuchskaninchen ein weiteres Mal zu gebären. Hast auf stur geschaltet, wie so oft in der Kindheit, wenn du auf eine deiner Schwächen gestoßen bist und den Riegel hinter dir zugeschoben hast. Ich glaube, du hast vergessen, wie ich heiße. Ich bin nicht mehr Tamar, auch nicht Tamara, Tara, Ara, ich bin Agathe, allein du weißt das. Ich werde nur noch Agathe sein, wie du beschlossen hast, damals, als wir die gleiche Sprache sprachen.«

Die gleiche Sprache? Die Sprache der Vergangenheit, die Augenblick für Augenblick verschwindet? Nein, Weggehen ist keine Lösung! Eine Fata Morgana, die Wüstenei einer neuerlichen Illusion. Eine weitere Vergeblichkeit. »Nein, knall jetzt nicht den Hörer auf, hör mir zu, glaub mir, es ist ein weiterer Aufschub, ein weiterer Irrweg. Allein dies, nur dies, versteh doch, du, die du alles verstehst und nicht vergessen konntest, mich zu verstehen.«

Das Gesicht war aus dem Glas verschwunden, die Stimme aber beharrte noch ganz leise und immer leiser werdend, er durfte sie nicht verpassen. »Ich bin nicht Agathe! Ich stamme nicht aus einem Buch, sondern aus einer Frau, meiner Mutter, die deine Tante war. Mich gibt es wirklich, auch wenn ich weit weg bin, zu weit. Ich heiße nicht Agathe, sondern Tamar. Verbann mich nicht in ein Buch, weiter weg, als ich ohnehin bin, nur damit du mir dort immerzu begegnen kannst, gefesselt von Schatten ohne Eigenschaften und nicht von dir selbst, meinem wirklichen Bruder mit realen Vorzügen und realen Mängeln. Du kannst dich von der Büchergruft, in die du dich eingemauert hast, nicht trennen, von den bleiernen Buchrücken. Davon kannst du dich nicht trennen, von dir selbst kannst du dich nicht trennen! Von der Vergeblichkeit der Mauern, die dich umgeben!«

Neben der Tür auf dem Boden liegend, streckte er den Arm aus, um die Packung mit den stinkenden Zigaretten fassen zu können. Schaffte es nicht. Er war besoffen, hatte sich nichts anderes gewünscht in dieser Nacht bei diesem ordinären Gesöff und den elenden Zigaretten im Elend eines Paradieses, das ihn in den Tod geschickt, dann wiederbelebt, verdächtigt und bespuckt hat und das er nicht verlassen konnte.

»Von dir selbst kannst du dich nicht trennen, nicht wahr, von dir selbst? Das ist dein Fluch! Wo auch immer du hingelangst, immerzu bist du es. Die Bücherregale sind die Vergeblichkeit, Brüderchen, nicht das Abenteuer, mich wiederzufinden. Dir wird eine magische Chance geboten, das Leben danach und ein Nachleben. Vergeblichkeit an Agathes Seite, die Wiedergeburt. Glücklich wirst du regredieren, auf die Alter von einst zu. Und wirst wieder wachsen, wie einst, an der Seite von Agathe!«

Er vernahm, was sie sagte, hörte nichts mehr, war besoffen, müde, konnte die Zigaretten nicht finden, die er schon seit gut einem Jahrzehnt nicht mehr geraucht hatte. Schaffte es nicht, die Packung zu greifen. Immer und immer wieder berührte seine Hand die leere Packung und die leere Flasche, die da umgekippt neben dem Leichnam lag, dem das Sterben nicht gelingen wollte.

