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Ein Herrenhaus. Ein Vermächtnis. Eine Wahrheit, die nicht schweigen will. London, 1923. Nach dem plötzlichen Tod ihres Onkels kehrt Evelyn Harrow an den Ort ihrer Kindheit zurück – das abgelegene Anwesen Ravenscroft Hall. Zwischen verstaubten Gemächern, verschlossenen Türen und alten Tagebüchern beginnt sie, das Geflecht aus Lügen und Geheimnissen zu entwirren, das über Generationen in den Mauern des Hauses gewachsen ist. Doch je tiefer Evelyn in die Vergangenheit dringt, desto deutlicher spürt sie: Ravenscroft lebt. Gerüchte von Stimmen im Nebel, ein stillstehendes Uhrwerk, ein verschwundenes Manuskript – und der Schatten einer Frau, der durch die Korridore wandert, als suche er Erlösung. Mit Hilfe des geheimnisvollen Inspector Blackwood versucht Evelyn, die Wahrheit ans Licht zu bringen – eine Wahrheit, die älter ist als der Tod und mächtiger als die Zeit selbst. „Es gibt Orte, die vergessen – und Orte, die sich erinnern.“ Ein Roman über Erinnerung, Schuld und die Macht der Vergangenheit. Atmosphärisch, geheimnisvoll, von poetischer Tiefe – ein Werk für alle, die Spannung lieben, aber mehr suchen als nur den nächsten Fall.
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Seitenzahl: 284
Veröffentlichungsjahr: 2025
Ravenscroft
Ein Kreis schließt sich Wahrheit kennt keine Zeit
Danilo Sieren
Auflage 1
Roman
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1 - Ein Mord in der Bibliothek
Kapitel 2 - Gift und Geheimnisse
Kapitel 3 - Zweifel und neue Spuren
Kapitel 4 - Das Treffen bei Mondschein
Kapitel 5 - Die Wahrheit ans Licht
Kapitel 6 - Die Schatten der Vergangenheit
Kapitel 7 - Der Prozess der Wahrheit
Kapitel 8 - Das Netz der Verschwörung
Kapitel 9 - Der Schatten von Burma
Kapitel 10 - Diamanten und Verrat
Kapitel 11 - Der Schatten des Empires
Kapitel 12 - Die Belagerung von Blackwood Manor
Kapitel 13 - Der Prozess des Empires
Kapitel 14 - Die Erben der Wahrheit
Kapitel 15 - Die Jagd durch Europa
Kapitel 16 - Der letzte Prozess
Kapitel 17 - Die Schatten der Zukunft
Kapitel 18 - Der große Kampf
Kapitel 19 - Das ewige Zeugnis
Kapitel 20 - Das Vermächtnis
Kapitel 21 Impressum
Danilo Sieren
Württembergerstr. 44
44339 Dortmund
Kapitel 1 - Ein Mord in der Bibliothek
Der Nebel hing schwer über den Dächern von London, als Inspector Thomas Blackwood die steinernen Stufen zu seinem Büro im Scotland Yard hinaufstieg. Es war ein kalter Februarmorgen im Jahr 1923, und die Gaslampen warfen flackernde Schatten auf die feuchten Pflastersteine der Straße. Blackwood zog seinen Mantel enger um sich und beschleunigte seine Schritte. In seiner zwanzigjährigen Laufbahn bei der Metropolitan Police hatte er gelernt, dass die dunkelsten Geheimnisse oft in den nebligsten Morgenstunden ans Licht kamen.
Sergeant Morrison wartete bereits an seinem Schreibtisch, eine dampfende Tasse Tee in der Hand und einen besorgten Ausdruck im Gesicht. Der junge Mann war erst seit einem Jahr Blackwoods Partner, aber er hatte sich bereits als scharfsinnig und zuverlässig erwiesen. Seine rötlichen Haare waren wie immer akkurat gescheitelt, und seine blauen Augen blickten aufmerksam, als er seinen Vorgesetzten bemerkte.
"Guten Morgen, Inspector", sagte Morrison und erhob sich respektvoll von seinem Stuhl. "Ich fürchte, wir haben eine ziemlich ungewöhnliche Angelegenheit."
Blackwood hängte seinen Mantel an den Haken neben der Tür und setzte sich hinter seinen Schreibtisch. Der Inspector war ein Mann von mittlerer Statur mit grau meliertem Haar und scharfen, dunklen Augen, die nichts zu übersehen schienen. Sein Gesicht war von Jahren der Polizeiarbeit geprägt - markante Züge, die Entschlossenheit und Erfahrung ausstrahlten.
"Was haben wir denn diesmal, Morrison?" fragte er und griff nach der Akte, die auf seinem Schreibtisch lag.
"Ein Mord in Ravenscroft Manor, Sir. Lord Reginald Ashworth wurde gestern Abend tot in seiner Bibliothek aufgefunden. Die örtliche Polizei von Essex hat uns um Unterstützung gebeten."
Blackwood öffnete die Akte und überflog die ersten Seiten. Ravenscroft Manor war ein imposantes viktorianisches Herrenhaus, etwa vierzig Meilen nordöstlich von London gelegen. Lord Ashworth war ein wohlhabender Industrieller gewesen, der seine Geschäfte hauptsächlich in den Kolonien betrieben hatte. Er war siebenundfünfzig Jahre alt geworden.
"Was wissen wir über die Umstände?" fragte Blackwood, während er die Fotografien des Tatorts betrachtete. Lord Ashworth lag vor seinem Schreibtisch auf dem Boden, ein Brieföffner aus Silber ragte aus seiner Brust. Blut hatte sich auf dem kostbaren persischen Teppich ausgebreitet.
Morrison konsultierte seine Notizen. "Lord Ashworth wurde um halb zehn Uhr abends von seinem Diener, einem gewissen James Whitmore, gefunden. Der Mann hatte geklopft, um seinem Herrn den üblichen Brandy zu bringen, aber keine Antwort erhalten. Als er die Bibliothek betrat, fand er Lord Ashworth bereits tot vor."
