Der Seelensucher - Georg Groddeck - E-Book

Der Seelensucher E-Book

Georg Groddeck

0,0
1,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

mehrbuch-Weltliteratur! eBooks, die nie in Vergessenheit geraten sollten. "Der Seelensucher ist von über 20 Verlagsanstalten abgewiesen worden und würde vermutlich noch heutigen Tags in den Schubladen liegen, wenn nicht Freud sich seiner erbarmt hätte" schrieb Groddeck in seiner Hauszeitschrift "Die Arche" 1927

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 606

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Der Seelensucher

Georg Groddeck 

Inhaltsverzeichnis
Über den Autoren
Der Seelensucher
Impressum

Über den Autoren

Georg Walther Groddeck (* 13. Oktober 1866 in Kösen; † 11. Juni 1934 in Knonau, Schweiz) war ein deutscher Arzt, Psychoanalytiker und Wegbereiter der Psychosomatik. Er war zudem als Sozialreformer und Schriftsteller tätig. 

Der Seelensucher

1. Kapitel.

Agathe, der Herausgeber, August Müller und der Seelensucher.

Meine Freundin, Frau Agathe Willen, hat mich auf ihrem Sterbelager beauftragt, die Geschichte ihres Bruders, des wunderlichen Herrn Thomas Weltlein zu veröffentlichen.

»Thomas,« sagte sie, »war der beste Mensch und der Gescheiteste, den ich je getroffen habe. Ich bin Schuld daran, daß er so elend zu Grunde gegangen ist. Meine übergroße Reinlichkeit und Angst trieben ihn in die Stürme hinaus, in denen er Schiffbruch litt. Und wenn jetzt jedermann über des Armen Narrheit lacht, so lastet das mit Zentnerschwere auf meiner Seele. In meiner Gewissensnot habe ich alles gesammelt, was ich über die merkwürdigen Erlebnisse meines Bruders erfahren konnte. Ich bitte Sie, der Sie ihn kannten und liebten, die Zettel, Briefe und Tagebücher, die dort in der Kiste liegen, durchzusehen, zu ordnen und allen wohlweisen Männern und Frauen zur Warnung drucken zu lassen.« Damit drehte sich die tapfre Agathe gegen die Wand und starb.

Es war ein Irrtum der guten Alten, daß ich den also geschilderten Bruder gekannt oder gar geliebt hätte. Als mich der Zufall in die Stadt Bäuchlingen warf, hatte er schon das Zeitliche gesegnet. Aber die Tote konnte ich nicht mehr darüber belehren. An ihrem Bette stehend gelobte ich, ihren letzten Wunsch zu erfüllen. Ein nachsichtiges Publikum wolle verzeihen, wenn ich ihm weitschweifig erzähle, wie Thomas Weltlein lebte und starb.

Ich muß meine Erzählung berichtigen, ehe ich sie beginne. Der Mann, von dem sie handelt, hieß nicht Thomas Weltlein, sondern von den Vätern her war er August Müller benannt. Kraft eigener Machtvollkommenheit jedoch verwandelte er diesen seinen ererbten Namen. Das war in Bäuchlingen männiglich bekannt und auch ich wußte darum. Aber erst aus den Papieren der Schwester erfuhr ich die seltsamen Gründe dieser Wiedertaufe, und auch der Leser wird seinerzeit darüber unterrichtet werden. Vorläufig ist es noch August Müller, von dem ich zu erzählen habe.

August Müller war durch den Tod seiner Eltern frühzeitig zu einem beträchtlichen Vermögen gekommen, hatte sich lange Jahre an einer Reihe von Universitäten studienhalber aufgehalten, war viel gereist und hatte viel erlebt, um sich schließlich als Mann von etlichen dreißig Jahren nach Bäuchlingen zurückzuziehen. Dort lebte er in einem weinumrankten Häuschen zusammen mit seiner verwitweten Schwester Agathe Willen und deren halbwüchsigen Tochter Alwine. An den Einzug dieser Schwester in sein Haus knüpfte sich ein Ereignis, das, so unscheinbar es dem Leser vorkommen mag, erwähnt werden muß. August hatte auf einer seiner Reisen Goethes Enkel, Wolf, kennen gelernt. Durch seine Gabe, einsame Menschen zum Sprechen zu bringen und ihnen aufmerksam zuzuhören, hatte er Wolf Goethes Gunst in so hohem Grade gewonnen, daß dieser ihm zum Andenken einen vom Großvater eigenhändig geschnittenen Schattenriß schenkte. In sauberen Umrissen war aus schwarzem Papier ein Mann geschnitten, der, auf der Weltkugel sitzend, ein kleines nacktes Frauenzimmerchen auf der flachen Hand hielt, dessen Mittelstück er erst forschend mit der Lupe betrachtete. August war entzückt davon, ließ das Bildchen einrahmen und taufte es »Seelensucher«. Er hatte es auf seinem Schreibtisch so aufgestellt, daß jedesmal, wenn er die Augen von Arbeit oder Buch erhob, der Blick darauf fallen mußte. Er liebte das Bild. Nach dem Tode seines Schwagers lud er seine Schwester mitsamt der kleinen Alwine auf einige Wochen zu sich nach Bäuchlingen ein. Da ihm das kleine Mädchen gefiel und die sorgende Hand seiner Schwester ihm das Leben angenehmer machte, bat er eines Morgens Agathen in Zukunft bei ihm zu bleiben und seinen Haushalt zu führen. Agathe, die ihm schräg gegenüber auf dem alten Ledersopha saß und sich darüber ärgerte, daß ihr Töchterchen Alwine genau so wenig dem Vater nachtrauerte wie sie selbst dem Ehegatten, daß sie dem Kinde aber nicht einmal soviel Anstand hatte beibringen können, Trauer zu heucheln, wie sie es vermochte, war im Begriff, die Bitte rundweg abzuschlagen, da sie diesen Mangel an Herzenstakt dem Einfluß einer seltsamen Zuneigung Alwines zu ihrem Onkel zuschrieb. In diesem Moment sah sie, wie Alwine, zärtlich an den lieben Onkel geschmiegt, ihr Händchen nach dem Seelensucher ausstreckte. Mit einem raschen Ruck sprang sie auf, riß das Kind vom Knie Augusts weg, gab ihm einen Klaps auf die Hand und beförderte es an die Luft. Was im Anschluß hieran zwischen den Geschwistern verhandelt wurde, ist mir nicht bekannt geworden, das Resultat war jedoch, daß Goethes Seelensucher von August Müllers Schreibtisch verschwand und Agathe mit ihrer Tochter in sein Haus einzog.

Außer seinen beiden Verwandten und einem handfesten Dienstmädchen, Emilie, war noch ein altes Weib im Hause, die den Namen Trude trug und immer eine Atmosphäre von Neid, Zank und Haß mit sich führte. Seltsamerweise genoß sie die besondere Gunst August Müllers, der sie Schön Rottraut getauft hatte und behauptete, sie sei seine Amme gewesen, was nachweislich falsch war. Der Grund, warum er dieses Wesen, dessen einziger Zahn in jeden Frohsinn hinein zu hacken schien, im Hause duldete, war Bosheit. Er freute sich über den beständigen Krieg der Frauen und war der Meinung, das Temperament seiner Schwester brauche eine solche Ablenkung, sonst werde sich ihre reichlich fließende Galle auf ihn ergießen.

Gearbeitet hatte August niemals. Er vermied mit viel Geschick alles, was unbequem war, und tat nur, was er mochte. Aber er war freundlich und unterhaltsam, trinkfest und ohne Neid, so daß er allgemein beliebt war. Äußerlich war er wie andere Menschen, nur ein wenig zu lang geraten: er hatte einen ganz ansehnlichen Bauch und eine viel zu früh erworbene Glatze. Seine Nase war rot und fast immer an der Wurzel von kleinen Eiterpickeln verunstaltet. Sonst ist nichts über August Müller zu berichten.

2. Kapitel.

Die Wanzen kriechen hervor.

Die gemächliche Ruhe, in der August lebte, wurde schrecklich gestört als die Schwestertochter Alwine eingesegnet wurde. Frau Agathe hatte ihr zum Zeichen, daß sie nun erwachsen sei, das Schlafzimmer zum Wohnstübchen einrichten lassen und ihr zum Schlafen eine Kammer angewiesen, in der bisher die alte Trude gehaust hatte. Trude schob höhnisch grinsend die dicke Zunge zwischen die Lippen, so daß sie von dem einsamen Zahn doppelt geteilt war, und eilte zu ihrem jungen Herrn, sich zu beschweren, daß sie der Gans weichen solle. August aber, der olympische, entschied, wie von jeher alle Väter der Götter und Menschen, gegen die Alte für das jungblühende Mägdelein, und schmunzelnd freute er sich an dem Knallen der Türen, wenn Schön Rottraut ihren Kram zur neuen Behausung trug. Er ahnte nichts von der fürchterlichen Rache auf die sie sann.

Am Morgen nach diesem Tage erschien Agathe in großer Aufregung bei dem Bruder. In der weit abgespreitzten Hand hielt sie mit den äußersten Spitzen der Finger einen weißen zusammengefalteten Bogen Papier. Den schob sie schweigend August unter die Nase, gerade auf seine schöne Ausgabe des Don Quixote. Ihre Miene drückte dabei so viel Abscheu und Eckel aus, daß der also aus seiner Lieblingslektüre Aufgescheuchte nicht zu schelten wagte, sondern geduldig den Bogen entfaltete. Aufmerksam betrachtete er den kleinen Gegenstand, der darin eingewickelt war, untersuchte ihn gründlich mit der Lupe und sagte dann zu der Schwester aufblickend: »Es ist eine Wanze.«

»Das weiß ich allein. Brauchst du dazu erst ein Vergrößerungsglas? Fortschaffen sollst du sie.«

Mit einer großartigen Bewegung knüllte August das Papier zusammen und warf es aus dem offenstehenden Fenster. »So,« sagte er und sich über das Buch beugend, suchte er die Stelle, bei der er unterbrochen worden war.

