Der Schlüssel - Junichiro Tanizaki - E-Book

Der Schlüssel E-Book

Junichiro Tanizaki

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Beschreibung

Junichiro Tanizaki ist einer der bedeutendsten Autoren Japans, und sein raffinierter Skandalroman gilt als Meilenstein in seinem literarischen Werk. Darin schildert er die Geschichte einer langjährigen Ehe, die von Frust und mangelnder Leidenschaft geprägt ist. Erst als ein Schlüssel zu einem geheimen Tagebuch auftaucht, kommen die unterdrückten Obsessionen und Sehnsüchte zutage mit fatalen Folgen. Ich schreibe dies nieder, weil ich es nicht mehr ertrage, nicht direkt mit ihr über die Intimitäten unseres Schlafzimmers sprechen zu können. Von nun an werde ich ohne Rücksicht darauf, ob sie es heimlich lesen wird, so schreiben, als spräche ich zu ihr.

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Seitenzahl: 226

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INHALT

» Über den Autor

» Über das Buch

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» Impressum

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ÜBER DEN AUTOR

Junichiro Tanizaki wurde 1886 in Tokio geboren. Er war der Autor zahlreicher Romane, Dramen und Essays, u.a. von Lob des Schattens, Liebe und Sinnlichkeit und Tagebuch eines alten Narren. 1964 wurde er als erster Japaner zum Ehrenmitglied der American Academy of Arts and Letters ernannt. In den Jahren kurz vor seinem Tod (1965) galt er als ein Anwärter für den Literaturnobelpreis.

ÜBER DAS BUCH

Junichiro Tanizaki schildert die Geschichte einer langjährigen Ehe. Unfähig, über ihre geheimsten Sehnsüchte und Fantasien zu sprechen, beginnen die beiden Ehepartner jeweils, ein Tagebuch zu führen – ahnend, dass der andere das Geschriebene lesen wird. Auf diese Weise können sie ihr Inneres ungehemmt offenbaren: Sie legen Geständnisse ab, provozieren, täuschen bewusst. Und tatsächlich kommen sich die beiden dadurch körperlich wieder näher – nur ganz anders, als sie es sich vorgestellt haben.

Am Neujahrstag

Ich habe mich entschlossen, von nun an alle Dinge, auch solche, die ich noch nie meinen Tagebüchern anvertraut habe, aufzuzeichnen. Bisher habe ich nie etwas Genaueres über mein intimes Leben, über das Verhältnis zwischen meiner Frau und mir, in meinem Tagebuch berichtet. Ich fürchtete nämlich, dass meine Frau dieses Tagebuch lesen und ungehalten darüber werden könnte, aber von diesem neuen Jahr an habe ich mir vorgenommen, mich nicht mehr vor ihrem Zorn zu fürchten. Ich bin sicher, dass meine Frau weiß, wo und in welchem Fach meines Arbeitszimmers dieses Tagebuch liegt.

In eine der ältesten Familien Kyotos hineingeboren und in einer feudalen Atmosphäre erzogen, legt sie noch heute in vielem Wert auf überkommene Moral und neigt sogar dazu, stolz darauf zu sein. Ich glaube zwar kaum, dass sie heimlich in den Tagebüchern ihres Mannes schnüffelt, aber ganz sicher bin ich nicht; es gibt genug Gründe, darüber im Zweifel zu sein. Könnte sie wohl der Versuchung widerstehen, die Geheimnisse ihres Mannes zu erfahren, nachdem ich meinen bisherigen Gewohnheiten untreu geworden bin und vieles über unser Eheleben aufschreibe? Sie ist verschlossen und liebt das Geheime. Oft gibt sie sich den Anschein, nicht zu wissen, obwohl sie weiß, und sie verrät nicht leicht, was in ihrem Herzen vorgeht. Obendrein glaubte sie, dies gehöre zur Tugend einer ehrsamen Frau; das aber ist das Schlimmste.

Den Schlüssel zu dem Fach, in dem ich mein Tagebuch aufbewahre, habe ich an einem bestimmten Ort versteckt, und von Zeit zu Zeit ändere ich das Versteck; aber bei ihrer Neugier und Findigkeit könnte es wohl sein, dass sie alle meine bisherigen Schlüsselgeheimnisse kennt. Natürlich könnte sie es sich leichter machen, wenn sie sich einfach einen Dietrich beschaffte.