"Wer war noch im Haus?"
"Lady Margaret Ashworth, seine Frau, ihre Tochter Miss Elizabeth Ashworth, und Lord Ashworths Bruder, Mr. Charles Ashworth. Außerdem das Personal: der Butler Mr. Whitmore, die Haushälterin Mrs. Henderson, das Küchenmädchen Sarah und der Gärtner Old Tom."
Blackwood nickte nachdenklich. "Eine klassische Konstellation. Wann ist der nächste Zug nach Essex?"
"In einer halben Stunde, Sir. Ich habe bereits unsere Sachen gepackt."
Eine Stunde später saßen die beiden Männer in einem Abteil der Great Eastern Railway und beobachteten, wie die Londoner Vororte vorbeizogen und allmählich der englischen Landschaft Platz machten. Der Zug dampfte durch verschneite Felder und kleine Dörfer, deren Schornsteine dünne Rauchsäulen in den grauen Himmel sandten.
"Was denken Sie über den Fall, Morrison?" fragte Blackwood, während er seine Pfeife stopfte.
Der junge Sergeant zögerte einen Moment. "Es scheint ziemlich eindeutig zu sein, Sir. Ein Familienstreit, vielleicht um das Erbe. Der Brieföffner deutet auf einen spontanen Akt der Leidenschaft hin."
„Möglich“ stimmte Blackwood zu und entzündete seine Pfeife. "Aber in meiner Erfahrung sind die Dinge selten so einfach, wie sie erscheinen. Besonders nicht, wenn es um reiche Familien und große Erbschaften geht."
Der Zug hielt schließlich in dem kleinen Bahnhof von Ravenscroft Village, einem malerischen Dorf mit einer gotischen Kirche und einer Reihe von Cottages, die sich entlang der Hauptstraße reihten. Ein Constable der örtlichen Polizei wartete bereits auf dem Bahnsteig - ein großer, breitschultriger Mann mit einem freundlichen Gesicht und einem buschigen Schnurrbart.
"Inspector Blackwood? Ich bin Constable Davies. Willkommen in Ravenscroft."
Sie schüttelten sich die Hände, und Davies führte sie zu einem wartenden Wagen. "Ich muss sagen, Sir, wir sind froh über Ihre Hilfe. So etwas haben wir hier noch nie erlebt. Ravenscroft ist normalerweise ein sehr friedliches Dorf."
Während der kurzen Fahrt zum Herrenhaus erzählte Davies, was er über die Familie Ashworth wusste. Lord Reginald war vor etwa zehn Jahren aus Indien zurückgekehrt, wo er ein beträchtliches Vermögen in der Tee- und Gewürzbranche gemacht hatte. Er hatte das alte Ravenscroft Manor von einem verarmten Landadligen gekauft und es vollständig renoviert. Lady Margaret war seine zweite Frau - er hatte 1920 geheiratet, nachdem seine erste Frau bei der Geburt ihrer Tochter Elizabeth gestorben war.
"Und sein Bruder Charles?" fragte Blackwood.
"Ein merkwürdiger Mann, Sir. Sehr still und zurückgezogen. Er lebt seit etwa zwei Jahren im Herrenhaus, nachdem er sein eigenes Anwesen verloren hatte. Spielschulden, wie man hört."
Das Ravenscroft Manor erhob sich majestätisch vor ihnen, als der Wagen die gewundene Auffahrt hinaufrollte. Es war ein imposantes Gebäude aus rotem Backstein mit gotischen Türmen und Erkern, umgeben von weitläufigen Gärten und alten Eichen. Trotz seiner Schönheit lag etwas Düsteres über dem Anwesen, verstärkt durch den grauen Winterhimmel und die kahlen Äste der Bäume.
Der Butler, Mr. Whitmore, empfing sie an der Eingangstür. Er war ein Mann von etwa sechzig Jahren mit silbergrauem Haar und einem würdevollen Auftreten, aber Blackwood bemerkte die nervöse Anspannung in seinen Augen.
"Inspector Blackwood, nehme ich an? Ich bin James Whitmore. Lady Ashworth erwartet Sie im Salon."
Sie folgten ihm durch eine beeindruckende Eingangshalle mit einer breiten Treppe, die zu den oberen Stockwerken führte. Die Wände waren mit Jagdgemälden und Porträts ehemaliger Bewohner geschmückt, und ein großer Kronleuchter aus Kristall hing von der gewölbten Decke herab.
Lady Margaret Ashworth war eine attraktive Frau von etwa vierzig Jahren mit dunklem Haar und grünen Augen. Sie trug ein schwarzes Kleid und saß steif aufrecht in einem Samtsessel am Kamin. Neben ihr stand ein junges Mädchen von etwa zwanzig Jahren - Elizabeth Ashworth, die Tochter des Verstorbenen. Sie hatte die gleichen dunklen Haare wie ihr Vater und ein blasses, nervöses Gesicht.
"Inspector", sagte Lady Margaret mit gefasster Stimme, "vielen Dank, dass Sie so schnell gekommen sind. Diese schreckliche Angelegenheit... ich kann es immer noch nicht fassen."
Blackwood verbeugte sich leicht. "Lady Ashworth, Miss Ashworth. Mein Beileid zu Ihrem Verlust. Ich weiß, dass dies eine schwere Zeit für Sie ist, aber wir müssen einige Fragen stellen."
"Natürlich, Inspector. Alles, was hilft, den Mörder meines Mannes zu finden."
"Wo ist Mr. Charles Ashworth?"
"In seinem Zimmer", antwortete Lady Margaret. "Er war sehr mitgenommen von Reginalds Tod. Sie verstehen, die beiden Brüder standen sich sehr nahe."
Blackwood und Morrison tauschten einen Blick aus. "Wir würden gerne mit ihm sprechen, und danach möchten wir den Tatort besichtigen."