»So?« wiederholte die Schwester und ihre Stimme zitterte. »Nein, so nicht,« und plötzlich in Tränen ausbrechend, rief sie: »Begreifst du nicht, was das bedeutet? Wir haben Wanzen im Hause, in deinem Hause Wanzen. Bedenke doch, was das heißt. Und noch dazu in deiner Nichte Bett hat sie das Zimmermädchen gefunden. Sie ist ein schmutziges Ding, die Emilie, gestern noch habe ich sie ausgezankt, weil sie Alwines Bett nicht überzogen hatte, und heute findet sie das, das, und sagt mir: für Wanzen brauche sie keine Betten zu überziehen und in der Schmutzwirtschaft bleibe sie nicht. Ich habe ihr mit einer festen Maulschelle den Dienst quittiert. Aber nun geht sie hin und schreit es in der Stadt aus und ich bin um meinen guten Ruf. Wo eine sei, seien noch mehr, hat sie gesagt. Und sie hat Recht. Wo eine ist, da sind auch mehr. Man wird bald mit Fingern auf mich zeigen, und eine wird der andern zuzischeln, ich hätte das Haus verunreinigt.«

August lachte laut auf, nahm sich aber sofort zusammen, als er die Verzweiflung Agathes sah. »Laß nur gut sein, Schwesterherz,« sagte er, »das ist nicht so schlimm, damit wollen wir schon fertig werden.«

Die kleine Frau blickte mit einem Ausdruck größten Vertrauens zu ihrem Bruder hinüber. »Ja, du wirst meine Ehre retten,« sagte sie, »ich weiß es. Aber leicht ist es nicht. Wanzen sind unausrottbar, mußt du wissen.«

August lächelte überlegen. »Beruhige dich nur. Das werde ich schon machen,« erwiderte er. Dabei lehnte er sich im Stuhl zurück und dachte nach. Eine ganze Weile schaute Agathe ihn voll Bewunderung an. Dann ging sie leise hinaus.

Von dieser Stunde an war es mit der Ruhe August Müllers aus. All ihr Lebtag hatte Agathe in stummer Andacht zu dem vielbelesenen Bruder aufgesehen, ohne einen Beweis seiner Überlegenheit zu verlangen. Jetzt zum ersten Mal war sein Wissen und Können von ihr auf die Probe gestellt worden, und gerade jetzt, bei dieser lächerlich geringfügigen Aufgabe versagte er. Er hatte sich die Sache leicht gedacht und, siehe da, er kam nicht einen Schritt weiter.

Anfangs ging es sehr einfach zu. Von der hilfreichen Schwester angestaunt, begann August sein Werk gründlich, wie er immer war. Die Bettstelle wurde auseinander genommen, jede Fuge geprüft, die Matratze nachgesehen, die Holzteile der Wände abgesucht. Nirgends fand sich auch nur die leiseste Spur. Nun wurde Petroleum und Salzsäure in reichlicher Menge verwendet, und alles schien gut. Befriedigt, siegesgewiß, von Arbeit müde, ruhte das Geschwisterpaar von der Mühe aus. Aber schon am zweiten Morgen fand das Nichtchen ein neues Exemplar des Wanzengeschlechts.

Jetzt geriet das Haus in Aufregung. Alles wurde aufgeboten und mit der gesamten Dienerschaft, mit Schwester und Nichte die Jagd erneuert. Es half nichts. Ein frischer Gast erschien und zerstach die gute Alwine in ihrem harmlosen Mädchenschlaf. Mit großem Kraftaufwand wurde der Feldzug zum dritten Mal versucht. Der Tapezierer erschien, die Dielen wurden gedichtet, die Holzverkleidung abgerissen, die Tapete erneuert, alle Möbel gesäubert und mit unglaublichen Säuren und Giften durchtränkt. Der Meister Thugut schwur bei Himmel und Erde, nicht ein Floh könne mehr durch die Fugen eindringen, viel weniger eine Wanze.

Sie kam doch. Nicht gleich, aber nach wenigen Tagen war sie da, wieder eine einzige, diese eine aber genügte, um der Schwester Mut zu brechen. Tief seufzend gestand sie sich die Ohnmacht des Bruders ein, der Zweifel erwachte und untergrub das Vertrauen. Ohne ein Wort gegen den Bruder zu verlieren, gab Agathe den Kampf auf. Sie quartierte die Tochter mitleidig um, begnügte sich jedoch im übrigen, mit haßerfüllten Augen an der Kammer vorüber zu gehen.

August dachte anders. Seine Ehre stand auf dem Spiel, er gelobte sich selber, nicht eher zu ruhen, als bis er seine Unfehlbarkeit bewiesen hätte. Er zog selber in das verwunschene Gelaß und lag nun Nacht für Nacht auf der Lauer schlaflos dem Getier nachstellend. Von Zeit zu Zeit erwischte er eins von den roten Ungeheuern. Dann richtete er mit geheimer Wonne den Blutsauger hin und begann am nächsten Morgen eine neue Hetze.

Agathe geriet in Verzweiflung. Sie sah den stillen ehrbaren Bruder in wildeste Aufregung geraten, blutgierig und grausam werden. Denn allmählich gewann er Geschmack daran, seine Feinde vor versammeltem Hause feierlich mit ausgesuchten Qualen zu Tode zu martern. Er wartete nicht mehr bis zum Morgen mit Suchen und Jagen, sondern er, der Rücksichtsvolle, schreckte mitten in der Nacht Verwandte und Gesinde mit dem Schlachtruf: »Wanzen!« auf, um die schlaftrunkenen Hausgenossen zum Kampf zu verwenden. Seine Lieblingsbücher verstaubten, er stöberte in alten Scharteken herum, um wirksame Mittel zu finden, sein Studierzimmer füllte sich mit Laugen und Säuren, rote, grüne und gelbe Flüssigkeiten standen in Flaschen und Fläschchen umher. Spritzen, Pinsel, Bürsten aller Art sammelten sich an, kurz, Augusts Leben war nur noch ein Kampf mit den Wanzen. Agathe wagte es schüchtern, ihn auf die wunderbaren Helfer der leidenden Welt, die Kammerjäger aufmerksam zu machen. Das nahm er übel. Er werde allein damit fertig. Aber er traute sich zu viel zu und schließlich war er froh, als der staatlich geprüfte Kammerjäger Lauscher zu Hilfe kam.

Ach, es war keine Hilfe. Die Not blieb, wie sie gewesen war; alle zwei, drei Tage erschien die eine einzige Wanze, biß den unglücklichen Müller, starb dafür und fand nach kurzer Zeit ihre Nachfolgerin. Ein anderer Jäger kam, ein dritter, vierter. Es war alles umsonst.

August ging mit rollenden Augen umher, ein anderer Mensch, verwildert und ganz verwandelt, und scheu wich ihm aus, wer ihm im Hause begegnete. Er las den Anzeigeteil aller Zeitungen andächtig, schrieb um jedes Mittel, das er angepriesen fand und stand im Briefwechsel mit einem Dutzend Menschen gleichen Schlages, wie der staatlich geprüfte Lauscher einer gewesen war.

Schließlich in voller Verzweiflung setzte er in den Zeitungen eine Belohnung von 100 Mark aus für den, der ihm ein unfehlbares Mittel angäbe, um Wanzen zu vertilgen. Zu Hunderten kamen die Briefe. August las sie mit Verachtung. Was man ihm empfahl, hatte er längst als nutzlos verworfen.

Eines Morgens aber kam er aufgeregt zu seiner Schwester. »Lies,« sagte er und reichte ihr einen Brief hin.

Agathe erschrak. Sie kannte die Handschrift, »Von Lachmann,« sagte sie und ließ das Blatt sinken.

»Ja, ja. Von deinem alten Verehrer. Hör' nur.« Er riß ihr den Brief fort und las.

»Alter Knabe.

Ich habe deine Anzeige gelesen und will versuchen, dir das unfehlbare Wanzenmittel zu verschaffen. Aber du mußt hierher kommen. Ich besitze das Mittel nicht selbst, kenne nur die Wirkung. Ein alter Sonderling, seines Zeichens Archäologe, hat es gefunden, geizt jedoch damit, weil er behauptet, die Welt verdiene so große Wohltaten nicht. Mit Geld ist bei ihm nichts zu erreichen. Aber ich habe ihm einmal eine Gräte herausgeholt, die ihm im Halse stecken geblieben war, als er mir während des Essens den Grundriß des Delphischen Tempels mit Hilfe von Heringsschwänzen und Kartoffelschalen vorbaute und plötzlich bemerkte, daß er das Grab des Dionysos an einer falschen Stelle angebracht hatte. Seitdem bin ich sehr gut bei ihm angeschrieben und wenn wir es klug anfangen, luchsen wir dem dreimal Weisen sein Geheimnis ab. Nur mußt du, wie gesagt, herkommen. Ich werde dich bei ihm einführen. Bleibe einige Tage hier. Soweit es mein männermordendes Geschäft als Arzt erlaubt, stelle ich mich dir zu jedem dummen Streich zur Verfügung. Empfiehl mich der gestrengen Frau Schwester als ihren vielgetreuen Vetter

Lachmann.«

Agathe sagte kein Wort. Der Name Lachmann, die wohlbekannte Art seines Schreibens hatten alte Erinnerungen geweckt.