Ich habe zwar oben geschrieben, »von diesem neuen Jahr an habe ich mir vorgenommen, mich nicht mehr davor zu fürchten, dass sie alles liest«, aber wenn ich es recht bedenke, habe ich mich eigentlich nie sehr davor gefürchtet. Ich war sogar immer darauf gefasst, dass sie es läse, und im Stillen habe ich es beinahe gewünscht. Dann ist aber zu fragen, warum ich das Fach abschließe und den Schlüssel verstecke.

Vielleicht liegt der Grund darin, dass es mir Freude macht, ihre Neugier zu reizen. Oh, wie sie es liebt, den Dingen heimlich nachzugehen! Ließe ich nun mein Tagebuch da liegen, wo sie es leicht lesen könnte, würde sie denken, »dieses Tagebuch hat er geschrieben, damit ich es lesen soll«, und würde ihm keinen Glauben schenken. Nicht nur dies würde sie denken, sondern obendrein »das wirkliche Tagebuch muss irgendwo anders versteckt sein«.

Meine Ikuko, mein geliebtes Weib, du siehst, ich weiß nicht, ob du dieses Tagebuch wirklich liest. Es hat keinen Zweck, dich zu fragen, denn du würdest nur antworten, »ich lese doch nicht heimlich das Tagebuch eines anderen Menschen«. Aber wenn du es doch liest, glaube mir, was ich hier niederschreibe, ist kein fingiertes Tagebuch und enthält nichts Unwahres.

Nichts mehr davon, denn einem misstrauischen Menschen zureden, heißt sein Misstrauen vertiefen. Würdest du dir aber die Mühe machen, diese Seiten zu lesen, ginge dir von selbst auf, dass ihr Inhalt die lautere Wahrheit ist.

Selbstverständlich bin ich nicht gesonnen, nur bei den Dingen zu verweilen, die ihr gefallen werden. Es gibt auch Tatsachen, die ihr unangenehm sind, die ihren Ohren wehtun werden. Ihre Geheimnistuerei hat den Wunsch in mir wach werden lassen, dergleichen aufzuschreiben. Ob sie wohl glaubt, das sei sie ihrer Vornehmheit schuldig? Jedenfalls findet sie es sogar zwischen Eheleuten unanständig, sich über Schlafzimmerprobleme zu unterhalten, und wenn es mich einmal reizt, heikle Geschichten zu erzählen, hält sie sich die Ohren zu.

Diese vorgebliche »Sittsamkeit«, diese scheinheilige »Fraulichkeit«, diese gekünstelte »Vornehmheit« – sie sind an allem schuld. Zwanzig Jahre ist sie mit mir verheiratet und besitzt sogar eine heiratsfähige Tochter, und doch haben wir noch nie ein vertrautes Liebesgespräch geführt. Wir gehen zusammen zu Bett und verrichten schweigend unsere ehelichen Pflichten – aber kann man uns ernstlich ein Ehepaar nennen?

Ich schreibe dies nieder, weil ich es nicht mehr ertrage, nicht direkt mit ihr über die Intimitäten unseres Schlafzimmers sprechen zu können. Von nun an werde ich ohne Rücksicht darauf, ob sie es heimlich lesen wird, so schreiben, als spräche ich zu ihr.