Wörterbuch

Exil:  erzwungener Weggang aus dem Geburtsland oder lange Abwesenheit vom Vaterland; Situation, in der sich eine Person gezwungen sieht, in einem anderen Land zu leben4

Pribeag (rum.):  1. umherirrender, herumwandernder, ortloser Mensch 2. Flüchtling, Heimatloser, in Verbannung gehender (sich befindender), außer Landes gehender, im Exil befindlicher, Vertriebener, Emigrant 3. auf Wanderschaft gehender, sich auf der Wanderschaft befindender Mensch

Streunender Vogel:  zur Gruppe der Vagatores (Wanderers), zur vierten Gruppe in MacGillivrays Klassifikationssystem (Krähen, Raben, Dohlen, Häher) gehörender Vogel5

Wanderalbatros:  großer Meeresvogel (Diomedea exulans), der größte unter den Albatrossen, mit weißen Flügeln

Wanderspinne:  Spinne der Gattung Phoneutria, wird auch vagabundierend und unstet genannt

Der Ewige Jude:  Jude der mittelalterlichen Legende, verdammt, bis zum Jüngsten Gericht durch die Welt zu irren, weil er Jesus am Tag seiner Kreuzigung verspottet haben soll

Flüchtling:  Subst. männl., Person, die aufgrund religiöser oder politischer Verfolgung in einem anderen Land Zuflucht sucht; früheste Verwendung für die aus Frankreich nach der Aufhebung des Edikts von Nantes im Jahre 1685 nach England geflohenen Hugenotten (refugee)

Und es war der zweite Tag

Der Kalender erfüllte seine Pflicht: Es war einmal und war ein andermal auch, und war wie nie zuvor.

Der feierliche Augenblick: die Entwurzelung. Ein heiterer und kalter Tag, der Himmel hoch. Nachdem man ihm am Schalter der Autorität den grünen Pass überreicht hatte, war es an ihm, all die Vorsichtsmaßregeln und Vertraulichkeiten einzuhalten, die man ihm abverlangte. Diese schützten ihn vor dem Neid der Freunde ebenso wie vor den Belästigungen der Schnüffler und Spitzel. Er wusste, dass dieser Volltreffer, die Falle, das Privileg jederzeit für null und nichtig erklärt werden konnten, ebenso wusste er, dass der Verdacht, der das Funktionieren des Systems garantierte, nicht mit der Flucht des Gefangenen aufhören wird, das Geschacher auf dem Markt der Lösegelder und Rückvergütungen wird zuverlässig dafür sorgen, dass ihm seine Abgesandten über Berge, Täler und Meere überallhin, wo man es für angebracht hält, folgen werden.

Das Zoll-Ritual war gemächlich verlaufen, ohne Zwischenfälle. Der Koffer wurde gründlich, Stück für Stück durchgewühlt, Hemden, Krawatten, Schal, Handschuhe, Schuhe, Pantoffel, Pyjamas, nirgendwo hatte man eine Atombombe gefunden. Nun stand er vor dem letzten Kontrollbeamten, der ihn aufmerksam und ohne ein Wort zu verlieren betrachtete. Der Passagier beäugte seinerseits den Kontrollbeamten, um mitzukriegen, ob sein bohèmehaftes Aussehen etwa dessen Feindseligkeit hervorrufe. Der Passagier hatte sich den Schädel und das Gesicht rasiert. Frisch gewaschene Jeans, weißes gebügeltes Hemd, dunkelblaue glänzende Jacke mit großen Brusttaschen. Getönte Brille, wie in den Gangsterfilmen.

»Den Pass, bitte.«

Die Hand fährt zur linken Brusttasche der Jacke: das dünne gelbe Büchlein, wie ein Notizbuch. Schnell packte er das Teufelszeug zurück.

»Nein, nein, keine Eile, lassen Sie doch mal sehen, was das ist.«

Eingeschüchtert reicht der Reisende das gelbe Büchlein weiter.

»Was ist denn das? Was soll das denn sein, Herr Bojar?«

Der Bojar schwieg, ebenso der Posten, den diese Überraschung elektrisiert hatte. Langes Schweigen auf beiden Seiten.

»Ein Reiseführer. Für unterwegs«, traute sich der Reisende schließlich zu stammeln.

Der Posten kam beleidigt wieder zu sich.

