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Spannung pur: ein actiongeladener Thriller über Liebe, Verfolgung und ein toughes Mädchen
Hackerin Hannah hat eine Partnerbörse entwickelt, basierend auf einem Algorithmus, der Seelenverwandte findet und zusammenbringt. Doch das Programm ruft machtgierige Feinde auf den Plan. Es gibt nur einen, dem Hannah jetzt noch trauen kann: Jona, ihrem Seelenverwandten. Die beiden finden heraus, dass ihre Verfolger einer gefährlichen Organisation angehören. Wenn sie mit dem Leben davonkommen wollen, müssen sie die ganze Wahrheit herausfinden - bevor es zu spät ist ...
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Veröffentlichungsjahr: 2017
Das Buch
Ein Computerprogramm, das angeblich die perfekten Partner zusammenbringen kann.
Ein mysteriöses Buch, von dem niemand weiß, ob es überhaupt existiert.
Und zwei Jugendliche, die von einer skrupellosen Geheimorganisation verfolgt werden.
Eine atemlose Jagd durch Brügge beginnt …
Der Autor
© privat
Gerd Ruebenstrunk schreibt, seitdem er zurückdenken kann. Anfangs waren es Gedichte und Songtexte, die in Literaturzeitschriften publiziert oder von Bands aufgenommen wurden. Nach dem Studium der Psychologie verfasste er Texte für Werbeagenturen und fürs TV. Mit dem Bücherschreiben begann er erst zu Anfang dieses Jahrtausends und landete mit der Trilogie um »Arthur und die Vergessenen Bücher« gleich einen beachtlichen Erfolg. Der gebürtige Gelsenkirchener und Vater von zwei Kindern lebt heute am Niederrhein.
Mehr über Gerd Ruebenstrunk: www.ruebenstrunk.de
Der Verlag
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Viel Spaß beim Lesen!
Quai du Rosaire
Brügge
Die Gassen haben einen sachten Gang
(wie manchmal Menschen gehen im Genesen
nachdenkend: was ist früher hier gewesen?)
und die an Plätze kommen, warten lang
auf eine andre, die mit einem Schritt
über das abendklare Wasser tritt,
darin, je mehr sich rings die Dinge mildern,
die eingehängte Welt von Spiegelbildern
so wirklich wird wie diese Dinge nie.
Verging nicht diese Stadt? Nun siehst du, wie
(nach einem unbegreiflichen Gesetz)
sie wach und deutlich wird im Umgestellten,
als wäre dort das Leben nicht so selten;
dort hängen jetzt die Gärten groß und gelten,
dort dreht sich plötzlich hinter schnell erhellten
Fenstern der Tanz der Estaminets.
Und oben blieb? – Die Stille nur, ich glaube,
und kostet langsam und von nichts gedrängt
Beere um Beere aus der süßen Traube
des Glockenspiels, das in den Himmel hängt.
Rainer Maria Rilke
Sie bemerkt die beiden Männer, als die Tür hinter ihr zufällt.
Ihr erster Reflex ist, sich umzudrehen und wieder im Laden zu verschwinden.
Aber dann säße sie erst recht in der Falle.
Vielleicht täuscht sie sich auch, und die beiden sind ganz harmlos?
Sie tut so, als würde sie die Auslage im Schaufenster betrachten und beobachtet die Männer aus den Augenwinkeln.
Nein, die sind nicht harmlos!
Der eine hat seinen Schädel rundherum rasiert, abgesehen von einem kleinen Haarbüschel in der Mitte. Wenn sie solche Typen sieht, muss sie automatisch an Zippy the Pinhead denken, einen alten amerikanischen Underground Comic, den sie mal irgendwann gelesen hat. Schon strange, wie viele Jungen das heute cool finden, so auszusehen wie eine Witzfigur.
Der Zippy-Klon trägt eine Jogginghose, die wohl eine gewisse Sportlichkeit signalisieren soll. Er lehnt betont unauffällig zwei Häuser links von ihr an einem Laternenpfahl und gibt vor, sich mit seinem Smartphone zu beschäftigen. Doch immer wieder bewegt sich der Kopf leicht nach oben und er fixiert sie für den Bruchteil einer Sekunde.
Der andere sieht etwas seriöser aus, mit Sakko und Krawatte, ein wenig wie ein Angestellter auf dem Nachhauseweg. Nur geht er nicht, er steht, etwa zehn Meter rechts von ihr, auf der gegenüberliegenden Straßenseite und starrt so interessiert auf das Fenster einer Metzgerei, als wäre eine Fleischwurst die Erfüllung seiner sehnlichsten Wünsche.
Sie fragt sich, nicht zum ersten Mal, wieso sie immer wieder in solche Situationen gerät. Was ist schiefgelaufen in ihrem Leben? Was hätte sie anders machen sollen?
Aber natürlich kennt sie die Antworten auf diese Fragen – oder glaubt sie zu kennen, denn sie hat oft genug darüber nachgedacht und mit ihren Freundinnen darüber geredet. Doch solche Überlegungen helfen ihr jetzt auch nicht weiter. Die werden ihre Verfolger nicht einfach verschwinden lassen.
Zippy und der Angestellte, denkt sie und nickt innerlich vor sich hin. Mal sehen, wer von den beiden schneller ist.
Sie kennt solche Typen.
Es ist nicht das erste Mal, dass ihr jemand seine Handlanger auf den Hals schickt, und es wird bestimmt auch nicht das letzte Mal sein.
