Ikarus oder Die 500 Tage von Carnaro - Gerd Ruebenstrunk - E-Book

Ikarus oder Die 500 Tage von Carnaro E-Book

Gerd Ruebenstrunk

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Beschreibung

Am 12. September 1919 marschierte der italienische Nationaldichter Gabriele d'Annunzio mit 287 Freischärlern aus Ronchi los, um die Hafenstadt Fiume einzunehmen. Am Abend wurde er zum Comandante der Stadt ernannt, die er 500 Tage hielt. Schnell strömten aus der ganzen Welt Freiwillige und Aktivisten nach Fiume. Deserteure, Anarchisten, Syndikalisten, Freidenker, Kommunisten, Homosexuelle, Futuristen, Schriftsteller, Musiker, Künstler und Abenteurer. Die "Stadt des Lebens" pulsierte rund um die Uhr. Sie war ein riesiges gesellschaftliches Versuchslabor. Neben der Regierung in Rom beobachtete noch jemand die Vorgänge in Fiume mit großem Misstrauen. Benito Mussolini fürchtete, der Dichter werde die Rolle einnehmen, die er sich selbst zugedacht hatte: den Sturz der Regierung. D'Annunzio war weitaus populärer als der spätere Duce. Er war nicht nur der Vate, Italiens Dichterfürst, sondern zudem ein hochdekorierter Kriegsheld. Der Dritte im Bunde war Filippo Tommaso Marinetti, Gründer und Leuchtfigur des Futurismus. Er war d'Annunzio in Hassliebe verbunden und politisch mit Mussolini verbandelt. Für alle war Fiume ein zentraler Wendepunkt in ihrem Leben. Für d'Annunzio war es der Zenit seiner politischen Laufbahn, dem ein rascher Abstieg folgte. Für Mussolini war es ein Musterbeispiel für die Ästhetisierung und Ritualisierung der Politik, die er zu einem wesentlichen Bestandteil des Faschismus und seines persönlichen Aufstiegs machte. Und Marinetti wurde durch die Zurückweisung des Dichters in Fiume näher zu Mussolini getrieben, dem er bis zu seinem Tod treu blieb. Diese drei Männer haben das 20. Jahrhundert erfunden: den Faschismus, den Populismus, die moderne Kunst. Jetzt wird es Zeit, erstmals ihre gemeinsame Geschichte zu erzählen, pünktlich zum 100. Jahrestag der Besetzung von Fiume.

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Gerd Ruebenstrunk

IKARUS

oder

Die 500 Tage von Carnaro

Szenen einer vergessenen Utopie

© 2019 Gerd Ruebenstrunk

Autor: Ruebenstrunk, Gerd

Umschlag: Fotonachweis siehe letzte Seite

Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN:

 

Paperback:

978-3-7497-2240-2

Hardcover:

978-3-7497-2241-9

e-Book:

978-3-7497-2242-6

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

„Icaro!“ E fu più fievole il richiamo.

„Icaro!“ E fu l’estrema volta. Solo

fui, solo e alato nell’immensità.

„Ikarus!“ Zu schwach war der Mahnruf.

„Ikarus!“ Und es war das letzte Mal. Nur

ich war da, allein und beflügelt in der

Unendlichkeit.

Gabriele d’Annunzio, aus: Ditirambo IV

Fiume was the last of the pirate utopias.

Hakim Bey, T.A.Z.

Inhaltsverzeichnis

Pleased to meet you

Der Heilige Einzug oder Der Erlöser kommt nach Fiume

Marinetti schreibt ein Manifest, der Duce einen Groschenroman, und der Vate geht in die Luft

Marinetti überfällt eine Redaktion und dabei gibt es Tote

Oscar Sinigaglia zieht an den Fäden, aber der Vate will daran nicht tanzen

Der Vate lernt eine Pianistin kennen und bekommt Fieber

Der Vate schläft auf vier Tischen und reckt einem General die Brust entgegen

Der Vate wird zum Kommandanten und weiht eine Fahne

Marinetti macht eine unbequeme Reise, die zudem nicht von langer Dauer ist

Wie wird man Vate?

Fiume wird zur Piratenrepublik, und der Vate stiehlt das Pferd der Apokalypse

Der Duce kommt nach Fiume, und der Comandante wird radikaler

Der Comandante widmet sich Dalmatien

Kochnitzky gründet einen Völkerbund

Der Vate und de Ambris schreiben die Verfassung von Carnaro

Guido Keller läuft nackt am Strand herum, stiehlt einen Esel und fliegt nach Rom

Marconi funkt vor Fiume und Toscanini wird beschossen

Der Comandante beschenkt Frauen und organisiert einen Babykreuzzug

Die Frauen von Fiume machen sogar den Sozialisten Angst

Die Stadt des Lichtes feiert, hat aber auch Schattenseiten

Blutige Weihnachten

Der Vate stürzt aus dem Fenster und gibt Rätsel auf

Marinetti merkt, dass es in Russland im Sommer ganz schön heiß werden kann

Der Kardinal und der Duce reden über Gott und die Welt

Drei Männer machen einen Spaziergang

Liste der Hauptpersonen

Alceste de Ambris, Syndikalist und Verfasser der Verfassung von Fiume

Gabriele d’Annunzio, italienischer Nationaldichter und Kommandant von Fiume

Luisa Baccara, Pianistin, langjährige Geliebte d‘Annunzios

Giovanni Comisso, Dichter und treuester Gefolgsmann von Guido Keller

Eugenio Coselschi, enger Vertrauter d‘Annunzios

Henry Furst, Theaterassistent, gebürtiger Amerikaner, Co-Außenminister neben Kochnitzky und Toeplitz