»Wie, wie bitte, was haben Sie gesagt? Ein Führer? So klein, so winzig klein, dass man ihn in einer Tasche verstecken kann? Was soll das denn für ein Reiseführer sein? Kein Guide, ein Code vielleicht, ein Code, nicht wahr? Nicht wahr?«

Das gelbe Büchlein klebte nun beinahe schon an den aufgerissenen Augen des strengen Grenzers, der entschlossen schien, diesen Code zu entschlüsseln.

»A-del-bert. A-del-bert«, silbenweise tastete er sich voran. »Was soll das sein? Was kann das sein? Ist doch kein fremder Pass.«

»Nein, nein, entschuldigen Sie, ich habe nur die Taschen verwechselt«, stammelte der Unglücksrabe. »Das habe ich nur so dabei, um während des Flugs drin zu lesen. Zum Zeitvertreib … Für die Reise.«

»Was mag das sein? Ein Reiseführer? Wie man es sich im Flugzeug bequem macht, wie man in Wirbelstürmen atmet? Wunder. Wun-der-sa-me«, wieder ging es in Silbenschritten voran.

»Eine Geschichte, ein Märchen für Kinder«, war die gelassene Antwort des Verdächtigen.

»Für Kinder? Für Kinder, sagen Sie? Ein Reiseführer für Kinder? Aber Sie sind doch kein Kind mehr, ich täusche mich nicht, das sind Sie nicht mehr.«

Der Grenzpolizist schaute sich den Verdächtigen ganz genau an, von oben nach unten, von unten nach oben und seitlich, ringsum glitten seine Blicke. Er hatte sich nicht getäuscht. Der Nichtsnutz war kein Kind mehr! Nein, das war kein Kind; ein Idiot, ja, das schon, aber kein Kind. Der Grenzer wandte sich seinem Nebenmann zu, der den Koffer einer ziemlich beleibten Alten durchsah.

»Ioan, rühr-dich-mal-rü-ber!«

Ioan trat herbei, rundlich und schweinchenrosa.

»Was ist das, Ioan? Ist das Deutsch? Kannst du Deutsch?«

»Kann ich nicht, wir sollten es dem Genossen Hauptmann zeigen. Der Genosse Hauptmann Dobre hat einen großen deutschen Hund, Dobermann heißt diese Rasse. Costache Dobermann heißt sein Hund. Der wird Deutsch können.«

Grenzer Nummer Eins schien amüsiert von Grenzer Nummer Zwei, aber er wandte sich nun noch strenger dem Lügner zu, der kein Kind mehr war. Schaute ihn unverwandt und mit drohender Miene an, wobei er in der Rechten das verdächtige Objekt zu aller Sichtbarkeit in die Höhe hielt.

»Re-clam, Phi-lipp-Reclam jun. Stutt-gart. Universal, Universal Bi-Bibliothek.«

Und mit einem Mal war er zum Zauberkünstler geworden: Die Broschüre verschwand in der Gesäßtasche der offiziellen Uniform.

»Ist nicht erlaubt! Kein Druckerzeugnis kann ohne spezielle Genehmigung ausgeführt werden. Ohne die Genehmigung des zuständigen Ministeriums, in diesem Fall des Innenministeriums. Vor allem fremdsprachige Druckerzeugnisse dürfen das Land nicht ohne Genehmigung verlassen. Stellen Sie einen Antrag und warten Sie auf die Genehmigung.«

Der Passagier protestierte nicht, das Corpus Delicti wird in der Gesäßtasche der Amtsperson sicher verwahrt bleiben, beschützt vor Witterungseinflüssen und Unfällen.