"Selbstverständlich. Mr. Whitmore wird Sie zu ihm bringen."
Charles Ashworth war ein schmächtiger Mann von etwa fünfzig Jahren mit nervösen Händen und einem hageren Gesicht. Sein Zimmer war spartanisch eingerichtet - ein starker Kontrast zu dem Luxus, der im Rest des Hauses herrschte. Er saß am Fenster und starrte in den Garten hinaus, als sie eintraten.
"Mr. Ashworth? Wir sind von Scotland Yard. Wir möchten Ihnen einige Fragen zu Ihrem Bruder stellen."
Charles wandte sich langsam um. Seine Augen waren gerötet, als hätte er geweint. "Reginald war alles, was ich hatte", sagte er mit leiser Stimme. "Wer würde ihm so etwas antun?"
"Das versuchen wir herauszufinden. Wann haben Sie Ihren Bruder zuletzt gesehen?"
"Gestern Abend beim Dinner. Wir speisten alle zusammen - die Familie und ich. Danach zog sich Reginald in die Bibliothek zurück, wie es seine Gewohnheit war."
"Wie war seine Stimmung?"
Charles zögerte einen Moment. "Er war... angespannt. Besorgt wegen etwas. Aber er wollte nicht darüber sprechen."
"Hatten Sie in letzter Zeit irgendwelche Meinungsverschiedenheiten mit ihm?"
"Nein, niemals. Reginald war großzügig zu mir, trotz meiner... finanziellen Schwierigkeiten. Er hat mir ein Dach über dem Kopf gegeben, als ich alles verloren hatte."
Blackwood notierte sich alles sorgfältig. "Wo waren Sie gestern Abend zwischen halb neun und halb zehn?"
"Hier in meinem Zimmer. Ich lese meist nach dem Dinner."
"Kann das jemand bestätigen?"
Charles schüttelte den Kopf. "Ich fürchte nicht. Ich war allein."
Nach dem Gespräch führte Whitmore sie zur Bibliothek. Es war ein prächtiger Raum mit hohen, bücherbedeckten Wänden und schweren Ledermöbeln. Der Schreibtisch aus dunklem Mahagoni stand vor einem großen Fenster, das auf die Gärten blickte. Die Kreidemarkierung auf dem Boden zeigte, wo Lord Ashworths Leichnam gefunden worden war.
Blackwood untersuchte den Raum sorgfältig. Der Brieföffner lag noch immer dort, wo er aus der Brust des Toten gezogen worden war - ein elegantes Stück aus Silber mit gravierten Initialen: R.A. Das Blut auf dem Teppich war bereits getrocknet und hatte eine dunkelbraune Farbe angenommen.
„Interessant“ murmelte er und kniete neben dem Schreibtisch nieder. "Morrison, schauen Sie sich das an."
Er zeigte auf eine kleine Delle im Holz der Schreibtischkante. "Das ist frisch. Sehen Sie, wie das Holz noch hell ist? Das ist erst kürzlich entstanden."
Morrison beugte sich vor. "Als würde jemand etwas dagegen geschlagen haben?"
"Genau. Oder als wäre jemand dagegen gefallen." Blackwood richtete sich auf und betrachtete das Fenster. "Die Vorhänge sind zugezogen. War das schon so, als der Leichnam gefunden wurde?"
"Ja, Sir", bestätigte Constable Davies. "Whitmore sagte, sie wären bereits zu gewesen, als er den Raum betrat."
Blackwood ging zum Schreibtisch und öffnete die Schubladen eine nach der anderen. Die meisten enthielten Geschäftspapiere und Korrespondenz, aber in der untersten Schublade fand er etwas Ungewöhnliches: einen Revolver und eine Schachtel Patronen.
"Lord Ashworth war bewaffnet", stellte er fest. "Warum hat er die Waffe nicht benutzt?"
"Vielleicht wurde er überrascht?" schlug Morrison vor.
"Möglich. Aber schauen Sie sich die Position der Leiche an. Er lag mit dem Gesicht zum Schreibtisch hin. Als wäre er dort gesessen und dann aufgestanden, bevor er angegriffen wurde."
Sie untersuchten den Rest des Raums, fanden aber keine weiteren offensichtlichen Hinweise. Die Bibliothek hatte zwei Eingänge: den Haupteingang zum Flur und eine Verbindungstür zum Billardzimmer nebenan. Beide Türen zeigten keine Zeichen eines gewaltsamen Eindringens.
"Wer hatte Zugang zu diesem Raum?" fragte Blackwood.
"Jeder im Haus, Sir", antwortete Whitmore. "Lord Ashworth verschloss die Bibliothek nie."
"Und der Brieföffner?"
"Er lag normalerweise hier auf dem Schreibtisch. Lord Ashworth benutzte ihn täglich für seine Korrespondenz."
Das bedeutete, dass der Mörder die Tatwaffe nicht mitgebracht hatte, sondern sie spontan vom Schreibtisch genommen haben musste. Es stützte Morrisons Theorie von einem spontanen Verbrechen, aber Blackwood blieb skeptisch.
Als nächstes befragten sie das Personal. Mrs. Henderson, die Haushälterin, war eine robuste Frau von etwa fünfzig Jahren mit grauem Haar und einem direkten Blick. Sie hatte Lord Ashworth seit seiner Rückkehr aus Indien gedient und schien ihm sehr ergeben gewesen zu sein.
"Er war ein guter Herr", sagte sie mit tränenerstickter Stimme. "Immer höflich und großzügig. Wer könnte ihm so etwas antun?"
"Hatten Sie bemerkt, dass er in letzter Zeit besorgt oder ängstlich war?"
"Nun, in den letzten Wochen war er schon etwas... unruhig. Er bekam oft Post, die ihn zu beunruhigen schien. Briefe aus London."
"Was für Briefe?"