»Was meinst du,« fragte August, »soll ich reisen?«

»Gewiß sollst du reisen, gewiß.«

»Ja, so ganz sicher bin ich dabei nicht. Lachmann ist ein Hanswurst, dem es Spaß macht, die Menschen zu Narren zu haben. Mit mir ist er freilich immer vernünftig gewesen.«

»Immer,« bestätigte Agathe. »Er behandelt Narren als Narren, mit vernünftigen Leuten war er vernünftig. Außerdem, wenn er wirklich einen Streich spielen wollte, so würde er mich doch nicht grüßen lassen. Das täte er mir nicht an.« Dabei errötete das alte Weiblein wie ein junges Mädchen.

August wog das Blatt zweifelnd in der Hand.

»Und wenn es nichts mit seinem Mittel ist, du bist wenigstens ein paar Tage aus dieser Unglückskammer heraus. Vielleicht vergißt du dann die ganze Geschichte.«

August warf ihr einen wütenden Blick zu. »Ich will sie nicht vergessen,« sagte er, schob den Brief in seine Tasche und ging nachdenklich davon.

Wahrscheinlich war August Müllers Geist damals schon durch Nachtwachen und Wanzenkampf zerrüttet. Sonst hätte er, der seinen Vetter gut kannte, sich doch gehütet, in die plumpe Falle zu gehen. Denn der Schwester Zureden achtete er für nichts. Er wußte, daß Lachmann ihre alte Liebe war. Sei dem wie ihm wolle, er reiste am nächsten Tage ab. Was er bei seinem Freunde erlebte, läßt sich nicht sicher feststellen. Seine eigenen Erzählungen davon tragen den Charakter der Geistesüberschwemmung, die während seiner Krankheit seine Reden verwässerte. Das wenige, was Agathe selbst feststellte, wird der Leser seinerzeit erfahren. Genug, eines Tages früh am Morgen langte August in ziemlich elendem Zustand wieder zu Hause an.

3. Kapitel.

Ein Scharlachfall. Dr. Vorbeuger. Ein Fluchtversuch.

Matt und müde trat er seiner Schwester, die sich rasch erhoben hatte, gegenüber, klagte über Abspannung und Hitzegefühl und wies alle Fragen nach seinen Erlebnissen kurz ab. Die Schwester war durch sein kränkliches Aussehen und seine Weigerung, irgend etwas zu genießen, arg erschreckt. Sie hatte in seiner Abwesenheit wieder sein früheres Schlafzimmer für ihn einrichten lassen. Aber August blieb hartnäckig dabei, er müsse noch heute die Wanzen vertilgen. Der Professor Steinschnüffler, Lachmanns Freund, habe ihm sein Mittel gegeben. Es stamme aus der Gesetzsammlung des Königs Hamurabi. Tausende von Jahren sei diese ewige Wahrheit, die von dem großen König in Keilschrift der Welt kundgetan wurde, im Staube vergraben gewesen und erst Steinschnüfflers Scharfblick habe sie wieder entdeckt. Dabei lachte August pfiffig, zog einen zusammengeknüllten Zettel aus der Tasche und spielte damit wie mit einem Ball.

Endlich gelang es der Schwester ihn zu Bett zu schaffen. Sie ließ Glühwein für ihn kochen, holte Wärmeflaschen und nasse Umschläge herbei, und als er zuletzt selbst erklärte, das Fieber schüttle ihn, brachte sie aus ihrer wohlversehenen Apotheke Antipyrin. Mit der größten Genugtuung sah sie zu, wie er es verschluckte, dann ging sie, und ganz beruhigt durch die eigene Vielgeschäftigkeit, begann sie ihre Morgentoilette. Sie war eben dabei, ihre Haare aufzustecken, als sich die Türe öffnete und ihr Bruder eintrat. Er war nur halb angezogen, das Hemd war aufgerissen und ließ seine haarige Brust sehen. In der Hand hielt er den unvermeidlichen Feind, den er hingerichtet hatte.

Agathe fuhr vom Stuhl auf und flüchtete sich in die äußerste Ecke des Zimmers. »Mein Gott, was hast du gemacht,« schrie sie, »wie siehst du aus.«

»Rot, auf dem ganzen Körper scharlachrot,« erwiderte August und betrachtete aufmerksam seine fleckigen Hände. Agathe starrte ihn immer noch entsetzt an. Sie hatte den Handspiegel ergriffen und hielt ihn wie einen Schild vor sich. Als der Bruder jedoch auf sie zuschritt, um sein rotgesprenkeltes Gesicht in dem Glase zu prüfen, schrie sie: »Scharlach! Du hast das Scharlachfieber. Rühr' mich nicht an! Mein armes Kind! Du wirst uns alle anstecken. Bei dem Lachmann hast du es dir geholt. Man soll Ärzte nicht zu Freunden haben. Geh, geh, augenblicklich. Du wirst uns alle töten. Niemand darf dir begegnen. Rasch in dein Zimmer! Ach, meine arme Alwine, die liegt nun auch bald auf dem Kirchhof.«

Sie griff zum Staubwedel und ihn als Waffe schwingend, den Spiegel vorgestreckt, trieb sie den Bruder vor sich her. Vergeblich beteuerte der Unglückliche, er fühle sich ganz wohl. Vor den entsetzensprühenden Augen dieser wunderlich ausgerüsteten Schlachtenjungfrau mußte er weichen, bis er schließlich in sein Wanzenzimmer gedrängt war. Krachend schlug hinter ihm die Tür zu, der Schlüssel drehte sich im Schloß, und August war gefangen. »Du kommst nicht eher heraus, als bis der Arzt hier war,« tönte es noch, dann hörte er, wie die Fenster auf dem Korridor aufgerissen wurden, die Mägde herbei eilten, und bald darauf klatschten Wasserströme auf dem Boden, Eimer klapperten und Schrubberbesen kratzten die Dielen.

Eine Weile blieb der Eingesperrte betäubt von der Überraschung an der Tür stehen, dann drückte er auf die Klinke. »Agathe!« Keine Antwort. »Agathe!« wiederholte er. Nichts erfolgte. Nur die eifrigen Besen hörte er den Gang auf und ab fahren. Plötzlich übermannte ihn die Wut. Wie!? Sein ganzes Leben war er der ehrbare Herr Müller gewesen, das Muster eines feinen, ordnungsliebenden Bürgers, der Stolz des Hauses und der Stadt, und nun fegten die Mägde hinter ihm her, als ob er den Schmutz des Augiasstalles an seinen Füßen eingeschleppt hätte. Mit beiden Fäusten gegen die Tür schlagend, schrie er wie ein Besessener nach seiner Schwester. Als das nichts half, rief er sämtliche Insassen des Hauses bei Namen und schickte jeden Einzelnen mit den wildesten Flüchen zur Hölle. Er ließ sich keine Zeit Atem zu schöpfen. Immer drohender wurden die Schläge seiner Fäuste, immer lauter und gellender seine Rufe, bis sie schließlich in ein unartikuliertes Wutgeheul übergingen. Entsetzt über das Geschrei, flüchteten die Mägde zur Herrin, die selbst von der Angst erfaßt, der Verpestete könne, vom Fieberwahn ergriffen, die Tür einschlagen, ihre Herde zu beruhigen suchte. Ihre Besorgnis war ganz unnötig. So sehr das Vorbild aller Bürgertugend auch von dem Grimm verstört war, die Schwester hatte ihn viel zu wohl erzogen, als daß ihm der Gedanke, die Kerkertür zu sprengen, in den Sinn gekommen wäre. Nur tobend und tobend erschütterte er eine Stunde lang das Haus mit seinem Brüllen.

Plötzlich verstummte er. Der Schlüssel hatte sich gedreht und durch die schmale Spalte der Tür zwängte sich die hagere Gestalt des Kreisphysikus Dr. Vorbeuger hinein.

Ich bin nicht befugt in dieser wahrhaftigen Geschichte zu irgend jemandes Gunsten etwas zu verschweigen und muß zu meiner Beschämung eingestehen, daß Agathe Willen, als sie den Arzt in das Gefängnis ihres Bruders eingelassen hatte, horchend ihr Ohr an die Tür legte. Vorbeugers Worte konnte sie nicht verstehen, er sprach wie gewöhnlich sehr leise und behutsam. Dagegen wurde des Bruders Stimme schon nach den ersten Minuten heftig. »Wozu denn untersuchen? Der ganze Körper sieht aus wie das Gesicht. Mein Hals ist rot? Kein Wunder. Schreien Sie zwei Stunden, so geht es Ihnen ebenso. – Scharlach! Scharlach! Aber ich fühle mich ganz wohl, ganz und gar. Ich fange Wanzen. Wissen Sie auch wie schwer das ist? Wer das kann, ist nicht krank. – So! Vorsicht! und Rücksicht auch, Rücksicht auf meine Schwester, die mich wie eine Maus gefangen hält? Und wie lange, wenn ich fragen darf, soll die Absperrung dauern?«

Fast hätte Agathe die Sublimatflasche fallen lassen, die ihr Vorbeuger beim Eintreten in die Hand gedrückt hatte, so schrie der wackre Müller jetzt auf. »Was? Sechs Wochen? Herr, sind Sie verrückt? Nicht eine Minute länger bleibe ich.« Die Tür wurde gewaltsam aufgerissen, so daß Frau Willen gegen die Wand geschleudert wurde, und der Bruder stürzte hinaus, rannte mit einem vernichtenden Blick auf seine Schwester den Korridor entlang, riß den Hut vom Haken und war im nächsten Augenblick im Freien.