Giovanni Giurati, zeitweiliger Kabinettschef d’Annunzios in Fiume

Nino Host-Venturi, Hauptmann, Befehlshaber der Fiume-Legion

Guido Keller, Fliegerass und treuester Freund und Gefolgsmann d’Annunzios

Leon Kochnitzky, in Belgien geborener Dichter, zeitweiliger Außenminister von Fiume und Begründer der Lega von Fiume

Filippo Tommaso Marinetti, Dichter und Begründer des Futurismus

Benito Mussolini, Chefredakteur des Il Popolo und Anführer der faschistischen Bewegung

Francesco Saverio Nitti, italienischer Ministerpräsident

Vittorio Emanuele Pittaluga, General, Militärgouverneur von Fiume

Margherita Sarfatti, Muse Mussolinis

Oscar Sinigaglia, Industrieller und Finanzier der Besetzung Fiumes

Ludovico Toeplitz de Grand Ry, Filmproduzent, Co-Außenminister neben Kochnitzky und Furst Ferruccio Vecchi, Anführer der Arditi

Pleased to meet you …

Immer wieder gibt es kurze historische Momente, in denen Träume, Fantasien, Visionen, Utopien, Begierden und Wünsche wahr werden.

In Fiume waren es Gaukler und Ganoven, Fantasten und Fetischisten, Anarchisten und Asoziale, Kommunisten und Korsaren, Esoteriker und Elende, Arditi und Abenteurer, Nationalisten und Nudisten, Piloten und Prostituierte, Dichter und Drogensüchtige, Helden und Homosexuelle, Komponisten, Kriminelle, Säufer und Syndikalisten, die es schafften, gemeinsam fünfzehn Monate lang einen eigenen kleinen Staat zu errichten, dessen Gesetze sie selbst festlegten, angeführt von einem kokain- und sexsüchtigen Dichter, der an herkömmlicher Politik keinerlei Interesse hatte.

Das ist jetzt hundert Jahre her.

Vergessen sind die Korsaren von Fiume; vergessen das monatelange Fest des Lebens; vergessen die Hoffnungen der Protagonisten und der Mitläufer; vergessen die Liebe und der Mut der Frauen; vergessen, vergessen, vergessen.

Doch ich erinnere mich. Denn ich war dabei.

Wer ich bin, möchten Sie wissen?

Ich bin das Gedächtnis der Zeiten, das schlechte Gewissen der Sieger, die Erinnerung der Geschlagenen. Ich bin der unsichtbare Beobachter, der Einflüsterer in der Nacht, der allgegenwärtige Berichterstatter. Ich bin der Hüter der Träume und der Zerstörer der Illusionen, der Förderer der Wahrheit und der Meister der Lüge.

Trauen Sie mir also nicht, wenn ich von Fiume berichte.

Aber trauen Sie auch nicht jenen, die Ihnen Fiume gerne verschweigen möchten. Die das, was damals dort geschah, mit einem Federstrich abtun. Die nicht wollen, dass Sie sich mit dem Traum einer anderen Gesellschaft beschäftigen. Die es verabscheuen, wenn Sie mit den Rebellen von damals und heute lachen, feiern, tanzen und weinen.

Denn jener Traum kann nie ganz ausgelöscht werden. Er kehrte fünfzig Jahre später wieder in San Francisco und eroberte von dort die Welt.

Und jetzt? Erneut sind fünfzig Jahre vergangen. Ist es nicht Zeit für einen neuen Traum? Sehen wir nicht bereits die Veränderungen am Horizont? Gerät das Alte nicht mehr und mehr aus den Fugen?

Aber hören Sie nicht auf mich. Ich bin der große Zweifler, ich will Sie nur verwirren. Ich bin der Feind jeglicher politischen Korrektheit. Ich löcke wider den Stachel, nähre die nagenden Zweifel und stifte Unruhe.

So wie damals in Fiume.

Was ist das überhaupt für ein Name für eine Stadt? Man könnte es ja verstehen, wäre der Ort nach einem Fluss benannt worden. Aber nur Fluss? Reichte die Fantasie nicht aus für einen besseren Namen?