"Das weiß ich nicht, Sir. Er öffnete sie immer selbst und sprach nie darüber."
Sarah, das Küchenmädchen, war ein schüchternes Mädchen von etwa siebzehn Jahren. Sie konnte wenig Nützliches beitragen, bestätigte aber, dass Lord Ashworth in letzter Zeit oft schlecht gelaunt gewesen war.
Der Gärtner, Old Tom, war ein wettergegerbter Mann von etwa siebzig Jahren, der schon seit Jahrzehnten auf dem Anwesen arbeitete. Er war am Vorabend früh zu Bett gegangen und hatte nichts Ungewöhnliches bemerkt.
"Aber ich kann Ihnen eines sagen, Inspector", fügte er hinzu und senkte die Stimme. "In letzter Zeit waren hier merkwürdige Leute. Fremde, die um das Anwesen geschlichen sind."
"Was für Fremde?"
"Kann nicht genau sagen. Habe sie nur in der Ferne gesehen. Aber sie gehörten nicht hierher, das kann ich Ihnen versichern."
Am späten Nachmittag kehrten Blackwood und Morrison nach London zurück. Der Inspector schwieg die meiste Zeit der Fahrt über und starrte nachdenklich aus dem Fenster. Erst als sie die Vororte von London erreichten, brach er sein Schweigen.
"Was denken Sie, Morrison? Haben wir es mit einem Familiendrama zu tun?"
Morrison blätterte in seinen Notizen. "Es sieht so aus, Sir. Charles Ashworth ist verschuldet und von der Großzügigkeit seines Bruders abhängig. Lady Margaret ist die zweite Frau und könnte Angst vor einer Scheidung gehabt haben. Und Elizabeth... nun, junge Frauen können unberechenbar sein, besonders wenn es um Geld geht."
"Und doch", murmelte Blackwood, "gibt es Dinge, die nicht zusammenpassen. Die mysteriösen Briefe aus London. Die Fremden, die Old Tom gesehen hat. Und warum hat Lord Ashworth seinen Revolver nicht benutzt, wenn er Gefahr witterte?"
"Vielleicht kannte er seinen Angreifer?"
"Das ist durchaus möglich. Aber ich habe das Gefühl, dass wir nur die Oberfläche dieses Falls gesehen haben."
Zurück in seinem Büro in Scotland Yard arbeitete Blackwood bis spät in die Nacht. Er studierte die Akten über Lord Ashworths Geschäfte und fand heraus, dass der Mann nicht nur in Tee und Gewürzen gehandelt hatte. Es gab Hinweise auf andere, dunklere Geschäfte - Waffenhandel, möglicherweise sogar Opiumschmuggel.
Die Gaslampe auf seinem Schreibtisch flackerte, als er die letzten Dokumente durchsah. Lord Ashworth hatte Verbindungen zu einigen zweifelhaften Geschäftsleuten in den Docks von London gehabt. Namen, die Blackwood aus anderen Fällen kannte - Männer, die nicht davor zurückschreckten, Gewalt anzuwenden, um ihre Interessen zu schützen.
Am nächsten Morgen erhielt er einen Telefonanruf, der alles veränderte. Es war Constable Davies aus Ravenscroft.
"Inspector", sagte die kratzige Stimme durch das Telefon, "wir haben eine weitere Leiche gefunden. Charles Ashworth ist tot."
Kapitel 2 - Gift und Geheimnisse
Der zweite Besuch in Ravenscroft Manor war noch düsterer als der erste. Ein kalter Februarwind peitschte über die kahlen Felder, und der Himmel hatte die Farbe von altem Zinn angenommen. Als Blackwood und Morrison aus dem Zug stiegen, wartete Constable Davies bereits auf sie, sein Gesicht bleich vor Schock.
"Es ist schrecklich, Inspector", sagte er, während sie in den Wagen stiegen. "Wir haben ihn heute Morgen gefunden, tot in seinem Bett. Vergiftet, würde ich sagen."
"Vergiftet?" Blackwood runzelte die Stirn. "Sind Sie sicher?"
"Ziemlich sicher, Sir. Es roch nach bitteren Mandeln in seinem Zimmer. Und sein Gesicht... er muss schrecklich gelitten haben."
Blausäure, dachte Blackwood. Eine der tückischsten und schnellsten Gifte, die es gab. Der charakteristische Geruch nach bitteren Mandeln war unverkennbar, obwohl nicht jeder ihn riechen konnte - eine merkwürdige Laune der Natur. Wer immer Charles Ashworth getötet hatte, kannte sich mit Chemie aus.
"Wer hat ihn gefunden?"
"Mrs. Henderson. Sie brachte ihm wie jeden Morgen um sieben Uhr seinen Tee. Als er nicht auf ihr Klopfen antwortete, ging sie hinein und fand ihn tot in seinem Bett."
Die Fahrt zum Manor verlief schweigend. Blackwood starrte aus dem Fenster auf die vorbeiziehende Landschaft und dachte über die Bedeutung dieses zweiten Todes nach. Zwei Brüder, beide innerhalb von zwei Tagen ermordet - das war kein Zufall. Jemand wollte die Ashworth-Linie auslöschen, aber warum?
Am Herrenhaus herrschte eine Atmosphäre der Panik. Lady Margaret saß im Salon, umgeben von ihrer Stieftochter Elizabeth und dem Butler Whitmore. Alle drei sahen aus, als hätten sie die Nacht nicht geschlafen. Lady Margaret trug wieder Schwarz, aber diesmal war ihr Gesicht aschfahl, und ihre Hände zitterten, als sie eine Tasse Tee hielt.
"Inspector", sagte sie mit zitternder Stimme, "was geschieht hier? Erst mein Mann, und jetzt Charles... Sind wir alle in Gefahr?"
"Das versuche ich herauszufinden, Lady Margaret." Blackwood setzte sich ihr gegenüber und betrachtete sie aufmerksam. "Hat Mr. Charles gestern Abend etwas Ungewöhnliches zu sich genommen? Etwas, das die anderen nicht hatten?"