Wo hat sie den Fehler begangen, der sie verraten hat? Das Lagerhaus am Hafen? Die Zugfahrt in die Stadt? Oder wird sie schon länger beobachtet?
Das glaubt sie eigentlich nicht. Vorsicht ist ihr in den letzten Jahren zur zweiten Natur geworden, mehr als Vorsicht, fast schon Paranoia. Das ist eine Eigenschaft, die sie mit ihren Freunden teilt. Und die sich in Momenten wie diesen auszahlt.
Dabei stand sie gerade so kurz davor, etwas Einzigartiges zu überprüfen. Etwas, das so unwahrscheinlich ist, dass sie selbst nicht wirklich daran glaubt.
Aber andere glauben offenbar daran.
Dann wird sie eben später herausfinden müssen, ob an der Sache was dran ist. Jetzt geht es erst mal um einen geordneten Rückzug.
All diese Gedanken rasen ihr im Bruchteil einer Sekunde durch den Kopf, so als wäre die Zeit für sie einfach stehen geblieben.
Sie geht in die Hocke und fingert an einem ihrer Schuhe herum. Eine Passantin, beladen mit Einkaufstüten, drängt sich an ihr vorbei und murmelt etwas, das wie »Abschaum« klingt. Vielleicht ist sie das, denkt sie, ganz bestimmt sogar hier auf der eleganten Steenstraat in Brügge, wo die gut angezogenen Frauen mit goldenen Kreditkarten in ihren Handtaschen shoppen gehen. Hier sind sie alle versammelt, die feinen Marken dieser Konsumwelt, und mittendrin kniet sie mit zerrissenen Jeans, Piercings und schmutzigen Sneakers.
Und ohne Handtäschchen.
Aber der Abschaum, das ist nicht sie, das sind die zwei Kerle, die sie verfolgen.
Zippy ist näher an ihr dran und sieht auch etwas besser trainiert aus als der Angestellte. Also muss sie in die andere Richtung. Angst hat sie keine, denn hier, auf der vollen Einkaufsstraße, werden die beiden wohl nicht wagen, ihr etwas zu tun. Aber genau weiß man das nie.
Sie richtet sich langsam auf. Ihre Hand gleitet in die Tasche und schließt sich um den schmalen USB-Stick.
Von links nähert sich ein Lastwagen, fast im Schritttempo, durch das Kopfsteinpflaster gebremst. Als er sich zwischen ihr und dem Angestellten befindet, rennt sie los.
Ihr gut ausgebildetes Fluchtprogramm arbeitet auf Hochtouren, verlagert das Gewicht in Sekundenbruchteilen, wenn sie einem entgegenkommenden Passanten ausweichen muss. Zack, ein Fuß vom Bordstein auf die Straße und sofort wieder zurück, rechts, links, kurz abbremsen, zwischen Häuserwand und einem älteren Paar durch und dann wieder Tempo aufnehmen.
Hinter sich hört sie lautstarke Proteste. Das muss Zippy sein. Sie dreht sich nicht um, aber sie könnte wetten, dass er nicht so geschmeidig an den Leuten vorbeikommt wie sie.
Wer das Fliehen gewohnt ist, bekommt in solchen Dingen Übung.
Vor ihr liegt der Platz, und als sie um die Ecke biegt, sitzt er immer noch da.
Wie sie erwartet hat.
Sie rennt zu seinem Stuhl, tut so, als stolperte sie, hält sich an der Lehne fest. Eine schnelle Bewegung, und der USB-Stick hat ihre Hand verlassen.
Er dreht den Kopf nach ihr um, will wissen, was vorgeht, aber da ist sie schon wieder weg, jagt quer über den Platz, zwischen den Tischen durch, rechts, links und um die nächste Ecke, raus aus dem Blickfeld ihrer Verfolger.
Der Rest, das weiß sie, ist ein Kinderspiel.
September ist nicht die beste Jahreszeit, um in einem Straßencafé in Brügge herumzulungern.
Jona kann das beurteilen, denn vor zwei Jahren lebte er noch in Valencia, und da konnte man sogar im November noch im T-Shirt in der Sonne sitzen.
Damals hat er das als selbstverständlich hingenommen. Heute weiß er, das ist nicht so, denn jetzt sitzt er in Brügge, wo der Himmel mehr grau als blau ist. Und wo es im September schon mal empfindlich kühl werden kann.
»Das liegt daran, dass Brügge sich in Belgien befindet und Valencia in Spanien«, doziert Christopher, als er zum wiederholten Mal über das Wetter klagt.
»Sag bloß, du Schlaumeier«, gibt Jona zurück. »Wär ich nie drauf gekommen.«
»Wenn du wie ich zwei Jahre in Moskau verbracht hast, dann kommt dir Brügge vor wie die Costa Calabra.«
»Die Costa was?«
»Na ja, irgendeine Mittelmeerküste halt.« Chris zuckt mit den Schultern. »Ich hatte eben nicht so ein Glück wie du. Dafür kann ich dir die Namen aller großen Parks in Moskau aufzählen, wenn du willst.«
»Danke, kein Bedarf.« Jona hebt abwehrend die Hände. Chris ist ganz o. k., aber er liebt es, mit seinem Wissen anzugeben – und er weiß ziemlich viel. Aber Jona will jetzt keinen Vortrag über die europäische Großwetterlage im Allgemeinen und die von Brügge im Speziellen hören, in dem so oft das Wort Polarkälte vorkommt, dass er sofort nach Hause laufen will, um seine Winterjacke aus dem Schrank zu holen.
Nach Hause ist vielleicht das falsche Wort, denn sie wohnen in einem Internat. Ihre Väter arbeiten bei der EU in Brüssel, und Christopher und Jona sind hier in Brügge gelandet, weil es das beste Internat im Umkreis von zweihundert Kilometern um Brüssel herum sein soll. Tatsächlich ist es nicht übel, die Leute sind ganz entspannt, und weil sie beide schon sechzehn Jahre alt sind, haben sie eine Menge Freiraum, solange die Leistungen stimmen.
Sie sitzen auf dem Simon Stevinplein im Herzen der Stadt, und dunkle Wolken ziehen über sie hinweg. Trotzdem sind alle Tische belegt. Wenn man in Brügge lebt, dann schätzt man jeden trockenen Tag, ob bewölkt oder nicht. Und den Touristen ist das sowieso egal, die kommen das ganze Jahr über in die Stadt und nehmen den Einheimischen die Plätze weg.
Denn Brügge ist eine magische Stadt, das muss selbst Jona widerwillig einräumen. Mit den alten Häusern, den schmalen Gassen, dem Kopfsteinpflaster, das im Regen glänzt und manchmal auch in der Sonne und auf dem immer irgendwo das Klappern von Pferdehufen zu vernehmen ist, erinnert ihn Brügge an einen verwunschenen Ort aus einem Märchen. Manchmal erwartet er fast, dass aus der Tür eines jahrhundertealten Hauses ein Mann mit einem Seesack auf dem Rücken und einer Meerschaumpfeife zwischen den Zähnen tritt, um sich auf den Weg zum Hafen zu machen, wo ein Schiff auf ihn wartet, das ihn in ferne Länder tragen wird, nur mit der Kraft des Windes. Das Hufgeklapper der Touristenkutschen verwandelt sich dann in das Geräusch der Pferdefuhrwerke, die Hölzer und Gewürze und andere Waren vom Hafen in die Handelshäuser der Innenstadt transportieren, wo damals wie heute alle Sprachen der Welt zu hören sind.
Die Stimme seines Freundes reißt ihn aus seinen Fantasien. »Alter, magst du deinen Kuchen nicht mehr?«
Vor Jona steht noch der halbe Apfelstrudel mit Sahne, während Christopher seinen schon längst verputzt hat.
»Nicht so gierig«, sagt Jona und greift zu seiner Gabel.
Chris grinst. Sie kennen sich zwar erst seit etwas über einem Jahr, aber sie haben sich damals sofort angefreundet. Sie teilen sich ein Zimmer im Internat, und nach der Schule ziehen sie oft gemeinsam durch die Stadt. So wie heute.
Was soll man sonst auch machen in einer Stadt, die ein einziges großes Museum ist? Das hat Jona vorher nicht gewusst, aber eigentlich wusste er gar nichts über Belgien und Brügge. Inzwischen hat er gelernt, dass hier Flämisch gesprochen wird, was dem Niederländischen sehr ähnlich ist, und alle Sehenswürdigkeiten der Stadt kennt er auch, denn seine Eltern haben ihn bei ihren Besuchen hier von einer zur anderen geschleppt.
»Denk an deine schlanke Linie«, stichelt Chris. »Zu viel Sahne, und du wirst dick und fett, und deine Dancing Queen will nichts mehr von dir wissen.«
»Dann bestell ich mir gleich noch ein Stück«, stöhnt Jona. Denn das ist die Sache, die ihm im Augenblick echt Kopfzerbrechen bereitet.
»Was denn, wie denn, du willst das Traumpaar unseres Jahresabschlussballs sabotieren?« Chris hält ihm sein Tablet hin. Es zeigt eine Fotomontage, in der Jona Arm in Arm mit Lisa Kuijper auf den Fotografen zugeht. Sie trägt ein glitzerndes Abendkleid, Jona einen Smoking, und sie lächeln beide glücklich in die Kamera.
»Wie hast du das gemacht?«, ruft Jona und greift nach dem Tablet, aber Chris ist schneller. Mit einem gemeinen Lachen zieht er es außer Reichweite.
»Photoshop, Alter. Hat gerade mal fünf Minuten gedauert. Was hältst du davon, wenn ich es gleich an Lisa maile?«
»Untersteh dich!«, ruft Jona und schnappt erneut nach dem Tablet, wobei er fast seine Rhabarberschorle umstößt. Das Rentnerpaar am Nebentisch wirft den beiden Jugendlichen missbilligende Blicke zu.
»Beruhig dich, Alter.« Chris zieht das Bild mit einer Fingerbewegung in den Papierkorb. »Da, zufrieden?«
»Es gibt Dinge, über die macht man keine Witze«, brummt Jona. Lisa Kuijper gehört mit Sicherheit dazu. Sie ist in derselben Klasse wie Christopher und er, und sie hat sich in den Kopf gesetzt, mit Jona zum Jahresabschlussball zu gehen. Unglücklicherweise hat er überhaupt keine Lust darauf. Nicht, weil sie schlecht aussieht oder Pickel hat oder so, nein, es gibt genug Jungs, die sich darum reißen würden, sie zum Ball zu begleiten. Aber sie ist in seinen Augen eine Tussi, deren Hauptinteressen Klamotten (möglichst teuer), Reisen (möglichst exotisch) und das Leben der Promis sind, und darauf steht Jona nun mal gar nicht.
Leider hat sich noch keine andere gefunden, die mit ihm zum Ball will, denn er hat zwei internatsbekannte linke Füße. Auch deshalb versteht er Lisas Interesse an ihm nicht. Was will sie bloß von ihm? Er ist nicht hässlich, das nicht, kein buckliger Glockenschwinger, aber er ist auch nicht gerade der Typ, dem die Mädchen kreischend zu Füßen fallen. Eigentlich sieht er ganz und gar durchschnittlich aus, und damit hat er auch kein Problem, denn so sieht er sich auch, als einen durchschnittlichen Menschen. Er möchte kein Popstar werden und auch keine Superleistungen vollbringen, egal auf welchem Gebiet. Eigentlich will er nur in Ruhe sein Leben leben und seinen Träumen nachhängen. Ganz im Gegensatz zu Christopher, der gern im Rampenlicht steht und mit seinem Wissen angibt. Trotzdem sind sie schnell beste Freunde geworden. Oder vielleicht auch gerade deshalb, denkt Jona manchmal, denn was der eine zu viel hat, das hat der andere zu wenig.
»Irgendwie verstehe ich deine Besessenheit mit Lisa Kuijper nicht«, stichelt er. »Ständig erwähnst du sie, Lisa hier, Lisa da. Du bist doch nicht etwa eifersüchtig?«
Jona glaubt das selbst nicht, aber irgendwie will er Chris seine kleinen Gemeinheiten heimzahlen. Und das geht am besten mit einer anderen kleinen Gemeinheit.
Zu seiner eigenen Überraschung sieht es tatsächlich so aus, als hätte seine Bemerkung Chris getroffen. Für einen Sekundenbruchteil verzieht sich sein Gesicht, ehe er wieder seine Besserwissermiene aufsetzt.
»Lisa Kuijper und ich? Alter, nicht in meinen schlimmsten Träumen! Ich liebe meine Freiheit. Sieh dich doch an! Du hast ja jetzt schon die Hosen voll, und ihr seid noch nicht mal zusammen!«
»Das werden wir auch nie sein«, gibt Jona zurück. »Nur weil sie unbedingt mit mir zum Ball will, muss ich ja nicht ihr Freund werden. Bei dir bin ich mir da nicht so sicher«, fügt er hinzu, um Chris noch eins auszuwischen. »Du weißt doch: Wer sich verteidigt, klagt sich an.«
»Wo hast du denn den müden Spruch ausgegraben?« Chris macht eine wegwerfende Handbewegung. »Ich muss mich gar nicht verteidigen. Die Frauen finden mich gut, na und? Dafür kann ich nichts. Aber deshalb muss ich noch lange nicht mit Lisa Händchen halten.«
»Da, du hast es schon wieder getan!« Jona grinst seinen Freund an. Anstatt einer Antwort beginnt der, mit der Gabel die letzten Krümel auf seinem Teller zusammenzusuchen.
Auch Jona will sich gerade erneut über seinen Apfelstrudel hermachen, als ihn jemand in den Rücken stößt.
Die Gabel mit dem Strudelstück darauf fliegt ihm aus der Hand und landet zielsicher auf Christophers Tablet.
»Sorry«, keucht eine heisere Stimme an seinem Ohr.
Jona sieht den schockierten Gesichtsausdruck seines Freundes …
… fühlt eine Hand auf seiner Schulter …
… reißt den Kopf zur Seite und blickt in zwei große graublaue Augen, und es kommt ihm für einen Moment so vor, als hätte er schon immer in diese Augen geblickt …
… spürt einen Schauer, der seinen ganzen Körper durchläuft …
… und dann bleibt die Welt für einen Augenblick stehen.
Und als sie sich wieder in Bewegung setzt, ist sie schon wieder weg.
Sie, denn es ist ein Mädchen.
Schwarze Haare, kurz, ungekämmt und wild.
Zerfetzte Jeans, abgenutzte Sneakers.
Ein dunkelgrauer Wollpullover.
Ein Ring im rechten Nasenflügel.
Wie hat er das alles nur wahrnehmen können in diesem Bruchteil einer Sekunde?
Das Mädchen ist bereits am anderen Ende des Platzes angekommen. Gerade verschwindet sie um die Ecke, da rennt ein Mann an ihrem Tisch vorbei.
Jona sieht nur eine Jogginghose und einen rasierten Schädel, dann ist er auch schon weg.
Und es folgt noch einer, dicht hinter dem Rasierten, der allerdings einen Anzug trägt. Aber auch er ist eindeutig hinter dem Mädchen her.
So schnell, wie sie aufgetaucht sind, sind alle drei wieder verschwunden.
Jona schüttelt den Kopf. »Alter, was war das?«
Und dann spürt er einen kalten Schauer, der ihm den Rücken herunterläuft.
Nein, kein Schauer, das ist etwas anderes. Irgendwas bewegt sich an seinem Rücken entlang.
Sofort ergreift ihn die Panik. Ist das ein Tier? Er denkt an fette Käfer, Tausendfüßler, Kneifer aller Art, vor denen er den totalen Horror hat. Und sie sitzen hier unter einem Baum, von dem sich so ein Krabbler ganz leicht auf ihn stürzen kann.