Die Illyrer, die von hier aus als Piraten die Adria unsicher machten, bezeichneten den Ort als Liburna, ein Begriff, von dem wir zu ihren Gunsten annehmen wollen, dass er nicht ebenfalls ein Synonym für Fluss war. Die Römer änderten das nach ihrer Eroberung in Tarsatica. Irgendwann kamen dann die Kroaten, die wiederum von den Franken vertrieben wurden. Trsat hieß der Ort jetzt, bis Friedrich III die Stadt kurzerhand erwarb und sie in Sankt Veit am Pflaum umbenannte. Man kann verstehen, dass dieser Name den Einwohnern nicht unbedingt behagte. Sie machten aus dem Pflaum einfach Fiume.

Schließlich schauten auch die Franzosen vorbei, natürlich unter Napoleon, dann waren die Italiener dran und danach die Habsburger Monarchie, genauer gesagt, die Ungarn. Fiume wurde eine ungarische Hafenstadt, im Grunde ein Widerspruch in sich, aber was den Österreichern mit Triest recht war, das war den Ungarn mit Fiume nur billig. Auch wenn es nicht gerade ein billiges Vergnügen war, denn die Stadt war chronisch defizitär, und die Ungarn mussten hohe Beträge in den Hafen pumpen, um ihn für große Schiffe tauglich zu machen.

Die ganze Zeit umkreisten die Kroaten die Stadt mit gierigem Blick und warteten darauf, ihr Rijeka (was, wie könnte es anders sein, der kroatische Begriff für Fluss ist) wieder in Besitz zu nehmen. Sie hatten in Fiume nichts zu sagen, und viele von ihnen durften die Stadt nur als Arbeitskräfte betreten, als Handlanger im Hafen oder in der Torpedofabrik, dem technologischen Schmuckstück Fiumes. Damit leistete man seinen Beitrag zur Weltgeschichte, denn dort wurde der moderne Torpedo erfunden und anschließend, neben ungarischen U-Booten, in großen Stückzahlen produziert, bis der Erste Weltkrieg beendet war.

Ansonsten blieb, wie immer, alles im Fluss. Ganz besonders in jenem Jahr, als der Vate nach Fiume kam.

***

Am 12. September 1919 marschierte der italienische Nationaldichter Gabriele d’Annunzio kurz nach Mitternacht mit 287 Freischärlern aus Ronchi los, um die Hafenstadt Fiume einzunehmen. Am Abend wurde er zum Comandante der Stadt ernannt, die er 500 Tage hielt.

Schnell strömten aus der ganzen Welt Freiwillige und Aktivisten nach Fiume. Die „Stadt des Lebens“ pulsierte rund um die Uhr. Sie war ein riesiges gesellschaftliches Versuchslabor. Es wurde diskutiert, gefeiert, marschiert; es gab freie Liebe und Drogen im Überfluss, volle Gleichberechtigung der Frauen und die freie Religionsausübung.

Neben der Regierung in Rom beobachtete noch jemand die Vorgänge in Fiume mit großem Misstrauen. Benito Mussolini fürchtete, der Dichter werde die Rolle einnehmen, die er sich selbst zugedacht hatte: den Sturz der Regierung. D‘Annunzio war weitaus populärer als der spätere Duce. Er war nicht nur der Vate, Italiens Dichterfürst, sondern zudem ein hochdekorierter Kriegsheld.

Der Dritte im Bunde war Filippo Tommaso Marinetti, Gründer und Leuchtfigur des Futurismus. Er war d’Annunzio in Hassliebe verbunden und politisch mit Mussolini verbandelt, der damals noch mehr Sozialist als Faschist war. Er war der ewige Zweite, als Dichter und Kultfigur immer hinter dem Vate, als Politiker immer hinter dem Duce.

Es gibt kein Foto, das den Duce, den Vate und Marinetti gemeinsam zeigt. Verwunderlich, oder vielleicht auch nicht. Denn der Duce und der Vate wurden häufig miteinander abgelichtet. Sie erkannten im Gegenüber einen Teil von sich selbst. Marinetti hingegen war für sie ein Adept, der ihnen zwar nützliche Dienste leistete, vor allem dem Duce, den sie aber nicht als gleichrangig betrachteten.

Für diese drei Männer war Fiume ein zentraler Wendepunkt in ihrem Leben.

Für d’Annunzio war es der Zenit seiner politischen Laufbahn, dem ein rascher Abstieg folgte.

Für Mussolini war es ein Musterbeispiel für die Ästhetisierung und Ritualisierung der Politik, die er zu einem wesentlichen Bestandteil des Faschismus und seines persönlichen Aufstiegs machte.

Und Marinetti wurde durch die Zurückweisung des Vate in Fiume näher zu Mussolini getrieben, dem er bis zu seinem Tod treu blieb.

Diese drei Männer haben das 20. Jahrhundert erfunden: den Faschismus, den Populismus, die moderne Kunst.

Viel ist geschrieben worden über die Vorkommnisse in Fiume, ihre Vorgeschichte und ihre Nachwirkungen. Eine genauere Lektüre allerdings zeigt, dass Vieles davon abgeschrieben worden ist von denen, die zuvor darüber berichtet haben. Wo beginnt also die Legende und wo endet sie? Und was ist die Wahrheit?

Der Vate, der Duce und Marinetti: jeder hatte seine eigene Wahrheit. Oder sollte ich Wahrheiten sagen? Und obwohl ich sie ihr Leben lang begleitete, weiß ich bis heute nicht, welche davon die gültige war.