Zunächst möchte ich nicht unterlassen zu sagen, dass ich sie von Herzen liebe. Ich habe das schon öfter geschrieben, es ist aber keine Phrase, mit der ich ihr schmeicheln will, und ich glaube, sie weiß das auch. Doch mein physisches Verlangen ist nun einmal nicht so stark wie das ihre, in diesem Punkt kann ich mich nicht mit ihr messen. Ich werde in diesem Jahr sechsundfünfzig (sie muss jetzt fünfundvierzig Jahre alt sein), und das ist noch kein Alter, um schwach zu werden; aber, ich weiß nicht, warum, in letzter Zeit strengt es mich sehr an. Ehrlich gesagt, wäre es für mich besser, wenn wir einmal in der Woche, sagen wir, einmal in zehn Tagen miteinander schliefen. Dagegen ist sie, obwohl skrofulös und herzschwach, in dieser Sache fast krankhaft stark. (Über dergleichen offen zu schreiben oder zu reden, verabscheut sie besonders.) Gerade dies aber verwirrt mich augenblicklich am meisten. Es bedrückt und bekümmert mich, dass ich die Pflichten eines guten Ehegatten nicht besser erfüllen kann; doch angenommen – ich sage nur »angenommen« – sie wird sicher sehr böse sein und sagen, »hältst du mich für ein so liederliches Frauenzimmer?« –, angenommen also, sie hielte Ausschau nach einem anderen Mann, um dem Mangel abzuhelfen, ich könnte es nie und nimmer ertragen. Allein die Vorstellung macht mich eifersüchtig. Außerdem scheint es mir auch aus Rücksicht auf ihre Gesundheit angebracht, dass sie ihre krankhaft starke Begierde zähmt … Was mir Sorgen macht, ist die Kraft … dass die Kraft meines Körpers von Jahr zu Jahr mehr dahinschwindet. In letzter Zeit bin ich jedes Mal sehr erschöpft, und an den folgenden Tagen fühle ich mich so matt und müde, dass ich außerstande bin, über wichtige Sachen nachzudenken.

… Würde man mich aber fragen, »bist du denn der Liebe mit ihr abgeneigt?«, so müsste ich es verneinen und das Gegenteil behaupten. Auf keinen Fall ist es so, dass nur der Begriff der ehelichen Pflicht mich treibt und meine Sinne schürt und dass ich ungern ihrem Begehren antworte. Ich weiß nicht, ob es ein großes Glück oder ein großes Unglück ist, aber ich liebe sie heiß und innig.

Hier muss ich wieder etwas enthüllen, das für sie tabu ist. Sie besitzt eine vorzügliche Eigenschaft, eine Eigenschaft, von der sie selbst keine Ahnung hat. Hätte ich nicht in der Vergangenheit andere Frauen gekannt, würde ich diesen Vorzug kaum bemerkt haben. Aber da ich in meinen jungen Jahren einiges erlebt habe, weiß ich, dass sie einen selten zarten Orgasmus besitzt, der sogar unter Frauen nicht oft zu finden ist. Hätte man sie in alter Zeit in ein Freudenviertel wie Shimabara verkauft, sie wäre sicher eine berühmte Kurtisane geworden, von den Männern umworben, von den Frauen beneidet. Sie hätte mit ihren Reizen jeden Kenner bezaubert, und die erfahrensten hätten nur nach ihr verlangt. (Vielleicht ist es besser, wenn sie dies nicht erfährt. Es könnte nur negative Folgen für mich haben … Würde sie sich denn darüber freuen, oder würde sie sich schämen? Oder würde es gar eine Beleidigung für sie sein? Wahrscheinlich wird sie so tun, als wäre sie sehr entrüstet, aber in ihrem Herzen wird sie einen gewissen Stolz kaum unterdrücken können.) Der bloße Gedanke an ihre Vorzüge macht mich eifersüchtig. Genösse nun ein anderer Mann als ich ihre Vorzüge, und meine Frau erführe dabei, dass ich dem vom Himmel geschenkten Glück nicht voll habe entsprechen können, was geschähe dann?

Der Gedanke beunruhigt mich. Ich fühle, dass ich im Unrecht bin, und ich verdamme mich selbst.

So versuche ich denn, mir auf jede erdenkliche Weise zu helfen und mich mit den verschiedensten Mitteln zu reizen. Zum Beispiel bitte ich sie, mich an der erregbarsten Stelle meines Körpers – und keine Lust ist aufreizender für mich, als wenn ich die Augen schließe und sie meine Lider küsst – zu berühren. Oder umgekehrt, ich reize sie an ihrem empfindlichsten Punkt: Sie liebt es, unter der Achselhöhle geküsst zu werden. Umso mehr schmerzt es mich, dass sie meinen Wünschen nur widerwillig nachgibt. Ihr missfallen solche »unnatürlichen Spiele«, und sie besteht darauf, uns auf die orthodoxe Methode zu beschränken. Wenn sie nur begreifen wollte, dass dieses Spiel für mich die notwendige Vorbereitung ist, um zum Eigentlichen zu gelangen! Davon will sie nichts wissen; sie beharrt auf ihrem »fraulichen Anstand« und weigert sich, dagegen zu verstoßen.