"Nun", sie überlegte angestrengt, "er trank immer warme Milch vor dem Schlafengehen. Mrs. Henderson bereitete sie ihm jeden Abend zu. Es war eine alte Gewohnheit von ihm."
"Sonst niemand?"
"Nein, nur Charles. Er sagte, es helfe ihm beim Schlafen."
Elizabeth Ashworth hatte die ganze Zeit schweigend dagesessen, aber jetzt hob sie den Kopf. "Er war gestern Abend sehr aufgewühlt", sagte sie leise. "Nach dem Dinner kam er zu mir und sagte merkwürdige Dinge."
"Was für Dinge?"
"Er sprach davon, dass Papa nicht der Mann gewesen sei, für den wir ihn gehalten haben. Er sagte, er hätte Geheimnisse gehabt, dunkle Geheimnisse aus seiner Zeit in Indien."
Blackwood und Morrison tauschten einen bedeutungsvollen Blick aus. "Hat er Einzelheiten erwähnt?"
"Nicht wirklich. Aber er schien Angst zu haben. Er fragte mich, ob Papa jemals mit mir über seine Geschäfte gesprochen hätte, über bestimmte Leute, die er kannte."
"Welche Leute?"
Elizabeth schüttelte den Kopf. "Das hat er nicht gesagt. Aber er wirkte so... so verzweifelt. Als wüsste er etwas Schreckliches."
"Ich möchte mit Mrs. Henderson sprechen, und dann das Zimmer des Verstorbenen besichtigen."
Die Haushälterin war sichtlich aufgewühlt. Ihre normalerweise so ordentliche Erscheinung war zerzaust, und ihre Augen waren rot vom Weinen. Sie führte sie die breite Treppe hinauf zu Charles' Zimmer im ersten Stock.
"Ich kann es einfach nicht verstehen", schluchzte sie. "Wer würde dem armen Mr. Charles etwas antun? Er war so ein harmloser Mann, so sanftmütig."
"Erzählen Sie mir von der warmen Milch", sagte Blackwood sanft.
"Nun, jeden Abend um neun Uhr bereitete ich sie zu. Mit einem Löffel Honig, so wie er es gerne hatte. Ich brachte sie ihm immer persönlich."
"War gestern Abend etwas anders?"
Mrs. Henderson überlegte angestrengt. "Nein, alles war wie immer. Ich kochte die Milch in der Küche, gab den Honig dazu und brachte sie ihm auf einem Tablett. Er bedankte sich wie immer und wünschte mir eine gute Nacht."
"Haben Sie das Glas und das Tablett heute Morgen gesehen?"
"Das Glas stand leer auf seinem Nachttisch. Das Tablett auch. Ich... ich habe sie nicht angerührt, nachdem ich ihn gefunden hatte."
Charles Ashworths Zimmer war klein und spartanisch eingerichtet. Ein schmales Bett, ein einfacher Kleiderschrank, ein kleiner Schreibtisch am Fenster und ein Stuhl. Es war das Zimmer eines Mannes, der seinen Stolz verloren und sich mit dem Nötigsten zufriedengegeben hatte.
Der Geruch nach bitteren Mandeln war immer noch schwach wahrnehmbar, obwohl die Fenster geöffnet worden waren. Charles lag noch immer in seinem Bett, die Decke bis zum Kinn hochgezogen, aber sein Gesicht war verzerrt von den Qualen seines letzten Augenblicks. Seine Lippen waren blau verfärbt, und seine Augen starrten weit aufgerissen an die Decke.
"Blausäure", bestätigte Blackwood. "Schnell und tödlich. Wer immer das getan hat, wollte sicherstellen, dass Mr. Charles keine Gelegenheit hatte, um Hilfe zu rufen."
Morrison untersuchte das leere Milchglas auf dem Nachttisch. "Sehen Sie das, Sir?" Er zeigte auf einen feinen, weißlichen Bodensatz am Boden des Glases. "Das ist nicht normal für warme Milch."
"Sehr gut beobachtet." Blackwood nahm das Glas vorsichtig hoch und roch daran. Der schwache Mandelgeruch war noch immer vorhanden. "Das Gift wurde in die Milch gemischt. Die Frage ist: wann?"
Sie durchsuchten systematisch das Zimmer. In der Schublade des Schreibtisches fanden sie ein Notizbuch mit Charles' persönlichen Aufzeichnungen. Die meisten Einträge waren alltäglicher Natur - Gedanken über das Wetter, Erinnerungen an bessere Zeiten, gelegentliche Klagen über seine finanzielle Lage.
Aber der letzte Eintrag, datiert auf den Vortag, war anders:
"R. ist tot, und ich glaube, ich weiß warum. Die Briefe, die er in letzter Zeit erhalten hat - sie kamen von IHNEN. Sie haben ihn gefunden, nach all den Jahren. Gott vergebe uns beiden für das, was wir in Kalkutta getan haben. Ich muss mit E. sprechen. Sie hat ein Recht darauf, die Wahrheit zu erfahren, bevor auch ich sterbe. Denn ich werde sterben - das weiß ich so sicher, wie die Sonne morgen aufgehen wird."
"Kalkutta", murmelte Morrison. "Was könnte dort geschehen sein?"
"Etwas, das wichtig genug war, um zwei Morde zu rechtfertigen", antwortete Blackwood grimm. "Wir müssen mehr über Lord Ashworths Zeit in Indien herausfinden."
Sie gingen hinunter in die Küche, um mit dem Personal zu sprechen. Die Küche war ein großer, warmer Raum mit einem massiven Herd aus Gusseisen und kupfernen Töpfen, die an den Wänden hingen. Sarah, das Küchenmädchen, stand am Spülbecken und weinte leise vor sich hin.
"Miss Sarah", sagte Blackwood sanft, "ich weiß, das ist schwer für Sie, aber wir müssen über gestern Abend sprechen."