Sie waren das, was sie waren, und sie konnten nur erreichen, was sie erreichten, weil sie frei von jeglichem Selbstzweifel waren. Nur so konnten sie die Erfinder der Zukunft werden. Denn diese drei Männer haben unser Jahrhundert begründet.

Sie träumten vom Krieg, und sie bekamen ihn.

Sie träumten von tödlichen Maschinen, und sie bekamen sie.

Sie träumten von einer neuen Welt, und sie bekamen sie.

Oder besser: Alle anderen bekamen sie. Denn der Vate, der Duce und Marinetti machten sich davon und ließen die Menschen mit den Folgen ihrer Träume zurück.

Sie waren ihren Zeitgenossen weit voraus, und alle sind ihnen einfach nachgelaufen. Und plötzlich standen die Gefolgsleute alleine da, orientierungslos in einer blutüberströmten Welt, aus der alle Wegweiser verschwunden waren.

Deshalb schreibe ich ein wenig davon auf, was damals in Fiume und davor und danach geschah. Die Zeiten, als sie noch die Herrscher der Welt waren. Einer Welt, die sie sich selbst geschaffen hatten und für sie bereit waren, zu sterben. Zumindest in dieser Hinsicht waren sie konsequent.

Öffnen wir also den Vorhang und lassen das Spiel beginnen.

 

12. September 1919

Der Heilige Einzug oder Der Erlöser kommt nach Fiume

Fiume wartet auf den Erlöser.

Wir schreiben das Jahr 1919. Eine Zeit, in der die Politik, so wie heute, schon lange in die Hände seelenloser Bürokraten und Karrieristen gefallen ist, für die nichts so unzutreffend ist wie der Begriff Volksvertreter. Denn die Menschen wollen Gefühle. Erlösung, Glück, Würde – es sind immer dieselben Sehnsüchte. Und nirgendwo lassen sie sich deutlicher greifen als in Fiume, wo eine junge Frau an einem Fenster steht.

Nennen wir sie Maria Bonnelli. Wir könnten sie auch Giulia oder Claudia nennen, das macht keinen Unterschied. Sie interessiert uns nicht als Person, sondern lediglich als Avatar, durch deren Augen wir besser beobachten können, was an diesem Tag in Fiume geschieht.

Seit Tagen hat eine merkwürdige Erregung die Stadt erfasst. Seit über einem Jahr liegt das Schicksal Fiumes in den Händen britischer, amerikanischer und französischer Politiker, die in Paris endlose Beratungen darüber abhalten, wie das Europa der Nachkriegszeit und die Hinterlassenschaft der Habsburger Monarchie am besten zu ordnen sind. Und Fiume kommt dabei eine besondere Rolle zu, mit seiner Gemengelage von Italienern, Kroaten, Ungarn und anderen Nationalitäten, welche die Stadt alle für sich haben wollen, einmal abgesehen von den Ungarn, die sich mit der Rolle des Kriegsverlierers abgefunden haben.

In Italien sind die Stimmen immer lauter geworden, die eine Annexion Fiumes fordern, um die Alliierten vor vollendete Tatsachen zu stellen. Auch in Fiume organisieren sich die Annexionisten, werden aber durch die internationalen Besatzungstruppen und die italienische Armee in Schach gehalten. Doch in den letzten Monaten haben sich die Gerüchte verstärkt, dass schon bald ein Freikorps die Stadt besetzen wird, angeführt von einem prominenten Italiener. Das kann nur einer sein, da ist man sich sicher, Gabriele d’Annunzio, der Vate, der Nationaldichter, der Prophet eines neuen Italiens, der Kriegsheld und größte Poet, den das Land seit Dante und Vergil hervorgebracht hat.

Und gestern verdichteten sich die Gerüchte. Der Vate ist aufgebrochen, hieß es. Er führt eine Armee aus Arditi an. Er wird am 12. September in Fiume einmarschieren.

Maria hat kaum zwei Stunden geschlafen. Die ganze Nacht haben sie und ihre Freundinnen damit verbracht, Matrosen und Offiziere der Dante Alighieri davon abzuhalten, aus Fiume auszulaufen. Sie haben mit ihnen getanzt, gelacht, getrunken, gesungen, geflirtet und ihnen die Ohren mit ihren Küssen so verschlossen, dass die Männer die Schiffssirene nicht hörten, die sie an Bord zurückrief.

Maria läuft ins Badezimmer, entzündet den Gasbadeofen und hofft, dass ihre Eltern davon nicht geweckt werden. Ihr Vater steht der allgemeinen Erregung, die Fiume ergriffen hat, skeptisch gegenüber, ebenso wie dem Vate. „Ich habe den Mann gesehen, als er 1907 hier aus seinem Werk vorgetragen hat“, hatte er am Vortag erklärt. „Das ist ein Mensch, der nur sich selbst liebt. Wenn er jetzt nach Fiume kommt, dann nicht, weil ihm unser Wohlergehen am Herzen liegt.“

Der Vater betreibt einen kleinen Zulieferbetrieb für die Schiffswerften. Das Geschäft geht schlecht, seit der Krieg verloren ist und die Ungarn keine Gelder mehr in den Hafen pumpen. Aber noch kann er sich über Wasser halten, besser jedenfalls als viele der Dockarbeiter, die den ganzen Tag ohne Arbeit herumlungern und von den Sozialisten auf dumme Gedanken gebracht werden.

