Der Schrecksenmeister - Walter Moers - E-Book
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Der Schrecksenmeister E-Book

Walter Moers

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Beschreibung

Hunger macht erfinderisch: Wie das mutige Krätzchen Echo sein eigenes Fell rettet

Seltame Bakterien, Hirnhusten und Nierenverzagen, Magenmumps und Darmschnupfen halten die Stadt Sledwaya fest im Griff. Sie zwingen Echo, das Krätzchen, zu einem verzweifelten Schritt: Um nicht zu verhungern, verkauft es sein Leben an den Schrecksenmeister Eißpin. Verwöhnt auf höchstem kulinarischen Niveau, denkt sich Echo so manchen Trick aus, um sein Fett und Fell vor dem Kochtopf Eißpins zu retten. Ein faustischer Pakt und alchemistische Künste stehen im Mittelpunkt dieses Märchens aus Zamonien, mit dem sich Walter Moers einmal mehr als tollkühner Surfer auf den Meeren der Weltliteratur erweist ...

Dies ist ein Roman, der im legendären Bücherreich Zamonien spielt. Folgende weitere Zamonienromane sind bislang erschienen:

Die 13 1/2 Leben des Käpt'n Blaubär

Ensel und Krete

Rumo & Die Wunder im Dunkeln

Das Labyrinth der Träumenden Bücher

Prinzessin Insomnia & der alptraumfarbene Nachtmahr

Weihnachten auf der Lindwurmfeste

Der Bücherdrache

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DerSchrecksenmeister

Ein kulinarishes Märchen aus Zamonien von

Gofid Letterkerl

Neu erzählt von

Hildegunst von Mythenmetz

Aus dem Zamonischen übersetzt und illustriert von

Walter Moers

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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ISBN 978-3-641-22303-8 V004

Copyright © 2016 Knaus, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Covergestaltung: bürosüd Layout und Satz: Oliver Schmitt, Mainz

www.penguin-verlag.de

»Oben ist unten und hässlich ist schön.« Motto der Ledermäuse

Was gewesen und gegangen Soll jetzt wieder neu anfangen Was gegangen und gewesen Soll im Wundersud genesen Soll im Topfe wiederkehren Um die Alchimie zu ehren.

Echo

Stellt euch den krankesten Ort von ganz Zamonien vor! Eine kleine Stadt mit krummen Straßen und schiefen Häusern, über der ein schauriges schwarzes Schloss auf einem dunklen Felsen thronte. In der es die seltensten Bakterien und kuriosesten Krankheiten gab: Hirnhusten und Lebermigräne, Magenmumps und Darmschnupfen, Ohrenbrausen und Nierenverzagen. Eine Zwergengrippe, die nur Personen unter einem Meter Körpergröße befiel. Geisterstundenkopfweh, das Schlag Mitternacht begann und Punkt ein Uhr verschwand, jeweils am ersten Donnerstag jedes Monats. Phantomzahnschmerzen, die ausschließlich Leute bekamen, die schon Gebisse trugen.

Stellt euch eine Stadt vor, in der es mehr Apotheken und Heilkräuterläden, Quacksalber und Zahnklempner, Krückenschreiner und Mullbindenweber gab als sonst wo auf dem Kontinent! In der man sich mit »Ohwehohweh!« begrüßte und mit »Gute Besserung!« verabschiedete. In der es nach Äther und Eiter roch, nach Lebertran und Brechmitteln, nach Jod und Tod.

Eine Stadt, in der man nicht lebte, sondern vegetierte. In der nicht geatmet wurde, sondern geröchelt. In der niemand lachte, sondern jeder nur jammerte.

Stellt euch einen Ort vor, an dem die Häuser so krank aussahen wie seine Bewohner! Häuser mit buckligen Dächern und warzigen Fassaden, denen die Schindeln ausfielen und von denen der Kalk rieselte. Die sich gegeneinanderlehnten wie Schwindsüchtige, um nicht zusammenzubrechen. Die von Gerüsten mühsam aufrecht gehalten wurden wie von Krücken.

Könnt ihr euch das vorstellen? Gut. Dann seid ihr in Sledwaya.

In jener Zeit lebte in dieser Stadt eine alte Frau, die ein Krätzchen1 besaß, welches sie Echo nannte. Diesen Namen hatte sie ihm gegeben, weil es ihr, im Gegensatz zu all den gewöhnlichen Katzen, die sie vorher besessen hatte, mit menschlicher Stimme antworten konnte.

Als die alte Frau starb – an Altersschwäche übrigens, ganz friedlich und im Schlaf –, war dies das erste richtige Unglück, das Echo in seinem Leben widerfuhr. Er hatte bis dahin ein grundgemütliches Hauskratzendasein geführt, mit regelmäßigen Mahlzeiten, viel frischer Milch, einem Dach über dem Kopf und einem gepflegten Kratzenklo, das zweimal täglich gereinigt wurde.

Nun aber fand sich Echo auf der Straße wieder, ausgesperrt von den neuen Besitzern des Hauses, die so ganz und gar keine Kratzenfreunde waren. Und es dauerte nicht lange, da war das Krätzchen, dem jegliche kriminelle Energie fehlte, um sich im gnadenlosen Milieu der Straße durchzuschlagen, furchtbar heruntergekommen und abgemagert. Von allen Türschwellen verjagt, von streunenden Hunden gebissen und zerzaust, waren seine Lebensfreude, seine gesunden Instinkte, selbst sein glänzendes Fell dahingegangen, und es wirkte nur noch wie das Gespenst einer Kratze. Und wie Echo so erbärmlich auf dem Trottoir hockte mit seinen verdreckten Haaren, die ihm büschelweise ausfielen, und Passanten um etwas zu essen anflehte, da sah er sich auf dem tiefsten Punkt seines Daseins angekommen.

Aber die Leute von Sledwaya, egal, ob Mensch, Halbzwerg oder Rübenzähler, trotteten mitleidlos und mechanisch wie Schlafwandler an ihm vorbei, wie es von jeher ihre Art war. Ihre Haut war bleich und blutarm, ihre Augen von dunklen Ringen umschattet, ihr Blick glasig und freudlos. Sie gingen mit gesenkten Köpfen und hängenden Schultern, und manche machten den Eindruck, als würden sie gleich im Gehen oder Stehen ihr Leben aushauchen. Viele husteten schrecklich, röchelten oder niesten, schnieften in große, oft blutige Taschentücher, und manche trugen warme Wickel um den Hals. Aber das war ein normaler Anblick. In Sledwaya sahen alle Bewohner alle Tage so aus – und der Grund dafür kam gerade um die Ecke.

Eißpin, der sehr Schreckliche

Denn als ob diese trostlose Szene noch einer Krönung bedurfte, kam der Stadtschrecksenmeister Eißpin des Weges. Wenn jemals ein Albtraum Gestalt annehmen und durch die wirkliche Welt spazieren wollte, dann würde er die von Eißpin wählen. Der Alte war eine wandelnde Vogelscheuche, eine entsprungene Geisterbahnfigur, vor der alles Lebendige floh, vom kleinsten Käfer bis zum kraftvollsten Krieger. Es schien, als stolziere er zu einer furchtbaren Marschmusik, die nur er selber hörte, und jedermann wich seinem sengenden Blick aus, um nicht geblendet, verflucht oder hypnotisiert zu werden. Eißpin wandelte im vollen Bewusstsein, von allen gehasst und gefürchtet zu werden. Er berauschte sich an diesem Wissen und ließ keine Gelegenheit aus, in den Straßen von Sledwaya Angst und Schrecken zu verbreiten.

Er hatte sich eiserne Platten unter die Schuhsohlen genagelt, damit man seinen strammen Schritt schon hörte, wenn er noch Straßenzüge entfernt war, und seine knöcherne Amtskette klapperte wie das Skelett eines Gehängten im Wind. Ein giftiger und galliger Geruch ging von ihm aus, ein Parfüm aus all den Essenzen und Säuren und Laugen, mit denen er seine unseligen Experimente veranstaltete. Diese Düfte, die jedem außer Eißpin selbst Atemnot und Übelkeit verursachten, hingen beständig in seinen Kleidern und eilten ihm genauso voraus wie sein Geklapper – eine Vorhut von unsichtbaren Leibwächtern, die für den Stadtschrecksenmeister den Weg frei machten.

Alle flüchteten aus der Straße, nur das hagere Krätzchen blieb sitzen und harrte aus, bis der schreckliche Eißpin um die Ecke kam und seinen stechenden Blick auf die einzige Kreatur heftete, die es wagte, ihm im Wege zu sein. Aber selbst vor diesem Blick floh Echo nicht, jede Angst war von ihm gewichen – bis auf die einzige, zu verhungern, welche nun all sein Handeln bestimmte. Selbst wenn ein Rudel wilder Werwölfe unter Anführung einer Waldspinnenhexe um die Ecke gekommen wäre, hätte Echo in der sinnlosen Hoffnung ausgeharrt, dass ihm einer von ihnen ein Bröckchen Essbares hinwerfen könnte.

So kam Eißpin immer näher, blieb schließlich vor dem Krätzchen stehen, beugte sich zu ihm herab und sah es lange und erbarmungslos an. Der Wind spielte mit seiner beinernen Kette, und in seinen Augen funkelte unverhohlen die Schadenfreude über die Leiden eines Geschöpfes, das so dicht an der Schwelle des Todes stand. Die Gerüche von Ammoniak und Äther, von Schwefel und Petroleum, von Blausäure und Leichenkalk drangen wie spitze Nadeln in Echos empfindsames Näschen, aber er wich keinen Fingerbreit.

»Almosen, Herr Stadtschrecksenmeister?«, winselte Echo kläglich. »Ich habe furchtbaren Hunger.«

Eißpins Blick loderte noch dämonischer, und ein breites Grinsen erschien auf seiner bleichen Fratze. Er streckte seinen langen dürren Zeigefinger aus und kratzte damit über Echos hervortretende Rippen.