Obwohl sie weiß, dass ich ein Fußfetischist bin, und auch, dass sie ungewöhnlich wohlgeformte Füße besitzt (fast scheint es mir unmöglich, dass es die einer fünfundvierzigjährigen Frau sind), nein, vielmehr weil sie es weiß, vermeidet sie, mir ihre schönen Füße zu zeigen. Auch im heißesten Sommer trägt sie weiße Tabi-Socken. Wenn ich sie bitte, mir wenigstens zu erlauben, ihre Sohle zu küssen, so meint sie, »Ach, wie unfein, wie garstig! Du darfst mich da nicht berühren«, und nur ungern gewährt sie es mir. Dies und noch vieles andere hat dazu geführt, dass ich nicht mehr weiß, was ich tun soll …

Fast schäme ich mich, das neue Jahr mit solchen Klagen zu beginnen, aber wer weiß, ob es nicht zu etwas nütze ist. Morgen Abend ist »Himehajime«. Meine Frau, die das »Orthodoxe« liebt, wird nicht versäumen, den altehrwürdigen Brauch so feierlich wie möglich zu begehen.

4. Januar

Heute ist etwas Merkwürdiges passiert. Seit Neujahr habe ich das Arbeitszimmer meines Mannes nicht mehr sauber gemacht, und ich wollte nun die Zeit, in der er spazieren ging, dazu benutzen. Vor dem Bücherschrank, wo die schmale Vase mit einer Narzisse steht, lag ein Schlüssel. Vielleicht hat es gar nichts zu bedeuten; aber ich kann mir kaum denken, dass er den Schlüssel dort gedankenlos liegen gelassen haben sollte. Er ist ein sehr vorsichtiger Mensch. Er führt schon jahrelang Tagebücher, doch ist es bis jetzt nie vorgekommen, dass er den Schlüssel dazu verloren hätte … Natürlich weiß ich schon lange, dass mein Mann Tagebücher schreibt und sie im Schubfach seines kleinen Schreibtisches verschlossen hält; den Schlüssel versteckt er zwischen allen möglichen Büchern, manchmal sogar unter dem Teppich. Aber ich weiß auch, was ich wissen darf und was nicht. Ich kenne das Schubfach des Tagebuches und das Versteck des Schlüssels. Dennoch habe ich das Tagebuch nie geöffnet und hineingeschaut. Mein Mann war schon immer sehr misstrauisch. Es bringt mich aber jedes Mal wieder auf, dass er nicht eher Ruhe hat, bis das Tagebuch sorgfältig verschlossen und der Schlüssel versteckt ist …

Warum hat er den Schlüssel nun gerade heute hier liegen lassen? Ist irgendetwas in seinem Herzen vorgegangen, und möchte er jetzt, dass ich sein Tagebuch lese? Ahnt er, dass ich seine Aufzeichnungen nicht lesen könnte, wenn er mich geradeheraus dazu auffordern würde? Meint er damit, »wenn du es lesen möchtest, lies es heimlich. Hier hast du den Schlüssel«?

Dann weiß er ja gar nicht, dass ich längst gemerkt habe, wo er den Schlüssel verborgen hält! Halt, nein! Er möchte vielleicht sagen, »ich gestatte dir im Stillen, dass du mein Tagebuch heimlich liest; ich erlaube es dir, aber ich tue so, als ob ich nichts davon wüsste«.

Ich weiß nicht, warum ich mir so viel Gedanken darüber mache. Denn wie dem auch sei, ich werde nicht hineinschauen. Ich habe mir selbst meine Grenzen gezogen, und darüber hinaus will ich nicht in seine Psyche eindringen. Wie ich anderen Leuten nicht zeige, was in meinem Herzen vorgeht, so mag ich auch nicht in den Herzensfalten der anderen wühlen. Wünschte er aber wirklich, dass ich sein Tagebuch lese, so wird wohl kaum alles wahr sein, was er schreibt, und sicher enthält es nicht nur Angenehmes für mich. Er mag ruhig tun und denken, was ihm beliebt; ich tue es auch. Um die Wahrheit zu sagen, auch ich führe seit Anfang dieses Jahres ein Tagebuch. Ein Mensch wie ich, der sich niemandem anvertrauen kann, soll wenigstens mit sich selber sprechen; doch werde ich niemals so ungeschickt sein und meinen Mann wissen lassen, dass ich mir ein Tagebuch zugelegt habe. Ich werde nur darin schreiben, wenn mein Mann nicht zu Hause ist, und ich werde es an einem Ort verstecken, wo er es niemals vermutet.