Gianluigi Bonnelli hofft, wie seine Tochter, auf die Annexion Fiumes durch Italien, damit die Umsätze wieder besser werden. Der Vate ist dabei eher ein Hindernis. Diese Ansicht hat er auch im Nationalrat der Stadt geäußert, ist aber auf wenig Gegenliebe gestoßen. Gianluigi hört seine Tochter und weiß, was sie vorhat. Soll er sie aufhalten? Das wäre keine kluge Entscheidung im Hinblick auf den ehelichen Frieden, denn seine Frau Gianna ist ebenfalls eine Bewunderin des Vate. Und sich mit ihr anzulegen, das hat er bereits vor vielen Jahren gelernt, lohnt sich nicht. Sie ist ebenso selbstbewusst wie die meisten Frauen von Fiume, die sich vor wenigen Wochen sogar das Wahlrecht erkämpft haben.

Maria hat inzwischen ihr bestes Kleid angezogen und überlegt, ob sie einen Mantel überwerfen soll. Aber der September ist ausgesprochen warm und sie entscheidet sich dagegen. Wenige Minuten später steht sie auf der Straße, die um diese Stunde schon so belebt ist wie sonst nur am frühen Mittag.

Die Frauen haben ihre besten Sonntagskleider aus den Schränken geholt, die Haare sorgsam gesteckt, die Schuhe frisch geputzt. Jetzt eilen sie in kleinen oder größeren Gruppen zum Stadttor oder zur Piazza Dante. Einige von ihnen tragen Gewehre auf dem Rücken oder lange Messer in den Händen, ein Kontrast, der überall in der Welt für Aufregung sorgen würde, nur in Fiume nicht. Die Frauen von Fiume sind die Armee des Vate, sollten die Männer dieser Herausforderung nicht gerecht werden.

Maria hat andere Waffen, die sie erfolgreich in der letzten Nacht eingesetzt hat. Sie weiß es noch nicht, aber die Mannschaft der Dante Alighieri ist am Morgen nicht an Bord zurückgekehrt, sondern hat beschlossen, mit den Stadtbewohnern die Ankunft des Vate zu erwarten und ihm das Schiff zu übergeben.

Maria erreicht den Blumenladen an der Ecke. Die Blumenhändler kennen die Frauen von Fiume. Sie hatten schon geöffnet, bevor die ersten von ihnen auf die Straße getreten sind, und als Maria in den Laden kommt, ist das Angebot bereits deutlich zusammengeschrumpft. Sie entscheidet sich für die letzten weißen und rosa Hortensien und reiht sich wieder in den von Minute zu Minute stärker anschwellenden Strom der Menschen ein, der sie ins Stadtzentrum mitreißt.

***

Zur selben Zeit läuft Hauptmann Nino Host-Venturi unruhig im Hauptquartier der Fiumaner Legion auf und ab. Gestern Abend um elf hat er davon erfahren, dass der Vate gegen Mitternacht von Ronchi aus in Richtung Fiume aufbrechen wird. Er hat die Männer seiner Legion zusammengerufen und darauf eingeschworen, den Dichter mit allen Mitteln gegen Übergriffe der Besatzungstruppen zu verteidigen.

Nun geht es bereits gegen sechs, und noch immer ist von den Befreiern nichts zu sehen. Host-Venturi hat zwei seiner Männer ausgeschickt, die vor wenigen Minuten zurückgekehrt sind. Keine Spur vom Vate. Dabei müsste er schon längst vor den Toren der Stadt stehen.

Host-Venturi ist zwar ein Rebell, aber kein Hasardeur. Wenn die Aktion abgeblasen wurde, ohne dass er es weiß, macht es keinen Sinn, die Männer länger in Bereitschaft zu halten. General Pittaluga hat die italienischen Truppen mobilisiert, die seiner Legion zahlenmäßig weit überlegen sind. In der aufgeheizten Atmosphäre der Stadt könnte es leicht zu Missverständnissen kommen.

Der Hauptmann beschließt, zumindest diejenigen seiner Männer, deren Aufgabe die Einnahme des alliierten Hauptquartiers ist, zurückzurufen. Er schickt seinen Adjutanten los, der wenig später mit einer schlechten Nachricht zurückkehrt. Die Männer weigern sich zu demobilisieren. General Pittaluga ist aus der Stadt in Richtung Ronchi aufgebrochen. Host-Venturis Leute ziehen hinter Pittalugas Truppen her, um zu überprüfen, ob der Vate kommt oder ob er von der Armee aufgehalten wurde.