»Du kannst sprechen?«, fragte er. »Dann bist du gar keine gewöhnliche Katze, sondern ein Krätzchen. Eines der letzten Exemplare deiner Gattung.« Eißpins Augen verengten sich kaum merklich. »Wie wäre es, wenn du mir dein Fett verkaufst?«

»Das ist mächtig komisch, Herr Stadtschrecksenmeister«, erwiderte Echo höflich. »Macht ruhig Eure Scherze über einen, der mit einer Pfote im Grab steht, denn ich habe etwas übrig für schwarzen Humor. Seht mir aber bitte nach, dass ich darüber im Moment nicht lachen kann. Mir ist das Lachen im Hals stecken geblieben, und da habe ich es runtergeschluckt, weil ich so großen Hunger habe.«

»Ich scherze nicht!«, sagte Eißpin scharf. »Ich scherze nie. Ich rede auch nicht von dem Fett, das du jetzt nicht auf den Rippen hast, sondern von dem, das du dir anfressen sollst.«

»Anfressen?«, fragte Echo irritiert, aber plötzlich voller Hoffnung. Allein das Wort kam ihm nahrhaft vor.

»Es verhält sich so …«, sagte Eißpin und veränderte seine Stimme derart, dass sie beinahe liebenswürdig klang. »Kratzenfett ist in der Alchimie ein probates Mittel. Es konserviert Pestgeruch dreimal besser als Hundefett. Leidener Männlein, mit Kratzenfett imprägniert, halten doppelt so lang wie die gewöhnlichen. Es schmiert ein Perpetuum mobile besser als jedes Maschinenöl.«

»Freut mich zu hören, dass meine Gattung zur Herstellung eines solchen Qualitätsproduktes in der Lage ist«, hauchte Echo kaum vernehmlich. »Aber im Augenblick kann ich nicht mit einem einzigen Gramm dienen.«

»Das sehe ich selbst«, sagte Eißpin, jetzt wieder streng und von oben herab. »Ich werde dich mästen.«

»Mästen«, dachte Echo. Das Wort kam ihm noch nahrhafter vor als anfressen.

»Ich werde dich füttern, wie du noch nie gefüttert worden bist. Ich werde die Speisen höchstpersönlich für dich zubereiten, denn ich bin nicht nur ein Virtuose der Alchimie, sondern auch ein Meister des Kochlöffels. Ich rede von den raffiniertesten Leckereien – nicht von ordinärem Kratzenfutter. Ich rede von Parfaits und Soufflés. Von verlorenen Wachteleiern und Froschzungensülze. Von Thunfischtatar und Vogelnestersuppe.«

Echo lief das Wasser im Mund zusammen, obwohl er von solchen Speisen noch nie etwas gehört hatte. »Und was muss ich dafür tun?«

»Wie gesagt: das Fett. Wir Alchimisten brauchen es, aber es funktioniert nur, wenn wir es auf freiwilliger Basis bekommen. Wir können nicht einfach so losmarschieren und ein paar Kratzen abmurksen. Leider.« Eißpin seufzte und zuckte mit den spitzen Schultern.

»Ja«, sagte Echo, »leider.« Ihm schwante nun, worauf der Schrecksenmeister hinauswollte.

»Wir schließen einen Vertrag, wir zwei Freunde der Nacht. Heute ist Vollmond. Ich verpflichte mich, dich bis zum nächsten vollen Mond – dem Schrecksenmond – zu mästen, und zwar auf allerhöchstem Niveau. Parfaits und Soufflés. Verlorene Wachteleier und …«

»Ich habe verstanden«, unterbrach Echo. »Komm bitte zur Sache.«

»Na ja, und dann bist du an der Reihe, deinen Teil des Vertrages zu erfüllen. Es gibt leider noch keine Methode, einer Kratze das Fett zu entfernen, ohne sie … na ja, du weißt schon.«

Eißpin deutete unter seinem Kehlkopf einen scharfen Schnitt mit dem langen Nagel seines Zeigefingers an.

Echo musste schlucken.

»Aber ich garantiere dir eins!«, trumpfte Eißpin auf. »Die Zeit bis zum Schrecksenmond wird die schönste deines Lebens! Ich werde dich in eine Welt der Genüsse führen, die noch keine Kratze betreten hat. Ich werde dich auf einen Gipfel der Feinschmeckerei tragen, von dem aus du auf all deine Artgenossen und all die anderen Haustiere, die durchgedrehten Stockfisch aus dem Napf fressen müssen, herabsehen kannst wie auf Ungeziefer. Ich werde dir meinen geheimen Garten zeigen, der auf dem höchsten Dach von Sledwaya gedeiht – wo es übrigens die verführerischsten Winkel und Verstecke für eine Kratze gibt, die du dir erträumen kannst. Dort kannst du deine Verdauungsspaziergänge absolvieren und von magenfreundlichen Kräutern knabbern, wenn dir vom guten Essen einmal der Magen verstimmt ist – damit du umgehend mit dem Schlemmen fortfahren kannst. Da wächst auch die köstliche Kratzenminze.«

»Kratzenminze«, stöhnte Echo wollüstig.

»Aber das ist noch nicht alles. Oh nein! Du wirst auf den dicksten Kissen schlafen, hinter dem wärmsten Kachelofen der Stadt. Ich werde in jeder Hinsicht für dein Wohlbefinden sorgen. Und für deine Unterhaltung! Ich verspreche, dass dies die kurzweiligste Zeit deines Lebens sein wird. Die abenteuerlichste. Die lehrreichste. Du darfst mir bei der Arbeit zusehen, selbst bei den geheimsten Experimenten. Ich werde dich in ein exklusives Wissen einweihen, nach dem sich selbst erfahrenste Alchimisten die Finger lecken. Du wirst ja nichts mehr damit anfangen können.« Eißpin lachte grausam. Dann richtete er wieder seinen bohrenden Blick auf Echo. »Nun«, sagte er, »was ist?«

»Ich weiß nicht«, zögerte Echo. »Ich hänge ziemlich am Leben …«

»Ihr Kratzen habt doch acht Stück davon, sagt man«, grinste Eißpin und entblößte dabei sein giftgelbes Gebiss. »Ich will nur ein einziges.«

»Verzeihung, aber ich glaube nur an ein Leben vor dem Tod, nicht an eins danach«, sagte Echo.

Ein Ruck ging durch den Stadtschrecksenmeister, und er fuhr klappernd hoch wie eine Gliederpuppe.

»Ich verschwende hier meine Zeit«, schnappte er. »Es gibt noch andere verzweifelte Tiere in dieser Stadt. Auf Wiedersehen! Nein – auf Nimmerwiedersehen! Adieu! Ich wünsche dir einen langsamen und qualvollen Hungertod. Drei Tage, schätze ich. Höchstens vier. In schlimmster Agonie. Es wird sein, als würdest du dich selber auffressen, von innen nach außen.«

Dieses Gefühl hatte Echo bereits seit mehreren Tagen. »Moment mal …«, sagte er. »Volle Verpflegung? Bis zum nächsten Vollmond?«

Eißpin hielt in seiner Kehrtwendung inne und warf einen Blick zurück über die Schulter.

»Jawohl! Bis zum nächsten Schrecksenmond!«, raunte er verführerisch. »Feinschmeckerküche. Ach was: Feinstschmeckerküche! Ein See aus Milch, mit gebratenen Fischen darin. Menüs mit so vielen Gängen, dass du das Zählen vergisst. Das ist mein letztes Angebot.«

Echo überlegte. Was hatte er denn zu verlieren? Binnen drei qualvollen Tagen mit leerem Magen zu sterben oder in dreißig mit vollem Bauch – das war die Alternative.

»Kratzenminze?«, fragte er leise.

»Kratzenminze!«, versprach Eißpin. »In voller Blüte.«

»Abgemacht«, sagte Echo. Und er reichte dem Schrecksenmeister sein zitterndes Pfötchen.

Das Haus des Schrecksenmeisters

Die Stadt Sledwaya war voller merkwürdiger Häuser, in denen sich merkwürdige Dinge ereigneten, aber das Haus des Stadtschrecksenmeisters Eißpin war das merkwürdigste, und die Dinge, die sich darin ereigneten, waren die allermerkwürdigsten. Man hatte es in uralter Zeit auf einem Hügel errichtet, sodass sein Anwesen nun über der Stadt thronte wie ein Adlerhorst. Von dort war ganz Sledwaya zu überschauen, und es gab keinen einzigen Flecken im Ort, von dem aus einem der Anblick der schaurigen Burg erspart blieb – ein ewiges Mahnmal für die Allgegenwart des Schrecksenmeisters.

Das Schloss war aus schwarzem Gestein gemauert, dem man nachsagte, es sei aus dem Herzen der Finsterberge geschlagen, und es war so krumm und schief, dass es aussah wie ein monströses Gewächs aus einer anderen Welt. Alle Fenster waren unverglast. Eißpin liebte es, wenn der Wind durch seine Burg pfiff und darauf spielte wie auf einer Dämonenflöte – selbst im eisigsten Winter, denn er empfand keine Kälte. In etlichen der dunklen Löcher standen seltsam krumme Fernrohre, mit denen der Schrecksenmeister jeden Flecken der Stadt ausspionieren konnte, wann immer ihm danach war. In Sledwaya kursierte das Gerücht, dass Eißpin die Linsen dieser Teleskope derart raffiniert geschliffen hatte, dass sie ihn um alle Ecken, durch die Schlüssellöcher der Türen und selbst durch die Kaminschlote in die Stuben spähen ließen.

Man mochte kaum glauben, dass dieses scheinbar planlos ineinandergeschobene Gestein in all den Jahrhunderten nicht irgendwann zusammengebrochen war. Aber wenn man wusste, dass seine Baumeister dieselben waren, die auch die uralten Buchimistenhäuser in der Schwarzmanngasse von Buchhaim errichtet hatten, dann verstand man, dass dieser Baustil tatsächlich für die Ewigkeit ersonnen war. Dieses Schloss stand schon an seinem Platz, als es noch gar keine Stadt mit dem Namen Sledwaya gab.

Eißpin hatte den geschwächten Echo unter seinem Mantel geborgen die gewundenen Straßen zum Haus hochgetragen, wobei das Krätzchen vor Erschöpfung eingeschlafen war. Dort angelangt, kramte er einen rostigen Schlüssel aus seinem Umhang und öffnete die mächtige hölzerne Eingangstür.