Auch vollführte Grenzer Nummer Eins eine zusätzliche Geste der Wachsamkeit, indem er die Klappe über seiner Gesäßtasche zuknöpfte. Nun prüfte und studierte er das Foto im Pass und verglich es mit dem Original, das vor ihm stand. Eine gründliche Prüfung, während der man genügend Zeit hatte, das eigene Gedächtnis zu trainieren. Es war ein regnerischer Samstag, und viele Leute warteten an jenem Vormittag beim Fotografen; der Kunde war mit einer Schachtel Kent-Zigaretten bewaffnet, einer Tafel deutscher Schokolade und einer französischen Marken-Seife — eines dieser Wunderdinge musste seine Wirkung entfalten. Der Fotograf jedoch schaute sich den Kunden gar nicht an, auch die dicke Blonde an der Kasse, der er zu erklären versuchte, dass er ein unretouchiertes Foto brauche, auf dem er nicht wie ein Kind aussehen dürfe, das im Märchenalter stecken geblieben ist, wie es ihm bei anderen Fotografen schon mal passiert war, hatte keinen Blick für ihn übrig. Hier ging es darum, dass man die Falten sah, das Foto müsse am Ausgangstor für Vertrauen sorgen. Die Kassiererin hatte ihm lächelnd zugehört, dabei ihre wasserstoffblonden Locken gerichtet und sich schließlich, als wäre er ein etwas launisches Kind, erweichen lassen, mit gelinder Rührung die Schachtel Kent, die Seife und die Schokolade entgegenzunehmen. Schwerfällig hatte sie sich hinter ihrer Registrierkasse erhoben und scharwenzelte unterwürfig um den Patron, der, zack, das Foto geschossen hatte und sich dem nächsten Kunden zuwandte. Nun versuchte die Dickleibige, die Beanstandungen des Langen mit spitzen Lippen zu entkräften. Sie schwitzte vor Anstrengung und Fett, wobei sie wiederholte, es käme immer darauf an, wenn man sein eigenes Antlitz auf einem Luxus-Foto sehe, ein klein wenig nachsichtig zu sein, die winzig kleinen Unstimmigkeiten zwischen Original und Reproduktion seien selbstverständlich und expressiv, und ja, vielen Dank für diese edlen Zigaretten, meine Schwester raucht und wird sich wie im Himmel fühlen, ja, ich habe auch schon von der berühmten Seifenmarke gehört, ich freue mich schon auf das Bad heute Abend und auf die Schokolade, selbstverständlich, ich bin eben eine Sünderin, kann mich bei solchen Süßigkeiten einfach nicht beherrschen, aber machen Sie sich keine Sorgen, echt jetzt, das hat keinen Sinn. Die Lippen sind etwas ironisch ausgestülpt, wie es gewünscht wird, die buschigen Augenbrauen weisen auf Entschlossenheit, die Ihre Schüchternheit ausgleicht, aber Sie sind nicht schüchtern, die Ohren sind fein, die Augen ebenso, was soll man da noch sagen, Sie haben einen Blick, der mich noch verfolgen wird, wenn ich mich diesen betörenden Genüssen hingebe.

Nun hielt der Passagier den irgendwie wieder aufgetauchten Pass in den Händen.

»Nomade, nicht? So nennt man Sie doch, nicht wahr? Oder man nannte Sie so …«

Der Nomade ließ einen unqualifizierbaren Laut vernehmen. Nannten ihn die Spitzel so? In seiner Studentenzeit, ja, da hatten seine Kommilitonen ihm den Spitznamen »Koffer« verpasst, weil er immerzu von der einen Untermiete zur nächsten wechselte. Ob es da Informanten gegeben hatte unter seinen Kommilitonen oder den Vermietern? Wieso eigentlich nicht, ja, wieso nicht, aber seitdem ist eine Menge Zeit vergangen, sinnlose Zeit, versteinert im Archiv der Bullen. Ja, Koffer, der bin ich, so nannten mich meine Kommilitonen früher. Das Schicksal spricht stets durch den Mund der Sünder, und hier haben wir einen, in der Gestalt eines Grenzers am Flughafen.

Soll er ihn fragen, ob er Ed heißt? Parole Ed? Der Nomade! Vorahnung? Nomade … Vorahnung, Voraussetzung, Vorbestimmtheit … Ed, der arme Zerberus, hatte jedes Recht, über die bescheuerte Schnute des Langen mit den ausgestülpten Lippen und den verwundert hochgezogenen Brauen zu lachen. Er lächelte, lächelte unter seinem rötlichen Schnurrbart, der Grenzbeamte. Nein, er lächelte nicht, das Gift hatte sich nicht in ein Lächeln verwandelt, das war nur ein schmales, Überlegenheit ausdrückendes Grinsen.