Verlegen sah Agathe den Doktor an, der mit sauersüßem Lächeln sich die Hände rieb. »Scharlach,« sagte er, »ein leichter Fall, aber immerhin Scharlach, da ist kein Zweifel.«

Agathe seufzte. Rote Gespenster tanzten vor ihren Augen, und in stummer Angst faltete sie die Hände über der Sublimatflasche.

Vorbeuger wusch sich wichtig in dem Waschbecken, das man ihm hingestellt hatte. »Sehr merkwürdig, dieses Benehmen des Herrn Müller,« sagte er dabei. »Ich will annehmen, daß er durch die Krankheit überreizt ist, wahrscheinlich auch fiebert. Daß er fortläuft, geht aber nicht. Er schleppt mir die Seuche in die Stadt, und ich werde dann verantwortlich gemacht.«

Agathe goß dem Arzt den Inhalt der Flasche über die ausgebreiteten Hände, voll Andacht zuhörend. Als er nicht weitersprach, sondern nur sorgfältig die Hände abtrocknete, bat sie schüchtern: »Helfen Sie, Herr Doktor, helfen Sie.«

Vorbeuger suchte noch die letzte Feuchtigkeit fortzureiben. Er zog wichtig die Augenbrauen in die Höhe, räusperte sich und sprach: »Als Arzt habe ich hier im Hause nichts mehr zu tun, das versteht sich von selbst. Aber als Staatsbeamter muß ich dafür sorgen, daß Herr Müller isoliert wird; wenn es nicht anders geht, mit Hilfe der Polizei.«

Frau Willen setzte die Sublimatflasche beiseite. Sie mußte die Hände ringen. Frostschauer jagten ihr durch die Glieder. August Müller und die Polizei. Es war fürchterlich. »Was wollen Sie tun,« fragte sie.

»Den Kranken festnehmen und in das Spital bringen lassen.«

»Oh, das wird ein Skandal,« jammerte Agathe. »Nein, um Gottes willen, nein. Sie kennen meinen Bruder nicht. Das gibt ein Unglück, nur das nicht.«

Dr. Vorbeuger zuckte abwehrend die Achseln und griff nach Hut und Stock. »Ich bin Beamter und kann auf Privatwünsche keine Rücksicht nehmen. Ich habe Pflichten gegen das Allgemeinwohl.

Scharlachkranke sind gemeingefährlich. Fügt sich Herr Müller nicht gutwillig den Gesetzen, so muß ich die Hilfe der Staatsgewalt in Anspruch nehmen.«

Frau Willen raffte sich zusammen. »Er wird sich fügen,« sagte sie, »ich stehe dafür.«

Vorbeuger lächelte milde. »Sie versprechen viel. Ihr Herr Bruder muß so lange abgesperrt bleiben, bis die Gefahr der Ansteckung vorüber ist. Wie wollen Sie das bei einem Manne bewerkstelligen, der so rücksichtslos selbst gegen Menschen vorgeht, die das Recht haben, ihn einzusperren?«

Agathe streckte dem Doktor zuversichtlich die Hand entgegen. »Verlassen Sie sich darauf, Herr Kreisphysikus,« sagte sie. »Sobald August zurückkehrt, sperre ich ihn ein, und er wird nicht eher das Zimmer verlassen, als bis Sie es selbst erlauben.«

»Nun, wenn Sie das fertig bringen, alle Achtung. Bitte schicken Sie zu mir, wenn Sie den Herrn Bruder festgesetzt haben. Ich werde unterdessen an den Kollegen Lachmann telegraphieren, ob er etwas über die Ansteckung weiß.« Damit empfahl er sich und ging hocherhobenen Hauptes davon.

4. Kapitel.

August wird eingesperrt, Agathe besucht ihn.

Agathe entfaltete sofort eine erstaunliche Tätigkeit. Sie warf Kleid und Stiefel ab, band sich eine Serviette um das Haar, zog sich Handschuhe an und bei sich seufzend: das ist nun alles reif ins Feuer geworfen zu werden, ging sie daran, des Bruders Zelle aufzuräumen. Die Magd schickte sie eilig zum Schlosser. Sie selbst schleppte Bett- und Leibwäsche für den Bruder herbei, Eßgeschirr holte sie und allerlei Vorräte, eine große Schüssel zum Waschen der Gefäße und Tücher zum Abtrocknen, Eimer, Besen und Scheuerlappen. Das alles häufte sie auf dem Balkon an, der an das Wanzenzimmer anstieß, und selbst den Nachtstuhl vergaß sie nicht. Eine Riesenflasche Sublimatlösung und ein Bottich Schmierseife vervollständigten die Ausrüstung. Trotz der Eile, die sie hatte, suchte sie sorgfältig das abgebrauchte Gerümpel aus; denn das schwur sie sich zu, nichts sollte wieder gebraucht werden, was in diesem Pestzimmer gewesen war.

In weniger als einer Stunde war alles bereit und Agathe setzte sich gedankenvoll vor das Wanzenzimmer und legte die Hände in den Schoß. Sie wartete auf den Schlosser. »Ist es nötig, daß August gepflegt wird, so werde ich es selbst tun. Sonst mag er sehen, wie er allein fertig wird. Muß ich hinein zu ihm, und das wird wohl nötig sein, denn schließlich« – sie dachte gewohnheitsmäßig nicht zu Ende, was sie zwingen werde in des Bruders Zimmer einzudringen – »es muß doch bei ihm gereinigt werden,« nahm sie kühn den Gedanken in andrer Form wieder auf. »Ich werde mir ein doppeltes Kostüm aus Sackleinwand machen. Dann verderbe ich nicht so viel. Eines kann dann immer in Karbollösung liegen, während ich das andere trage. Und zum Balkon schaffe ich mir Zugang mit der Leiter. Das geht ganz gut.«

Agathe wurde fast froh bei ihren Plänen. Dazwischen horchte sie nach den Schritten des Schlossers. Endlich erschien Meister Haudrauf und nun begann eine seltsame Arbeit. Zwei bewegliche Eisenstangen ließ Frau Willen an der Außenseite der Zellentür anbringen, zwei Eisenstangen, die in eiserne Haken eingelegt, jeden Sturm von innen aushalten konnten. Bald war das Werk getan und nun saß Agathe mit gefalteten Händen da und wartete. Das Herz schlug ihr. Wenn ihre List gelang, so war ihr Bruder vor der Polizei gerettet.

Endlich hörte sie Augusts Schritt. Rasch flüchtete sie in ihr Zimmer. Als er auf den Gang kam, streckte sie den Kopf aus der Tür und sagte: »Gut, daß du kommst. Ich habe dein Bett gemacht. Denke dir, unter der Matratze ist eine Wanze.«

Sie konnte nicht vollenden. Wie ein Rasender stürzte August an ihr vorbei, und im nächsten Augenblick war die Tür hinter ihm zugeschlagen und die Eisenstangen vorgelegt. »So, mein Junge,« sagte Agathe: »Jetzt habe ich dich sicher.«

Unbekümmert um die Wut des Gefangenen, der sich schnöde überlistet sah, schritt sie davon. Sie fühlte sich so erleichtert, daß sie ganz unbewußt die Melodie aus der Fledermaus: »Ich hab ein schönes Vogelhaus«, zu trällern begann. Mitten im Vers aber fiel ihr ein, daß ihr Bruder krank sei. Erschrocken hielt sie inne und in ihrer Beschämung holte sie sich einen Stuhl, stellte ihn vor die Gefängnistür und saß nun dort, auf jeden Laut horchend, der aus dem Zimmer drang. An dem Rücken der Möbel und Werfen der Kissen konnte sie genau verfolgen, wie der Bruder seiner Lieblingsbeschäftigung oblag.

Stunde für Stunde hielt sie Wache. Dort fand sie auch Dr. Vorbeuger. Lachmann sei verreist und könne erst in einigen Tagen bestimmte Antwort geben. Es sei aber nicht unmöglich, daß unter seinen Kranken Scharlachfälle vorgekommen seien.

Agathe nahm die Nachricht wie eine Siegesbotschaft auf. Es freute sie, daß sie Recht behalten hatte, und in ihrem Triumphgefühl schrie sie mitten in den Sport des Bruders hinein: »Du hast doch Scharlach. Ich wußte es ja«.

August lachte laut auf. »Keine Spur von Scharlach. Ich bin ganz gesund. Das sollst du sehen morgen; heute habe ich noch zu tun. Ich habe Steinschnüfflers Rezept! Wehe den Feinden! Jetzt laß mich in Frieden! Es dämmert schon; ich bin auf dem Anstand. Kein Laut darf das Wild schrecken.«

Agathe stand wie auf Kohlen. Sie sah, wie Vorbeuger die Ohren spitzte, um zu hören, was der Mann da drinnen sprach. Die Wanzen im Hause Müller waren längst Stadtgespräch. Frau Willen aber sprach nie davon, sie hoffte immer noch, durch hartnäckiges Schweigen das Gerücht ersticken zu können. »Fieberphantasien!« log sie, »Scharlachfieber, der Arme,« und dabei zog sie den Arzt so hastig fort, daß er sich fast die Nase an der Wand zerstieß. Sein Groll von heute Morgen erwachte wieder und die Nase reibend, wiederholte er drohend: »Ich hoffe, es wird Ihnen gelingen, den Kranken abgesperrt zu halten, Frau Willen. Sonst – ich bin verantwortlich, und in dem Spital ist er sicher.«

Unter dem Eindruck dieser schrecklichen Worte verbrachte Agathe den Rest des Tages und die ganze Nacht. Schlaflos saß sie auf dem Stuhl und fertigte ihr Scharlachkostüm an, ein langes weißes Gewand, Segeltuchschuhe, eine dicht anschließende Haube und eine Maske, die nur die Augen frei ließ. So gewappnet wollte sie der Gefahr trotzen. Ab und zu seufzte sie tief. Drinnen regte sich nichts. Aber sie kannte den Bruder. Ihn floh der Schlaf gewiß ebenso wie sie selbst. Er lag auf der Lauer.

Je mehr der Morgen nahte, umso schwüler ward ihr zu Mute. Sie malte sich aus, wie der Bruder, sobald sie die Tür öffne, sie über den Haufen rennen und von neuem flüchten werde. Und dann sah sie Leute mit roten Kragen hinter ihm herrennen, ihn mitschleppen, um ihn dem schwer beleidigten Vorbeuger auszuliefern. Fast wären ihr Tränen gekommen, und voll Ingrimm dachte sie des fernen Lachmann, der sie in diese Lage gebracht hatte.

Endlich brach der Tag an. Sie erhob sich. War sie erst im Zimmer, so wollte sie schon mit dem Kranken fertig werden. Gefährlich war nur der Moment des Öffnens. Stand er fluchtbereit hinter der Tür, so war alles verloren. Vorsichtig hob sie die Eisenstange fort, leise drehte sie den Schlüssel, legte noch einmal das Ohr an die Tür, dann riß sie sie auf und schoß hinein.

Ihr Erstaunen war groß, als sie des Bruders ansichtig wurde. Er saß friedlich auf seinem Bett und wandte der Eintretenden nicht einmal das Gesicht zu, so tief war er in Nachdenken versunken. Den Gruß Agathes erwiderte er nicht. Und als sie ihn aufforderte, auf den Balkon zu gehen, bis sie das Zimmer geordnet habe, erhob er sich, reckte sich zu seiner vollen Höhe empor, schritt langsam auf die Schwester zu und sprach, dicht vor ihr stehen bleibend: »Es hat mich nicht gebissen«. Dabei riß er die Augen weit auf, so daß seine Schwester später behauptete, er habe ausgesehen wie ein sterbendes Kalb. Dann wandte er sich und schritt zu dem Balkon. An der Tür drehte er sich noch einmal um, schüttelte ernsthaft den Kopf und sagte wieder: »Es hat mich nicht gebissen. Weißt du, wie das ward?« Während nun Agathe das Zimmer ordnete, ging er, die Hände auf dem Rücken, den Balkon hin und her. Die Worte der Schwester, mit denen sie ihn von Zeit zu Zeit ansprach, beantwortete er nur mit einem ärgerlichen Kopfschütteln und dem Ausruf: »Stör' mich nicht, ich habe zu tun«.

Agathe wurde bei diesem hartnäckigen Schweigen ängstlich. Sie glaubte immer deutlicher wahrzunehmen, daß Fieberphantasien den Bruder beschäftigten; wenn sie jedoch in sein gesundes frisches Gesicht blickte, das so gar nicht erhitzt aussah und nicht den geringsten roten Fleck mehr zeigte, wurde sie wieder irre. Endlich überwand die Sorge um den Bruder ihre Ansteckungsfurcht, und an ihn herantretend, fragte sie: »Fühlst du dich wohl?«

Er nickte lebhaft mit dem Kopf, schritt aber ungeduldig weiter. »Ich habe zu tun«.

Agathe machte noch einen Versuch. »Aber du tust ja nicht das Geringste. Was hast du denn zu tun?«

Da blieb er vor ihr stehen, und aus der tiefsten Brust kam nur das eine Wort: »Nachdenken«.

Agathe ging rückwärts zur Tür, so eingeschüchtert war sie von dem Benehmen des Bruders. »Drinnen ist alles fertig. Willst du nicht hineingehen? Du wirst dich erkälten«.

Statt jeder Antwort tönte es zum dritten Male: »Es hat mich nicht gebissen«.

Agathe ging seufzend davon, verschloß die Zelle und legte die Stange vor.

Das seltsame Schweigen des Bruders und sein feierlicher Ernst verwirrten und ängstigten sie noch mehr, als sein früheres Toben. Unruhig lief sie immer wieder in den Garten, um von dort aus den wandelnden Kranken zu beobachten. Am Nachmittag stieg ihre Sorge so, daß sie all ihre Absperrungsvorsicht vergaß und zum zweiten Mal das Giftzimmer betrat. Diesmal nahm August überhaupt nicht von ihr Notiz. Aber zu ihrer Freude sah sie, daß er einen großen Teil der Eßvorräte vertilgt und dem Wein tapfer zugesprochen hatte. Das beruhigte sie einigermaßen.

Trotzdem war die Nacht für sie mehr als schlecht, und mit den trübsten Erwartungen betrat sie am Morgen Augusts Zimmer. Er lag noch im Bett, blieb auch darin, ungeachtet der schwesterlichen Ermahnungen aufzustehen; er sprach kein Wort, sondern starrte mit demselben Kalbsblick wie gestern zur Decke empor. Es blieb Agathe nichts übrig, als ihn liegen zu lassen.

5. Kapitel.

Die Wanzen werden angesteckt. Augusts Berufung.

Ganz anders ging es am Nachmittag her, als Frau Willen den zweiten Versuch machte, ihren Kranken aus dem Bett zu holen.

»Kommst du endlich,« rief er ihr schon entgegen. »Setz' dich hierher, dicht zu mir; ich habe dir etwas zu sagen.« Im Vertrauen auf ihren bazillensicheren Panzer folgte Agathe seiner Aufforderung, ja sie überließ ihm sogar die gut geschützte Hand, als sie seine Aufregung gewahr wurde.

Mit zitterndem Finger wies er auf das Fußende des Bettes. Dort hatte er mit zwei Stecknadeln den Zettel, Steinschnüfflers Rezept aufgehängt. »Lies,« sagte er ihr. Mit gespanntem Ausdruck verfolgte er, wie sie die Worte entzifferte:

»Unfehlbares Wanzenmittel.Töte jede Wanze, die du findest. Hast du die letzte getötet, so ist keine mehr da«.

August begann hastig zu sprechen: »Nicht wahr, das ist logisch, das ist einfach und wahr. Das ist unfehlbar. Ich bewundere Steinschnüffler, er ist ein großer Mann. Aber wie, wenn ich noch etwas Besseres wüßte? Etwas, was niemand weiß als ich.«

Agathe drückte schweigend die Hand des Bruders. Sie war wiederum zu dem Glauben geneigt, er fiebere. August aber nahm das für ein Zeichen des Zutrauens. Der Schwester Hand wieder drückend, sagte er: »Ich danke dir. Ich weiß nun, daß du an mich glaubst. Aber ich muß es laut sagen, damit ich es selbst fassen kann. Sie sind alle vernichtet, ich habe zum ersten Mal ruhig geschlafen. Begreifst du? Die Wanzen sind verschwunden. Es fragt sich nun, wie das zugegangen ist. Zwei Möglichkeiten gibt es. Entweder das Viehzeug ist vom Scharlach angesteckt und samt und sonders verreckt. Oder –« er schwieg. Im nächsten Augenblick aber richtete er sich wild im Bett auf und sah die Schwester mit Augen an, als ob er ihr Herz und Nieren prüfen wollte. Agathe wich vor diesem Blick zurück und suchte ihre Hand loszumachen. August aber streckte ihr den Kopf immer näher, bis sein gesträubtes Haar fast die Maske der Schwester berührte. Dann flüsterte er: »Glaubst du an eine Berufung durch höhere Mächte, glaubst du an himmlische Geister, die den Menschen zum Richter und Rächer auf Erden machen?«

Agathe riß sich los und flüchtete in die äußerste Ecke des Zimmers, so sehr war sie überrascht. »Nein,« stammelte sie.

»Nein,« wiederholte er und dehnte das kurze Wort zu einer Ewigkeit voll Entrüstung, »aber du wirst daran glauben, du wirst es mit Augen schauen.« Und die Bettdecke zurückwerfend sprang er mit einem Satz in die Mitte des Zimmers, hob stolz das Haupt und rief: »Sieh mich an!«

Agathe hatte sich gegen die Wand gedreht. »Zieh' dir erst Hosen an,« sagte sie kaltblütig.

August war wie vom Blitz getroffen. »Wie!« schrie er, »in diesem heiligen Moment, wo du einen Blick in die Tiefe der unaussprechlichen Natur tun kannst, denkst du an Hosen? Pfui, du Weib, du!« Voll Verachtung kroch er in sein Bett zurück und zog sich die Decke über die Ohren.

Agathe war über den Auftritt so erschrocken, daß sie nicht wagte, den Kranken allein zu lassen. Mechanisch begann sie das Zimmer noch einmal aufzuräumen. Schließlich trat sie zu dem Bruder. »Willst du nicht aufstehen, August? Ich möchte dein Bett machen.« An der hastigen Bewegung, mit der er ihre Hand zurückstieß, merkte sie seinen Zorn und in der Angst, Aufregung könne ihm schaden, suchte sie ihn zu beruhigen. »Ich habe es nicht bös gemeint,« sagte sie. »Du kennst mich ja, ich glaube alles, was du sagst. Aber vorhin sahst du so furchtbar aus, daß ich nicht wußte, wohin ich die Augen wenden sollte.«

August fuhr herum. »Ich sah furchtbar aus?« fragte er. »Ja, das ist möglich, das glaube ich. Ich strahlte Ehrfurcht aus, ich weiß es.« Als er das fragende Auge Agathes sah, wurde er wieder gereizt. »Nun ja, man kann von einem Frauenzimmer nicht verlangen, daß es an Größe ohne Hosen glaubt. Lassen wir das!« Er drehte sich wieder gegen die Wand. »Übrigens bin ich mir selbst noch nicht klar. Vielleicht habe ich magnetische Kräfte, vielleicht auch nicht. Dann sind die Bestien wie ich am Scharlachfieber erkrankt. Welch ein Labsal, daß sie sich selbst den Tod getrunken haben? Das wäre eine Entdeckung, die die Welt mit einem Schlage fördern würde. Gegen Mäuse braucht man schon Seuchengifte. Nun komme ich mit der Tatsache, daß Wanzen durch Scharlachfieber vernichtet werden. Ich muß das verfolgen, wissenschaftlich ergründen. Ein Arzt muß damit experimentieren. Dem Lachmann werde ich diesen Gedanken vortragen. Er soll in seinem Laboratorium Versuche machen. Und einen Maler brauche ich dabei. Bedenke, welch eine Umwälzung es in allen ästhetischen Anschauungen geben wird, wenn man das neue Farbenspiel des Scharlachs auf dem Wanzenrot erst kennt. Eine neue Technik der Farbenbereitung kann entstehen. Denn gewiß wird man, wie man durch die Seuche bei Wanzen fabelhafte Roterscheinungen hervorruft, bei anderen Objekten durch geeignete Übertragungen blaue, grüne, gelbe Farbentöne erreichen. Ja, vielleicht gelingt es sogar, das Schillern der Giftfliegen oder der Libellen, den Zauber der Schmetterlingsfarben durch Ansteckung neu zu gestalten und praktisch zu verwerten; nationalökonomisch allein schon erstaunlich. Denn was bedeutet alles künstliche Indigo gegen diese zukünftige Pracht. Und wenn jetzt Tausende vom Anilin leben, so werden später Zehntausende vom Scharlachwanzenrot ihr Brot haben. Steinschnüffler muß auch heran, es ist nicht ausgeschlossen, daß er hier die Lösung findet, wie frühere Maler ihre unverwüstlichen Farben herstellten. Ungeziefer gab es damals genug und Seuchen erst recht. Unzählige Versuche, unzählige Erfolge werden sich anschließen. Alles was beißt und zwickt wird man zähmen, in den Dienst der Menschheit stellen. Der Mensch wird den Teufel austreiben, er, der Herr des Herrn der Ratten und der Mäuse. Zähle die Augenblicke zusammen, die täglich unnütz im Kampf mit Küchenschaben und Blattläusen verloren gehen; du gewinnst eine Ewigkeit, verwendbar für hohe Ziele. Eine unberechenbare Masse von Denkkraft wird jetzt zum Töten von Raupen, Mücken, Wespen verschwendet, Millionen für Mäusefallen, Insektenpulver, Fliegengifte ausgegeben, die wertvollsten Gedanken können über dem plötzlichen Biß eines Flohs verloren gehen, ja die heiligsten Momente des Lebens, der Liebe werden dadurch zerstört, Ehen gesprengt. Eine neue Welt wird sich aufbauen, eine Welt, erhaben über alles Jucken und Kratzen, über alle Niedrigkeiten des Lebens.«

Er schwieg einen Moment, um Atem zu schöpfen, Agathe benutzte die Pause und entfloh. Ihr Herz war zum Springen voll, und die Tränen stürzten ihr aus den Augen, sobald sie die Tür hinter sich geschlossen hatte.

6. Kapitel.

Der Vikar wird durch ein junges Mädchen in die Geschichte verwickelt und hat ein Stelldichein.

Als sie weinend den Gang hinab in ihr Zimmer eilte, streckte die Tochter mitleidig den Kopf aus ihrem Stübchen. Frau Agathe scheuchte sie heftig zurück. »Kind, Kind, wann wirst du vernünftig werden? Du siehst doch, ich habe meine Uniform an, komme vom Onkel, und du sollst mir nicht nahe kommen.« Damit schlug sie ihr die Tür zu. In ihrer Verzweiflung über ihres Bruders wunderliches Wesen blieb sie jedoch zögernd davor stehen, und nun entspann sich zwischen den beiden Frauen eine eifrige Unterhaltung.

In fliegender Hast erzählte Agathe ihre Abenteuer. Ratlos schlug sie schließlich die Hände zusammen und seufzte: »Was soll ich tun? So kann es nicht weiter gehen. Der Onkel schnappt einfach über. Den gräßlichen Vorbeuger mag ich nicht rufen. Er ist imstande, meinen leiblichen Bruder in ein Irrenhaus zu sperren. Wer soll mir helfen?«

Während die Frau draußen jammernd sich auf den Stuhl warf und sich die Maske vom Gesicht riß, um sich die Tränen zu trocknen, hatte Alwine drinnen ganz andere Kämpfe zu bestehen. Um den Onkel sorgte sie sich nicht. Sie war von Kindheit an gewöhnt, in ihm den Unfehlbaren zu verehren, dem alles glücken mußte, und sie zweifelte auch jetzt nicht, daß seine Krankheit zum Besten ausgehen werde. Aber schon lange harrte sie auf eine Gelegenheit, ihre eigenen heimlichen Pläne zur Ausführung zu bringen. Sie war entschlossen ihr Glück selbst zu schmieden. Jetzt stand sie unschlüssig da und wurde bald rot bald blaß, so schämte sie sich ihrer versteckten Wünsche. Zweimal hintereinander öffnete sie den Mund, um zu sprechen, zweimal stockte ihr das Wort. Ehe sie zum drittenmal begann, kniff sie sich selbst in den Arm, um sich Mut zu machen, setzte das frechste Gesicht auf, das sie zur Verfügung hatte, so wie sie es in der Schule zu brauchen pflegte, wenn sie mit ihrem lockengeschmückten Geschichtslehrer unterhandelte, und sagte dann kaltblütig. »Weißt du, Mama, der Onkel braucht gar keinen Arzt, er braucht geistlichen Zuspruch.«

»Kind,« rief Agathe mitten im Weinen jubelnd, »den Gedanken hat dir Gott eingegeben. Gewiß, der Pfarrer muß her, der Onkel lästert ja mit seiner höheren Berufung den Himmel und alle Heiligen. Unser guter Breitsprecher, der wird helfen.« Plötzlich sank ihr der Mut. »Nein,« unterbrach sie sich. »Das geht gar nicht. Du weißt, er hat August neulich auf meinen Wunsch ins Gebet genommen und ihm vorgestellt, Wanzenstiche seien eine Schickung Gottes, man müsse sie in Demut hinnehmen und dürfe nicht einmal kratzen; dafür hat ihm August ein lebendes Exemplar zugeschickt als nächtliche Versuchung der Demut. Es war der einzige Feind, den er nicht hingerichtet hat. Seitdem ist es zwischen den Beiden aus.«

Alwine stockte der Atem. Jetzt mußte die Entscheidung fallen. Alle Kraft zusammennehmend, zwängte sie die Worte hervor: »Es braucht ja nicht gerade der Breitsprecher zu sein.«

Agathe sprang auf. »Ausgezeichnet«, rief sie. »Der andere, der Vikar, der ist der Richtige.«

Alwine bestätigte das jenseits der Wand mit einem ernsten Kopfnicken.

»Küssen möchte ich dich,« fuhr Agathe fort, »warte nur bis ich die Uniform abgelegt habe. Vikar Ende, der paßt zum Onkel. Der versteht zu reden und August mag ihn gern leiden. Auf Wiedersehen, mein Herzenskind.« Eilig rannte sie davon und kurz darauf ging die zahnlose Trude, den Herrn Vikar herbeizuholen.

Alwine stand noch eine ganze Weile an der Tür. »Der ist der Richtige,« wiederholte sie leise und ihr Kleid fassend, tanzte sie in der Stube herum und sang dazu nach eigener Melodie: »Der und kein anderer, der ist der Richtige.« Plötzlich hielt sie inne. Die Klingel tönte. Das war der Vikar. Hurtig, hurtig, ein Schürzchen vor, daß man fleißig ausschaut, die Haare gestrichen, daß man der Madonna ähnlich wird, mit der man neulich verglichen ward. »Langweilig ist es, solch frommes Gesicht. Die Vorliebe treib' ich ihm aus,« dachte sie, als sie sich prüfend beschaute. Sie trat recht ehrbar zur Türe, blieb aber noch einmal stehen und zerrte mit raschem Griff ein Löckchen am Ohr hervor. Das Ohr sollte er sehen, das war hübsch.

Er sah es auch wirklich und fühlte nicht übel Lust, es zu zausen, als er nun in eifriger Beratung neben den beiden Frauen saß. In Kurzem war der Kriegsplan entworfen und sicheren Mutes schritt Paul Ende seinem Schicksal entgegen, das tolle Pläne brütend in der Scharlachkammer lag.

Dort war Herr Müller inzwischen seinen Gedanken nachgegangen, die ihn auf immer weitere Abwege führten. Anfangs merkte er gar nicht, daß seine Schwester sich fortgeschlichen hatte. Das Gesicht zur Wand gekehrt, sprach er weiter: »Diese Vernichtung des Wanzengeschlechts durch Scharlach ist ein Symbol. Es zeigt den Weg, auf dem das Schicksal vorwärts schreitet. Es läßt uns einen tiefen Blick in das Geschehen der Dinge tun. Da steht sie vor uns, die Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft, ein tausendfacher Wanzenmephistopheles im roten Mantel. Nicht wahr, das hast du nicht gedacht, daß ich von meinem Standpunkt aus eine neue Epoche der Goetheforschung anbahnen werde. Was gäben wohl die Herren Gelehrten darum, wenn sie plötzlich das Wesen des Dichters vor sich sähen, so deutlich wie ich es sehe. Oder hältst du es für Zufall, daß der Teufel sich den Herrn der Wanzen nennt, daß die Diener des Gutes schaffenden Bösen Insekten sind? Geheime übersinnliche Zusammenhänge bestehen da, die prophetische Zunge des Dichters redet von dem, was jetzt geschieht. Mich ruft ein großes Werk in tausend Stimmen und auch die Goethes erklingt. Ein unermeßliches Feld der Forschung, des Nachdenkens öffnet sich vor mir. Und immer fester wurzelt sich in mir die Überzeugung, daß in diesem Kopf zukünftige Welten verschlossen sind.«

August fühlte den Drang, diese Welten in seinem Kopf mit einer Gebärde zu zeigen. Da er jedoch gerade dabei war, sich unter der Bettdecke die Strümpfe anzuziehen, hatte er die Hände nicht frei, stieß also mit aller Kraft den weltenschwangeren Schädel gegen die Wand, gleichsam um sich selbst durch den Klang von seiner Fülle zu überzeugen. Der Schmerz kam ihm unerwartet, verdutzt fuhr er herum und starrte nun, verwundert über der Schwester Flucht, in das leere Zimmer.

Sofort aber begann er seine Fäden für sich weiter zu spinnen. Das Gebiet des Gutes schaffenden Bösen flüchtig ins Auge gefaßt erschien ihm endlos. Rasch begann er es zu teilen. Das Studium vom Nutzen der Krankheit stellte allein schon eine Lebensaufgabe vor. Die Grausamkeit, der Neid, die Dummheit, alles erschien ihm auf einmal in neuem Licht. Er versenkte sich so in seine seltsamen Ideen, daß er alle Laster, Gemeinheiten, Fehler im Augenblick lieb gewann, daß er sie gleichsam liebkosend hätschelte.

Der rote Schimmer, der jetzt bei Sonnenuntergang den ganzen Himmel bedeckte und sein Zimmer mit feurigem Licht erfüllte, brachte ihn auf blutige Gedanken. Die Geschichte der Religionen zog in raschen Bildern an ihm vorüber, die Menschenopfer, das Foltern der Märtyrer, die Ketzerverfolgungen, die Glaubenskämpfe, all das sah er jetzt wie eine blutige Abendröte, die den heiligen Frieden der Nacht verkündet. Und diese Nacht selbst, die verschriene, düstere, böse Nacht, war sie nicht die Schöpferin alles Lebendigen, die Freundin der Zukunft, die unzählige Leben weckte? Plötzlich zum Ausgangspunkt zurückkehrend, lachte er voll Siegesbewußtsein und Stolz, als ihm einfiel, daß es ja die Nacht war, in der er das Symbol alles Schlechten, die roten Feinde gemordet hatte. Alles war ihm in Rot getaucht, was er sah und dachte, und zwischen allem Blutigen tanzte neckisch das Rot als Liebesfarbe hervor und verwirrte seine Gedanken noch mehr.

In diesem Augenblick, als Augusts Verstand just zwischen der Kirche und der Liebe stand, trat der Vikar in sein Zimmer. Sein Erscheinen gab dem armen Narren Gelegenheit, sein Gewebe weiter zu spinnen. »Sie kommen wie gerufen, lieber Vikar, wie eine Erscheinung von oben, als ein echter Bote Gottes«. Dabei streckte er ihm vom Bett aus die Hand entgegen.

Ende ging mit den besten Vorsätzen ans Werk, er wollte vorerst still zuhören, um sich ein unbefangenes Urteil über den Kranken zu bilden, dann aber mit ruhiger Würde als wahrer Seelsorger eindringlich sprechen. Trotzdem war er seiner Rolle gerade jetzt nicht gewachsen. Mochte es das Ungewöhnliche seiner Aufgabe sein oder das vertraute Gespräch mit den beiden Frauen, kurz sein Gemüt war erregt, und seine Verwirrung wurde noch größer, da August die einmal ergriffene Hand nicht wieder losließ. Ein Gefühl der Unfreiheit überkam den Geistlichen.

»Ich dachte gerade über das Eheverbot für Geistliche nach und gleichsam als Verkörperung dieser Frage stehen Sie vor mir, im roten Sonnenlicht, jung, wie auf Freiersfüßen wandelnd. Wäre ich nicht hellsehend geworden, ich könnte glauben, Ihr Kommen entscheide das Problem zu Gunsten der Priesterehe. So aber blicke ich tiefer und erkenne nur ein Vorzeichen Ihrer Zukunft. Sie passen nicht zum Verlobten Gottes, und ich sehe die Locken wehen, in denen Sie sich fangen werden.«

Der Vikar machte seine Hand aus dem Griff des Kranken frei und strich mit der Rechten über die Augen; es tanzte wirklich eine Locke davor. »Verzeihen Sie, Herr Müller,« begann er, »wenn ich freimütig spreche. Ich bin protestantischer Geistlicher, und mir tut es weh, Sie so reden zu hören. Die Seele des Menschen ist ein rätselhaftes Wesen, mit heimlichen Winkeln und Schatten. Nur das Licht, das aus einer anderen Seele strahlt, hellt sie auf. Wir Priester bedürfen der Ehe, der offenen wahrhaftigen Gemeinschaft mit einem anderen Wesen, an dem wir lernen Seelsorger zu werden. Die Ehe ist die große Schule für jeden, eine Bestimmung des Menschen, wie es die alten Geschichten von der Schöpfung des Weibes tiefsinnig lehren. Das Wesen des Priesters, wie es der Ehrgeiz Roms geschaffen hat, ist der ärgste Abfall von Christi Lehre. Das ist gerade der tiefste Sinn des Evangeliums,. daß sich niemand zwischen das Herz des Menschen und seinen Gott drängen soll. Der Geistliche ist Mensch und bleibt es auch in seinem Amte. Nichts Menschliches darf ihm, dem Verkünder der Menschenliebe, fremd sein, am wenigsten die Ehe, die ihn die eigenen Schwächen überwinden, die fremden liebevoll dulden lehrt.«

In diesem Augenblick wurde der feurige Redner von einem schallenden Gelächter seines Zuhörers unterbrochen. »Entschuldigen Sie, lieber Herr Ende, entschuldigen Sie mein ungebührliches Lachen. Sie sprechen so warm, und ich nehme herzlich teil an Ihrem zukünftigen Glück, das aus Ihren Augen leuchtet. Aber der Schluß, das war der ganze Breitsprecher, ein typisches Beispiel geistiger Ansteckung.«

Der Vikar fiel ein: »Oh bitte, alles Persönliche wollen wir doch aus dem Spiel lassen.«

Müller lachte noch lauter. »Haben Sie keine Angst, ich verrate es der Schönen nicht, daß Sie sie gewissermaßen als Geduldsprobe heiraten wollen.«

Paul Ende verlor die Fassung. »Ich meinte das nicht,« rief er hastig. »Das Hineinziehen meines Amtsgenossen und Vorgesetzten möchte ich vermieden sehen.«

In Müllers Augen leuchtete der Spott auf. »Aber das gehört gerade hierher. Nein, bleiben Sie ruhig sitzen! Sie sind von ihm mit Demut angesteckt worden, und das ist eine Gefahr, diese Infektion. Wenn Sie sie aufkommen lassen, so dauert es kein Jahr, und Sie sind aus einem Verkünder der Menschenliebe ein Priester geworden. Denn Priester, oder wenn Sie wollen Pfaffen gibt es auch unter den sogenannten Protestanten; das werden Sie mir zugeben. Ja, es will mich bedünken, der evangelische Geistliche sei auch von Amts wegen zwischen Gott und Menschen gestellt. Nur gibt ihm unser Bekenntnis nicht die Macht, die der katholische Priester mit seiner Kraft, in der Messe den Leib Gottes zu schaffen, besitzt. Das ist ein großer Fehler unsrer Kirchenverfassung, an dem die evangelische Lehre einmal zu Grunde gehen wird.«

»Es ist der große Vorzug unsrer Lehre,« entgegnete der Vikar, »daß sie den Aberglauben der priesterlichen Macht, zu binden und zu lösen, gebrochen hat. Der Glaube allein, nicht die Kirche gibt uns Erlösung. Das Wesen des Protestantismus ist die Freiheit des Einzelnen.« Er hatte ganz vergessen, daß er mit einem Verrückten sprach, aber schon die nächsten Worte Müllers erinnerten ihn daran.

»Ich habe nie begriffen,« begann dieser, »was das Wort Protestantismus noch mit unsrer Lehre zu tun hat, es sei denn, daß sie pro testiculus eintritt gegen das Zölibat. Unser Bekenntnis beruht nicht mehr auf einem Protest gegen eine Lehre, sondern ist selbst eine Lehre, eben die Lehre vom Glauben. Das Wort evangelisch paßt für uns, schon deshalb, weil bei uns so schön geredet wird. Protestanten können niemals eine gemeinschaftliche Kirche bilden, ja gerade die Kirche verwirft jeder Protestant ohne weiteres, wie Christus selbst sie verwarf. Die Bildung einer Kirche, der Anschluß an die Gemeinschaft einer solchen ist eine Infektionskrankheit der Seele, für die der Protestant unempfänglich ist.« August hatte sich auf die Bettkante gesetzt und betrachtete nachdenklich seine nackten Beine. »Man weiß zu wenig von ansteckenden Krankheiten, geistigen und körperlichen. Das wird sich nun ändern. Wenn ich die Erfahrungen der letzten Tage mir erst ganz zu eigen gemacht habe,« – er riß hastig das Bettlacken oben von der Matratze fort und suchte nach irgend etwas in den Falten des Überzugs – »werde ich sie wissenschaftlich erproben und bearbeiten, und ich zweifle nicht daran, daß sich sehr bald auf der neuen Grundlage eine neue Wissenschaft aufbauen wird. Einiges läßt sich schon jetzt darüber sagen. So möchte ich annehmen, daß auch hier ein gewisses Gesetz der Gegensätze herrscht; ich meine, daß eine psychische Infektion den Körper umgestaltet, während die körperliche Ansteckung den Geist verändert. Das letztere habe ich an mir selbst erfahren. Mein Scharlachfieber hat meinen gesamten inneren Menschen verwandelt, so sehr, daß ich noch gar nicht daran zu glauben wage. Für die geistige Infektion aber bietet gerade die Kirche ein gutes Beispiel. Ist ein Mensch priesterlich angesteckt, so erleidet sein Gesicht, seine Haltung, sein ganzes äußeres Wesen eine bestimmte Wandlung. Das zeigt sich sogar in der Kleidung. Sie ist die unausbleibliche Folge der Ansteckung. Genau so wie ich rot geworden bin, weil ich das Scharlachfieber bekam, so tragen Sie schwarzes Gewand, weil Sie an dem Kirchenfieber leiden, an einer ganz bestimmten Sorte, demDemutsfieber; das ist eine fatale Abart. Ihr Gift ist das Bewußtsein der Sünde und der Angst. Die Demut will nicht bemerkt sein, sie schleicht im Dunkeln. Sie verbreitet um sich die Nacht in Gestalt des schwarzen Talars. Es ist ein psychischer Ausschlag; ebenso wie die Tonsur der Katholiken ein psychischer Haarausfall ist, in dem sich der Gedanke ausdrückt, daß der Priester dem Himmel näher steht, als andere Menschen, daß die Seligkeit aller Heiligen sich in ihm widerspiegelt, daß die Offenbarung leichter in seinen Schädel eindringen kann. Sehen Sie, wie kahl mein Kopf ist! Sehen Sie doch? Und ziehen Sie Ihren Schluß! Die Erleuchtung von oben sengt gewissermaßen das Haar fort, und wird sie sehr stark, so kommt es zu einer Ansammlung von Strahlen, zum Heiligenschein.«

Der Vikar hatte schweigend zugehört. Er sah ein, daß er mit seinem Widerspruch die Verwirrung nur vergrößert hatte, und versuchte nun, auf die unsinnigen Gedanken seines Schutzbefohlenen einzugehen. »Sie eröffnen da wirklich eine weite Aussicht für den Forscher und Seelenkünder, und ich werde mich bemühen, diesen Ideen weiter nachzudenken. Mich will aber bedünken, als ob Sie doch noch andere Hilfsquellen herbeileiten müßten. Sie erklären Massenerscheinungen vielleicht richtig, vielleicht falsch, jedenfalls aber eigentümlich. Wie aber stehen Sie zu den Einzelerscheinungen, zu den großen Männern mit ihren ausgeprägten Eigenheiten, ihren merkwürdigen Gesichtern und Gewohnheiten. Ich kann mir denken, daß eine ganz bestimmte Geistesrichtung gewisse äußere Merkmale herbeiführt. Man könnte Nietzsches Schnurrbart aus seinem Willen zur Macht herleiten, Ibsens gesträubte Mähne als Symptom des Zwiespalts zwischen Lebenslüge und Lebenswahrheit nehmen. Aber das alles ist doch nicht Infektion. Allenfalls Krankheit.«

»Autoinfektion ist es, mein Lieber. Pfui über das häßliche Wort. Selbstansteckung also. Wir sind gewöhnt anzunehmen, die Denktätigkeit spiele sich nur in dem Gehirn ab. Das ist aber düstrer Aberglaube, den sich bloß Leute leisten können, die niemals gebissen worden sind. Wenn das Gehirn denkt, so denken die Schnurrbartspitzen mit, ebenso wie die Fingernägel oder die Darmhäute. Das weiß jeder. Zweifellos sind diese Vorgänge einer wissenschaftlichen Forschung zugänglich, und unsere Zeit, die sich so aufgeklärt vorkommt, beweist nur, daß sie noch tief im Aberglauben steckt, wenn sie darüber lacht, daß Menschen mit verschiedenen Seelen verschieden riechen, wenn sie dummstolz behauptet, man könne die Zukunft nicht aus der Hand lesen oder den Charakter nicht aus der Schädelbildung beurteilen. Ein Hühnerauge entsteht ebensogut durch den Druck der Gedanken, wie durch den Stiefeldruck, und die Wissenschaft wird noch so weit kommen, aus der Form der Entleerungen die Gedanken festzustellen, mit denen sich der Mensch am stillen Ort einsam beschäftigte.« Augusts Blick strahlte Begeisterung, als er im selben Moment das Gerät sah, mit dem Agathe vorsorglich seine Zelle ausgestattet hatte. »Sehen Sie, Herr Vikar, solch einen Stuhl, bei uns gemeinhin Nachtstuhl genannt, wird man später Probestuhl der Gedanken nennen. Man wird ihn in allen Gefängnissen aufstellen, um den Geheimnissen der Verbrecher auf die Spur zu kommen. Die Könige werden fremden Staatsmännern Ehrengeschenke damit machen und besondere Spione, mit dem Titel Gedankenriecher halten, um die Pläne der eifersüchtigen Nachbarn zu erforschen. Dann erst wird es eine hohe Politik geben.« Ergriffen von der Tiefe dieser Gedanken hob August die Augen zur Decke und schwieg in ehrfurchtsvollem Staunen über den Reichtum seiner Eingebungen.

Dem Vikar schwindelte der Kopf. Mit einer verzweifelten Anstrengung suchte er das Gespräch abzubrechen. »Ich danke Ihnen,« begann er, »für diese unvergeßliche Stunde. Sie gaben mir Eindrücke in die geheimsten Abgründe menschlichen Daseins,« August stand gerade am Probestuhl der Gedanken, »und ich wage es nicht, weiter zu hören, auf die Gefahr hin, ganz überwältigt zu werden. Alles das verlangt stilles Denken und Einsamkeit und die Nacht, die jetzt hereinbricht, wird mir Muße geben, mich in die neuen Ideen einzuleben. Gestatten Sie, daß ich an Ihrem Lager sitzend, Ihren Anregungen nachträume. Sie selbst aber sollten Ihre kostbare Kraft schonen und im Schlaf sich für die wunderbare Verwandlung stärken.«

August lächelte zufrieden. Er dozierte sitzend weiter: »Mein Hirn ist in Gärung, das weiß ich, und ich erkenne dankbar Ihre Fürsorge an. Wer, wie ich, berufen ist, Großes zu leisten, darf nicht leichtfertig mit seinem eigenen Menschen umgehen. Gestatten Sie mir nur, meine Ideen kurz abzuschließen. In dieser Wirkung des Gedankens auf den Bau des Körpers haben wir wohl den besten Weg, das ganze Phänomen der Ansteckung zu studieren. Denn um Ansteckung handelt es sich dabei. Der Gedanke, die Scham verletzt zu haben, steckt die Wangengefäße der Frau an, so daß sie sich mit Blut füllen. Die Idee der Vasallentreue durchseucht den Menschen Bismarck so, daß er das Ansehen einer Dogge bekommt. Aber das ist nur die eine Seite der Sache. Für den tiefsinnigen Forscher, namentlich wenn er solche Erfahrungen machte wie ich, handelt es sich vielmehr darum, zu ergründen, welche körperliche Ansteckung bei großen Männern bestimmte geistige Richtungen hervorgebracht hat, in welchem Zusammenhang beispielsweise Goethes Dichtkunst zu den Pocken steht, die er als Knabe durchmachte. Man wird von jetzt an ganz anders das Leben unserer Geistesfürsten durchforschen müssen, viel genauer.« Bei diesen Worten gab August einen allgemein menschlichen Beweis, wie solch Durchforschen zu denken sei, klappte den Deckel zu und legte sich wieder hin. »Der Schnupfen, den ein Kind durchmacht, hat wahrscheinlich mehr Bedeutung als ein Schulunterricht, ja man wird das Rätsel eines kantischen Verstandes eher durch ein Studium seiner Nasenschleimhäute, als durch das Lesen seiner Werke lösen. Nur müßte dazu jeder Mensch, dessen Geist durch eine Ansteckung verändert worden ist, mittelst eines besonderen Zeichens kenntlich gemacht werden, damit sich das Studium nicht zu sehr zersplittert, noch mehr aber, damit er sich seines hohen Berufes stets bewußt bleibt. Ich habe in der Muße, die mir meine Schwester gegönnt hat, darüber nachgedacht, welches Symbol ich selbst erwählen soll. Mir fiel dabei dies in die Hände.« August holte unter der Bettdecke eine Streichholzschachtel hervor und öffnete sie behutsam. »Sehen Sie, das ist der letzte Feind, den ich hingerichtet habe. Ich dachte daran, ihn von Rubinen umgeben auf schwarzem Grunde fassen zu lassen und als Ring zu tragen, gleichsam als Devise: Durch Nachtkampf zum Lichtsieg. Was meinen Sie dazu? Dies wäre noch mehr als Goethes Seelensucher und Agathe würde sich darüber ärgern. Die Wanze als Symbol der Schlacht in der Finsternis, der Rubin als Wahrzeichen des strahlenden Scharlachsieges.«