Host-Venturi weiß, ihm sind die Hände gebunden. Mit einer Handbewegung entlässt er den Adjutanten und macht sich auf den Weg in die Stadt, um sich selbst ein Bild von der Lage dort zu machen.

***

Maria hat sich heiser gesungen. In den letzten Stunden hat sie sich langsam von der Piazza Dante vorgekämpft bis an die Straße, durch die der Vate in die Stadt kommen muss.

Seit dem frühen Morgen harrt die Menge nun aus, doch niemand macht Anstalten heimzugehen. Gerüchte schwirren umher: Der Vate ist von Pittalugas Truppen festgesetzt worden. Der Vate wurde erschossen. Der Vate hat Italien überhaupt nicht verlassen. Der Vate steht kurz vor den Toren der Stadt. Der Vate kommt nicht.

Was soll man glauben? Wem soll man vertrauen?

Die Lieder sind in der letzten Stunde verklungen, die Kehlen sind ausgedörrt. Die Sonne brennt und Tausende von Leibern verströmen ihre Wärme, so dass Fiume einem Dampfkessel gleicht. Die Blumen in den Händen der Frauen beginnen zu welken, die Schnurrbärte der Männer sinken unter dem rinnenden Schweiß nach unten.

Wo bleibt der Vate?

Seine Ankunft war für die frühen Morgenstunden angekündigt worden. Jetzt naht der Mittag, und es ist nichts von ihm zu sehen. Immer wieder geht ein erwartungsfrohes Raunen durch die Menge, immer wieder erweist es sich als Trugschluss.

Doch Maria und die Frauen von Fiume warten weiter.

Und dann, schließlich, ein Geräusch in der Ferne. Es sind Rufe, unverständlich erst, doch in einem unverkennbaren Rhythmus.

Eia, eia, alalà! Eia, eia, alalà! Eia, eia alalà!

Der Schlachtruf, den der Vate an der Front erfunden hat.

Sofort wird er aus Tausenden heiserer Kehlen beantwortet. „Eia, eia, alalà! Eia, eia, alalà! Eia, eia alalà!“, tost es durch Fiume. Die Menge setzt sich in Bewegung, drückt, schiebt, und da sind schon die Männer der Legion, aufgetaucht wie aus dem Nichts, und halten die Straße frei.

Es ist elf Uhr fünfundvierzig.

Und dann kommt der Vate. Aus der Ferne erkennt Maria seinen roten Fiat. Rechts und links von ihm Legionäre im Laufschritt, die Waffen in der Hand, hinter ihm eine Staubwolke, die Lastwagen mit den Soldaten.

Der Vate steht in seinem Fahrzeug, die Hand in die Höhe gereckt, die Faust geballt. Er ist kleiner, als Maria ihn sich vorgestellt hat, dieser große Mann, der Fiume zurückführen wird in die italienische Heimat. Er trägt die Uniform der Arditi, der italienischen Elitetruppen, die schlichte Jacke, die hohe Kappe. Unter dem brausenden Jubel der Menge fliegen Tausende von Blumensträußen auf den Wagen zu, der erste Blumenregen von Fiume, dem noch viele folgen sollen.

„Fiume o morte! Fiume o morte!“ Der Schlachtruf donnert hoch in die Berge und hinaus über den Golf von Carnaro. Der Vate bewegt den Arm, so als dirigiere er ein gewaltiges Orchester. Und das tut er, denkt Maria, wir sind seine Instrumente, er schreibt unsere Partitur und gibt uns unsere Einsätze. Halb verschwunden ist der kleine Mann jetzt unter dem Blumenberg, der seinen Wagen bedeckt, und doch macht er keine Anstalten, die Sträuße zu entfernen.

Der Chauffeur des Vate fährt im Schritttempo, doch viel zu schnell ist er vorbei. Ihm folgen die Lastwagen mit den jubelnden Legionären und dahinter Soldaten Pittalugas, die zum Vate übergelaufen sind, ein langer Zug, dessen Ende Maria nicht abwartet. Sie will zum Gouverneurspalast, denn gewiss wird der Vate eine Ansprache halten.

Der Erlöser ist angekommen.

 

1909

Marinetti schreibt ein Manifest, der Duce einen Groschenroman, und der Vate geht in die Luft

Februar 1909, Paris

Filippo Tommaso Marinetti erwacht ruckhaft aus einem Alptraum. Ein anderer ist ihm zuvorgekommen, hat ihm seine Ideen geraubt, seinen Platz eingenommen. Hastig richtet er sich auf, um das rasende Herz durch einen Blick auf den Schreibtisch zu beruhigen. Gottseidank, alles da! Erleichtert lässt er sich auf die Matratze zurückfallen.

Heute Mittag hat er den entscheidenden Termin zur Veröffentlichung seines Manifests, an dem er über ein halbes Jahr gearbeitet hat. Und zwar im Figaro, nicht bei irgendeiner Provinzzeitung. Dafür hat er sich mächtig ins Zeug gelegt.