Vorsichtig richtet er sich so gerade wie möglich auf.
Da! Es bewegt sich schneller! Jona fängt an zu schwitzen. Seine Augen weiten sich, sein Atem geht stoßweise.
»Was ist los, Alter?« Chris blickt ihn fragend an.
Jona gibt keine Antwort. Mit einem Ruck zieht er sein T-Shirt aus der Hose und schüttelt seinen Körper, so heftig er kann.
Irgendwas fällt mit einem leisen Klappern aufs Pflaster.
So hört sich kein Kriechtier an! Jona sackt erleichtert in sich zusammen und beugt sich zur Seite. Da liegt ein kleines silbernes Ding, kaum größer als eine Fritte. Er streckt den Arm aus und hebt es auf.
Ein USB-Stick.
Dann begreift er plötzlich. Den muss ihm das Mädchen in den Ausschnitt gesteckt haben, als sie kurz an seinem Stuhl angehalten hat! Er mustert den Stick näher, kann aber nichts Besonderes daran entdecken. Ein normaler kleiner USB-Stick eben.
»Wo hast du den denn auf einmal her?«, fragt Christopher. »Hat den die Zerzauste verloren?«
»Die Zerzauste?« Jona ist einen Moment irritiert. »Ach, du meinst das Mädchen gerade.« Als »zerzaust« hätte er sie nicht eingeordnet, aber jetzt, da Chris das Wort erwähnt, räumt er ein, dass da was dran ist. Die zerfetzten Klamotten, der Nasenring – und hat er nicht auch irgendwo ein Tattoo gesehen? Er ist sich nicht sicher, es ging alles so schnell. Auf alle Fälle machte sie tatsächlich einen etwas wilden Eindruck. Das lag aber vielleicht auch daran, dass sie auf der Flucht war, gejagt, da würde wohl jeder auf andere Menschen gehetzt wirken.
»Erde an Jona!« Chris fuchtelt ihm mit der Hand vor den Augen rum. »Alter, du bist ja ganz weggetreten.«
Jona gibt sich einen Ruck. »Sie hat mir den ins T-Shirt gesteckt.«
»Den Stick? Aber warum?«
»Woher soll ich das wissen?« Jona blickt sich suchend auf dem Platz um, aber natürlich ist weder von dem Mädchen noch von den Männern eine Spur zu entdecken.
»Vielleicht ist da ein Staatsgeheimnis drauf! Geheime Akten, Enthüllungen, so wie Wikileaks. Deshalb wurde sie verfolgt, und wir müssen das jetzt veröffentlichen!« Chris geht richtig ab. Verschwörungstheorien sind sein Ding, darüber kann er sich stundenlang auslassen.
»Ganz ruhig, Alter.«
»Aber was ist, wenn ich recht habe? Dann sind wir vielleicht auch in Gefahr.« Vor lauter Aufregung wirft Chris fast sein Limoglas um. »Wir müssen sofort los und nachsehen, was auf dem Stick gespeichert ist!«
»Ist ja schon gut.« Jona geht das Gesicht der Unbekannten nicht aus dem Kopf. Diese Augen, die ihm eine geheime Botschaft zu übermitteln schienen. Und wieso gerade er? Warum hat sie ausgerechnet ihm den Stick zugesteckt und nicht Chris oder irgendeinem anderen der Leute, die auf dem Platz herumsitzen?
»Was meinst du, haben sie das Mädchen erwischt?«, fragt er.
»Ein Grund mehr, zu verschwinden! Die beiden Kerle sahen nicht so aus, als wäre mit ihnen gut Kirschen essen. Wenn die die Zerzauste ausquetschen, dann packt die vielleicht aus, und sie sind hinter uns her.«
Uns? Jona weiß nicht, warum sie hinter Chris her sein sollten, denn schließlich hat das Mädchen ihm den Stick zugesteckt. Aber sein Argument ist nicht von der Hand zu weisen. Außerdem will er selbst wissen, was sich auf dem Datenträger befindet.
»Also gut.« Jona schiebt den Teller mit dem Rest des Apfelstrudels weg. Er hat auf einmal keinen Hunger mehr. Auch Chris hat sein Interesse daran verloren. Sie bezahlen und machen sich auf den Weg zum Internat.
Chris hat sich inzwischen so in seine Paranoia verbissen, dass er an jeder Ecke mögliche Verfolger und Beschatter entdeckt. Selbst Jona fängt an, sich ständig umzublicken. Allerdings hält er eher nach dem Mädchen Ausschau.
Und er fragt sich, ob er sie jemals wiedersehen wird.
Das Internat ist ein dreistöckiges Gebäude aus dem vorigen Jahrhundert, das die schmale Straße, an der es liegt, dominiert. Die kleinen weißen Häuschen auf der gegenüberliegenden Seite sehen im Vergleich wie Puppenhäuser aus, aber es wohnen leibhaftige Menschen darin, das hat Jona oft genug gesehen.
Ganz Brügge sieht eigentlich so aus wie eine gigantische Spielzeugstadt oder eine dieser mittelalterlichen Städte, die man aus Computerspielen kennt. Viele Gassen sind von Häusern gesäumt, die fünfhundert Jahre oder älter sind, und die Gebäude jüngeren Datums fügen sich nahtlos in ihre Umgebung ein. Man muss schon genau hinsehen, um ihr Alter richtig schätzen zu können.
Das Internat ist jedenfalls kein halbes Jahrtausend alt, so groß wurden damals nur Paläste und Burgen gebaut. Es ist ein strenger Backsteinbau mit großen weißen Sprossenfenstern und einer dicken Holztür mit Messingklopfern daran. Die werden natürlich nicht mehr benutzt; neben der Tür ist ein kleiner Kasten mit zehn Tasten montiert, auf dem man einen Zahlencode eingibt, um ins Gebäude zu gelangen.
Jona steuert zielsicher darauf zu, aber Chris packt ihn am Arm und zieht ihn weiter.
»Was soll das?«, fragt Jona und will sich losmachen.
»Kleine Vorsichtsmaßnahme«, sagt Chris. »Erst mal überprüfen, ob die Luft rein ist. Wir wollen doch nicht, dass jemand weiß, wo wir wohnen.«
Jona schüttelt entgeistert den Kopf. »Siehst du hier irgendwo einen Verfolger?« Er bleibt stehen und deutet die Gasse hinunter. Eine Gruppe von Schülern, die auf dem Weg zum Bahnhof ist, kommt um die Ecke gebogen. Ansonsten ist niemand zu sehen.
Widerstrebend fügt sich Chris. Eine Minute später fällt die Tür des Internats hinter ihnen ins Schloss. Willem, der Hausmeister, der wie üblich den Nachmittag in seinem Glaskasten hinter der Tür verbringt, blickt kurz auf und nickt ihnen zu, bevor er sich wieder seiner Lektüre widmet, wahrscheinlich eines dieser Geschichtsmagazine, die er in jeder freien Minute studiert. Unter den Schülern geht das Gerücht um, dass Willem früher selbst einmal Lehrer oder sogar Professor an einer Universität war, aber wegen eines »Vorfalls« aus dem Amt gejagt wurde. Was das für ein Vorfall war, darum ranken sich die wildesten Spekulationen, aber natürlich weiß niemand etwas Genaues.
Sie springen die Treppen hoch, drängen sich durch den Schwarm der Unterstufenschüler, die die Gänge bevölkern, und erreichen schließlich ihr Zimmer. Chris läuft sofort zum Fenster und blickt hinaus. »Alles klar«, meldet er. »Keine verdächtigen Bewegungen.«
»Du solltest vielleicht mal ein paar andere Serien gucken«, sagt Jona, der schon vor seinem Laptop sitzt und ihn hochfährt. Er steckt den USB-Stick ein und öffnet den Dateimanager. Der zeigt, dass sich nur eine Handvoll Dateien auf dem Stick befinden. Es scheint sich um irgendeine Software zu handeln, denn eine davon ist eine ausführbare Programmdatei, was Jona an der Endung .exe erkennt.
notizen.txt
aphro.exe
aphro1.dll
aphro2.dll
aphro3.dll
libshare.pm
.bin
.lib
.share
Jona will gerade die Programmdatei doppelklicken, als Chris ihn zurückhält.
»Alter, das kann dir den ganzen Rechner zerschießen. Du weißt doch gar nicht, was das ist. Aphro.exe, das hört sich echt merkwürdig an.«
Jona nimmt die Hand von der Maus. »Und?«
»Ich habe einen Spezialscanner auf meinem Rechner. Lass uns das Ding noch mal richtig durchleuchten.«
Jona zieht den Stick ab. Während Chris die Dateien mit seinem Virenscanner checkt, trommelt er ungeduldig mit den Fingern auf der Tischplatte herum. Das Mädchen geht ihm nicht aus dem Kopf. Er kann es nicht erwarten, mehr über sie zu erfahren, und der einzige Weg dazu ist der USB-Stick. Zumindest hofft Jona das. Warum sollte sie ihm den Stick sonst zugesteckt haben? Irgendwas muss sie sich dabei doch gedacht haben, oder?
»Findest du nicht, das ist genug? Das Ding ist sauber!«
»Geduld, Alter, Geduld.« Chris hebt eine Hand, ohne die Augen vom Bildschirm zu wenden. Es kommt Jona wie eine Ewigkeit vor, bis er den Stick schließlich zurückhat.
Er klickt sofort auf aphro.exe. Die Festplatte rumort kurz, dann ist sie wieder still. Nichts passiert. Jona wiederholt den Vorgang, mit demselben Ergebnis. Er sieht Chris fragend an. Der zuckt mit den Schultern.
»Keine Idee, Alter. Das kann alles Mögliche bedeuten: defekte Datei, falsche Windows-Version, fehlende Komponenten.« Er deutet mit dem Finger auf die Dateiliste. »Mach doch mal die Textdatei auf, da erfahren wir vielleicht mehr.«
Jona klickt die Datei. Sein Editor poppt auf und zeigt einen langen Text an. Er ist auf Flämisch geschrieben, aber zum Glück beherrschen er und Chris die Sprache inzwischen gut genug, um das zu verstehen, was sie vor ihren Augen haben.
Mein Name ist Hannah.
Wenn Du, wer immer Du auch bist, das hier liest, dann habe ich wahrscheinlich ein Problem.
Vielleicht kannst Du mir dabei helfen, vielleicht auch nicht.
Und wenn Du von der Polizei oder vom Staatsschutz bist, dann wird sich diese Datei in fünf Sekunden selbst vernichten.
5 …
4 …
3 …
Haha, kleiner Spaß.
(Obwohl ich weiß, dass mit Euch nicht zu spaßen ist.)
Also noch mal.
Mein Name ist Hannah.
Ich verdiene mein Geld mit Coden.
Mein letzter Job war ein größerer Auftrag. Ich sollte einen neuen Algorithmus für eine Singlebörse entwickeln.
Wer meine Auftraggeber sind, weiß ich meistens nicht, denn ich habe nicht direkt mit ihnen zu tun. Ich bekomme die Jobs über Freunde, die in richtigen Firmen arbeiten und in richtigen Wohnungen wohnen und ein richtiges Konto haben, auf das ein richtiges Gehalt überwiesen wird.
Das habe ich alles nicht. Denn ich werde von der Polizei gesucht.
Und jetzt auch noch von anderen Leuten. Das ist der Grund, warum ich das hier aufschreibe.
Ich bin überzeugt, das hat mit meinem letzten Auftrag zu tun.
Drei Monate habe ich daran gearbeitet, und am Ende habe ich eine Lösung gefunden, von der ich selbst nicht genau weiß, wie sie funktioniert.
Und ob sie funktioniert.
Denn als ich mein Proggie zum ersten Mal ins Netz losgelassen habe, ist es passiert.
Dazu musst Du wissen, dass ich keine neue Singlebörse entwickelt habe. Das sind ja nicht mehr als ein paar Datenbanken und einige simple Rechenoperationen. Das kriegt jeder Teilnehmer eines Informatikkurses in der Schule hin.
Mein Code ist etwas völlig anderes.
Er benutzt alle vorhandenen Singlebörsen in der ganzen Welt und noch viele andere Quellen. Da ist klar, dass das vielen Leuten nicht gefällt.
Schließlich greife ich ihre Daten ab, ohne dafür zu bezahlen.
Aber gehören ihnen die Daten wirklich?
Was meinst Du, mysteriöser Unbekannter? Hast Du da schon mal drüber nachgedacht?
Kann Dir einer abkaufen, was Du gern isst, gern hörst oder gern trägst?
Aber ich schweife ab.
Was ich nicht verstehe: Wie haben sie mich so schnell gefunden?
Meine Bots brauchen eine ganze Weile, um alle erforderlichen Informationen zusammenzutragen. Das schien auch ganz gut zu funktionieren. Aber als es so weit war und das erste Resultat auf meinem Screen erschien, passierte es: Ich bekam die volle Breitseite.
Eine ganz ausgefuchste Attacke legte meinen Rechner lahm. Schwarzbild, rien ne va plus. Total blackout.
Ich hab sofort den Stecker gezogen, vom Stick gebootet und das System gecheckt. So einfach kann man mich nicht aushebeln, ich hab genug von dem Zeugs selbst geschrieben, um zu wissen, wie man sich dagegen schützt.
Beim Checken der Logs bin ich dann auf ein paar gut getarnte IP-Adressen gestoßen, die natürlich alle clean waren. Was mein Angreifer allerdings nicht wusste: In dem Moment, in dem er auf mich losging, hat mein System automatisch einen Sniffer auf seine Spur gesetzt. Und der hat mir auf meinem Smartphone eine genaue Location abgeladen.
Brügge.
Der Angriff kam aus Brügge.
Was für ein Zufall! Oder nicht? Hatte ich doch meine Zelte ganz in der Nähe aufgeschlagen, nur ein paar Kilometer entfernt.
Es gab noch einen anderen Grund für mich, nach Brügge zu reisen, also fuhr ich gleich am nächsten Tag rüber.
Ich kenne Brügge ganz gut, hab da schon mal eine Weile gelebt. Ob ich die Stadt mag, kann ich nicht sagen. Die fetten Händler von damals wurden durch die fetten Händler von heute ersetzt, und das meiste Volk, das sich durch die Gassen drückt, das sind genau die Leute, die Menschen wie mich am liebsten wegsperren würden, aus den Augen, aus dem Sinn.
Wir stören sie nur beim ungehemmten Geldausgeben.
Egal. Ich hatte die Geokoordinaten, und die lagen nicht in der Innenstadt, sondern weiter draußen, Richtung Hafen.
Da sind die Leute nicht so chic, und sie gucken dich auch nicht so schief an.
Es war ein etwas heruntergekommenes Lagerhaus neben einem ehemaligen Billardklub und sah so gar nicht aus wie die Zentrale einer weltumspannenden Organisation, die pausenlos das Internet überwacht und in Sekundenschnelle zuschlagen kann. Die Oberlichter waren dreckverschmiert und das Tor verschlossen. Daneben befand sich ein kleines Schild: »Olympos Im- und Export«.
Das war alles. Keine Telefonnummer, keine URL oder Mail.
Sackgasse.
Als ich wieder zurück war, habe ich versucht, mehr über Olympos herauszubekommen.
Nada. Keine Spur.
Das Ganze kommt mir echt seltsam vor. Und ich muss damit rechnen, dass meine Angreifer inzwischen auch wissen, wer ich bin.
Deshalb schreibe ich das hier alles auf und packe meine kleine App ebenfalls auf diesen Stick.
Es ist die einzige Kopie, die es gibt.
Natürlich ist sie verschlüsselt, Du brauchst also gar nicht erst versuchen, sie auszuführen. Aber wenn Du den Stick zerstörst, dann ist das Programm für immer weg.
Und ich weiß nicht, ob ich noch mal ein neues schreiben werde.
Es liegt also an Dir.
Aber denk dran: Es ist ein Spiel mit dem Feuer.
Und falls Du der bist, für den ich Dich halte – falls Du zufällig Jona heißt – falls Du zufällig in Brügge lebst – und falls Du nicht zufällig ein Arschloch bist – dann hoffe ich, dass Du mir helfen wirst.
Denn Deine Hilfe könnte ich gut gebrauchen.
Auf die Dauer ist es langweilig, alles allein zu machen.
»Alter, sie kennt dich!«, ruft Chris. »Dann musst du sie doch auch kennen! Also los, raus mit der Sprache!«
»Ich hab keine Ahnung, wer sie ist und woher sie meinen Namen hat.« Jona deutet auf den Bildschirm. »Ich hab sie garantiert noch nie vorher gesehen.«
»Das willst du mir doch nicht erzählen! Du hast Geheimnisse vor deinem besten Freund?« Chris macht ein beleidigtes Gesicht.
»Großes Ehrenwort, ich weiß nicht, woher sie mich kennt. Obwohl …«
»Obwohl? Obwohl was?« Chris ist sofort wieder voll da.
»Vorhin, auf dem Platz, als ich ihr in die Augen geblickt habe, da hatte ich für einen Moment lang das Gefühl, sie schon lange zu kennen.« Jona spürt sein Herz bei dieser Erinnerung schneller schlagen. Sollte er Hannah doch schon mal begegnet sein? Aber wann und wo? Ein Mädchen wie sie vergisst man doch nicht!
»Da siehst du’s!«, triumphiert Chris. »Vielleicht war sie mit dir in der Grundschule oder hat früher bei dir in der Nachbarschaft gewohnt.«
Jona schüttelt den Kopf. »Nein, nein und noch mal nein. Und jetzt hör bitte auf damit. Sag mir lieber, was ich mit dem USB-Stick anfangen soll.«
»Ganz einfach. Wir müssen nur jemanden finden, der uns die Dateien entschlüsselt. Dann können wir uns selbst überzeugen, ob das Programm funktioniert.«
»Und uns dieselben Typen auf den Hals ruft, die ihren Rechner angegriffen haben? Bist du bescheuert?«
»Was denn, bist du gar nicht neugierig, was das Programm kann?«
»Das wissen wir doch.« Jona deutet auf den Bildschirm. »Oder suchst du so dringend nach einer Freundin, dass dir das Risiko egal ist?«
»Mann, wen interessieren schon die Frauen! Mal abgesehen von dir.« Chris zwinkert Jona zu. »Es geht um den Code! Wenn das stimmt, was da steht, dann können wir uns damit eine goldene Nase verdienen.«
»Wenn du so weiterredest, dann verdienst du dir gleich eine blutige Nase!« Jona springt auf und tippt seinem Freund mit dem Finger gegen die Brust. »Hast du die beiden Gorillas vergessen, die Hannah verfolgt haben? Und willst du dir wirklich ihr Programm unter den Nagel reißen, während sie sich irgendwo vor ihren Verfolgern versteckt?«
Er zieht den Stick aus seinem Rechner und hält ihn in die Höhe. »Das hier, das ist eine Bitte um Hilfe, du Vollhorst.«
Christopher hebt abwehrend die Hände und macht einen Schritt zurück. »Schon gut, Alter, schon gut, reg dich wieder ab. Ich bin doch nur neugierig.«
»Ja klar. Und wenn du damit die große Kohle machen kannst, ist das ein angenehmer Nebeneffekt.«
Chris blickt zu Boden. »Das war nicht so gemeint«, murmelt er.
»Na schön.« Jona lässt den Stick in seiner Hosentasche verschwinden. »Ich brauch jetzt mal ein bisschen frische Luft.«
Chris legt ihm die Hand auf den Arm. »Meinst du nicht, wir sollten vorher eine Kopie von den Dateien auf dem Stick machen?«
Jona blickt Chris scharf an. Er kennt seinen Freund, glaubt es jedenfalls, aber diese Bemerkung vorhin mit dem Geldverdienen hat ihn unsicher gemacht. Es wäre sicher klug, die Daten zu sichern, aber ist das wirklich Christophers einziges Motiv?
»Später vielleicht«, sagt er. »Wenn ich zurückkomme.«
Chris nickt wortlos.
Spürt er, dass Jona ihm nicht ganz traut? Egal, daran kann er jetzt auch nichts ändern.
Draußen auf der Straße ist es inzwischen voller geworden. Alles bewegt sich Richtung Bahnhof: Schüler, Studenten, Touristen, Pendler. Jona biegt hinter dem Internat links ab, überquert einen der zahlreichen Kanäle, der Reien, die Brügge durchziehen, dann einen kleinen Platz, wo er einer Pferdekutsche ausweichen muss, die Touristen durch die Stadt schaukelt, läuft vorbei an Frittenbuden und Cafés, Andenkenläden und Schokoladengeschäften, bis er den Beginenhof erreicht. Hier ist der Besuchertrubel nicht mehr so groß, die meisten sind bereits gegangen oder verlassen gerade das Gelände.
Die geweißten Backsteinhäuschen, die im Viereck um eine große Wiese mit mehreren Dutzend Pappeln gruppiert sind, waren einst Zufluchtsorte für unverheiratete Frauen und Witwen, die hier unbehelligt leben konnten. Das ist lange vorbei, aber der Ort ist eine Oase der Ruhe nah am Herzen der Stadt geblieben.