Dann eilte er mit seiner federleichten Last durch hohe, von Fackeln und Kerzen beleuchtete Korridore, an deren Wänden Gemälde in staubbedeckten Holzrahmen hingen. Auf ihnen waren ausnahmslos Naturkatastrophen dargestellt, Vulkanausbrüche, Riesenwellen, Wirbelwinde, Mahlströme, Erdbeben, Feuersbrünste und Lawinenabgänge, alles mit größter Sorgfalt und Detailversessenheit in Öl gepinselt – denn eine von Eißpins zahlreichen Begabungen war die Katastrophenmalerei.

Als er den nächsten Korridor betrat, erwarteten ihn dort drei erschreckende Gestalten: ein Grauer Schnitter, eine Haselhexe und eine Zyklopenmumie. Dies waren drei der gefährlichsten Kreaturen, die die zamonische Natur zu bieten hatte, und die Wahrscheinlichkeit, ihnen an ein und demselben Ort zu begegnen, war etwa so hoch wie die, von einem Blitz, einem Meteor und einem Vogelschiss zur selben Zeit getroffen zu werden. Aber Eißpin beachtete sie nicht einmal und hetzte mit wehendem Umhang unbehelligt an ihnen vorbei. Denn sie waren erfreulicherweise tot – und mit größter Kunstfertigkeit ausgestopft, weil auch die Gruseltaxidermie, das Ausstopfen von furchteinflößenden Daseinsformen aller Art, eines der zahlreichen Steckenpferde des Schrecksenmeisters war. Etliche düstere Winkel des Anwesens waren bevölkert von solchen höchst lebendig wirkenden Kreaturen, denen man weder im Dunkeln noch im Hellen gerne begegnete, nicht einmal in mumifizierter Form. Eißpin aber schätzte ihre stumme Gesellschaft über alles und fügte seiner Sammlung immer neue Exemplare hinzu.

Er stürmte eine gewundene steinerne Treppe hinauf, eilte durch eine Bibliothek mit modrigen buchimistischen Büchern, durch eine Halle, die vollgestellt war mit lakenverhangenen Möbeln. Im unruhigen Licht von flackernden Kerzen harrten sie aus wie Gespenster von Sesseln und Schränken. Eißpin durchquerte einen verwaisten Speisesaal, unter dessen hoher Decke Schwärme von Ledermäusen2 abenteuerliche Kunstflüge veranstalteten. Aber auch seine schaurigen Untermieter beachtete er nicht, sondern stieg eine weitere steinerne Treppe hinauf, die ihn in eine zugige Halle führte mit Käfigen aller Art, vom Vogelbauer aus Bambus und Draht über den Hundezwinger aus Eichenholz bis hin zum Bärengefängnis aus poliertem Stahl. Je höher Eißpin kam, desto stärker blies der Wind durch die Fensteröffnungen und sorgte für unablässig wehende Vorhänge und wirbelnden Staub. Aus den Kaminen drang hin und wieder ein Stöhnen und Heulen wie von sterbenden Schlosshunden, die in geheimen Kerkern zu Tode gefoltert wurden.

Schließlich gelangte der Schrecksenmeister an eine steinerne Pforte mit eingemeißelten alchimistischen Symbolen – dies war der Eingang zum großen Labor des Hauses, wo er die meiste Zeit verbrachte. Hier, so munkelte man, machte er das schlechte Wetter, das so häufig in Sledwaya herrschte, hier züchtete er Erreger für Grippeepidemien und Kinderkrankheiten, für Keuchhusten und Nesselfieber, mit denen er die Brunnen vergiftete. Hier standen Säcke voller Pollen von giftigen Pflanzen, die er aus den Fenstern seiner Burg schüttete, um den Leuten Kopfschmerzen und Albträume zu bereiten. Hier dichtete er Bannflüche und schuf Leidener Männlein, nur um sie zu quälen. Hier komponierte er die grausige Musik, die des Nachts aus seinem Haus drang und die Bewohner von Sledwaya um den Schlaf und manchmal sogar um den Verstand brachte – es soll welche gegeben haben, die sich, völlig übernächtigt, erhängten, um endlich Ruhe zu finden.

Denn Eißpin war der eigentliche Herrscher der Stadt, ihr ungekrönter Tyrann, ihr schwarzes Herz und krankes Hirn zugleich. Und der Bürgermeister, der ganze Stadtrat und sämtliche Bewohner von Sledwaya waren nur willenlose Marionetten, die an Fäden hingen, die vom Schrecksenmeister gezogen wurden.

Eißpins Werkstatt

Echo erwachte erst wieder, als er aus dem dunklen Umhang geholt wurde, und er erblickte schlaftrunken das erstaunliche Laboratorium. Der Raum war festlich von zahlreichen Kerzen erleuchtet, die zwischen Reagenzgläsern und Eisenkesseln, auf Bücherstapeln und in vielarmigen Leuchtern brannten und lange Schatten auf die Wände warfen. Ein vielstimmiges, verhaltenes Seufzen und Stöhnen lag in der Luft, aber Echo konnte kein lebendiges Wesen ausmachen, welches diese Laute hätte hervorbringen können. Daher schrieb er es dem Wind zu, der durch die Fenster hereinwehte.

Das Labor lag im obersten Stockwerk des Gemäuers. Im Zentrum des Raumes hing ein gewaltiger rußschwarzer Kupferkessel über einem Kohlenfeuer, eine darin kochende Suppe warf dicke Blasen und verbreitete einen unangenehmen Geruch. Die krummen und schiefen Wände wurden teilweise von morschen Holzregalen verdeckt, welche mit wissenschaftlichen Apparaten, Büchern, Pergamenten und ausgestopftem Getier überladen waren.

Hier und da hingen auch Eißpinsche Werke der Katastrophenmalerei oder von alchimistischen Zeichen bedeckte Schiefertafeln sowie Karten mit astronomischen Konstellationen und mathematischen Diagrammen. Über allem wölbte sich eine Decke, die sich von dem Rauch und den chemischen Dämpfen, die in all den Jahren emporgestiegen waren, zu einem welligen schwarzen Holzmeer verzogen und verfärbt hatte. Von ihr herab hingen an Schnüren und Ketten Planeten- und Mondgloben, astronomische Messgeräte, ausgestopfte Vögel und präparierte Reptilien. Überall lagen uralte dicke Schwarten herum, mit Umschlägen aus narbigem Leder und Schlössern aus angelaufenem Metall, viele waren mit Notizzetteln gespickt und mit Staub und Spinnweben überzogen. Dazwischen standen zahllose leere sowie mit verschiedenfarbigen Flüssigkeiten oder Pulvern gefüllte Glasbehälter in allen Größen und Formen, manche mit Leidener Männlein darin, die gegen ihre gläsernen Gefängniswände klopften. Aus der ganzen Unordnung ragte ein rostiger Alchimistischer Ofen hervor, wie ein Krieger aus Metall, der über ein Schlachtfeld wachte.

Echo wusste gar nicht, wohin er schauen und wovor er sich als Erstes fürchten sollte, nachdem Eißpin ihn auf dem Boden abgesetzt hatte. So viele befremdliche und bedrohliche Dinge unter einem einzigen Dach hatte er noch nie gesehen. Als er in einem der unteren Wandregale einen ausgestopften Zwergfuchs erblickte, der lebensecht das Gebiss fletschte, stellte er den Schwanz hoch, krümmte den Buckel und begann zu fauchen.

Eißpin lachte. »Der kann dir nichts mehr tun«, sagte er. »Ich habe ihn ausgeweidet, sein Fett ausgekocht, ihn mit Holzwolle und Spänen gefüllt und mit siebenhundert Stichen wieder zugenäht. Um den Gesichtsausdruck hinzukriegen, musste ich ein Drahtgerüst im Kiefer einziehen. Dein Fauchen sagt mir, dass ich gute Arbeit geleistet habe.«

Echo fröstelte bei dem Gedanken, dass der Schrecksenmeister auch ihn aufschneiden, ausweiden, entfetten und mit Holzwolle füllen würde, wenn endlich Vollmond war. Vielleicht würde er auch bei ihm ein Drahtgerüst einziehen, um ihn mit aufgestelltem Schwanz und rundem Buckel auszustellen, zur Erinnerung an diesen denkwürdigen Augenblick.

»Nun der Vertrag«, sagte Eißpin, und er zog aus einem Papierstoß ein Pergament hervor, das mit alchimistischen Zeichen bedeckt war. Er nahm Feder und Tinte und begann unter Kratzgeräuschen auf der freien Rückseite zu krakeln. Ihm beim Aufsetzen des Kontraktes zuzusehen bereitete Echo alles andere als Vergnügen. Der Schrecksenmeister murmelte bei der Niederschrift der Klauseln so wonnevoll vor sich hin und seine Augen funkelten derart vor schamloser Bosheit, dass es wohl kaum zum Vorteil des Krätzchens sein konnte, was er da festhielt. Echo hörte nur immer wieder Formulierungen wie »verpflichtet sich unwiderruflich«, »unauflösliche juristische Bindung«, »strafrechtlich unbarmherzig verfolgt« und Ähnliches. Aber eigentlich war es ihm völlig gleichgültig, welche Unzumutbarkeiten der Schrecksenmeister da hinschrieb – wenn es nur bald etwas zu essen gab.

»Da«, sagte Eißpin endlich. »Unterschreib!«

Er hielt Echo ein rotes Stempelkissen hin, und der drückte sein Pfötchen erst darauf und dann unter den Text des Vertrages. Bevor er auch nur einen Blick auf das Geschriebene werfen konnte, hatte Eißpin das Papier weggerissen und in einer Schublade verstaut.

»Sieh dich um – das ist jetzt dein Zuhause!«, kommandierte er und wies mit einer dramatischen Geste über den Raum. »Dein letztes Zuhause in diesem Leben, also rate ich dir, jeden Augenblick ganz bewusst und intensiv auszukosten. Stell dir einfach vor, du lägest im Sterben, aber ohne die Unannehmlichkeiten einer schrecklichen Krankheit, ohne Schmerzen und Auszehrung! Du kannst essen, was du willst, während du stirbst. Du darfst dich glücklich schätzen, die wenigsten haben so einen schönen Tod. Ich werde mich bemühen, es so kurz und schmerzlos wie möglich zu machen, wenn der Augenblick gekommen ist. Darin habe ich Übung.« Er blickte versonnen auf seine dürre Hand, die er erhoben hatte wie ein Henker, der dem Delinquenten das Todeswerkzeug zeigt. »Nun lass uns gleich mit dem Mästen beginnen, wir wollen keine weitere Sekunde deiner wertvollen Zeit mehr verschwenden.«

Echo erschauderte bei Eißpins herzloser Rede, aber er tat wie angewiesen und nahm seine neue – seine letzte! – Wohnstatt in Augenschein. Er versuchte seine Gefühle und Ängste unter Kontrolle zu bekommen, um sich vor dem Schrecksenmeister keine weitere Blöße zu geben. Er wollte alles genauestens unter die Lupe nehmen, denn er wusste aus Erfahrung, dass die Angst schneller schwand, wenn man den gefürchteten Dingen ins Gesicht sah.