Ich habe es vor allem angefangen, weil es mir eine Überlegenheit ihm gegenüber gibt; denn ich weiß sogar, wo er sein Tagebuch verschließt, während er nicht einmal ahnt, dass ich ein Tagebuch führe.

Gestern Nacht hielten wir zusammen den Neujahrsritus ab … Ach, wie schäme ich mich, so etwas aufs Papier zu bringen! Hat mich mein seliger Vater nicht gelehrt, »Anstand ist, wie man sich benimmt, wenn man allein ist«? Wie traurig würde er sein, erführe er, was ich hier schreibe! Wie heruntergekommen ich bin …

Er scheint wie immer bis zur höchsten Lust gekommen zu sein; ich war wie immer unbefriedigt. Was danach kam, war unangenehm. Jedes Mal entschuldigt er sich und schämt sich seiner körperlichen Kraftlosigkeit, wirft mir dann aber vor, zu kalt zu ihm zu sein. Mit dem Wort »kalt« will er wohl sagen, ich sei ungewöhnlich ausdauernd auf diesem Gebiet, fast krankhaft stark, sodass er seine letzten Kräfte daran verbraucht. Meine Art, mich dabei zu geben, sei zu »pflichtgemäß«, zu routinemäßig und konventionell, immer nach »Schema F«, kurz, es gäbe bei uns keine Abwechslung. Ich sei doch auch in sonstigen Sachen viel weicher und hingebungsvoller. So passiv und zurückhaltend er mich aus dem täglichen Leben kenne, so anspruchsvoll und fordernd sei ich in dieser Beziehung, und trotzdem willfahre ich ihm nur immer in derselben Art und derselben Position …

Dennoch hat er meine stumme Aufforderung noch nie übersehen, er spürt sogleich auch die leiseste Regung meiner Wünsche und weiß sehr gut, was ich meine. Das mag allerdings seinen Grund darin haben, dass er immer in der Furcht vor meinem allzu häufigen Begehren lebt.

Ich sei nur auf meine Lust aus und im Übrigen gefühllos, sagt er. »Du hast mich nicht halb so lieb wie ich dich. Ich bin für dich nur ein Gebrauchsgegenstand – noch dazu ein sehr unvollkommener. Wenn du mich wahrhaftig liebtest, müsstest du viel leidenschaftlicher sein und allen meinen Wünschen aus freien Stücken willfahren. Wenn ich dich nicht vollkommen befriedigen kann, so liegt die halbe Schuld bei dir. Würdest du nur versuchen, meine Leidenschaft zu entfachen – ich wäre nicht so kraftlos. Du gibst dir keine Mühe, es uns gemeinsam vollbringen zu lassen.«

Ein verfressenes Geschöpf sei ich, das mit gefalteten Händen darauf wartet, dass ihm ein reich beladener Tisch hingesetzt wird. Ein kaltblütiges Tier sei ich, ein boshaftes Weib!

Ich kann verstehen, dass er mich so sieht. Ich bin von meinen altmodischen Eltern so erzogen worden. Eine Frau müsse stets passiv bleiben und dürfe nie und nimmer einem Manne gegenüber aggressiv werden. Ich kann nicht sagen, dass ich leidenschaftslos bin. Aber meine Leidenschaft ist von einer tiefen, versinkenden Art, nicht steil und heiß aufleuchtend. Wenn ich mich zwinge, sie auszudrücken, ist sie im Nu verflogen. Er hat meine Gefühle nicht begriffen. Es ist kein rotes Aufflammen, sondern ein langes bläuliches Weiß.

… Seit ich jetzt darüber nachdenke, kommen mir oft Zweifel, ob unsere Heirat nicht ein Irrtum war. Bestimmt ließe sich ein Mann finden, der besser zu mir passt, und das könnte er umgekehrt auch von mir sagen. Unser sexueller Geschmack ist zu verschieden. Ich heiratete in dieses Haus, wie meine Eltern mir befahlen, ohne mir selbst tiefere Gedanken darüber zu machen. Ich glaubte, dass eine Ehe eben so sei. Aber heute weiß ich, dass ich einen Mann habe, der im Erotischen nicht zu mir passt.