»In Ordnung! Alles in Ordnung! Wir erklären Sie für Okay, lassen Sie in die weite Welt hinausziehen«, sagte der Wachmann und zeigte dem Nomaden an, dass er nun auf den Vogel zugehen könne, der ihn wo auch immer hinfliegen würde.

Blutete er beim Einsteigen ins Flugzeug? Keinesfalls. Er hatte sich die Trennung von sich selbst als blutig vorgestellt. Der Vorgang, bei dem ihm die Zunge abgeschnitten wurde, war Bedingung für die Aushändigung des Passes, das Operationsteam sammelte seine barbarischen Instrumente wieder ein, das alte Blut wird zu fließen beginnen. Ohne Betäubung? Mit verrosteten, barbarischen Instrumenten. Verkrampft wartete er darauf, dass aus seinem Hirn das Blut zu fließen beginne, aus dem Herzen, dem Bauch und warum nicht auch aus den Augen, gewiss, aus dem schon ein Lebtag mit der Aussicht vertrauten Blick und aus den Ohren, die sich an die Phonetik der Biographie gewöhnt hatten, ja, er wartete ergeben und entsetzt, und nichts geschah. Nichts, nichts, wer hätte das gedacht?

Er wankte, als er die Treppe zum Flugzeug hinaufstieg, erweckte den Eindruck, betäubt zu sein, und war es auch. Kauerte sich dann völlig erschöpft in den schmalen Sitz am Fenster. Den Kopf fest in den verschwitzten Handflächen, den Koffer über dem schmerzenden Kopf. Der ausgelaugte Passagier ruhte sich im Bauch des fliegenden Ungeheuers aus, er flog, machte sich davon, floh, war befreit, entfesselt, entwurzelt, unterwegs nach Nirgendwo.

»Geht es Ihnen nicht gut?«, hatte die Stewardess gefragt.

Der bleiche Passagier hatte nicht geantwortet. Er war konzentriert, versuchte, sich die ersten Worte in der kleinen gelben Broschüre zu vergegenwärtigen, die ihm bei der Zollkontrolle abgenommen worden war. »Nach einer glücklichen, … einer glücklichen, jedoch beschwerlichen Fahrt … jedoch für mich sehr beschwerlichen Seefahrt, erreichten wir endlich den Hafen.« Also auf See, eine Seereise, nicht in der Luft. Glücklich, glücklich, wie es heißt, aber sehr beschwerlich. Da wird nicht gesagt, von wo und wohin, das wird nicht ausgesprochen. »Nach einer … für mich sehr beschwerlichen Seefahrt, erreichten wir endlich den Hafen.« Ein Hafen, ja, das fremde Ufer, das Ufer der Entwurzelung.

»Ich kann Ihnen ein Aspirin bringen. Wir haben spezielle Aspirin für diejenigen, die das Fliegen nicht vertragen.«

Die Hübsche hielt ihm eine Tablette hin und ein Glas mit klarem kristallinem Gift. Der Patient hatte die Augen geschlossen, schien zu schlafen. Der alte sowjetische Flieger schüttelte sich aus Leibeskräften, um ihn aufzuwecken, aber es sah so aus, als könne niemand und nichts mehr den bleichen, mit geschlossenen Augen in Auftrieb und Gefühllosigkeit versunkenen, ja darin eingeschlossenen Nomaden erwecken. Allein war er, allein, allein, er vermochte Tamar nicht wiederzugewinnen, und dies gerade jetzt, da er ihr so vieles zu sagen gehabt hätte.

Er sprach zur Stewardess, er wird mit ihr sprechen, ja, wenn sie ihm ein weiteres Glas mit destilliertem Gift und die Zyankalitablette bringen wird, dann wird er mit ihr sprechen.