Als er seinen Blick schweifen ließ, fiel ihm auf, dass sich die Schatten an den Wänden von der Stelle bewegt hatten. Die mächtige Silhouette des Alchimistischen Ofens etwa, die eben noch ein Bücherregal bedeckt hatte, lag jetzt auf einer grauen Schiefertafel, die mit mathematischen Formeln bekritzelt war. Wie konnte das sein? Führten die Schatten in Eißpins Reich ein eigenes Leben? Echo hielt in diesem merkwürdigsten aller Häuser von Sledwaya mittlerweile so ziemlich alles für möglich. Aber Kratzen sind von nüchternem Verstand, und so machte er sich daran, der Sache auf den Grund zu gehen. Wurden die Lichtquellen vielleicht auf irgendeine mechanische Weise bewegt? Er stieg vorsichtig über wurmstichige Bücher hinweg, zwängte sich zwischen Stapeln aus vergilbten Papieren hindurch und drückte sich um die verstaubten Bäuche von dicken Glasflaschen herum. So schlich er immer näher an eine der Kerzen heran – um plötzlich vor einem tellergroßen Brennglas, das auf dem Boden stand, stehenzubleiben. Echo erstarrte. Sein Vorsatz, keine Anzeichen von Furcht mehr zu zeigen, war wie weggewischt. Denn was er durch diese schmutzige Linse sehen musste, war so verblüffend, so erschreckend und unwirklich zugleich, dass es all die anderen Sensationen des Laboratoriums übertraf: Er sah eine grotesk vergrößerte Kerze, die ein schmerzverzerrtes Antlitz aus wächsernen Tränen trug. Und zu seinem größten Entsetzen bemerkte er, dass sie kaum vernehmlich seufzte und stöhnte und sich mühsam kriechend mit dem Tempo einer Schnecke vorwärtsbewegte.

»Schmerzenskerzen«, erläuterte Eißpin, der in einer großen Schüssel rührte, nicht ohne Stolz in der Stimme. »Eine meiner nebensächlichen alchimistischen Kreationen. Sie entstehen, wenn man Kerzenwachs, ein Leidener Männlein und Weinbergschnecken vom Gargyllener Bolloggschädel auf kleiner Flamme ganz langsam einkocht. Ein paar alchimistische Ingredienzen spielen natürlich auch noch eine Rolle. Der Docht ist aus dem Rückgrat einer Blindschleiche und dem Nervensystem eines Ochsenfrosches geflochten. Diese Kerze empfindet den Schmerz ihres Abbrennens sehr intensiv und verbringt ihr ganzes Dasein in außerordentlicher Qual. Stell dir vor, dein Schweif stünde in Flammen, solange du lebst. Von dieser Art von Qual rede ich.«

»Und was passiert, wenn man die Flamme löscht?«, fragte Echo, dem die Betrachtung der gepeinigten Kreatur größtes Unbehagen bereitete. Er sah jetzt, dass sich etliche der Kerzen des Laboratoriums auf ähnlich qualvolle Weise fortbewegten, und wenn er die Ohren spitzte, konnte er ihr leises Gestöhn von überall her hören.

»Dann würde sie natürlich nicht mehr leiden«, sagte Eißpin schroff. »Aber was habe ich von einer Kerze, die nicht brennt? Und was von einer Schmerzenskerze, die nicht ordentlich stöhnt vor Schmerz?«

Er fragte dies in einem Ton, als sei Echo nicht ganz richtig im Oberstübchen, und stellte ihm kopfschüttelnd die Schüssel hin, in der er gerührt hatte. Sie war gefüllt mit süßer Sahne. Er nahm eine Phiole aus einem Regal, aus der er nur wenige Tropfen einer glasklaren Flüssigkeit in die Sahne fallen ließ – und schon roch sie herrlich nach Vanille. Selbst dieser simple Trick kam Echo wie Zauberei vor. Er riss sich vom Anblick der Schmerzenskerze los und fiel über die Schüssel her wie ein Verdurstender.

»Vorsicht, Vorsicht!«, warnte Eißpin, nachdem das Krätzchen ein paar Schlucke zu sich genommen hatte. »Nicht zu viel auf nüchternen Magen! Die Sahne soll nur der Appetitanregung dienen.« Er nahm die Schüssel wieder weg und stellte sie auf ein hohes Regal.

»Wir wollen ganz systematisch vorgehen. Man kann aus allem eine Wissenschaft machen, auch aus dem Mästen. Also: Zähl mir zunächst einmal deine Lieblingsspeisen auf, in der genauen Reihenfolge. Nummer eins: Was magst du am allerliebsten?«

Eißpin nahm ein Blatt Papier und einen Bleistift und blickte Echo mit strenger Miene an. Das Krätzchen warf die Stirn in Falten und forschte in seinem Gedächtnis nach seinen Lieblingsspeisen.

»Am allerliebsten?«, fragte es. »Gebratene Mäuseblasen. Am allerliebsten mag ich Gebratene Mäuseblasen von der Pinkelmaus.«

»Gut«, sagte Eißpin und notierte. »Gebratene Mäuseblasen von der Pinkelmaus. Nicht gerade anspruchsvoll. Was noch …?«

Fett

Als Stadtschrecksenmeister hatte Eißpin das Schrecksenwesen von Sledwaya zu verwalten. Seine Herkunft war unbekannt und legendenumwittert. Einige behaupteten, er komme aus den Friedhofssümpfen, ein Nachtschattengewächs, das auf Leichendünger gewuchert habe. Manche glaubten, er sei einer der mysteriösen untoten Bewohner der Friedhofsstadt Dullsgard, die kein Lebender betreten konnte, ohne selbst zum wandelnden Leichnam zu werden. Es gab das Gerücht, er sei jener legendäre fünfte Apokalyptische Reiter, der sich von den anderen vier getrennt hatte, um sich selbständig zu machen. Manche schworen, er stamme gar nicht aus Zamonien, sondern sei von einem fremden Kontinent über das Meer geflogen, auf seinen schwarzen Schwingen, die er nur entfalte, wenn niemand zusah. Wieder andere behaupteten, Eißpin stamme geradewegs aus Untenwelt, jenem legendären Reich der Finsternis unterhalb Zamoniens, aus dem er an die Oberfläche gestiegen sei, um den Boden vorzubereiten für eine Invasion des Bösen, die bald bevorstünde. So verschieden diese Theorien über Eißpins Herkunft waren, eines war ihnen allen gemein: Nicht ein einziger Bürger von Sledwaya hätte es jemals gewagt, sie in Gegenwart des Schrecksenmeisters zu äußern.

Die meisten Gerüchte aber kursierten über Eißpins legendäre Sammlung von Fetten. Dies waren keine pflanzlichen Fette, keine Oliven- oder Distelöle, auch nicht die von Nüssen, Raps, Dreikraut, Rafunkel oder Mondblumenkernen – um in Eißpins Sammlung aufgenommen zu werden, musste ein Fett von einem Lebewesen stammen. Und selbst wenn es diese Voraussetzung erfüllte, war der Schrecksenmeister immer noch sehr wählerisch. Ordinäres Schweinefett, Rindertalg oder Entenschmalz suchte man in dieser exklusiven Kollektion vergeblich. Denn Eißpin ließ nur Fette von Kreaturen zu, deren Verzehr man allgemein ablehnte. Und je größer die Ablehnung war, je rarer die Gattung, desto leidenschaftlicher begehrte der Schrecksenmeister sie für sich.

So manch einer wird sich nur mit viel Widerwillen an den Gedanken gewöhnen können, dass eine Krötenspinne3 Fettreserven besitzt, und noch mehr wird er sich gegen die Vorstellung sträuben, wie man sie aus dem Körper des Untiers gewinnt. Wenn man aber einmal verinnerlicht hat, dass so etwas und noch hundertmal furchtbarere Dinge zu Eißpins alltäglichen Beschäftigungen gehörten, dann glaubt man gern, dass die Ereignisse im Haus des Schrecksenmeisters die merkwürdigsten von ganz Sledwaya waren.

Der Stadtschrecksenmeister besaß das Fett von raren Schmetterlingen und Murchen, von Trollferkeln, von Laub- und Werwölfen, von Krallamandern, Leuchtameisen, Schneeschwalben, Sonnenwürmern und Mondanbeterinnen, von Lochkrokodilen, Kraterkröten, Tiefseesternen, Quellenquallen, Tunneldrachen, Mumienzecken und Stinkbären, von Ubufanten und Zamingos. Man brauchte nur ein Tier zu nennen, dessen Vorkommen auf der Speisekarte eines Restaurants allgemeine Empörung hervorrufen würde – und man konnte sicher sein, dass Eißpin dessen Fett sein Eigen nannte. Er kannte zahllose Methoden der Fettgewinnung, von der alchimistischen Absaugung über die chirurgische Amputation bis hin zur primitiven mechanischen Fettpresse. Aber die liebste war ihm immer noch das Auskochen. Und so brodelte in seinem Laboratorium Tag und Nacht der mächtige Fettkessel und erfüllte das Haus ohne Unterlass mit unappetitlichen Gerüchen.

Der Schrecksenmeister benötigte die Fette hauptsächlich zur Konservierung von extrem flüchtigen Dingen. Dazu gehörten neben Gerüchen noch Dämpfe, Nebel, Schwaden und Gase. Auch den Wrasen, die nebulöse Mischung aus Dampf und Fett, die sein Kochkessel unablässig absonderte, konnte Eißpin mit seinen alchimistischen Apparaten bei Bedarf einfangen und konservieren. Er besaß abgesaugte Proben der berüchtigten Qualle von Nebelheim, die er in Schnarkenfett eingelegt hatte; in seiner Sammlung befanden sich Leichengas aus den Friedhofssümpfen, Aurapartikel von Irrlichtern, Mundgerüche von Stollentrollen und Fürze von Schwefelunken. Eißpin hatte Tausende von flüchtigen Stoffen eingefangen und eingelegt, einen jeden in einem anderen, seiner Meinung nach einzig passendem Fett.