Nur der Gedanke, dass er der mir auserwählte Gatte ist, lässt mich ihn ertragen. Aber manchmal, wenn ich ihn ansehe, steigt, ich weiß nicht, warum, ein Widerwille in mir auf, dass mir übel wird. Diese Übelkeit hat nicht erst gestern und heute angefangen, nein, schon in der Hochzeitsnacht. Damals, als wir das Lager zum ersten Mal miteinander teilten, war sie schon da. Jahre sind vergangen seit jener Nacht auf der Hochzeitsreise, und doch ist die Erinnerung noch ganz klar. Ich lag schon im Bett. Er kam umständlich auf mich zu und nahm seine Brille ab. Da lief es mir kalt über den Rücken. Jeder Mensch, der ständig eine Brille trägt, sieht ein wenig merkwürdig aus, wenn er sie abnimmt. Sein Gesicht schien mir plötzlich ausgehöhlt und fahl wie das Gesicht einer Leiche. Er näherte sich mir und sah mir in die Augen, als wolle er mich durchbohren. Um mich zu wehren, erwiderte ich seinen Blick; aber als ich seinen Teint wahrnahm, der glatt wie Aluminium war, schauderte ich abermals. Am Tage hatte ich es nicht bemerkt, jetzt aber entdeckte ich unter seiner Nase und um seinen Mund herum den dunklen Hauch seines Bartes (er ist überhaupt sehr behaart), und davor war mir unheimlich. Vielleicht lag es daran, dass ich damals zum ersten Mal dem Gesicht eines Mannes so nahe war; doch jedes Mal, auch heute noch, schaudere ich, wenn ich sein Gesicht bei hellem Licht lange anschauen muss. Um ihn nicht die ganze Zeit vor mir zu haben, versuche ich meistens, die Nachttischlampe zu löschen, aber mein Mann liebt gerade bei diesen Gelegenheiten Helle. Er bemüht sich dann, meinen Körper in allen Einzelheiten genau zu betrachten. (Es geschieht zwar selten, dass ich seinem Wunsch bis zum Letzten willfahre, aber meine Beine zeige ich ihm, weil er mich gar zu sehr drängt.) Ich kenne keinen andern Mann außer meinem Gatten, doch möchte ich wissen, ob wohl alle Männer so zudringlich sind wie er. Ob sie wohl alle so widerlich klebrig an einem hängen und ihr unnötiges Spiel mit uns treiben?

7. Januar

Herr Kimura kam heute, um uns ein glückliches Neujahr zu wünschen. Ich hatte gerade angefangen, Faulkners Die Freistatt zu lesen, begrüßte ihn nur kurz und ging in meine Bibliothek. Herr Kimura unterhielt sich im Wohnzimmer mit meiner Frau und Toshiko. Dann wollten sie den Film Sabrina ansehen und gingen zusammen aus. Später kam Herr Kimura mit meiner Familie zurück, und wir aßen zusammen zu Abend und unterhielten uns bis etwa neun Uhr. Beim Essen tranken wir alle außer Toshiko ein wenig Cognac. In letzter Zeit scheint meine Frau dem Alkohol etwas mehr zuzusprechen. Ich war es, der ihr das Trinken beigebracht hat, aber sie konnte Alkohol wohl von Natur aus gut vertragen. Wenn man ihr nur flink nachschenkt, kann sie eine ganz schöne Menge trinken. Sie wird etwas berauscht, aber ihr Rausch bleibt latent. Er schlägt nicht nach außen, sondern verströmt in ihrem Innern. Sie kann ihn lange beherrschen, und viele Leute merken es kaum. Heute Abend stieß Herr Kimura mit ihr an und redete ihr zu, und sie trank zweieinhalb große Sherrygläser. Meine Frau sah ein wenig blasser aus als gewöhnlich, sonst konnte man ihr nichts anmerken. Dagegen hatten Herr Kimura und ich rote Gesichter. Kimura ist kein starker Trinker. Er verträgt weniger als meine Frau. Übrigens war es wohl das erste Mal, dass meine Frau sich von einem anderen Mann Cognac reichen ließ.

