Der sichtbare Feind - Anna Kim - E-Book

Der sichtbare Feind E-Book

Anna Kim

4,7

Beschreibung

Diskussionen über die Bedrohung des Privaten durch Abhörskandale und Rasterfahndungen sind an der Tagesordnung. Anna Kim zieht eine Entwicklungslinie von der historischen Aufhebung der Privatsphäre im Verhör zur heutigen Nutzung digitaler Technologien für staatliche Übergriffe. In der Situation des Verhörs wurde das Individuum schon immer einer Willkür des Öffentlichen unterworfen. Anna Kim erzählt die unerhörte, bis in die Antike zurückreichende Geschichte von Verhörtechniken und -strategien und führt uns bis zu den Diktaturen der Moderne, die diese mit Beschattungsexzessen und Schauprozessen perfektioniert haben. So entsteht eine ungewöhnliche Genealogie der Überwachung als öffentlich sanktionierter Gewaltakt.

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Anna Kim

Der sichtbare Feind

Die Gewalt des Öffentlichenund das Recht auf Privatheit

Aus der Reihe »UNRUHE BEWAHREN«

Residenz Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

www.residenzverlag.at

© 2015 Residenz Verlagim Niederösterreichischen PressehausDruck- und Verlagsgesellschaft mbHSt. Pölten – Salzburg – Wien

Alle Urheber- und Leistungsschutzrechte vorbehalten.Keine unerlaubte Vervielfältigung!

ISBN eBook:978-3-7017-4500-5

ISBN Printausgabe:978-3-7017-1639-5

Inhalt

Die errechnete Gegenwart

1. Zufälle

2. Berechenbare Zukunft

3. Der unsichtbare Feind

Anmerkungen

Der sichtbare Feind (I)

1. Codename Betty Grey

2. Im Visier

3. Das Verhör

Anmerkungen

Der sichtbare Feind (II)

1. Die allzu Sichtbaren

2. Die Schattensprache

3. Die Tyrannei der Sichtbarkeit

Anmerkungen

Ausgewählte Literatur

Die errechnete Gegenwart

Nur der Dschungel gebärt und verwest,wie die Natur will. Der Mensch plant.Max Frisch, Homo Faber

1. Zufälle

Ich wollte ursprünglich mit einer Neuerzählung der ersten Seiten aus Homo Faber beginnen; ich wollte erzählen, wie Walter Faber es schafft, sich während einer Zwischenlandung auf einer öffentlichen Toilette zu verstecken, sodass das Flugzeug ohne ihn weiterfliegen muss, und er über Umwege und Zufälle auf seinen besten Freund trifft, der ihn wiederum zu seiner Tochter führt, die er jedoch nicht als solche kennenlernt. Eigentlich wollte ich erzählen, wie Fabers spontaner Impuls fast im Keim erstickt worden wäre, weil das GPS-Signal seines Smartphones seinen Standort verraten hat, wie ihn aber die Technik rettet, indem ihm das Google Glass, das er im letzten Moment aus der Tasche hervorzieht, signalisiert, dass es sich bei dem Mann, der ihm auf der Herrentoilette entgegenwalzt, der jedoch ausgerechnet an jenem Morgen seinen Ausweis im Büro vergessen hat, also von einem Mitpassagier ununterscheidbar ist, um einen Mitarbeiter des Bodenpersonals handelt, und wie Faber daher – im allerletzten Moment – auf einer am Fenster vorbeifliegenden Drohne entkommt.

Nun ist mir bei einer erneuten Lektüre aufgefallen, dass ich mir die Handlung des Romans falsch gemerkt habe, die Geschichte verläuft anders: Faber wird gefunden, allerdings auf veraltete Weise (durch einen Zufall, menschliche Neugierde sowie eine eifrige Stewardess), besteigt eine ebenso veraltete Flugmaschine, ein viermotoriges Verkehrsflugzeug (eine Super-Constellation), bei der zwei Motoren ausfallen, sodass der Pilot in der Wüste notlanden muss. Hätte es damals Google-Brillen gegeben und Faber eine auf der Nase gehabt, hätte er sofort gewusst, dass es sich bei seinem Sitznachbarn Herbert um den Bruder seines ehemals besten Freundes Joachim handelt, und er hätte gewusst, warum ihm der Deutsche, der »sich vorstellte, noch ehe er angeschnallt war«, so bekannt vorkam.

Natürlich, wenn der Roman im einundzwanzigsten Jahrhundert spielen würde, wären Walter, Herbert und Joachim auf Facebook, sie wären sogar Facebook-Freunde, Hanna wäre anfangs auch mit ihnen befreundet gewesen, hätte sich aber zuerst von Walter, danach von Joachim entfreundet; Herberts Freundschaftsanfrage hätte sie abgelehnt. Es wäre gar nicht möglich gewesen, einander all die Jahre und so gründlich aus den Augen zu verlieren, und auch Ivy, Fabers Geliebte, hätte sich mit diesem gar nicht erst eingelassen, da ihr das Internet erklärt hätte, dass dieser Mann mit 88-prozentiger Wahrscheinlichkeit ihre Wiederverheiratungspläne abschmettern würde, vielleicht auch bloß 78-prozentiger, wenn das Internet bedenkt, dass Hanna ihn praktisch vor dem Altar, das heißt vor dem Standesbeamten, sitzen ließ, also die Absicht zu heiraten einst bestand. Vielleicht würde das allwissende Netz Ivy ebenso mitteilen, auf welchen Online-Dating-Plattformen Walter Faber ein Konto hat, wie viele Dates er bereits abgeschlossen hat und wie viele noch auf ihn warten. Und er, der Ausspionierte, hätte nicht vor ihr auf ein Schiff zu flüchten brauchen und wäre so Sabeth niemals begegnet.

An dieser Stelle möchte ich einhaken: Angenommen, Walter Faber hätte an Bord des Schiffes eine Google-Brille getragen, unerkennbar für seine Umgebung natürlich – bald wird man sie in normale Brillen einbauen können und sogar in Kontaktlinsen, die Forscher und Entwickler arbeiten bereits fleißig daran –, dann hätte ihm der Mini-Computer an seiner Schläfe mitgeteilt, dass es sich bei der jungen Frau um die Tochter seiner Jugendliebe handelt. Geburtsort und -datum hätte er ebenfalls ausgespuckt, und die Schwangerschafts-Berechnung, ob es sich bei diesem Lebewesen um seine leibliche Tochter handeln könnte, hätte Faber getrost dem Computerhirn überlassen können, wahrscheinlich hätte ihn dieses vor einer inzestuösen Beziehung mit Sabeth gewarnt, eine künstliche Frauenstimme hätte ihm zugeflüstert, dass es sich mit 98-prozentiger Wahrscheinlichkeit um seine leibliche Tochter handle und er seine Finger von ihr lassen solle. Sabeth ihrerseits hätte ebenfalls eine Google-Brille getragen, eingebaut in die modische Sonnenbrille, die sie vor Sonne und schlechten Einflüssen schützen soll, und so hätte sie über das Abonnement der Firma, die Informationen über Individuen sammelt und verkauft, erfahren, dass es sich bei dem Fremden, der sich mit ihr anfreunden will, um ihren leiblichen Vater handelt.

Doch im Grunde wäre all das nicht notwendig gewesen, denn Walter hätte kurz nach Sabeths Geburt Hannas Twitter-Meldung gesehen:

Hanna Piper @hannapiper: Ich bin Mutter !

Auf LinkedIn hätte Hanna bekannt gegeben, dass sie demnächst auf Mutterschaftsurlaub gehen wird, und auf Flickr hätte sie Fotos des Babys veröffentlicht, mit adretten Bildunterschriften. Auch wenn sich Hanna von Walter auf Facebook entfreundet hätte, wäre es für Walter leicht gewesen, Einblicke in Hannas und Elisabeths Leben zu erhalten; für viele Jahre spurlos zu verschwinden, bedarf heutzutage einer digitalen Enthaltsamkeit, die mit einer veritablen Anstrengung verbunden ist –

übertreibe ich? Heutzutage wird es als Virtual Identity Suicide bezeichnet, wenn man sein Profil auf Facebook löscht, man kann dies selbst tun oder seinen Suizid bei einem Programm, der Suicide Machine, bestellen.1 Und auch die User-Zahlen unterstützen die Theorie des unaufhaltsamen Vormarsches des virtuellen sozialen Lebens: Facebook verzeichnete Ende Jänner 2014 insgesamt 1,228 Milliarden User weltweit, davon 282 Millionen in Europa2 – 27,38 Millionen in Deutschland und 3,24 Millionen in Österreich3. Instagram, der Fotodienst, der von Facebook gekauft wurde, gab im März dieses Jahres an, dass er nun von mehr als 200 Millionen Menschen benutzt würde4, Twitter hat 232 Millionen aktive User weltweit, Google+ 300, Xing 12,65, davon 5,91 Millionen in Deutschland, Österreich und der Schweiz5, usw. Die Liste der Sozialen Netzwerke, die zurzeit online sind, ist lang, es gibt Flickr, Foursquare, Last.fm, Delicious, Scribd, Slideshare, Covestor, Pinterest, tumblr, Goodreads und WhatsApp, um nur einige zu nennen. Bei jeder Plattform muss man registriert sein, um mitmachen, das heißt, seinen digitalen Kopf-, Hand- und Fußabdruck hinterlassen zu dürfen, und jedes Netzwerk bedankt sich, indem es sich jeden Besuch merkt.

Wie kann es unter diesen Umständen (bei diesen Zuständen) noch zu Zufallsbegegnungen kommen? Ein Walter Faber, der von einem Zufall zum nächsten taumelt, erscheint in der heutigen Welt als Anachronismus (und vielleicht sogar als asozial, denn es erfordert eine gewisse Entschlossenheit, sich all dem zu verweigern). Die Netzgemeinschaften ermöglichen das Teilen, teilen im Internet-Sinn bedeutet so viel wie: zeigen, zum Mitmachen einladen, austauschen. Ihr Prinzip ist das eines Clubs, man muss Mitglied sein, um sich etwas zeigen lassen zu können und selbst etwas zeigen zu dürfen – wobei das Selbst nicht unbedingt das tatsächliche Selbst sein muss: Man kann unter einem anderen Namen mitmachen oder sich überhaupt eine vollkommen andere Identität zulegen, ein anderes Geschlecht, ein anderes Alter, eine andere Lebensgeschichte. So gesehen sind sehr wohl Zufälle möglich, ebenso Zufallsbegegnungen: Doch falls sich zwei Freunde in der virtuellen Welt begegnen, beide ausgestattet mit einer Internet-Identität, werden diese wohl kaum dahinterkommen, dass es sich bei der gefälschten Person, mit der man gerade chattet und Musik austauscht, um diesen einen Freund handelt, da bedürfte es schon der zufälligen Enthüllung durch einen Dritten (der aber ebenfalls unter einem Pseudonym operieren könnte); die Wahrscheinlichkeit, dass dies passiert, ist gering und soll gering bleiben. Zufallsenthüllungen sind nicht erwünscht, und Begegnungen, die verhüllt stattfinden, werden äußerst selten enthüllt, nur, wenn es zu einem Zusammenstoß der digitalen mit der realen Welt kommt.

In der digitalen Welt sind Zufälle Regeln unterworfen, es gibt Sphären, in denen sie auftreten dürfen, ja, auftreten sollen, etwa auf jenen Plattformen, auf denen es darum geht, einen ehemaligen Klassenkameraden wiederzufinden, auch hier sind Zufälle nötig, um diese Begegnung möglich zu machen, aber hier wird ihre Wahrscheinlichkeit erhöht, sie sollen stattfinden. Dann wieder gibt es virtuelle Orte, an denen Zufälle nichts zu suchen haben, also gar nicht erst eingelassen werden, wie zum Beispiel auf Online-Marktplätzen, in Online-Kaufhäusern. Auf Dating- und Sex-Plattformen hingegen wird die Zufälligkeit der Begegnung gesteuert, man kann Parameter eingeben, die den Zufall in die richtige Richtung schubsen, man möchte ja nicht mit jedem ein Date haben. Selbst die Werbung, die gezeigt wird, ist auf den Nutzer abgestimmt, auch hier darf der Zufall nicht mitmischen. Die virtuelle Welt ist eine Welt ohne echten Zufall, der Zufall gehört zur realen Welt, und nur dann, wenn beide aneinandergeraten, kommt es zu einer Ruptur in der virtuellen Welt –

der Zufall ist das Gegenteil von Transparenz: Er ist undurchschaubar, undurchsichtig, ziellos und zwecklos, er lässt einen wissen, über wie wenig Wissen man verfügt, Unwissen ist sein Zwilling, Chaos sein Kind. Durch Zufälle erfahren wir von Zusammenhängen zwischen uns und anderen, sie eröffnen sich wie die Verbindungen von Straßen, die man erst versteht, wenn man sie abgefahren ist, gefahren, nicht gegangen, denn Zusammenhänge brauchen Geschwindigkeit; Zufälle passieren scheinbar schnell, tatsächlich geschehen sie ohne unser Wissen, aber mit unserer Hilfe, unsere Mitwirkung bleibt uns selbst verborgen, oft erfahren wir erst Jahre später von unserer Rolle in diesem Komplott.

Zufälle sind autogam, sie generieren selbst neue Zufälle, allerdings auf der Basis von Uninformiertheit und der Unmöglichkeit, alles zu wissen; Faulheit ist auch hilfreich für den Zufall – wir fragen meistens nur nach den Dingen, die uns absolut notwendig erscheinen, den Rest blenden wir aus, diese Lücke nützt der Zufall aus, um sich einzunisten und den nächsten Streich vorzubereiten. Zufälle setzen Unwissen voraus, sie produzieren aber auch neue Quellen des Unwissens und, natürlich, das Ungewisse. Das Smartphone, der Gesandte, der Botschafter des Internets, ist der natürliche Feind des Zufalls, es schaltet sich ein, im wahrsten Sinne des Wortes, wann immer der Zufall eine Rolle spielen könnte, und schaltet ihn aus. Nicht nur unser Unwissen reduziert das Smartphone, auch die Möglichkeit von sozialen Interaktionen mit Fremden, wir sind nicht mehr darauf angewiesen, nach dem Weg zu fragen, wir fragen unser Handy, auch beim Warten versenken wir uns in unser Internetgerät, das Warten besteht nicht mehr aus Warten, dem langsamen Nachspüren von Zeit, sondern aus Surfen, Lesen und Tippen; das Planlose, das Chaos kann kaum noch zuschlagen. Heute in einem Flughafen verloren zu gehen, ist unmöglich, nicht nur, aber vor allem, weil man mithilfe seines GPS-Signals sofort gefunden würde, man müsste wirklich verloren gehen wollen, also das Ortungsgerät ausschalten, um verloren gegangen zu sein. Als Verlorengegangener dürfte man keine Kreditkarten mehr verwenden, keine Bankomatkarten, man dürfte nichts mehr aus dem Internet bestellen, auch keine Flugtickets oder Bahnkarten, man müsste wissen, wo sich Überwachungskameras an öffentlichen Orten wie Bahnhöfen, Flughäfen und Einkaufszentren befinden, damit man diesen ausweichen kann. Schließlich wäre man auf die Hilfe vollkommen Fremder angewiesen, auf Zufallsbegegnungen und auf die Zufälle, die sich ergeben, weil man vollkommen ahnungslos ist.

»Der Roboter erkennt genauer als der Mensch«, sagt Walter Faber, »er weiß mehr von der Zukunft als wir, denn er errechnet sie.«6 Eine errechnete Zukunft scheint (auf den ersten Blick) weniger furchteinflößend als eine nicht errechnete, ungewisse; eine Zukunft, oder besser gesagt: eine Gegenwart in der Zukunft, die ohne Zufälle auskommt, in der die Möglichkeit von Zufällen eliminiert ist, ist, zumindest scheinbar, eine undramatische, untragische Gegenwart –

all die Zufälle, die schließlich zu einer Vater-Tochter-Beziehung der unaussprechlichen Art führen, weil die Mutter unaufrichtig war und der Vater lediglich über ein menschliches Gehirn verfügt, all die Zufallsbekanntschaften, die in Abgründen münden, Suizid in Guatemala bei offenem Fenster und laufendem Radio nur als ein Beispiel, all dies zu verhindern, ist, als verhinderte man ein Verbrechen, bevor das Verbrechen verübt wird; was bleibt, ist die Sicherheit, keiner Unsicherheit ausgesetzt zu sein.

Heute gilt es, Zufälle einzugrenzen, auszugrenzen, sie in die Epoche der Super Constellations zu verbannen – nicht nur die Privatsphäre ist veraltet, auch der Zufall ist es! Wenn wir es schaffen, die Zukunft errechenbar zu machen, also alle Faktoren auszuschalten, die dies sabotieren, verhindern, sind wir dann dem, was wir Glück nennen, näher gekommen? Immerhin würden wir effizienter all die Situationen vermeiden, die uns unangenehm sind; vielleicht wäre es nicht Glück, aber wenigstens Angenehmheit, und Angenehmheit über einen längeren Zeitraum, kommt dies nicht dem nah, was wir Glück nennen?

In einer errechneten Zukunft spielt Freiheit nur eine untergeordnete Rolle, denn ohne die Freiheit zu entscheiden, ohne die Spontaneität, die Freiheit in sich birgt, sind Zufälle nur begrenzt möglich und schließlich, das wäre das Ziel dieser Maschinerie, sogar vom Aussterben bedroht. Die Informationen, die uns schon jetzt umgeben, bestimmen nicht nur den Alltag, das heißt die unmittelbare Gegenwart, sondern auch das Kommende; das ist nichts Neues, das war schon immer so. Die Funktion von Information ist es schließlich, unserem Leben, unseren Handlungen eine Richtung zu geben, Freiheit war und ist niemals unbegrenzt, Freiheit folgte immer schon und folgt noch immer einem einzigen Prinzip: der vermeintlichen Erfüllung unserer Wünsche –

vermeintlich, denn nicht selten kippt das ersehnte Ergebnis in sein Gegenteil.

Transparenz, die Formel für eine errechnete Gegenwart und berechenbare Zukunft, minimiert Zufälle, in dem sie die Lücken, durch die Zufälle in unser Leben schlüpfen, stopft, indem sie die Schwellen und Übergänge, die »Zonen des Geheimnisses, der Ungewissheit, der Verwandlung, des Todes, der Furcht, aber auch die der Sehnsucht, der Hoffnung und des Erwartens«7, die Zufälle ausnützen, glättet. Und dadurch, dass sie letztlich die Freiheit der Mehrheit reduziert, reduziert sie scheinbar auch die Distanz zu unseren unerfüllten Wünschen.

2. Berechenbare Zukunft

»Transparenzgesellschaft« nennt Byung-Chul Han unsere heutige Gesellschaft und schreibt sehr treffend: »Transparent werden die Handlungen, wenn sie operational werden, wenn sie sich dem berechen-, steuer- und kontrollierbaren Prozess unterordnen. (…) Transparent werden die Dinge, wenn sie ihre Singularität ablegen und sich ganz in Preis ausdrücken. Das Geld, das alles mit allem vergleichbar macht, schafft jede Inkommensurabilität, jede Singularität der Dinge ab.«8 Ziel dieser Übung ist das Transparentmachen von Zeit, das Optimieren der Zukunft, was bedeutet, die Zeit in eine »Abfolge verfügbarer Gegenwart« zu verwandeln: Gegenwart, nicht Zukunft. Gegenwart ist die steuerbare Zeit, Zukunft ist unberechenbar. So kann eine Metamorphose herbeigeführt werden, die Metamorphose der Zukunft in eine »Gegenwart ohne Schicksal und Ereignis«.

Han schildert das Konzept Transparenz als ein allgegenwärtiges, das nicht nur als Mittel gegen Korruption ins Spiel kommt; lediglich Sprache entzieht sich ihr. Der Sprache wohne, zitiert Han Humboldt, eine »fundamentale Intransparenz« inne, es gebe kein Wort, bei dem alle ein und dasselbe denken: »Die noch so kleine Verschiedenheit zittert, wie ein Kreis im Wasser, durch die ganze Sprache fort. Alles Verstehen ist daher immer zugleich ein Nicht-Verstehen, alle Übereinstimmung in Gedanken und Gefühlen zugleich ein Auseinandergehen.«9