Das junge Mädchen drehte sich um, ihre Augen rot und geschwollen. "Es ist alles meine Schuld", schluchzte sie. "Ich hätte aufpassen sollen."
"Was meinen Sie damit?"
"Nun, normalerweise helfe ich Mrs. Henderson bei der warmen Milch für Mr. Charles. Aber gestern Abend hatte ich Kopfschmerzen und ging früh zu Bett. Mrs. Henderson sagte, sie würde es allein machen."
"Das ist nicht Ihre Schuld", versicherte Blackwood ihr. "Erzählen Sie mir, wer hatte alles Zugang zur Küche gestern Abend?"
Sarah überlegte. "Nun, nach dem Dinner war ich hier und spülte das Geschirr. Mrs. Henderson kam gegen neun, um die Milch zu machen. Mr. Whitmore schaute kurz herein, um zu fragen, ob alles in Ordnung sei. Und..."
Sie zögerte.
"Ja?"
"Miss Elizabeth kam auch kurz vorbei. Sie sagte, sie wolle sich ein Glas Wasser holen."
Morrison notierte sich alles sorgfältig. "Sonst noch jemand?"
"Lady Margaret schaute gegen halb zehn herein. Sie fragte, ob ich ihre Schlafmittel gesehen hätte. Sie nimmt jeden Abend welche, wissen Sie."
"Schlafmittel?" Blackwood horchte auf. "Was für welche?"
"Kleine weiße Pulver in Papiertütchen. Der Doktor hat sie ihr verschrieben, weil sie seit Lord Ashworths Tod so schlecht schläft."
Blackwood und Morrison verließen die Küche und gingen in den Garten, um unter vier Augen sprechen zu können. Der Wind hatte sich gelegt, aber die Luft war immer noch bitterkalt. Alte Rosenbeete lagen unter einer dünnen Schneeschicht, und die kahlen Äste der Obstbäume knisterten im schwachen Sonnenlicht.
"Was denken Sie, Morrison? Wer hatte die Gelegenheit, das Gift in die Milch zu mischen?"
"Theoretisch jeder, der gestern Abend in der Küche war", antwortete Morrison und konsultierte seine Notizen. "Mrs. Henderson, die die Milch zubereitet hat. Sarah, obwohl sie früh zu Bett gegangen ist. Mr. Whitmore, Miss Elizabeth und Lady Margaret - alle waren zu verschiedenen Zeiten in der Küche."
"Aber wer hatte Zugang zu Blausäure?"
"Das ist die entscheidende Frage. Es ist nicht gerade etwas, das man in jedem Haushalt findet."
Sie gingen zurück ins Haus und befragten den Rest des Personals. Old Tom, der Gärtner, war am interessantesten. Er erzählte ihnen von einem Schuppen hinter dem Gewächshaus, wo verschiedene Chemikalien für die Gartenarbeit aufbewahrt wurden.
"Auch Blausäure?" fragte Blackwood.
"Aye, Sir. Für die Schädlingsbekämpfung. Aber der Schuppen ist immer verschlossen. Nur ich und Mr. Whitmore haben einen Schlüssel."
Sie untersuchten den Schuppen und fanden tatsächlich eine Flasche mit Blausäure - aber sie war angebrochen. Jemand hatte einen Teil des Inhalts verwendet.
"Wann haben Sie die Flasche zuletzt benutzt?" fragte Blackwood.
Old Tom kratzte sich am Kopf. "Das ist schon Wochen her, Sir. Im Winter gibt es nicht viel Ungeziefer."
"Haben Sie bemerkt, dass jemand am Schuppen war?"
"Nein, Sir. Aber der Schnee um den Schuppen herum ist ziemlich zerstampft. Könnte von gestern oder vorgestern sein."
Sie kehrten ins Haus zurück, und Blackwood beschloss, ein ernsteres Gespräch mit Lady Margaret zu führen. Er fand sie im Salon, wo sie mit starrem Blick in das Kaminfeuer starrte.
"Lady Margaret, ich muss Ihnen einige direkte Fragen stellen."
Sie blickte auf, und er sah Angst in ihren grünen Augen. "Natürlich, Inspector."
"Wussten Sie von den dunklen Geheimnissen Ihres Mannes?"
Sie zögerte einen langen Moment. "Ich wusste, dass Reginald nicht immer... vollkommen ehrlich über seine Geschäfte war. Aber ich stellte keine Fragen. Es war besser so."
"Charles erwähnte Kalkutta. Was geschah dort?"
"Ich weiß es nicht genau." Ihre Stimme wurde zu einem Flüstern. "Aber ich weiß, dass etwas Schreckliches passiert sein muss. Manchmal wachte Reginald nachts schweißgebadet auf und schrie Namen, die ich nicht kannte."
"Welche Namen?"
"Rajesh... und Priya. Ich fragte ihn einmal danach, aber er sagte nur, es seien Geister aus der Vergangenheit."
"Sie erwähnten Schlafmittel. Können Sie mir die zeigen?"
Lady Margaret führte sie in ihr Schlafzimmer im ersten Stock. Es war ein eleganter Raum mit schweren Samtvorhängen und antiken Möbeln. Auf ihrem Nachttisch stand eine kleine Schachtel mit weißen Pulvertütchen.
Blackwood untersuchte sie sorgfältig. "Wer hat Ihnen diese verschrieben?"
"Dr. Pemberton aus dem Dorf. Ich habe sie seit einigen Monaten."
"Wusste jemand im Haus davon?"
"Nun, das Personal natürlich. Und Charles... er litt auch unter Schlaflosigkeit. Ich habe ihm gelegentlich eines gegeben."
Morrison hob eine Augenbraue. "Wann zuletzt?"
"Vor etwa einer Woche. Er sagte, er könne nachts nicht schlafen, weil er sich so viele Sorgen machte."