Kimura gab zuerst Toshiko das Glas; doch die wehrte ab. »Ich mag nicht! Bitte schenken Sie Mama ein.« Ich habe schon lange gemerkt, dass Toshiko Herrn Kimura ausweicht. Aber ich glaube, sie hat wahrscheinlich auch gemerkt, dass Kimura mehr der Mutter als ihr seine Zuneigung zeigt. Ich hatte mir zuerst eingebildet, dass meine Eifersucht mich so denken ließ, und versuchte, diesen Gedanken zu unterdrücken. Es scheint jedoch, dass es sich wirklich so verhält. Wie ich sie kenne, ist meine Frau nicht besonders liebenswürdig zu Gästen. Vor allem von Herrenbesuchen ist sie nicht sehr angetan. Zu Kimura hingegen ist sie auffallend freundlich. Toshiko, meine Frau und ich, wir haben es noch nie offen erwähnt, aber wir sind uns wohl alle darüber einig, dass Kimura einem amerikanischen Filmstar ähnlich sieht, und ich wiederum weiß, dass meine Frau für einen amerikanischen Filmstar schwärmt. (Meine Frau hat es mir nie eingestanden, aber ich könnte schwören, dass sie die meisten Filme von ihm gesehen hat.) Wenn meine Frau sich Kimura näherte, so einfach deshalb, weil ich ihn als einen passenden Mann für Toshiko ausersehen habe und ihn gelegentlich in unsere Familie einlade und meiner Frau auch befahl, unauffällig ein Auge auf beide zu haben. Aber Toshiko ist anscheinend einer solchen Verbindung nicht sehr geneigt. Sie vermeidet jede Gelegenheit, mit Kimura allein zu sein, und wenn sie sich im Wohnzimmer unterhalten, versteht sie es immer, meine Frau hinzuzuziehen. Auch wenn sie ins Kino gehen, fordert sie ihre Mutter auf, sie zu begleiten.

»Es ist nicht richtig, dass du mitgehst. Lass sie doch alleine gehen!«, werfe ich ihr vor, aber sie ist anderer Auffassung und meint, dass sie als Mutter die Pflicht hätte, beide zu überwachen.

»Du bist zu altmodisch. Man muss den jungen Leuten trauen!«, argumentiere ich weiter.

»Ich denke ja auch so. Aber Toshiko will immer, dass ich mitgehe«, weicht sie aus.

Wenn es sich so verhält, dann hat Toshiko offenbar gemerkt, dass ihre Mutter Kimura geneigter ist als sie selbst, und sie versucht nun, die Bürde auf sich zu nehmen, zwischen Kimura und ihrer Mutter zu vermitteln. Ich halte es nicht für unmöglich, dass zwischen Toshiko und ihrer Mutter ein stillschweigendes Übereinkommen besteht. Zwar glaubt meine Frau, dass sie die beiden jungen Leute überwacht, aber in Wirklichkeit liebt sie Kimura, obgleich sie es noch nicht begriffen hat.

8. Januar

Gestern hatte ich einen Rausch. Ich glaube aber, er war noch viel betrunkener als ich. Er verführte mich wieder, seine Augenlider zu küssen, was er in letzter Zeit seltener tat. Von dem Cognac war ich doch ein wenig aus dem Geleise und folgte seinem Verlangen, ohne mir viel Gedanken zu machen. Es war auch nichts dabei und ganz richtig so, nur sah ich beim Küssen das, was ich nicht sehen sollte – nämlich sein Gesicht ohne Brille. Wann immer ich seine Lider küsse, schließe ich die Augen, aber gestern Abend hielt ich sie offen. Seine weiße Aluminiumhaut erschien vor meinen Pupillen so groß und nah wie in einem CinemaScope. Mir lief es kalt den Rücken hinunter. Ich fühlte, wie das Blut aus meinen Wangen wich. Es war nur gut, dass er die Brille gleich wieder aufsetzte, um wie immer meine Hände und meine Beine peinlich genau zu betrachten. Ich löschte schweigend die Nachttischlampe. Er streckte seinen Arm aus und versuchte, wieder Licht zu machen. Ich schob die Lampe weit weg.

»Ich bitte dich, lass mich dich nur noch einmal ansehen. Bitte, bitte!«, bettelte er und tastete im Dunkeln nach der Lampe, aber er fand sie nicht und gab es auf.

… Nach langer Zeit eine lange Umarmung …

Halb hasse ich ihn, und halb liebe ich ihn innig. Wir passen nicht zueinander, und doch kann ich keinen anderen Mann lieben. Ich lebe noch immer in den alten Vorstellungen von Ehrsamkeit, und meine Natur wehrt sich, dagegen zu sündigen. Seine zudringlichen Liebkosungen bringen mich in Verlegenheit. Aber wenn ich das auch einmal sagen muss, sehe ich doch auch sehr klar, dass er mich mit einer verzehrenden Leidenschaft liebt, und mein Gefühl sagt mir, dass ich es ihm mit Gleichem vergelten müsste.

Ach, wenn er doch nur ein wenig männlicher wäre, etwas stärker, etwas ausdauernder, wie einst in seinen jungen Jahren …

Wie kann es nur kommen, dass seine Kräfte darin so nachgelassen haben? … Seiner Ansicht nach freilich liegt es an mir. Ich sei zu sinnlich veranlagt, meint er. Er werde mitgerissen und verliere jedes Maß, und nun machten sich eben die Folgen bemerkbar. Eine Frau sei in dieser Beziehung unerschöpflich, »unsterblich«, wie er sagt. Sie werde ja auch nicht abgelenkt. Ein Mann hingegen brauche seinen Kopf, und geistige Arbeit mache sich gleich körperlich bemerkbar.

So beschämend es auch ist – dass ich so ausschweifend bin, liegt nun einmal in meiner Natur, und er sollte es verstehen und Mitgefühl haben. Und wenn er mich wirklich liebt, dann muss er mich auch glücklich machen können. Er sollte aber wissen, dass ich diese unnötigen Späße nicht mehr ertragen kann und dass solche Spielereien gar nichts nützen, ja, meine Stimmung nur zerstören. Ich bin eben sehr altmodisch und ziehe es vor, es tief im Innern des Hauses und im Dunkel meines eigenen Zimmers zu tun, hinter dicht verhängten Fenstern, den Körper in weiche Kissen vergraben, ohne sich gegenseitig ansehen zu müssen, und in aller Stille. Es ist ein großes Unglück, dass unser beider Empfinden in diesem Punkte so verschieden ist. Ach, fände sich doch noch ein Weg, auf dem unsere unseligen Leidenschaften zusammenführen.

13. Januar

Um halb fünf kam Kimura. Er brachte uns getrockneten Kaviar mit der Erklärung, er hätte ihn von zu Hause geschickt bekommen. Die drei unterhielten sich im Wohnzimmer wohl über eine Stunde, dann machte er Anstalten aufzubrechen. Ich ging nach unten und bat ihn, doch zum Essen zu bleiben. Er willigte gleich ein und sagte: »Das ist sehr liebenswürdig von Ihnen«, und setzte sich wieder. Da noch Zeit war bis zum Essen, ging ich wieder nach oben, während Toshiko das Mahl zubereitete und meine Frau im Wohnzimmer saß. Es gab nichts Besonderes, aber zu dem mitgebrachten Kaviar hatten wir etwas Wein, und außerdem gab es saure Karauschen, die meine Frau gestern auf dem Markt in Nishiki gekauft hatte. Danach gingen wir gleich zu Cognac über. Meine Frau liebt keine süßen Sachen und zieht etwas Saures und Scharfes vor wie viele Leute, die gern Cognac trinken, und saure Karauschen mag sie besonders gern. Ich schätze beides, süß und sauer, aber saure Karauschen mag ich nicht. Kein Mensch außer ihr isst in unserer Familie saure Karauschen. Kimura stammt aus Nagasaki und versteht daher etwas von getrocknetem Kaviar, »aber verschonen Sie mich bitte mit den Karauschen«, sagte auch er.

Kimura hatte bis jetzt nie Geschenke mitgebracht, aber heute rechnete er wohl damit, zum Abendessen eingeladen zu werden. Ich durchschaue ihn noch nicht ganz. Wer zieht ihn wohl mehr an, Toshiko oder Ikuko? Wenn ich Kimura wäre und die Wahl hätte, so würde ich mich für die Mutter entscheiden, obwohl sie die Ältere ist. Aber bei Kimura weiß ich es nicht. Er hat es doch wohl nur auf Toshiko abgesehen. Da Toshiko ihm vorläufig nicht viele Hoffnungen macht, will er wahrscheinlich zuerst die Aufmerksamkeit der Mutter auf sich lenken, um dann durch die Mutter an die Tochter zu gelangen …