Marinetti hat Rose Fatine verführt, eine zwanzigjährige ägyptische Schönheit und Tochter von Mohamed el Rachi Pascha, einem wichtigen Aktionär des Figaro. Außerdem ist der Pascha ein alter Freund seines Vaters, man kennt sich also. Der ehemalige ägyptische Minister lebt in einer Villa am Ufer der Seine, die er im maurischen Stil hat umbauen lassen, und seiner heimwehkranken Tochter hat er einen orientalischen Garten und ein ägyptisches Hausboot geschenkt.

Rose ist eine arabische Schönheit, ein wenig mollig, und hingerissen von dem dreizehn Jahre älteren italienischen Dichter und seinen radikalen Ansichten. Immerhin gibt Marinetti eine der wichtigsten europäischen Literaturzeitschriften heraus, die Poesia, und seine Stücke werden an den Pariser Theatern gespielt.

Doch das ist ihm alles nicht genug. Er will die kulturelle Landschaft Italiens und der Welt fundamental verändern, das Alte zerschlagen und an seine Stelle etwas revolutionär Neues setzen. Und ausgesucht hat er sich dafür Paris, die Hauptstadt der Moderne, wo das kulturelle Herz Europas schlägt.

Als Geschäftsmann bezweifelt Roses Vater zwar die Seriosität Marinettis, aber seine Tochter soll glücklich sein, und Marinetti trägt dazu bei. Dafür greift er sogar in die reaktionäre Trickkiste, die er so verachtet, und lässt für Rose eine venezianische Gondel nachbauen (die natürlich ihr Vater bezahlen darf). In diesem Symbol des verrotteten Italiens stakst er mit ihr trotz eisiger Temperaturen die Seine auf und ab, gewärmt von dem Gedanken an sein Manifest, das die Welt in Aufruhr versetzen wird.

Der Pascha sieht das Leuchten in den Augen seiner Tochter und willigt schließlich ein, dafür zu sorgen, dass Marinettis Ideen im Figaro veröffentlicht werden. Allerdings verlangt dieser die Titelseite, und das ist dem Pascha doch etwas gewagt. Deshalb will er das Manifest zunächst von zwei Fachleuten beurteilen lassen, bevor er damit zum Chefredakteur Gaston Calmette geht.

So trifft man sich auf dem Hausboot, während die Seine unbeirrbar vorbeizieht. Ein kleiner Ofen sorgt für Wärme. Man liegt auf bequemen ägyptischen Diwanen und schlürft süßen Tee.

Einen merkwürdigen Kontrast bildet dieser plüschige orientalische Salon zu den Herren in ihren dunklen Anzügen, weißen Hemden, polierten Lederschuhen und Manschetten. Man mag nicht glauben, dass hier in den nächsten Stunden über das Schicksal der Weltkultur entschieden werden soll.

Die Zeit vergeht. Ein Tee folgt auf den anderen, man plaudert über dies und das, der übliche Weltstadtklatsch eben. Marinetti wird immer unruhiger. Seine Finger umklammern die Blätter mit dem Manifest und biegen sie ungeduldig nach vorn und hinten, doch seine Gesprächspartner ignorieren diese Hinweise auf den Zweck ihrer Zusammenkunft.

Nach einer ihm endlos erscheinenden Stunde darf er endlich vortragen. Marinetti deklamiert seine Thesen in Französisch, denn das ist so etwas wie seine zweite Muttersprache. Er ist ein guter Vorleser und weiß, wie man seine Zuhörer fesselt.

Nicht umsonst hat er das Manifest und die Erläuterungen dazu geschrieben wie eine Rede, deren Ziel es ist, mitzureißen und aufzuwühlen:

„Wir werden die großen Menschenmengen besingen, die die Arbeit, das Vergnügen oder der Aufruhr erregt;

besingen werden wir die vielfarbige, vielstimmige Flut der Revolutionen in den modernen

Hauptstädten;

besingen werden wir die nächtliche, vibrierende Glut der Arsenale und Werften, die von grellen elektrischen Monden erleuchtet werden; die gefräßigen Bahnhöfe, die rauchende Schlangen verzehren;

die Fabriken, die mit ihren sich hochwindenden Rauchfäden an den Wolken hängen; die Brücken, die wie gigantische Athleten Flüsse überspannen, die in der Sonne wie Messer aufblitzen;

die abenteuersuchenden Dampfer, die den Horizont wittern;

die breitbrüstigen Lokomotiven, die auf den Schienen wie riesige, mit Rohren gezäumte Stahlrosse einherstampfen, und den gleitenden Flug der Flugzeuge, deren Propeller wie eine Fahne im Winde knattert und Beifall zu klatschen scheint wie eine begeisterte Menge.“

Als er die Blätter schließlich sinken lässt, nicken der Pascha und seine Freunde höflich. Sie machen keinen schockierten Eindruck, wirken eher amüsiert. Marinetti stopft das Papier achtlos in die Jackettasche.