Als sie das Schlafzimmer verließen, hörten sie Schritte auf der Treppe. Elizabeth Ashworth kam nach oben, ihre Wangen waren gerötet von der kalten Luft, und sie trug einen schweren Wollmantel.
"Miss Ashworth", sagte Blackwood, "waren Sie spazieren?"
"Ja", antwortete sie und zog ihren Mantel aus. "Ich brauchte frische Luft nach allem, was geschehen ist. Ich war am Dorfteich."
"Allein?"
"Ja, allein." Sie zögerte einen Moment. "Inspector, darf ich Sie etwas fragen?"
"Natürlich."
"Glauben Sie, dass derjenige, der Papa und Onkel Charles getötet hat, auch hinter mir her ist?"
Es war eine berechtigte Frage. "Ich weiß es nicht, Miss Ashworth. Aber bis wir den Mörder gefasst haben, sollten Sie vorsichtig sein. Gehen Sie nicht allein aus dem Haus, und vertrauen Sie niemandem vollständig."
Am späten Nachmittag führte Blackwood ein Gespräch mit Mr. Whitmore in dessen kleinem Büro neben der Küche. Der Butler war ein ordentlicher Mann, und sein Büro spiegelte das wider - alles war peinlich sauber und an seinem Platz.
"Mr. Whitmore, Sie haben beiden Opfern sehr nahegestanden. Hatten Sie eine Ahnung, dass sie in Gefahr waren?"
Whitmore seufzte tief. "In den letzten Wochen war die Atmosphäre im Haus sehr angespannt, Sir. Lord Ashworth war oft schlecht gelaunt, und Mr. Charles wirkte verängstigt. Aber ich hätte nie gedacht, dass es zu so etwas kommen würde."
"Sie haben Zugang zu allen Räumen im Haus, einschließlich des Schuppens mit den Chemikalien."
"Das stimmt, Sir. Aber ich habe keinen Grund, jemandem zu schaden. Diese Familie hat mir zwanzig Jahre lang Arbeit gegeben."
"Haben Sie die mysteriösen Briefe gesehen, die Lord Ashworth erhalten hat?"
Whitmore nickte. "Ja, Sir. Sie kamen etwa einmal pro Woche, immer mit der Londoner Post. Braune Umschläge ohne Absender. Lord Ashworth wurde immer sehr aufgeregt, wenn sie ankamen."
"Haben Sie gesehen, was drinstand?"
"Nein, Sir. Er öffnete sie immer privat in seiner Bibliothek."
"Wo sind sie jetzt?"
"Das weiß ich nicht. Wahrscheinlich hat er sie verbrannt. Er verbrannte viele Papiere in letzter Zeit."
Das war ein wichtiger Hinweis. Blackwood beschloss, die Bibliothek noch einmal gründlich zu durchsuchen. Vielleicht hatte Lord Ashworth nicht alle Beweise vernichtet.
In der Bibliothek untersuchten sie den Kamin sorgfältig. In der Asche fanden sie tatsächlich Reste verbrannter Briefe. Die meisten waren zu stark beschädigt, um lesbar zu sein, aber Morrison fand ein Fragment mit ein paar lesbaren Wörtern:
"...wissen, was Sie in Kalkutta getan haben... Rajesh und Priya... Gerechtigkeit... zahlen werden..."
"Erpressung", stellte Blackwood fest. "Jemand hat Lord Ashworth wegen etwas aus seiner Vergangenheit erpresst."
"Aber warum ihn dann umbringen? Tote können nicht zahlen."
"Vielleicht ging es nicht ums Geld. Vielleicht ging es um Rache."
Sie durchsuchten weiter und fanden in einem versteckten Fach des Schreibtisches einen kleinen Schlüssel. Er passte zu einer Schatulle, die sie in Lord Ashworths Schlafzimmer fanden. Darin waren Fotografien - alte Bilder aus Indien.
Eine Fotografie zeigte Lord Ashworth als jungen Mann neben Charles, beide in Kolonialkleidung. Im Hintergrund standen zwei Inder - ein Mann und eine junge Frau. Auf der Rückseite stand in verblasster Tinte: "Reginald, Charles, Rajesh und Priya - Kalkutta 1901."
"Das sind sie", sagte Morrison. "Die Namen, die Lady Margaret erwähnt hat."
"Aber was ist mit ihnen geschehen?"
Die Antwort fanden sie in einem versiegelten Brief, der ganz unten in der Schatulle lag. Er war an "Meine liebe Elizabeth" adressiert und mit Lord Ashworths Handschrift geschrieben:
"Meine Tochter, wenn Du das liest, bin ich wahrscheinlich tot. Es gibt Dinge aus meiner Vergangenheit, die Dich verfolgen könnten, und Du sollst die Wahrheit kennen. In Kalkutta, vor über zwanzig Jahren, habe ich etwas Schreckliches getan. Rajesh war mein Geschäftspartner und Freund. Priya war seine Schwester. Aber ich war jung und gierig, und als sich die Gelegenheit bot, das ganze Geschäft zu übernehmen, habe ich sie beide... Gott vergebe mir, ich habe sie betrogen und ins Verderben gestürzt. Rajesh starb in Armut, und Priya... sie nahm sich das Leben. Charles wusste davon und hat all die Jahre geschwiegen, aber wir beide tragen die Schuld. Jemand ist hinter der Wahrheit her. Wenn mir etwas zustößt, geh zur Polizei. Vertraue niemandem in diesem Haus vollständig. In Liebe, Dein Vater."
"Das erklärt einiges", sagte Blackwood nachdenklich. "Aber wer ist der Rächer? Ein Verwandter von Rajesh und Priya?"
"Es muss jemand sein, der Zugang zum Haus hat", fügte Morrison hinzu. "Jemand, der als Familienmitglied oder Personal getarnt ist."
Als die Sonne unterging, versammelten sich alle Hausbewohner im großen Salon. Blackwood hatte darum gebeten, und obwohl die Atmosphäre gespannt war, waren alle erschienen. Lady Margaret saß steif in ihrem Sessel, Elizabeth neben ihr auf einem kleineren Stuhl. Whitmore stand respektvoll an der Wand, Mrs. Henderson neben ihm. Sarah hatte sich in eine Ecke gedrückt, und Old Tom drehte seine Mütze nervös in den Händen.
"Ich habe Sie alle zusammengerufen", begann Blackwood, "weil dieser Fall komplizierter ist, als er anfangs schien. Wir haben es nicht nur mit zwei Morden zu tun, sondern mit einer Rache, die ihre Wurzeln in Ereignissen hat, die vor über zwanzig Jahren in Indien stattfanden."
Er erzählte ihnen von dem Brief und den Fotografien, von Rajesh und Priya, von Lord Ashworths Schuld und Charles' Mitwissen. Alle hörten schweigend zu, aber Blackwood beobachtete ihre Gesichter sorgfältig. Einer von ihnen musste lügen.
"Die Frage ist", fuhr er fort, "wer von Ihnen ist hier unter falschen Voraussetzungen? Wer von Ihnen ist nicht der, für den er sich ausgibt?"
Die Stille war erdrückend. Dann, plötzlich, begann Mrs. Henderson zu lachen - ein bitteres, hartes Lachen, das durch den Raum hallte.
"So schlau, Inspector", sagte sie und richtete sich zu ihrer vollen Größe auf. "Aber nicht schlau genug."
In ihren Augen lag jetzt etwas Wildes, Gefährliches. "Sie haben recht - ich bin nicht die, für die ich mich ausgebe. Mein richtiger Name ist Kamala Devi. Rajesh war mein Bruder, Priya meine Schwester."
Elizabeth keuchte auf, und Lady Margaret wurde bleich. Whitmore machte einen Schritt rückwärts, als hätte er eine Schlange vor sich.
"Sie haben Jahre gebraucht, um die Ashworth-Brüder zu finden", fuhr Mrs. Henderson - oder Kamala - fort. "Aber Geduld ist eine indische Tugend. Ich habe gewartet, geplant, mich in ihr Leben eingeschlichen. Und dann, als die Zeit reif war, habe ich Gerechtigkeit geübt."
"Sie haben die Erpresserbriefe geschrieben", stellte Blackwood fest.
"Natürlich. Ich wollte, dass sie leiden, dass sie Angst haben, wie meine Geschwister gelitten haben." Ihre Stimme wurde zu einem Flüstern. "Aber das war nicht genug. Sie mussten sterben."
Morrison machte einen Schritt auf sie zu, aber Kamala zog plötzlich einen kleinen Revolver aus ihrer Schürze.
"Bleiben Sie stehen!", befahl sie. "Ich bin noch nicht fertig."
"Es ist vorbei", sagte Blackwood ruhig. "Sie haben Ihre Rache bekommen. Geben Sie die Waffe auf."
"Nein", antwortete sie und richtete den Revolver auf Elizabeth. "Es gibt noch eine Schuld zu begleichen. Sie ist die Erbin des Blutgeldes. Sie muss auch bezahlen."
"Lassen Sie das Mädchen in Ruhe", sagte Blackwood scharf. "Sie trägt keine Schuld an den Taten ihres Vaters."
"Die Sünden der Väter...", begann Kamala, aber sie kam nicht dazu, den Satz zu beenden. Whitmore hatte sich lautlos hinter sie geschlichen und schlug ihr die Waffe aus der Hand. Sie fiel zu Boden, und Morrison war sofort bei ihr, um ihr Handschellen anzulegen.
"Es ist vorbei", sagte Blackwood, während Elizabeth in den Armen ihrer Stiefmutter weinte. "Die Toten können endlich ruhen."
Aber auch als Kamala Devi abgeführt wurde, blieb ein Gefühl der Unruhe. Zu viele Fragen waren noch unbeantwortet, zu viele lose Enden ungeklärt. Blackwood hatte das Gefühl, dass die Geschichte von Ravenscroft Manor noch nicht zu Ende erzählt war.
Draußen begann es zu schneien, und die großen Flocken legten sich wie ein Leichentuch über das düstere Herrenhaus.
Kapitel 3 - Zweifel und neue Spuren
Die Fahrt zurück nach London verlief zunächst schweigend. Kamala Devi saß in Handschellen zwischen Morrison und einem uniformierten Constable, ihr Gesicht war eine Maske aus Trotz und Erschöpfung. Blackwood starrte aus dem Zugfenster auf die vorbeiziehende Landschaft und kämpfte mit einem Gefühl des Unbehagens, das ihn seit der Verhaftung nicht mehr losließ.
"Ein sauberer Fall", sagte Morrison schließlich und brach das Schweigen. "Rache, Mord und Gerechtigkeit. Alles passt zusammen."
"Zu sauber", murmelte Blackwood. "Manchmal ist das Leben nicht so ordentlich, Morrison."
Der junge Sergeant runzelte die Stirn. "Was meinen Sie, Sir?"
"Es gibt zu viele Zufälle. Kamala Devi arbeitet jahrelang als Haushälterin für die Familie, die sie vernichten will, und wartet geduldig auf den richtigen Moment? Warum hat sie so lange gewartet? Und warum hat sie sich uns so bereitwillig gestellt?"
Morrison überlegte einen Moment. "Vielleicht wollte sie erwischt werden. Nach Jahren der Planung war sie müde geworden."
„Möglich“ stimmte Blackwood zu, aber seine Zweifel blieben. Es gab etwas an dem ganzen Fall, das nicht stimmte, etwas, das er noch nicht greifen konnte.
Im Scotland Yard wurde Kamala Devi in eine Zelle gebracht. Blackwood beschloss, sie am nächsten Morgen ausführlich zu verhören. Zunächst wollte er mehr über ihre Vergangenheit herausfinden.