Auf einer Holzbühne, die man über eine kurze Treppe betreten konnte, stand das beeindruckendste Gerät des Laboratoriums, ein kühnes Konstrukt aus Glasballonen, die teilweise mit brodelnden Flüssigkeiten, teilweise mit Tierpräparaten gefüllt waren. Es bestand aus kupfernen Spiralröhren, knisternden alchimistischen Batterien, Brennern, silbernen und goldenen Armaturen, Messingbehältern, Baro- und Hygrometern, Drucktöpfen, Blasebälgen und goldenen Ventilen. Das war der Eißpinsche Konservator, seine bislang größte Erfindung, mit der flüchtige Substanzen eingefangen, konzentriert und schließlich mit Fett ummantelt wurden.

Jedes Mal, wenn der Alchimist ein neues Präparat darin konserviert hatte, röchelte und hustete die Maschine minutenlang und spuckte zum Schluss eine Fettkugel aus, die etwa so groß war wie eine Orange. Eißpin schritt damit feierlich die steinernen Treppen hinab in den Keller des Schlosses, wo es einen niedrigen, aber weitgestreckten und grabeskühlen Raum gab, in dem er all seine Fettkugeln säuberlich geordnet auf gemauerten Regalen lagerte, wie Weinliebhaber ihre edlen Tropfen.

Echo kannte die Gerüchte über diese Sammlung, aber im Augenblick dachte er nicht darüber nach, und schon gar nicht darüber, welch exklusive Stellung er selbst bald darin einnehmen sollte. Vorläufig strich er nur hungrig, neugierig und staunend durch das Laboratorium, während Eißpin an seinen alchimistischen Geräten hantierte. Echo versuchte, die Schmerzenskerzen zu ignorieren, weil ihr Anblick ihn frösteln machte. Wenn man diese bedauernswerten Geschöpfe nicht näher betrachtete, wurden sie fast wieder zu ganz normalen Kerzen, da sie sich derart langsam fortbewegten, dass man es mit unaufmerksamem Auge gar nicht wahrnahm. Nur ihr leises Seufzen und Stöhnen drang gelegentlich an Echos Ohren, je nachdem, in welchem Winkel er sie gerade aufstellte.

Aber es gab noch so viel anderes zu entdecken in diesem merkwürdigsten Raum im merkwürdigsten Haus von Sledwaya. Echo nahm eines der vollgekramten Bücherregale näher in Augenschein. Pergamente, Briefe, Notizblätter, Bücher und Tierpräparate waren hier unsystematisch eingelagert, und da sein Frauchen ihm früh das zamonische Alphabet beigebracht hatte, konnte er mühelos die Buchtitel des untersten Regals lesen:

Rektifikation für FortgeschritteneDie Siebenzahl der SublimationenDie Brennöfen der SeeleSulfur, Salpeter, Salmiak – die drei großen Sder AlchimistenkunstGolemkuchen und Alraunenauflauf – Die schönsten Rezeptefür den Alchimistischen BackofenAntimon – Schlimmstes Gift und beste MedizinZoltepp Zaan – Leben und WerkMythos »Prima Zateria«Schmerzempfindliche Metalle und der zartfühlendeUmgang damitZamomin – Fluch oder Segen?

Plötzlich hielt Echo inne. Er las:

Tabu Schrecksenverbrennung – von Succubius Eißpin

Ein Buch, von Eißpin selbst geschrieben? Da, noch eins:

Geständnissack und Glühender GustavDie besten Verhörtechniken für renitente SchrecksenVon Succubius Eißpin

Dass der Schrecksenmeister einen Vornamen hatte, war Echo noch gar nicht in den Sinn gekommen, weil ihn alle immer nur Eißpin nannten. Er wusste in der Tat sehr wenig über seinen unheimlichen Gastgeber. Aber noch weniger wusste er über Schrecksen.

Der Meister und die Schrecksen

Jede größere Stadt in Zamonien hat einen Schrecksenmeister, der die Angelegenheiten der Schrecksen regelt. Er erteilt durchreisenden Schrecksen die Wahrsage-Erlaubnis (oder auch nicht), prüft bei den ansässigen regelmäßig die Geschäftsbücher, impft sie gegen das Schrecksenfieber (eine Krankheit, die nur Schrecksen befällt, bei der sie wochenlang in eine prophetische Ekstase fallen – in der sie nur allerschlimmste Dinge voraussagen, die wirklich niemand wissen will), er führt ihre jährliche Entlausung durch und kassiert die Vorhersagesteuer. Eißpin tat all dies in Sledwaya mit größtem Eifer und sperrte darüber hinaus regelmäßig ein paar von ihnen aus reiner Willkür in den städtischen Schrecksenturm, um sie tagelang mit musikalischen Darbietungen auf der Kreischflöte und dem Gruselsack zu malträtieren.

Eißpin war auch ein fanatischer Befürworter der Schrecksenverbrennung, jener zum Glück längst ausgerotteten mittelalterlichen barbarischen Unsitte, die so viele unschuldige Schrecksen das Leben gekostet hatte. Die zamonischen Gesetze ließen zu seiner großen Entrüstung nicht zu, dass er die Schrecksenverbrennung praktizierte, aber er schrieb ohne Unterlass Anträge zu ihrer Wiedereinführung an das nattifftoffische Justizministerium in Atlantis, sammelte Unterschriften von Schrecksengegnern und hatte sogar eine Partei gegründet, deren einziges Mitglied er selbst war. Eines seiner vornehmlichsten Ziele war es, in jeder Stadt einen Scheiterhaufen aus Gusseisen zu errichten, der exklusiv für Schrecksen bestimmt war und den er stolz den Eißpinschen Schrecksengrill nannte.

Succubius Eißpin hatte ein Buch über den vorschriftlichen Bau dieses Grills und seine Verbrennungstechniken geschrieben (besonders stolz war er auf das Rüttelgitter, durch das die verbliebene Asche der verbrannten Schreckse direkt in eine Aschenpfanne fiel) und ein anderes über Verhörmaßnahmen an Schrecksen, das an Grausamkeit und Einfallsreichtum weit über die mittelalterlichen Foltermethoden der Dunklen Epoche hinausging. Darin erklärte er haarklein die Funktionen seiner zahlreichen Marterinstrumente, wie etwa der Schrecksenquetsche, des Glühenden Gustavs und der Elektrischen Kupferdraht-Geißel mit angeschlossener Alchimistischer Batterie. Oder den luftdichten Eißpinschen Geständnissack aus Otternleder, der mit Disteln und Brennnesseln gefüllt war und in den die Schreckse zusammen mit einer schwangeren Viper, einem tollwütigen Fuchs und einem Kampfhahn eingenäht wurde, bis sie sich schuldig bekannte. Nicht wenige aufgeklärte Bürger Zamoniens waren darüber empört, dass ausgerechnet ein bekennender Schrecksengegner das Amt des städtischen Schrecksenbeauftragten innehatte, aber es gab auch genug Leute, die es befürworteten, wenn diese vagabundierenden Wahrsagerinnen mit strenger Hand geführt wurden.

Und dafür konnte Eißpin garantieren. In keiner anderen Stadt Zamoniens wurden den Schrecksen das Leben und die Ausübung ihres Berufes so schwer gemacht wie in Sledwaya. Nur hier gab es das achthundert Punkte umfassende Reglementarium Schrecksii, ein von bürokratischen und juristischen Gemeinheiten nur so strotzendes Regelwerk, vom Meister selbst ausgetüftelt. Darin war unter anderem festgelegt, zu welchen Tageszeiten und unter welchen oft absurden Einschränkungen sie ihr Gewerbe betreiben durften und welche Strafen sie im Falle der Übertretung erwarteten. So durften Schrecksen weder nachts noch mittags oder spätnachmittags praktizieren, niemals bei Nebel oder Schrecksenmond, nicht an Feiertagen, bei einem bestimmten Luftdruck oder Temperaturen unter Null. Ferner nur in Häusern der sogenannten Schrecksengasse, die keine Keller besitzen durften. Viermal im Jahr wurde eine Schrecksensteuererklärung verlangt, die so kompliziert und kleinkariert war, dass sie einen diplomierten nattifftoffischen Steuerberater in den Wahnsinn getrieben hätte. Schrecksen durften nur zu bestimmten Stunden einkaufen, die alle innerhalb ihrer festgeschriebenen Arbeitszeit lagen, aber es war ihnen untersagt, während ihrer Arbeitszeit ein Geschäft zu betreten.

Die Strafen reichten von empfindlichen Geldbußen bis zu monatelanger Dunkelhaft, Verbannung in die Friedhofssümpfe und Zwangsarbeit in den Schwefelminen der Dämonenklamm. Eine Schreckse bewegte sich in Sledwaya ständig auf dem dünnen Eis der Illegalität. Denn Eißpins Regelwerk war so raffiniert, dass er jeder Einzelnen zu jeder Tages- und Nachtzeit ein Vergehen nachweisen konnte, selbst wenn sie schlafend im Bett lag. Die Folge war, dass Sledwaya zuerst die zamonische Stadt mit dem geringsten Schrecksenanteil und schließlich sogar fast ganz schrecksenfrei wurde, weil die meisten Wahrsagerinnen ein Leben in anderen Städten oder selbst in der gefährlichen Wildnis vorzogen. Daraus ergab sich zwangsläufig, dass für Eißpin fast alle beruflichen Verpflichtungen entfielen und er sich noch intensiver seinen sinistren Forschungen widmen konnte. So, wie es seit je sein Plan gewesen war.

Knilschbrömen und Tarnkappenstör

»Kochen ist Alchimie – und Alchimie ist Kochen«, sagte Eißpin, als er damit begann, Echo das Essen aufzutragen. »Vertraute Dinge zu vermischen und daraus etwas vollständig Neues schaffen, das ist das Wesen der Kochkunst wie das der Alchimie. In beiden Disziplinen spielen Topf und Flamme eine wichtige Rolle, es geht um das Aufeinanderabstimmen exakt bemessener Zutaten, das Reduzieren von Substanzen, das Kombinieren von Altvertrautem und bahnbrechend Neuem. Winzige Mengen der Zutaten und Sekunden der Garzeit können über Gelingen oder Misslingen entscheiden. Ein gutes Essen zu kochen, das finde ich so wichtig, wie eine Medizin zu erfinden. Jede Mahlzeit ist eine Maßnahme gegen den Tod, nicht wahr? Und ist nicht eine ordentliche Hühnersuppe die beste Medizin gegen so manche Krankheit?«

Eißpin hatte den restlichen Teil des Abends in seine Küche verlagert. Sie befand sich in einem tieferen Stockwerk und erschien Echo wie der Gegenentwurf zu dem chaotischen und unheimlichen Laboratorium. Hier war alles blitzblank, wohlgeordnet, hell und freundlich. Hier gab es keine unheimlichen Tierpräparate, keine mysteriösen Gerätschaften, keine verschimmelnden Bücher und Schmerzenskerzen. Ein großer schwarzer Gusseisenherd im Zentrum mit polierten Kupferkesseln, Pfannen und Töpfen darauf, ein riesenhafter Esstisch mit vielen Stühlen drumherum und appetitlich sauberem weißen Leinen, gedeckt mit Tellern, silbernem Besteck, Wein- und Wassergläsern, als werde baldigst eine große Tischgesellschaft erwartet.

Weitere Pfannen und Töpfe sowie Küchengeräte aller Art, Schneebesen, Kochlöffel, Hackmesser, Schaumkellen, Siebe, Teigrollen und vieles mehr hingen an Haken an den Wänden oder von der Decke herab. In schönen dunklen Holzregalen stapelte sich Geschirr in allen möglichen Formen und Farben. Ein schneeweißes Spülbecken stand voll mit frisch gespülten Tellern. Ein großer offener Küchenschrank enthielt zahlreiche Gläser mit getrockneten Kräutern, dazwischen lagerten Weinflaschen und Kochbücher. Ein anderer Schrank bestand aus kleinen Schubladen mit handschriftlich beschriebenen Etiketten, auf denen »Mehl«, »Zucker«, »Kakao«, »Vanille«, »Zimpinelle« oder irgendein anderer appetitlicher Lebensmittelname stand.

In diesem Raum hatten die Möbel und Gegenstände keinerlei bösartige oder gefährliche Absichten, sondern dienten einzig und allein der Zubereitung von Essen.

Essen – was für ein nichtssagendes, fast beleidigend nüchternes Wort für das, was Eißpin Echo im Verlauf des Abends kredenzte. Sicher, bei der alten Frau war es dem Krätzchen nicht übel ergangen, aber zu essen gab es dort immer das Gleiche: reichlich Milch und manchmal einen Fisch oder ein Stück Huhn. Weshalb Echo bisher der Meinung gewesen war, dass die Schüssel Gebratener Mäuseblasen, die sie ihm einmal zubereitet hatte, der Gipfel aller kulinarischen Genüsse wäre. Er hatte ja keine Ahnung gehabt, dass man die Kocherei in den Bereich der Hochkunst überführen konnte, wie ihm Eißpin nun bewies.

Der Schrecksenmeister servierte als Erstes einen kleinen, geradezu winzigen Kloß, der in einer durchsichtigen rotgoldenen Brühe schwamm. Echo, der zwanglos auf dem Tisch hockte, beugte sich neugierig darüber, als ihm der Teller zugeschoben wurde.

»Safranisierte Tomatenessenz«, raunte Eißpin. »Man gewinnt sie, indem man nur die feinsten sonnengereiften Tomaten enthäutet und in ein Tuch gibt, das über einen Topf gespannt ist. Lediglich die Erdanziehung sorgt in den nächsten drei Tagen dafür, dass das Fruchtfleisch seine Flüssigkeit, säuberlich gefiltert durch das frische Linnen, Tropfen für Tropfen an den Topf abgibt. So gewinnt man ihren puren Geschmack – ihre Tomatenseele! Dann etwas Salz und wirklich nur einige wenige Zuckerkristalle sowie zwölf – unbedingt zwölf! – Safranfäden hinzugeben und einen Tag lang bei sanftester Hitze – es darf nie kochen, sonst verlässt die Seele der Tomate die Flüssigkeit, und sie schmeckt nach gar nichts mehr! – auf kleinster Flamme simmern lassen. Anders ist diese rotgoldene Färbung nicht zu erzeugen.«

Echo staunte, welche Geduld und Mühe Eißpin allein für eine Brühe aufgebracht hatte. Sie duftete wunderbar.

»Nun der Kloß! Sein Fleisch stammt von jenen Lachsen, die nur in den klarsten Bächen von Zamonien, denen von Vielwasser, leben. Ihr Wasser ist das gefährlichste des Kontinents – so klar, dass man es oft nicht sieht, bis man hineingefallen ist und darin ertrinkt. Die Lachse gelten als derart glücklich, dass man sie angeblich in Vollmondnächten lachen hören kann, wenn sie die Stromschnellen hinaufspringen, um zum Mond zu gelangen. Sie ernähren sich ausschließlich von kleinen Flusskrebsen, die wiederum selbst als Delikatesse gelten und, wenn sie Saison haben, fast mit Gold aufgewogen werden. Die Krebse schmecken fruchtig, fast süß, und sie besitzen das Aroma von Aprikosen.«

Eißpin schmatzte leise, schloss die Augen und schien in Gedanken dem Geschmack der Krebse nachzuschmecken.

»Aus dem Lachsfleisch bereite ich eine Farce«, fuhr er fort, »die mit ein wenig Salz und ein paar Kräutern abgeschmeckt und mit winzigsten glasierten Zwiebelwürfelchen in einem Reisblatt – so dünn wie der Atemhauch auf einer Glasscheibe – zum Kloß geformt wird. Diesen Kloß hänge ich an einen Faden über einen Topf mit delikatem blauen Tee, der sanft vor sich hin dampft. In diesem zartblauen Dampf hängt der Lachsfarceklops genau siebentausend Herzschläge lang – dann ist er auf den Punkt pochiert. Ich befreie ihn aus dem Reisblatt, gebe ihn in die Tomatenessenz – und fertig! Probier doch mal!«

Als Echo zärtlich in den wohlriechenden Kloß biss, geschah etwas wirklich Verblüffendes. Die ganze Welt um ihn herum verschwand, das Laboratorium samt Eißpin hatte sich – nein, nicht in Luft, sondern in Wasser aufgelöst! Er spürte es am ganzen Leib, sah Luftblasen vor seinen Augen aufsteigen, dicke graue Bachkiesel unter sich und große fette Lachse, die neben ihm schwammen. Und das Wasser war nicht nur um ihn herum, sondern sogar in ihm selbst, in seinem Mund, seinem Hals – er atmete es regelrecht. Und dann wusste er mit einem Mal, dass er ein Lachs war. Die Erkenntnis war so lebensecht und überraschend, dass er einen Laut der Verblüffung von sich gab, der dicke Luftblasen aus seinem Maul aufsteigen ließ, die ihm die Sicht versperrten. Und dann, genauso plötzlich, wie es verschwunden war, war alles mit einem Schlag wieder da: die vertraute Welt, die Küche und der Schrecksenmeister. Echo war so verdattert, dass er vom Teller zurückwich und versuchte, sich das Wasser aus dem Fell zu schütteln. Aber da war kein Wasser. Er war so trocken wie ein Kaminscheit.

»Du warst für ein paar Momente ein Fisch, stimmt’s?«, fragte Eißpin und wartete die Antwort gar nicht erst ab. »Nicht irgendein Fisch – du warst ein Lachs! Du hast das Wasser in deinen Kiemen gespürt, nicht wahr? Obwohl du gar keine Kiemen besitzt.«

»Allerdings«, antwortete Echo, immer noch verblüfft. »Ich war so sehr Fisch, wie man es nur sein kann. Ich habe das Wasser geatmet.« Er wollte mit der Tatze einen Tropfen aus seinem rechten Ohr holen, aber es war so trocken wie sein übriges Fell.

»Dann habe ich das Rezept richtig befolgt. Es stammt vom größten Lachskoch von Vielwasser. Er hat sich sein ganzes Leben lang geweigert, etwas anderes zuzubereiten als Lachs, und das hier war sein Lieblingsrezept. Bedien dich!«

Echo zögerte nur kurz und genehmigte sich den restlichen Kloß – und war sogleich wieder unter Wasser! Für eine Kratze ist das nicht der angenehmste Zustand, aber da er jetzt wusste, dass es nur eine Illusion war, konnte er den kulinarischen Zaubertrick diesmal sogar genießen. Er geriet in eine Stromschnelle, wurde von einem wilden Wirbel aus Süßwasser und Luftblasen abwärtsgerissen, tauchte kurz mit dem Kopf aus dem Fluss auf, sah einen blauen und sonnigen Himmel – und saß plötzlich wieder auf Eißpins Küchentisch.

»Das war toll!«, rief er begeistert und schüttelte sich erneut. »Dass man so etwas mit Klößen erreichen kann, ist allerhand.« Er machte sich daran, die köstliche Tomatenessenz aus dem Teller zu schlabbern.

»Es handelt sich um eine sogenannte Metamorphose Mahlzeit«, erklärte Eißpin, »ein alchimistischer Ableger der Kochkunst, der schon in der Frühzeit der Alchimie gepflegt wurde. Heute ist das vom nattifftoffischen Gesundheitsamt verboten – ich hoffe, du zeigst mich nicht bei den Behörden an.« Der Meister grinste. »Die halluzinogene Wirkung kommt zum Teil von einer sehr seltenen Sorte blauen Tees, der nur an den Rändern der Süßen Wüste wächst. Und von diversen Kräutern in der Lachsfarce, die heute nur noch Alchimisten züchten können – Schlafwurz, Phantasilie und Hypnian zum Beispiel. Würde ich den Tee und die Kräuter höher dosieren, könntest du dich stundenlang wie ein Fisch fühlen.«

»Tatsächlich?«

»Kein Problem. Aber das wäre ja nicht der Sinn der Sache, wenn du dich hier stundenlang auf dem Tisch rumwälzt und glaubst, du seist ein Lachs. Es ist immer eine Frage der Dosierung. So wie man eine Suppe auch versalzen kann.«

»Verstehe«, nickte Echo. »Geht das nur mit Lachs?«

»Oh nein! Jede Sorte Fisch. Jede Tierart. Es geht sogar mit Pflanzen. Ein Huhn. Ein Kaninchen. Ein Wildschwein. Alles, was man essen kann! Ich kann dich in einen Steinpilz verwandeln, wenn du willst.«

»Ich bin beeindruckt«, sagte Echo. »Du hast viel versprochen, aber das übertrifft all meine Erwartungen.«

»Das ist noch gar nichts, Kleiner«, winkte Eißpin ab. »Das ist erst der Anfang. Eine Vorspeise. Eine von vielen.«

Er räumte den abgeleckten Teller weg und stellte einen neuen hin. Echo wunderte sich, dass von ihm ein unwiderstehlicher Geruch aufstieg, obwohl er leer war.

»Unsichtbarer Kaviar«, erläuterte Eißpin. »Vom Tarnkappen-Stör. Der teuerste und seltenste Kaviar überhaupt. Versuch mal einen unsichtbaren Fisch zu fangen – mit der Hand, denn nur so ist es erlaubt, den Tarnkappen-Stör zu jagen. Ich habe nur ein einziges winziges Kaviar-Ei davon ergattern können, und ich kann dir sagen, dass ich dafür meine fragwürdigsten Beziehungen in die Unterwelt von Sledwaya spielen lassen musste. An diesem Ei klebt Blut!«

Echo wich vom Teller zurück.

»Nicht direkt an dem Ei«, sagte Eißpin. »Im übertragenen Sinne. Es war eigentlich für den Zaan von Florinth reserviert. Mir wurde mitgeteilt, dass florinthische Glasdolche zum Einsatz kamen und einige Hilfsköche in Suppe ertränkt wurden, um den Chefkoch des Zaans letztendlich davon zu überzeugen, seinen Herrn um das Ei zu prellen. Er überlistete ihn, indem er ihm ein herkömmliches Kaviar-Ei servierte, das er mit verbundenen Augen essen musste, weil es dann angeblich noch intensiver schmeckt. Mit dem Zaan von Florinth kann man so was machen, seitdem ihm in seinem Palast der Stuck auf den Kopf gefallen ist.«

Derartig abenteuerlich organisierter Kaviar machte Echo wieder neugierig, und er fahndete mit seiner Zunge auf dem Teller nach dem unsichtbaren Ei. Plötzlich ereignete sich auf seinem Gaumen eine kleine Geschmacksexplosion, die ihn wohlig erschauern ließ.

»Hmmm …«, machte Echo. So schmeckte also Kaviar vom Tarnkappenstör. Himmlisch.

»Und jetzt sieh dir mal deine Zunge an«, befahl Eißpin und legte dem Krätzchen einen silbernen Löffel hin, damit es sich darin betrachten konnte. Echo beugte sich darüber, sah belustigt sein von der Löffelwölbung verzerrtes Gesicht, öffnete das Maul – und erschrak fürchterlich. Denn er hatte keine Zunge mehr.

»Nein«, grinste Eißpin. »Die ist nicht weg. Sie ist nur vorübergehend unsichtbar. Sie erscheint wieder, wenn der Geschmack des Kaviars verschwunden ist.«

Echo blickte mit aufgerissenem Schlund auf den Löffel, starr vor Entsetzen. Was war, wenn Eißpin sich irrte? Ein Kratzenleben ohne Zunge war so undenkbar wie eines ohne Schweif. Aber tatsächlich: Je mehr sich der Geschmack verflüchtigte, desto deutlicher war seine Zunge zu erkennen, bis sie wieder ganz zu sehen war. Echo atmete auf.

»Wahrer Genuss sollte gelegentlich mit einem gewissen Nervenkitzel einhergehen«, sagte Eißpin, der bereits wieder eine neue Speise in einer gusseisernen Pfanne zubereitete. »Was wäre der Verzehr eines Bienenbrotes ohne die Gefahr, dabei eine nichtentstachelte Dämonenbiene zu erwischen? Was wäre ein gedämpfter Runkelfisch, wenn man nicht aufpassen müsste, sich an seinen tödlich giftigen Gräten zu verletzen? Spürst du die beglückende Erleichterung, deine Zunge wiederzuhaben? Auch das ist Genuss. Unbezahlbar.«

Eißpin stellte Echo einen neuen Teller hin.

»Keine Angst, davon fallen dir nicht die Haare aus, und es wächst dir auch kein Horn auf dem Kopf. Das ist der gebratene Brömen eines Knilschs.«

Echo betrachtete den neuen Gang misstrauisch. »Was ist bitte ein Brömen? Und was ist ein Knilsch?«

»Ein Knilsch ist ein Tier, das ausschließlich in Kanalisationen vorkommt und sich von Dingen ernährt, die ich bei Tisch lieber unerwähnt lasse – ebenso wie sein Aussehen. Wegen seiner dramatischen Lebensumstände besitzt der Knilsch ein Organ, das zugleich verdaut wie ein Magen, entgiftet wie eine Leber und filtert wie eine Niere: der Brömen. Und nicht nur das: Stell dir vor – der Knilsch denkt auch noch mit seinem Brömen! Ein Superorgan, das in der gesamten zamonischen Biologie keine Entsprechung hat. Der frische Knilschbrömen ist eine Delikatesse, für die sich die Chefköche auf den Wochenmärkten schon mal mit Filetiermessern duellieren.«

Echo musste aufstoßen, und er verspürte ein vages Unwohlsein. Er versuchte sich einen Knilsch vorzustellen, aber als vor seinem inneren Auge eine Kreatur aus filzigen Haaren und rosafleischigen Rüsseln Gestalt annahm, ließ er es doch lieber bleiben.

»Warum gelten den Feinschmeckern gerade Dinge, die einen natürlichen Widerwillen erzeugen, als höchste Delikatesse?«, fragte Eißpin. »Lebende Austern, kranke Lebern von gestopften Gänsen, die Gehirne von kindlichen Kälbern? Die ungeborenen Kinder von Fischen? Der Brömen eines Knilschs?«

Er gab gleich selber die Antwort. »Es ist der Reiz der Überwindung. Und die Überwindung von Normen ist die größte Antriebskraft der Alchimie. Nicht nur das Kochen, auch das Essen ist der Alchimie verwandt. Iss diesen Knilschbrömen, analysiere mit Zunge und Gaumen seine Geschmacksbestandteile, und du bist bereits dabei, ein Lehrling der Alchimie zu werden! Schließ die Augen!«

Echo gehorchte, biss in das seltsame Organ und kaute andächtig. Da war kein Geschmack, den er identifizieren konnte. Nichts, was ihn an irgendeine Mahlzeit erinnerte. Es war, als würde er eine Speise zu sich nehmen, die man auf einem anderen Planeten zubereitet hatte.

»Ich schmecke nichts, was ich bereits kenne. Es riecht fremd. Es schmeckt fremd. Alles ist ungewöhnlich. Aber es ist interessant.«

Echo schluckte den restlichen Bissen hinunter.

Eißpin zeigte mit ausgestrecktem Finger auf die Kratze und triumphierte: »Dann bist du ein Feinschmecker! Ein geborener Gourmet und ein Alchimist!«

»Bin ich das?«

»Kein Zweifel! Ein kulinarischer Ignorant hätte den Brömen eines Knilschs sofort ausgespuckt. Kaum etwas anderes schmeckt so außergewöhnlich. Solche Leute suchen nach vertrauten Genüssen – sie würden am liebsten immer das Gleiche essen. Ein Gourmet aber würde von einer gebratenen Parkbank probieren, nur um zu wissen, wie sie schmeckt. Und das ist das Wesen des Alchimisten: Nichts Fremdes, nichts Neues, nichts Überraschendes kann ihn schrecken. Im Gegenteil – er sucht danach. Bist du bereit für den nächsten Gang?«

Und so ging es den ganzen Abend weiter: Nudeln mit Blattgold überbacken, Katzenwels mit Garnelenbutter, Knurrhahn mit zwölf Soßen, Seespinne mit Paprika-Cassonade, Glattbutt mit Zucchinischuppen, Sautierter Hummer im Auberginen-Schiffchen, Moorschneehuhnnierchen mit Morchel-Essenz, Täubchen-Chartreuse mit Mangoldwickel, Midgardkaninchenzunge in Lavendelsauce, Gefüllter Sumpfschweinschwanz auf Blauem Blumenkohl, Gabelbeinfleisch in Melissengelee, Geeiste Seegurkensuppe mit gehobelten Langustenschwänzen – immer in winzigsten Portionen, oft ein Bissen nur, damit die Lust auf mehr nach jedem Gang erhalten blieb. Und dann erst die Desserts! Eißpin kredenzte eine abenteuerliche Köstlichkeit nach der anderen und mit ihnen jedes Mal eine erhellende Information, eine spannende Geschichte oder irgendeine verrückte Legende. Echo hatte sich noch nie derart gut unterhalten und gleichzeitig hervorragend verköstigt gefühlt. Er folgte dem Hantieren des Schrecksenmeisters am Herd genauso gebannt wie seinen Ausführungen, während er die einzelnen Gänge verschlang. Der Tyrann von Sledwaya zeigte ihm völlig neue Seiten seiner Persönlichkeit: die des perfekten Gastgebers und des charmanten Plauderers und Alleswissers, der nebenher mit leichter Hand eine kulinarische Sensation nach der anderen zubereitete, um sie dann mit den vollkommenen Manieren eines Oberkellners der Spitzengastronomie zu servieren. Alles war auf den Punkt gegart, perfekt gewürzt, von der einzig richtigen Temperatur und so harmonisch auf dem Teller arrangiert wie ein florinthisches Blumengesteck auf dem Frühlingsmarkt. Echo war bezaubert. Die Gedanken an Vollmond, Kratzenfett und baldiges Ableben waren völlig verflogen. Und noch tief in der Nacht tischte Eißpin Gang um Gang auf, bis Echo ihn schließlich um Gnade anflehen musste.