„Sehr radikal“, sagt der eine Freund des Paschas, ein bekannter Literaturkritiker. Er greift zur Schachtel mit den Egyptica, die sich ihr Gastgeber immer aus Ägypten kommen lässt, und zieht eine Zigarette heraus. „Und sehr mutig, junger Mann. Breitbrüstige Lokomotiven und abenteuersuchende Dampfer, das gefällt mir.“

„Ausgezeichnet“, pflichtet sein Kollege, ein emeritierter Literaturprofessor, ihm bei. „Brachial, aber doch subtil. Mit einer gewissen, wenn auch gewöhnungsbedürftigen, Poesie.“

Marinetti zupft an seinen Manschetten und schweigt. Was soll er auch sagen? Ihm gegenüber sitzen die Vertreter der Generation, die er hinwegfegen will, je schneller, desto besser. Er ist die Schlange an ihrer Brust und gerade dabei, sie zu vergiften.

Der Pascha klatscht zufrieden in die Hände. „Also können wir es ohne Probleme abdrucken, meine Freunde? Es wird unsere eher konservativen Leser nicht verschrecken?“

Man könne, versichern die beiden. Marinettis Manifest sei zwar ein Aufruf zur Revolution, aber zu einer künstlerischen, und das sei dem Publikum gewiss zuzumuten. Außerdem zeige es, wie modern der Figaro sei und wie unerschrocken. Er publiziere, was die italienischen Zeitungen nicht zu veröffentlichen wagten. In der Tat versucht Marinetti seit über zwei Monaten, sein Manifest in Italien unterzubringen, doch lediglich ein Provinzblatt in der Emilia-Romagna ist darauf angesprungen. Italien will sich nicht aufregen, schmort in seinem Saft und vegetiert kulturell und politisch vor sich hin. Wie hat er es doch formuliert? „Wir wollen dieses Land von dem Krebsgeschwür der Professoren, Archäologen, Fremdenführer und Antiquare befreien. Schon zu lange ist Italien ein Markt von Trödlern. Wir wollen es von den unzähligen Museen befreien, die es wie zahllose Friedhöfe über und über bedecken.

Mögen also die lustigen Brandstifter mit ihren verkohlten Fingern kommen! Hier! Da sind sie! … Drauf! Legt Feuer an die Regale der Bibliotheken! … Leitet den Lauf der Kanäle ab, um die Museen zu überschwemmen! … Oh, welche Freude, auf dem Wasser die alten, ruhmreichen Bilder zerfetzt und entfärbt treiben zu sehen! … Ergreift die Spitzhacken, die Äxte und die Hämmer und reißt nieder, reißt ohne Erbarmen die ehrwürdigen Städte nieder!“

Und diese Befreiung wird in Paris, beginnen. Auch wenn sich Calmette zunächst heftig gegen das Ansinnen des Paschas, das Manifest auf der Titelseite abzudrucken, wehrt, muss er schließlich nachgeben. Er lässt es sich jedoch nicht nehmen, Marinetti in seiner Einleitung süffisant als „jungen italienischen Dichter“ und „außergewöhnliches Talent“ zu bezeichnen. Marinetti schäumt. Was heißt hier Talent? Er ist kein Newcomer, er verfasst seit über zehn Jahren Werke, die international hochgeschätzt werden! Vor zwei Jahren hat er sich sogar zum neuen Vate erklärt, zum Nachfolger Gabriele d’Annunzios als italienischer Nationalpoet. Vielleicht etwas vorschnell, aber Marinetti hat früh begriffen, welche Wirkung gezielte Provokationen haben. Sein Gespür für PR ist fast noch ausgeprägter als seine schriftstellerischen Fähigkeiten.

So erfährt das gebildete Europa am 20. Februar 1909 von einer neuen künstlerischen Bewegung, dem Futurismus. Und niemand ahnt, dass es sich dabei nur um eine einzige Person handelt, Filippo Tommaso Marinetti, dessen Name nun mit einem Schlag überall bekannt ist.

Auch in Italien, denn er hat zeitgleich Plakate drucken und in allen wichtigen Städten ankleben lassen, darauf lediglich die Worte FUTURISMO – F.T. MARINETTI.

Aber was ist der Futurismus?

Die Frage stellen sich viele Leser, denn das Manifest ist zunächst nur ein gewaltiger Rundumschlag in elf Punkten, der sich in Allgemeinplätzen ergeht. Marinetti besingt die Liebe zur Gefahr und preist Mut, Kühnheit und Auflehnung. Er plädiert für die angriffslustige Bewegung, die fiebrige Schlaflosigkeit, den Laufschritt, den Salto mortale, die Ohrfeige und den Faustschlag. Letztere setzt er kurz darauf selbst in die Tat um, als er mit zwei futuristischen Bundesgenossen am helllichten Tag in einem Mailänder Café einen bekannten Schriftsteller ohrfeigt.

Im Manifest lobt er die Geschwindigkeit, ein Rennwagen sei schöner als die Nike von Samothrake. Ein Werk ohne aggressiven Charakter könne kein Meisterwerk sein, behauptet er und verspricht, den Krieg zu verherrlichen, die einzige Hygiene der Welt, den Militarismus und den Patriotismus. Er ruft auf zur Zerstörung der Museen, Bibliotheken und Akademien und zum Kampf gegen Moralismus und Feminismus. Und er psalmodiert über die Jugend: