Der Schattensammler - Gerd Ruebenstrunk - E-Book

Der Schattensammler E-Book

Gerd Ruebenstrunk

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Beschreibung

Irgendetwas stimmt nicht mit dem Jahrmarkt, der vor Kurzem in die Stadt gekommen ist. Seit der ominöse Geheimrat Rostow mit seiner Truppe die Zelte aufgeschlagen hat, liegt ein dunkler Schatten über den Straßen – so empfindet es zumindest Jos, der 14jährige Uhrmacherlehrling. Als nach und nach immer mehr Menschen aus der Stadt verschwinden, scheint sich seine düstere Vorahnung auf schreckliche Weise zu betätigen. Doch was steckt wirklich hinter dem merkwürdigen Jahrmarkt und seinen makabren Attraktionen? Und haben die Gebrüder Parfanti, die so lebensecht Geschichten erzählen können, dass die begeisterten Zuhörer sich wie in einer anderen Welt fühlen, etwas mit den merkwürdigen Ereignissen zu tun? Gemeinsam mit der gleichaltrigen Lena versucht Jos dem Geheimnis auf die Spur zu kommen – und riskiert dabei mehr als nur seinen Schatten …

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Gerd Ruebenstrunk

Vollständige eBook-Ausgabe der Hardcoverausgabe

© 2014 bloomoon, ein Imprint der arsEdition GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten

Text: Gerd Ruebenstrunk

Lektorat: Sabine Franz

Covergestaltung: © Inkcraft, Isabelle Hirtz, München

Umsetzung eBook: Zeilenwert GmbH

ISBN eBook 978 - 3-8458 - 0894-9

ISBN Printausgabe 978 - 3-8458 - 0417-0

www.bloomoon-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Sei vorsichtig, wenn dir jemand eine Geschichte erzählen will.

Es könnte deine eigene sein…

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Motto

Prolog

~ Kapitel 1 ~ Schatten auf der Stadt

~ Kapitel 2 ~ Geheimnisvolles Verschwinden

~ Kapitel 3 ~ Die Gebrüder Parfanti

~ Kapitel 4 ~ Ertappt

~ Kapitel 5 ~ Der Spiegelschatten

~ Kapitel 6 ~ Jottweh

~ Kapitel 7 ~ Im Archiv

~ Kapitel 8 ~ Eine fremde Welt

~ Kapitel 9 ~ Der zweite Auftrag

~ Kapitel 10 ~ Energit

~ Kapitel 11 ~ Das Geheimnis der Schatten

~ Kapitel 12 ~ Verurteilt

~ Kapitel 13 ~ Chaos

~ Kapitel 14 ~ Der freie Schatten

Epilog

Danksagung

PROLOG

Nie werde ich jene Nacht vergessen, in der Rostows Jahrmarkt in die Stadt kam.

Es war ein magischer September.

Der Sommer sträubte sich mit aller Macht dagegen, vor dem Herbst zurückzuweichen, und wenn er auch das Vordringen der Dunkelheit nicht aufhalten konnte, so gab er doch sein Bestes. Die Sonne entfaltete bereits früh am Morgen ihre Kraft und erwärmte das Land bis zur Abenddämmerung. Und die Natur zeigte ebenfalls keinerlei Anzeichen einer Vorbereitung auf den Winter. Die Bäume standen in voller Pracht, überall blühte es noch und man konnte in jedem Lufthauch den blumigen Duft des Sommers wahrnehmen.

Ich war damals vierzehn Jahre alt und bewohnte ein kleines Zimmer im Haus von Meister Bucher, in dessen Werkstatt ich arbeitete. Mein Raum lag im zweiten Stockwerk des Gebäudes, gleich unter dem Dachboden. Er bot gerade einmal genug Platz für ein schmales Bett, eine niedrige Kommode, in der sich alle meine Habseligkeiten befanden, sowie für einen Tisch und einen klapprigen Stuhl.

Viel mehr benötigte ich auch nicht, denn zwölf Stunden des Tages verbrachte ich in der Werkstatt, und wenn ich nach dem Abendbrot, das ich gemeinsam mit Bucher und seiner Frau einnahm, die Treppen zu meinem Zimmer emporgeklettert war, fiel ich meistens sofort erschöpft ins Bett.

Das Leben in der Stadt war hart zu jener Zeit, und ich war froh, einen sicheren Arbeitsplatz und ein Dach über dem Kopf zu haben. Nach dem Tod meines Vaters waren meine Mutter, meine vier Schwestern und ich zur Familie unseres Onkels gezogen, der einen kleinen Bauernhof bewirtschaftete. Es gab weder genügend Platz noch genügend Arbeit für alle. Da ich der Älteste war, wurde ich zu einem entfernten Verwandten meiner Mutter in die Stadt geschickt, um dort eine Ausbildung zu machen.

Viele Jungen, die wie ich vom Land in die Stadt gekommen waren, hatten jedoch weniger Glück als ich und waren dazu gezwungen, ihr Dasein auf einer Parkbank zu fristen. Sie verbrachten ihre Tage mit Betteln und ihre Nächte mit Frieren, immer gejagt von der Polizei und den Beamten des Jugendbüros. Wenn man sie erwischte und sie keine Arbeitsstelle oder einen festen Wohnsitz nachweisen konnten, wurden sie in eines der zahlreichen Arbeitshäuser am Stadtrand gesperrt. Dort mussten sie sieben Tage in der Woche von früh bis spät die härtesten Arbeiten verrichten, die man sich vorstellen kann: Steine klopfen, Gräben ausheben, Baumstämme zersägen, Bahnschienen verlegen. Ihr Lohn dafür waren wässrige Suppen, altes Brot, verkochte Kartoffeln und ab und zu ein zähes Stück Fleisch. Wer diese Plackerei drei Monate durchgehalten hatte, wurde zur Belohnung in einen Zug gesteckt, der frühestens nach vier Stunden zum ersten Mal anhielt, mit der Ermahnung, sich nie wieder in der Stadt blicken zu lassen.

Aber ich wollte vom Jahrmarkt erzählen.

Und wie alles begann.

Und weil der Junge, dem diese Geschichte widerfuhr, ein ganz anderer Mensch war, als ich es heute bin, berichte ich von ihm in der dritten Person. Denn in manchen seiner Gedanken und Entscheidungen ist er mir, nach so vielen Jahren, fremd geworden.

Es ist, als blättere man in einem alten Fotoalbum. Man weiß, das Kind dort auf den Fotos ist man selbst, und doch kommt es einem vor wie ein unbekanntes Wesen. Und das ist nicht ganz falsch. Denn lassen wir nicht Teile von uns auf dem Weg durchs Leben zurück, werfen sie ab wie eine Schlange ihre Haut? Und ist es nicht so, dass sich unsere Körperzellen alle paar Wochen erneuern, sodass wir nach einer gewissen Zeit ein komplett anderer Mensch sind als zuvor? Warum soll das nicht auch für unseren Geist gelten?

Dies ist also die Geschichte von Jos, dem Jungen, der ich einmal war.

~ Kapitel 1 ~

SCHATTEN AUF DER STADT

In jener Nacht wurde Jos durch ein starkes Frösteln aus dem Schlaf gerissen. Als er die Augen aufschlug, kam es ihm für einen Moment so vor, als sei sein ganzer Körper mit Raureif bedeckt, und ein paar Sekunden lang konnte er keinen Finger rühren. Dann verschwand der Spuk, wie ein Albtraum, der zu spät gemerkt hat, dass dies nicht seine Welt ist.

Benommen richtete er sich auf. Im Zimmer war es stockfinster. Jos legte den Kopf in die Hände und verharrte einige Minuten so, bevor er sich wieder auf die Matratze zurückfallen ließ.

In dem Augenblick vernahm er von draußen ein dumpfes Geräusch. Es klang wie das ferne Grollen eines Gewitters. Dabei war es den ganzen Tag nicht drückend gewesen und durch sein kleines Fenster sah Jos weder Blitze noch Wetterleuchten. Wenn es aber kein Gewitter war, was war es dann?

Jos sprang auf und tastete sich zum Fenster. Die Straßenlaternen waren ausgeschaltet und eine dunkle Wolke verbarg den Mond. Er schob die untere Scheibe hoch und lehnte sich hinaus. Die Nacht kam ihm kälter vor als sonst, und er spürte, wie sich eine Gänsehaut auf seinen Armen ausbreitete. Natürlich wurde es abends etwas kühler, aber diese Kälte war völlig untypisch für die Jahreszeit, speziell für diesen wunderbaren Altweibersommer. Es war auch nicht die Luft selbst, die ihn frösteln ließ, sondern etwas, das sich wie eine Decke über die Nacht legte und ihm wie ein Eiseshauch in die Glieder fuhr.

Das Grollen, das er gehört hatte, wurde lauter. Jos beugte sich vorsichtig ein wenig weiter vor. Es klang wie das Keuchen von dampfgetriebenen Zugmaschinen und das Klappern von Rädern auf dem Kopfsteinpflaster.

War das ein Transport? Um diese Stunde? Und in dieser Gegend?

Er wusste wohl, dass in den Fabriken am Stadtrand häufig nachts durchgearbeitet wurde. Und manchmal vernahm er im Halbschlaf das heisere Pfeifen der Lokomotiven, die lange Reihen von Güterwagen vom Bahnhof zu den Werken rangierten.

Aber noch nie war ein großer Transport durch seine Straße gekommen.

Die Geräusche näherten sich. Keine Stimme war zu vernehmen, nur das rhythmische Tschuka-Tschuka der Maschinen. Und darüber der leise Hauch einer Melodie, wie von einer Drehorgel.

Ein dunkler Schatten schob sich um die Straßenecke.

Auch wenn Jos die Umrisse nur vage erkennen konnte, so sah er doch, dass es eine Zugmaschine war, allerdings von einer Größe, wie sie ihm bislang noch nicht vor Augen gekommen war. Auf vier gewaltigen Beinen stapfte sie durch die Nacht. Ungläubig riss Jos die Augen auf.

Ein Elefantion!

Er hatte zwar schon davon gehört und auch Fotos gesehen, war aber noch nie einem begegnet. Trotzdem hegte er keinerlei Zweifel: Das musste ein Elefantion sein.

Die Maschine war gewiss doppelt so hoch wie ihre lebenden Artgenossen. Ihre Haut, wenn man ihr Äußeres denn so nennen konnte, glitzerte trotz der Dunkelheit, so als seien zahllose winzige Lämpchen in die Metallplatten eingelassen, welche die Technik in ihrem Inneren wie ein Panzer schützten. Jos vernahm das Schaben der Platten, wann immer die gewaltige Konstruktion eines ihrer Beine bewegte.

Und was waren das für Beine!

Sie mochten zwar von der Form her denen eines Elefanten gleichen, doch ihr Umfang wurde von keinem lebenden Wesen erreicht. Sie mussten einen Durchmesser von mindestens einem Meter haben. Jos sah vor seinem inneren Auge, wie darin die Kolben, Wellen und Gelenke nahtlos ineinandergriffen, um das Ungetüm in Bewegung zu versetzen. Der Gang war nicht mit dem eines echten Elefanten zu vergleichen, besaß aber seine eigene, faszinierende Eleganz.

Er empfand ungeheuren Respekt vor den Schöpfern dieser Maschinen, vielleicht, weil er selbst Tag für Tag jene Einzelteile herstellte, die dann von begnadeten Ingenieuren zu Kreaturen wie diesen zusammengesetzt wurden. Irgendwann einmal würde auch er, so hoffte Jos, zu jener kleinen auserwählten Gruppe gehören und die Welt mit neuen, nie gesehenen Schöpfungen verblüffen.

Der erste Elefantion war nun direkt unter seinem Fenster angekommen. Hinter seinen Augenöffnungen glühte ein fahler Lichtschein. Jos vermutete, dass sich dort der Leitstand des Steuermanns befand. Wie mochte es da wohl aussehen? Lehnte er in einem bequemen Stuhl, umgeben von Hebeln, Rädern und Kontrollleuchten, vor den Augen ein Periskop, durch das er die Außenwelt ringsum beobachten konnte, und vor dem Mund ein Rohr, um den Maschinisten Anweisungen zu geben? Denn von denen brauchte es mehrere, dessen war sich Jos gewiss. Vielleicht saßen sie in den gewaltigen Beinen, wo sie, nach der Taktvorgabe des Steuermanns, ebenfalls Hebel und Räder bedienten, um den Koloss zu bewegen.

Die Maschine zog vier lange, mehrstöckige Wagen hinter sich her, von denen Jos in der Dunkelheit keine Details erkennen konnte. Es folgten sechs weitere Elefantions mit gleichfalls einer solchen Anzahl Wagen. Nach einer knappen halben Stunde war der nächtliche Spuk vorüber.

Jos konnte sich nicht vom Fenster lösen. Es wunderte ihn, dass in den anderen Häusern kein Licht angegangen war. Hatte außer ihm denn niemand den Lärm gehört? Ein paar Minuten vernahm er noch das schwächer werdende Tschuka-Tschuka der Elefantions. Dann wurde die Nacht wieder still.

Und sie wurde schwärzer. Es war, als hätte die schweigende Prozession den allerletzten Rest von Licht mit sich genommen. Jos war überzeugt, wenn er jetzt seine Hand ausstreckte, dann würde er die Finsternis greifen können wie einen dicken Vorhang.

Aber natürlich streckte er seine Hand nicht aus. Er war Techniker und wusste, dass man die Nacht nicht anfassen konnte wie einen Gegenstand. Und dennoch – ein wenig fürchtete er in jenem Moment, es könnte doch so sein. Auch wenn er es sich niemals eingestanden hätte.

Manchmal ist es einfach besser, nicht so genau Bescheid zu wissen.

Mit einem leisen Schaudern schloss Jos das Fenster und tappte zu seinem Bett zurück. Er zog die warme Decke eng um seinen Körper, doch es fiel ihm schwer, wieder einzuschlafen. Seine Träume wurden von gewaltigen Elefantions bevölkert, die ein Eigenleben entwickelt hatten und quer durch die Stadt stapften, wobei sie alles, was sich ihnen in den Weg stellte, niedertrampelten.

Er erwachte früh und war vor der üblichen Zeit in der Werkstatt, wo Natz, der alte Geselle, bereits an seiner Werkbank saß. Meister Bucher war noch nicht da. Er erschien meistens erst gegen zehn Uhr. Vorher besuchte er seine Kunden und sammelte neue Aufträge ein.

Ursprünglich war Bucher, so wie Natz, Uhrmacher gewesen. Nachdem jedoch seit einigen Jahren immer mehr Maschinen und Automaten gebaut und immer weniger Uhren gekauft wurden, hatte er sich entschlossen umzusatteln. Jetzt nutzte er sein Talent, um winzig kleine Zahnräder, Gelenke und Kolben herzustellen, welche die Industrie für ihre Maschinen benötigte.

Außer Jos arbeiteten noch drei weitere Lehrlinge in der Werkstatt. Die Arbeit war hart, denn die mikroskopisch kleinen Bauteile mussten sämtlich mit der Hand hergestellt werden. Das bedeutete, zehn bis zwölf Stunden am Tag über eine Werkbank gebeugt zu sitzen, eine Lupe im Auge, und mit winzigen Sägen und Feilen die Werkstücke zu bearbeiten. Und das sechs Tage in der Woche.

Jos war froh, dass er Natz allein antraf. »Hast du das heute Nacht auch gehört?«, rief er, kaum dass er durch die Tür war.

Natz richtete sich auf, schob das Stirnband mit der Leuchte hoch und nahm die Lupe aus dem Auge. »Ich wünsche dir auch einen guten Morgen«, sagte er.

»Jaja, guten Morgen. Und, was hast du gehört oder gesehen?«

Natz lächelte. Er war ein großer, hagerer Mann mit einem schmalen, lang gezogenen Gesicht, das Jos mit seiner platten Nase und den vollen Lippen immer ein wenig an ein Maultier erinnerte. Ein gutmütiges Maultier, denn Natz konnte keiner Menschenseele etwas zuleide tun.

»Tja, was habe ich gesehen?« Er kratzte sich mit seinem langen Zeigefinger hinter dem Ohr, so als müsse er ernsthaft überlegen, was in der letzten Nacht vorgefallen war.

»Komm schon«, drängte Jos ihn. »Du weißt genau, wovon ich spreche.«

Natz ließ seine Hand sinken. »Also, ich weiß ja nicht, was du gesehen hast. Ich jedenfalls habe die Ankunft des Wunderlands beobachtet.«

»Hast du die Elefantions denn nicht gesehen?«

»Hmm, wenn ich recht darüber nachdenke, dann waren da, glaube ich, auch Elefantions«, meinte Natz verschmitzt.

»Und was hat es mit diesem Wunderland auf sich?«

»So nennt sich der Jahrmarkt, den diese Monster in die Stadt geschleppt haben. Rostows Wunderland, um genau zu sein.«

»Woher weißt du das?«

Der Geselle tippte sich an die Nase. »Für so etwas habe ich einen Riecher, nicht wahr?«

Jos stieß ihn in die Seite. Natz liebte diese kleinen Spielchen, und manchmal war es eine echte Qual, eine Information aus ihm herauszubekommen. »Ich habe die Wagen auch gesehen, und da war nichts von einem Wunderland oder einem Rostow zu lesen. Außerdem war es viel zu dunkel.«

»Nicht für mich. Du kennst doch das Sprichwort: Der alte Natz, das ist ein Fuchs, der sieht im Dunkeln wie ein Luchs.« Dabei machte er ein so todernstes Gesicht, dass Jos grinsen musste.

»Du bist blind wie ein Maulwurf«, sagte er.

»Und wie kommt es dann, dass ich meine Arbeit so gut mache?«

»Weil deine Lupe zehnmal stärker ist als unsere. Und außerdem hast du sie bestimmt nicht im Auge, wenn du nachts am Fenster stehst.«

Natz warf die Arme in die Höhe. »Na schön, du hast gewonnen.« Er beugte sich zu Jos hin und flüsterte mit verschwörerischer Miene: »Ich bin heute Morgen schon am Kirmesplatz gewesen.«

»Und da hast du’s gesehen.«

Natz nickte. »Das Eingangstor war bereits aufgebaut. Und darauf stand in großen Buchstaben Rostows Wunderland.«

Jos runzelte die Stirn. »Das hört sich eher nach einer Schau für Kleinkinder an.«

»Oh, das glaube ich nicht«, widersprach Natz. Sein Gesicht wurde auf einmal ernst. »Nein, mit Kleinkindern hat das ganz und gar nichts zu tun. Wohl eher das Gegenteil.«

Jos fiel der Unterton in seiner Stimme auf. »Was willst du damit sagen?«

Natz zuckte mit den Schultern. »Es ist nur so eine Ahnung«, sagte er. »Der Name Wunderland klingt zwar unschuldig, aber gespürt habe ich etwas anderes.«

»Nun lass diese Umstandskrämerei«, entgegnete Jos ungeduldig. Natz war sein Freund, aber er konnte einen manchmal ganz schön auf die Palme bringen mit seiner behäbigen Art. »Was genau ist dir aufgefallen?«

Bevor Natz antworten konnte, öffnete sich die Tür hinter ihnen und die drei anderen Lehrlinge kamen hereingestürzt.

»Habt ihr schon gehört? Der Jahrmarkt ist da!«, rief Lena, kaum dass sie die Werkstatt betreten hatte. Eine rote Haarsträhne löste sich unter ihrer Mütze und fiel ihr vorwitzig in die Stirn. »Und morgen ist Eröffnung!« Sie stürmte auf Jos zu. »Gehst du mit mir hin?«

Jos musste grinsen. Lena arbeitete seit einem halben Jahr bei Bucher und Jos und sie waren schnell Freunde geworden. Er liebte ihre impulsive Art, die genau das Gegenstück war zu der Bedächtigkeit, die Natz an den Tag legte.

»Klar gehen wir hin«, erwiderte er. Morgen war Sonntag, der einzige arbeitsfreie Tag in der Woche. Meistens verbrachten Lena und er dann den Nachmittag zusammen und bummelten durch die Stadt. Gelegentlich schloss sich Natz ihnen an und lud sie zu einem Eis oder einem Stück Kuchen in einem der vielen kleinen Cafés ein, die überall zu finden waren.

»Toll!«, rief Lena und strahlte über das ganze Gesicht.

»Bis dahin muss aber noch ein wenig gearbeitet werden, meine Herrschaften«, ermahnte Natz sie und klatschte in die Hände. »Meister Bucher muss heute Nachmittag ausliefern, und dafür fehlen uns noch einige Stücke.«

»Schon gut, schon gut«, sagte Jos. »Du kannst einem aber auch jeden Spaß verderben.«

»Wie, macht dir die Arbeit denn keinen Spaß?«, zog ihn der Altgeselle auf.

»Doch«, gab Jos zurück, »sogar so viel, dass ich extra vom Land hergezogen bin, um sie machen zu dürfen.«

»Na, dann nichts wie ran, nicht wahr?«

Als Jos am Sonntagmittag vor die Tür trat, war von den dunklen Vorahnungen des vergangenen Tages nichts mehr zu spüren. Das lag vielleicht auch an der Sonne, die nach einem grauen Tag wieder hinter den Wolken hervorgekommen war und alles in ein freundliches Licht tauchte.

Er hatte seine beste Garderobe angezogen. Genauer gesagt waren es die einzigen Sachen, die er außer seiner Arbeitskleidung besaß: eine abgetragene blaue Baumwollhose, ein schlichtes weißes Leinenhemd und eine schwarze Jacke, die schon mehrfach geflickt worden war. Jos sparte schon seit einiger Zeit für neue Kleidung. Aber sein magerer Lohn reichte gerade einmal aus, um Frau Bucher Kost und Logis zu bezahlen. Das bisschen, was übrig blieb, ging für alltägliche Dinge drauf, zum Beispiel eine Limonade mit Lena, eine technische Zeitschrift oder, wie heute, ein paar Stunden auf dem Jahrmarkt.

Dieser Zustand würde hoffentlich nicht ewig so bleiben. Irgendwann einmal würde er selbst eine Werkstatt besitzen oder als Ingenieur für eine der großen Firmen neue, spektakuläre Maschinen entwerfen. Deshalb hoffte Jos, die Elefantions näher studieren zu können, denn er wollte keine Gelegenheit auslassen, sein Wissen zu erweitern. Natürlich freute er sich auch auf die Jahrmarktsattraktionen und darauf, einen schönen Tag mit Lena zu verbringen. Aber wenn man ihn vor die Wahl gestellt hätte, sich zwischen Lena und den Elefantions zu entscheiden, dann hätte er wohl die Maschinen vorgezogen.

Maschinen! Die Straße war voll davon. Mechanische Sechsbeiner in den unterschiedlichsten Formen, mal wie ein Pferd, mal wie ein Büffel und mal wie ein Kamel, zogen Kutschen in Richtung Kirmesplatz. Jos sah dampfgetriebene Kinderwagen, bei denen die Mütter lediglich mit einem kleinen Lenkrad die Fahrtrichtung bestimmen mussten, und Metallpferdchen, auf denen die etwas älteren Kinder ihre Eltern begleiteten. Gegenüber von Buchers Werkstatt befand sich eine Baustelle, auf der Mechabots ganz ohne menschliche Hilfe ihre Arbeit verrichteten und Stein auf Stein ein Gebäude in die Höhe zogen. Und dann gab es die neueste Erfindung: Maschinen, die von Energit angetrieben wurden, einem Brennstoff, der erst vor kurzer Zeit entdeckt worden war. Kleinste Mengen davon reichten aus, um selbst die größten Maschinen für lange Zeit zu bewegen.

Es war fantastisch. Jeden Tag kamen neue Maschinen auf den Markt, und der Hunger der Menschen nach ihnen war unersättlich. Selbst im Konzerthaus spielten inzwischen Maschinenorchester ganze Symphonien ohne Musiker und Dirigent. Welche Wunder lagen wohl noch vor ihnen? Alles war möglich in dieser Zeit der Entdeckungen, und er, Jos, würde zu denen gehören, die diese neue Ära mitprägten.

Wo blieb Lena nur? Eigentlich hätte sie schon vor zehn Minuten hier sein sollen! Jos stellte sich auf die Zehenspitzen und ließ seinen Blick über die Menge schweifen. Schließlich entdeckte er sie zwischen den Fußgängern und winkte ihr zu. Sie trug ein grün-weiß gestreiftes Kleid, und ihre rote Mähne flatterte im Wind, als sie auf ihn zulief. In der Werkstatt band sie ihre Haare immer zusammen und stülpte eine Mütze darüber, damit ihr die Strähnen bei der Arbeit nicht vor die Augen fielen. Auch deshalb genoss Jos die Sonntage mit ihr so, denn er konnte sich an ihrer vollen Haarpracht nicht sattsehen.

»Tut mir leid, wenn ich zu spät komme«, sagte sie. »Wir hatten nichts mehr zum Frühstück im Haus, und ich musste erst noch zum Laden laufen, um Brot und Eier zu kaufen.«

»Kein Problem«, erwiderte Jos. Lena lebte allein mit ihrem Vater, der ein stadtbekannter Trinker war. Nach dem Tod ihrer Mutter hatte er angefangen, seinen Kummer im Alkohol zu ertränken. Seinen Schnaps kaufte er von dem Geld, das er als Tagelöhner verdiente, legte dabei aber immer ein wenig Haushaltsgeld für Lena beiseite.

Jos deutete auf die Menschen, die sich durch die Straße schoben. »Mit einem ruhigen Bummel über den Jahrmarkt wird das wohl heute nichts.«

Sie reihten sich in den Strom der Passanten ein, bis sie den Platz am Stadtrand erreicht hatten. Schon aus der Ferne sahen sie das Eingangstor, das Natz beschrieben hatte. Es bestand aus zwei Säulen, die wie riesige Zuckerstangen rosa und weiß gestreift waren. Die Buchstaben des Wortes Wunderland waren aus Glasröhren geformt und jeder hatte eine andere Farbe. Jos vermutete, dass sich in den Röhren ein Leuchtgas befand, denn selbst bei Tageslicht sah man, wie die einzelnen Zeichen nacheinander aufleuchteten, bis am Ende das ganze Wort blinkte und der Zauber schließlich von vorn begann.

Als sie ans Tor kamen, ging er um eine der Säulen herum und suchte nach der Zuleitung für das Gas, konnte aber nichts entdecken. Hatten sie die Leitungen vergraben? Oder war das etwa eine neue Technologie, die hier angewendet wurde? Die Elefantions deuteten jedenfalls darauf hin, dass die Jahrmarktbetreiber dem Fortschritt nicht abgeneigt waren.

Jos zog einen kleinen Notizblock aus der Jackentasche, den er, zusammen mit ein paar Bleistiften, immer bei sich trug, und fertigte rasch eine Skizze des Tores an. Als er sich danach auch die Uhrmacherlupe, die er ebenfalls stets mit sich führte, ins Auge klemmen wollte, um ein Detail näher zu betrachten, zog Lena ihn weiter.

»Jetzt nicht«, sagte sie bestimmt. »Das kannst du ein anderes Mal machen.«

Jos musste schmunzeln. Lena kannte seine Leidenschaft für Technik und fürs Zeichnen, und meistens ertrug sie seine Begeisterung, ohne zu murren. Aber heute packte sie ihn ungeduldig am Ärmel und stürzte sich mit glühenden Wangen ins Getümmel.

Gleich hinter dem Tor tauchten sie in eine Wolke von Wohlgerüchen ein. Zu beiden Seiten des Weges erstreckten sich Verkaufsstände, die Zuckerwatte, gebrannte Mandeln, kandierte Äpfel, Bonbons in allen Farben des Regenbogens, Süßholz- und Lakritzstangen, Schokoladenwaffeln und andere Leckereien feilboten. Jos lief das Wasser im Mund zusammen. Er blieb stehen und kramte in seiner Hosentasche nach Kleingeld, aber Lena zog ihn unerbittlich weiter.

»Warum gehen wir auf den Jahrmarkt, wenn ich uns noch nicht mal was Süßes holen darf?«, protestierte Jos.

»Dafür ist nachher noch Zeit«, wischte sie seinen Einwand beiseite. »Du willst dich doch jetzt nicht in die Schlange stellen, oder?«

Tatsächlich drängten sich bereits Dutzende von Menschen vor den Verkaufsständen. Widerwillig ließ sich Jos von Lena davonziehen. »Ein bisschen Wegzehrung könnte nicht schaden«, maulte er.

»Davon wirst du noch genug bekommen. Ich will erst mal sehen, was es hier alles an Attraktionen gibt.«

Vor ihnen gabelte sich der Weg. Geradeaus ging es zu einem Kinderkarussell und dem Zelt eines Hypnotiseurs. Zur Linken lagen eine Wurfbude und ein Schießstand und zur Rechten zog ein Zelt mit Feuer- und Schwertschluckern die Besucher an.

»Rechts oder links?«, fragte Jos.

Lena überlegte nicht lange und deutete nach rechts.

Sie ließen sich von der Menge treiben, bis sie vor einer Bühne ankamen, auf der ein Mann in einem eng anliegenden roten Kostüm eine brennende Fackel in der Hand hielt. Neben ihm reckte ein weiterer Mann in einem hellblauen Frack, der mit zwei Reihen goldener Knöpfe besetzt war, die Arme in die Höhe. »Hochverehrtes Publikum!«, rief er. »Erleben Sie den einmaligen Diablo!« Er deutete auf den Mann im roten Kostüm. Der blähte die Backen auf, führte die Fackel vor den Mund und blies kräftig hinein. Eine große Stichflamme schoss zwischen seinen Lippen hervor. Das Publikum johlte und applaudierte.

»Danke, danke, meine Damen und Herren!«, fuhr der Ansager fort. »Doch das ist nur eine winzige Kostprobe von Diablos Können. Erleben Sie in seiner einzigartigen Show, wie er Schwerter, Dolche und lebende Tiere schluckt, zehn brennende Fackeln in wenigen Sekunden allein mit seinem Mund löscht und fantastische Flammenskulpturen erzeugt! Das gibt es auf der Welt nicht noch einmal! Treten Sie jetzt ein und werden Sie Zeuge einer Darbietung, die Sie nie vergessen werden!«

»Wollen wir?«, fragte Jos, der Lust auf das Spektakel bekommen hatte.

Doch Lena schüttelte den Kopf. »Später vielleicht.«

»Wenn du so weitermachst, dann werden wir den ganzen Tag nur herumlaufen«, murrte Jos, während Lena ihn vor sich herschob. »Und außerdem ist es Aufgabe des Kavaliers, der Dame den Jahrmarkt zu zeigen, und nicht umgekehrt.«

»Das mag für den Kavalier und die Dame zutreffen«, erwiderte Lena grinsend. »Allerdings sehe ich hier weder den einen noch die andere.«

Jos seufzte übertrieben und fügte sich in sein Schicksal. Er wusste, dass es wenig Zweck hatte, Lena zu widersprechen. Wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann beharrte sie darauf oder gab erst nach langen Diskussionen nach, und darauf hatte Jos an einem Tag wie diesem keine Lust.

So schlenderten sie von Bude zu Bude. Vor jeder stand ein Ausrufer, der die darin verborgenen Attraktionen in höchsten Tönen anpries.

»Erleben Sie in unserem Haus des Horrors Schrecken wie in Ihren schlimmsten Albträumen!«

»Werden Sie Zeuge bei der Fütterung der legendären Schlangenfrau vom Amazonas mit lebenden Tieren!«

»Bestaunen Sie die furchtbaren menschenfressenden Pygmäen aus dem schwarzen Herzen Afrikas mit ihren geheimen, blutrünstigen Ritualen!«

Gegen diese Sensationen wirkte das Spiegelkabinett regelrecht bieder, das dem kreisrunden Zaun aus mannshohen Holzpflöcken, aus dem dunkle Trommelklänge nach draußen drangen, gegenüberlag. Der Ausrufer in seinem violetten Frack beugte sich zu Jos herab: »Junger Mann, führen Sie Ihre Freundin durch den Wald der Spiegel und erfreuen Sie sich tausendfach an ihrer Schönheit. Und Sie, schönes Kind«, er wandte sich zu Lena, »verdrehen Sie diesem Jungen den Kopf nicht nur einmal, sondern im Dutzend.« Aber sie winkte, wie Jos erwartet hatte, nur ab.

Die letzte Bude war mit einer zweistöckigen Holzkulisse verkleidet, auf die in leuchtenden Buchstaben das Wort Elektrograf gemalt war. Davor hatte sich eine größere Menge versammelt und lauschte dem Ansager, diesmal in giftgrünem Frack und Zylinder, der erklärte, welche Wunder die Besucher hier erwarteten.

»Erleben Sie die Welt, wie Sie sie noch nie gesehen haben! Nur hier, nur bei uns gibt es die sensationelle Erfindung von Professor Slapater, dem weltberühmten Wissenschaftler! Sehen Sie mit Ihren eigenen Augen das unglaubliche Wunder, wenn der Elektrograf aus dem Nichts eine Form erschafft!« Dabei zeichnete er mit seinen Händen die Kontur eines kurvigen Frauenkörpers in die Luft, was einige der Männer im Publikum mit lautem Lachen quittierten.

Jos hätte die Darbietung zu gerne gesehen, denn hier handelte es sich um eine technische Neuheit, von der er gerade erst gelesen hatte. Doch um Lenas Neugierde zu stillen, beschloss er, sich noch etwas zu gedulden.

Schließlich landeten sie auf dem großen Platz, in den alle drei Wege mündeten. Hier gab es keine Karussells oder Buden, sondern nur ein einziges Zelt mit der einfachen Aufschrift Die Parfantis. Der Mann auf dem Podest davor sah anders aus als die Ausrufer, die sie bislang gesehen hatten. Er trug keinen der typischen Ausruferfracks, sondern eine goldene Weste über einer ebenso goldenen Krawatte. Seine Arme steckten in einem beinahe bodenlangen feuerroten Umhang, der bei jeder Bewegung, die er machte, um seinen Körper herumwirbelte. Ein sorgfältig gestutzter Bart verbarg die untere Hälfte seines Gesichts, sodass es schwer war, sein Alter zu schätzen.

»Die Parfantis?« Lena sah Jos fragend an.

Er zuckte mit den Schultern. »Hören wir einfach mal zu«, schlug er vor. »Schließlich haben wir nun ja fast alles gesehen, was der Jahrmarkt zu bieten hat!«

Sie drängten sich durch die Schaulustigen, bis sie verstehen konnten, was der Mann auf der Bühne erzählte.

»Meine Herrschaften, das haben Sie noch nicht erlebt! Ich präsentiere Ihnen eine absolute Weltsensation: die Gebrüder Parfanti. Tauchen Sie ein in eine magische Welt voller Romantik, Wunder und Abenteuer. Und das alles ohne jegliche technischen Hilfsmittel. Es ist allein die Kraft des Wortes, mit der die Parfantis Sie in ungeahnte Welten entführen!«

Er legte eine kleine Pause ein und ließ seinen Blick über die Menge vor sich schweifen. Dabei kam es Jos vor, als sähe er ihm direkt in die Augen. Das war natürlich Unsinn. Trotzdem überlief ihn ein Schauer und er bekam eine Gänsehaut.

»Verehrtes Publikum, seit vielen Jahren schon bereise ich die Welt, um für meine kleine Schau die besten Künstler zu verpflichten.« Aha, dachte Jos, dann musste dieser Mann also Geheimrat Rostow höchstpersönlich sein. »Im letzten Jahr führte mich meine Reise nach Pangolien, ein kleines Land am Schwarzen Meer, eingeschlossen von den mächtigen Gipfeln des Kaukasusgebirges. ›Was suchst du hier, Rostow?‹, fragte ich mich, während ich durch die elenden Gassen der Hauptstadt Vistis schlenderte, einer Stadt, das sage ich Ihnen, die anderswo nicht einmal den Ehrentitel ›Dorf‹ bekommen würde. Aber so, wie die unscheinbarste Muschel die kostbarste Perle verbirgt, so beherbergte die hässlichste Kaschemme von Vistis zwei großartige Talente. Denn dort, meine Herrschaften, stieß ich auf die Gebrüder Parfanti, die ihre wunderbaren Gaben vor betrunkenen Matrosen, halbseidenen Mädchen und kleinen Dieben und Betrügern verschwendeten.«

Rostow breitete die Arme aus. »Und jetzt, verehrtes Publikum, sind sie hier bei Ihnen. Ich habe diese begnadeten Künstler ihrem grausigen Schicksal entrissen und präsentiere sie Ihnen heute weltexklusiv: die Gebrüder Parfanti!«

»Das hört sich interessant an, findest du nicht auch?«, fragte Lena.

»Ich weiß nicht«, sagte Jos, dem dieser Geheimrat nicht ganz geheuer war. Rostow war inzwischen von der Bühne verschwunden und vor ihnen drängten sich die Schaulustigen an der Kasse.

»Also, was ist?«, bohrte Lena. »Wollen wir?«

»Später vielleicht«, sagte Jos. »Ich würde lieber noch etwas herumbummeln.«

»Na schön«, sagte Lena. »Aber die nächste Schau, die sich einer von uns aussucht, sehen wir uns an.«

»Einverstanden.«

Sie überquerten den Platz, der zu beiden Seiten des Parfanti-Zeltes mit einer Bretterwand abgegrenzt war. Dahinter ragte der Kopf eines Elefantions hervor.

Elefantions! Da musste er unbedingt hin!

Ohne auf Lena zu warten, lief Jos zum Zaun und spähte durch eine Lücke. Was er sah, verschlug ihm den Atem. Auf der einen Seite waren die Jahrmarktwagen aufgereiht, in denen das Personal lebte. Auf der anderen Seite standen sechs Elefantions.

Jos entdeckte einen schmalen Durchgang zwischen dem Zelt der Parfantis und dem Zaun. Er drehte sich zu Lena um. »Ich würde gern … «, sagte er und deutete auf die Lücke.

Lena zog gespielt die Augenbrauen hoch, so als erlebte sie seine Technikverliebtheit zum ersten Mal. »Gut«, sagte sie. »Das ist deine Wahl. Danach bin ich dran.«

Jos nickte. Doch als sie die Lücke im Zaun erreichten und gerade hindurchschlüpfen wollten, trat ihnen eine Gestalt entgegen und versperrte den Weg.

»Hier geht es nicht durch, Junge«, ertönte eine tiefe Stimme. Sie gehörte zu einem hochgewachsenen Mann in einem blauen Overall.

»Ich möchte nur einmal die Elefantions aus der Nähe sehen«, sagte Jos.

»Das ist gegen die Vorschriften«, erwiderte der Mann. »Dies ist ein privater Bereich. Du möchtest doch sicher auch nicht, dass jemand in deinem Garten herumschnüffelt, oder?«

»Bitte«, mischte sich Lena ein, »es geht wirklich nur um einen kurzen Blick.« Sie schaute dem Mann freundlich in die Augen. »Was nützt der schönste Garten, wenn man keine Freunde einlädt?«

»Ihr seid keine Freunde«, sagte der Mann. »Aber was nicht ist, kann ja noch werden, oder?«

Jos musterte ihn erstaunt, als er zur Seite trat und eine einladende Handbewegung machte. Dabei bemerkte er die Lachfältchen um die Mundwinkel des Mannes und kam zu dem Schluss, dass er bestimmt nicht so grimmig war, wie er anfangs getan hatte. »Haben Sie etwas mit den Elefantions zu tun?«, fragte er.

Der Mann nickte. »Ich bin der Chefmechaniker. Und du?«