Zum guten Schluss trug der Meisterkoch das schon halb ohnmächtige Krätzchen, welches nun doppelt so viel wog wie noch vor Stunden, in ein anderes Zimmer, in dem ein großer Ofen stand und wohlige Wärme verströmte. Er richtete ihm ein wundervolles, mit dicken Kissen gepolstertes Schlafkörbchen, in dem Echo leise schnurrend entschlummerte.

Das Ledermausoleum

Als Echo am nächsten Morgen erwachte, fiel ihm sofort alles wieder ein: der Kontrakt, der Schrecksenmond, das Kratzenfett, das Auskochen, das Ausstopfen – er kletterte mit düsteren Gedanken aus seinem Körbchen und schlich durch Eißpins unheimliche Behausung.

In der obersten Etage gab es weder ausgestopfte Korndämonen noch Haselhexen, aber die Atmosphäre war für Echos Geschmack unbehaglich genug. Das Sonnenlicht schien, sowie es durch die hohen Fenster fiel, gleich seine Leuchtkraft einzubüßen, sich mutlos zu zerstreuen und in den endlosen Korridoren zu verlieren. Die Abwesenheit von Stimmengewirr, wie er es aus der Stadt gewohnt war, fiel ihm erstmals unangenehm auf. Hier lebte nur der Staub, der mit den Luftströmen zu einer melancholischen Musik tanzte.

Echo betrat fröstelnd die große Halle mit den Käfigen, dieses Gefängnis für Gefängnisse voller langer dünner Schatten, welche die Gitterstäbe warfen. Mit eingezogenem Kopf lief er zwischen ihnen hindurch. Die Käfige waren leer, doch jeder von ihnen erzählte die Geschichte eines von Eißpins Opfern, und keine hatte ein gutes Ende. In einigen Holzverhauen steckten noch Zähne und Krallen, die von verzweifelten Fluchtversuchen kündeten, und an manchen Eisengittern klebte getrocknetes Blut. Sie alle, ob kraftstrotzender Bär oder farbenfroher Paradiesvogel, ob Schlange oder Iltis, Ubufant oder Zamingo, waren ihren letzten Weg über den Fettkessel und den Eißpinschen Konservator gegangen und ruhten nun, auf einen Duft reduziert und eingeschlossen in Fett, im Keller des Anwesens. Echo konnte sich keinen schlimmeren Ort vorstellen. Alles erinnerte hier an den Tod.

Aber dennoch hatte er Hunger. Auch wenn er sich beim Einschlafen geschworen hatte, die nächsten drei Tage nichts zu essen – jetzt waren sämtliche Gänge verdaut, und Eißpins opulentes Menü hatte seinen Magen so mächtig gedehnt, dass dieser ihm jetzt leerer vorkam als je zuvor. Echo begriff, dass Hunger mit einem Fastenmagen erheblich besser zu ertragen war.

»Ah, da ist ja mein Naschkrätzchen!«, rief Schrecksenmeister Eißpin aufgeräumt, als Echo zaghaft in das Laboratorium geschlichen kam. Er hantierte an einer alchimistischen Waage, auf der er mit winzigen Bleigewichten ein goldenes Pulver auswog. »Gut geschlafen? Wie wär’s mit einem kräftigen Frühstück?«

»Danke der Nachfrage«, antwortete Echo. »Ich habe ausgezeichnet geschlafen. Und ich verspüre tatsächlich ein gewisses Hungergefühl. Trotz des üppigen Gelages gestern.«

»Ach was – Gelage!«, winkte Eißpin ab. »Das war gar nichts. Nur eine Ouvertüre. Ein paar Vorspeisen.«

Echo strich verschüchtert durch das Laboratorium. Im Fettkessel verkochte ein großer Vogel, dessen verkrümmter Krallenfuß aus der blubbernden Brühe herausragte.

»Das ist ein Dododo«, erläuterte Eißpin, als er das Krätzchen vor dem Fettkessel hocken sah. »Beziehungsweise: Das war ein Dododo. Der Letzte seiner Art, fürchte ich.«

»Vielleicht bin ich auch der letzte meiner Art«, sagte Echo leise, während er sich von dem schrecklichen Anblick abwandte.

»Das ist durchaus möglich«, rief Eißpin. »Durchaus möglich!«

Echo begann, Eißpins Natur zu begreifen. Es kam dem Schrecksenmeister gar nicht in den Sinn, dass er mit seinen kaltherzigen Bemerkungen die Gefühle seines Gegenübers verletzte. Die Gefühle seines Gegenübers waren ihm vollkommen gleichgültig. Er sprach einfach nur aus, was er dachte, egal, wie abscheulich es war.

Eißpin machte ein paar Eintragungen in ein Notizbuch, fing dabei an zu murmeln und betete schließlich eine alchimistische Formel nach der anderen herunter, worüber er Echo komplett zu vergessen schien. Der verharrte eine Weile höflich schweigend, um die Konzentration seines Gastgebers nicht zu zerstreuen. Plötzlich aber knurrte sein kleiner Magen so laut, dass es im ganzen Laboratorium zu hören war, wodurch Eißpin aus seiner Litanei aufschreckte. Er sah zu Echo herüber.

»Entschuldige bitte!«, rief er. »Die Arbeit! Ich habe heute einiges aufzuholen, deswegen … Hör zu: Wie wäre es, wenn du dich beim Frühstück selbst bedienst? Du musst dich nur aufs Dach begeben, wo alles zu deinem Wohlbefinden arrangiert ist.«

»Aufs Dach?«, fragte Echo.

»Das Wetter ist schön, frische Luft ist gesund. Kratzen treiben sich doch gerne auf Dächern rum, oder?«

Echo nickte vorsichtig. »Ja«, sagte er. »Ich mag Dächer.«

»Es gibt da nur eine Sache … eine … Formalität.«

»Die da wäre?«

»Die Ledermäuse.«

»Was ist mit denen?«

Eißpin heftete seinen Blick an die Decke des Laboratoriums. »Die Dachböden meines Hauses gehören in gewisser Weise den Ledermäusen. Ein stillschweigendes Abkommen. Ich lasse sie ungestört dort schlafen. Dafür erweisen sie mir gelegentlich … Gefälligkeiten.«

»Du machst gerne Geschäfte mit Tieren«, stellte Echo fest.

»Wenn du aufs Dach willst«, fuhr Eißpin fort, »musst du durch den Dachspeicher, und das ist das Reich der Ledermäuse. Du musst sie um Erlaubnis fragen, ihren Hoheitsbereich durchqueren zu dürfen. Das ist alles. Nur ein Akt des Respektes. Oder hast du Angst vor ihnen?«

Nein, Echo hatte keine Angst vor Ledermäusen. Das waren doch nur Mäuse. Mäuse mit Flügeln, na und? Er fürchtete sich weder vor ihren verknitterten Fratzen noch vor ihren Krallen und den spitzen Zähnen. Eine Kratze besaß selber Krallen und Zähne, wesentlich wirkungsvollere als die der fliegenden Mäuse. Sollten sie ruhig versuchen, sein Blut zu saugen, dann würde er ihnen schon die Rangordnung zwischen Maus und Kratze klarmachen.

»Nein«, sagte Echo. »Ich habe keine Angst.«

Eißpin zog an einer Kette aus Knochen, die von der Decke herabbaumelte, worauf ein Bücherregal samt Gerümpel knarzend im Boden versank und den Blick auf eine ausgetretene alte Holztreppe freigab, die hinauf ins Dunkel führte.

»Das ist der Weg zum Dachstuhl«, sagte er. »Zum Ledermausoleum, wie ich es nenne – es hat ein bisschen was von einem Grabmal. Es sind schon ziemlich morbide Viecher. Bestell ihnen schöne Grüße von mir!«

Eißpin wandte sich wieder seinen Pülverchen zu.

»Du kannst dich mit ihnen unterhalten – ich leider nicht. Wie ich dich darum beneide, mit den Tieren reden zu können! Wie viele Geheimnisse der Natur sie mir verraten könnten.«

Ja, das würde ihm gefallen, dachte Echo, sich mit den Tieren zu unterhalten. Wahrscheinlich würde er sie auf Folterbänke spannen und sie nach Strich und Faden verhören, mit Würgeeisen und Daumenschrauben.

»Geh ruhig rein«, rief Eißpin. »Viel Spaß auf dem Dach.«

Das Krätzchen stand jetzt vor dem Eingang und spähte ins Dunkel. Das Holz der Treppe war uralt, wurmstichig und abgewetzt. Sie wirkte wenig einladend, jede einzelne Stufe war auf ihre eigene Art verbogen und abgetreten. Im schummrigen Licht glaubte Echo klaffende Mäuler mit geborstenen Holzzähnen zu erkennen, böse dreinblickende Augenlöcher und grimmige Treppengespenster. Er musste sich zwingen, die erste Stufe zu betreten. Sie knarzte bei der Berührung mit der Pfote gequält auf.

»Geh ruhig!«, rief Eißpin. »Sie hält meinen schweren Knochen stand, da brauchst du dir mit deinem Fliegengewicht keine Sorgen zu machen.«

Zögerlich stieg Echo hinauf. Es roch tatsächlich wie in einer antiken Grabstätte, die man seit Ewigkeiten nicht mehr gelüftet hatte, nach tausend Jahre alter Luft und verfaulten Kadavern. Aber er erklomm tapfer Stufe um Stufe, und je höher er stieg, desto finsterer und muffiger wurde es, dazu gesellte sich bald ein stechender Geruch. Er hörte Eißpin unten an der beinernen Strippe ziehen und das Regal knirschend an seine alte Stelle fahren.

»Keine Angst!«, rief der Schrecksenmeister. »Die beißen nur nachts!« Dann wurde es vollständig dunkel.

Echos Kehle schnürte sich zu, und ein leichtes Zittern bemächtigte sich seiner Beine. Dennoch kletterte er tapfer weiter, die Treppe mit seinen Pfötchen vorsichtig ertastend. Er wollte diesen Akt des Respektes, wie Eißpin ihn genannt hatte, so schnell wie möglich hinter sich bringen. Eigentlich war das eine Unverschämtheit! Dass er sich mit ordinären Ledermäusen auseinanderzusetzen hatte, um an sein Essen zu kommen, davon war nie die Rede gewesen. Der saure Gestank war jetzt so penetrant geworden, dass er würgen musste.

»Ledermäuse?«, rief er.