Der silberne Elefant - Jemma Wayne - E-Book + Hörbuch

Der silberne Elefant Hörbuch

Jemma Wayne

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Beschreibung

Drei Frauen, drei Schicksale, und nur ein Leben, damit umzugehen. Die junge Emilienne ist dem Bürgerkrieg in Ruanda entkommen und hat in London ein neues Leben begonnen. Die grausamen Erinnerungen an ihre Heimat versucht sie zu verdrängen. Vera hat in jungen Jahren einen Fehltritt begangen und möchte ein guter und moralischer Mensch sein – wenn nur ihre quälenden Schuldgefühle nicht wären und die Unmöglichkeit, ihrem Verlobten davon zu erzählen. Und die 56-jährige Lynn ist schwer erkrankt und rechnet schonungslos mit den verpassten Chancen ihres Lebens ab. Alle drei Frauen werden von dunklen Geheimnissen und seelischen Verletzungen geplagt, doch auf sich allein gestellt, gelingt es ihnen nicht, die Dämonen ihrer Vergangenheit zu verscheuchen. Erst als sich ihre Wege eines kalten Winters kreuzen, bewegt sich etwas in ihnen – und langsam, ganz langsam, beginnen sie, einander zu stützen und für die Zukunft zu stärken.

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Zeit:12 Std. 8 min

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Das Buch

Eine tiefe Krise überwinden – das müssen Emily, Vera und Lynn. Aber wie soll das gelingen, wenn der Schmerz groß, die Erinnerung bitter, die Perspektiven düster sind?

Jede der drei Frauen kämpft für sich allein, bis sie lernen, sich einander anzuvertrauen. Und den Kampf gegen ihre Dämonen gemeinsam aufzunehmen.

Der silberne Elefant ist die Geschichte dreier ganz unterschiedlicher Frauen, von denen jede auf ihre Art mit ihrem Schicksal hadert.

Ein bewegender Roman über die Bewältigung traumatischer Erlebnisse und die Versöhnung mit der eigenen Geschichte.

Die Autorin

JEMMA WAYNE arbeitet als freie Journalistin, Theater- und Romanautorin.

Ihr Debüt Der silberne Elefant schaffte es auf die Shortlist des Waverton Good Read Awards und auf die Longlist des Bailey’s Women’s Prize for Fiction sowie des Guardian‘s Not the Booker Prize.

JEMMA WAYNE

DER

SILBERNE

ELEFANT

Roman

Die Originalausgabe »After Before« erschien 2014 bei Legend Press, London.

ISBN 978-3-96161-111-9

1. Auflage

© 2014 Jemma Wayne

© 2021 der deutschsprachigen Ausgabe

Julia Eisele Verlags GmbH, München

Elefanten-Icon: Liv Iko, Noun Project

Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München

Umschlagabbildungen:© Shutterstock Autorenfoto: © A.P. Wilding

E-Book:

Inhaltsverzeichnis
Über das Buch / Über die Autorin
Titel
Impressum
Widmung
Kapitel eins
Kapitel zwei
Kapitel drei
Kapitel vier
Kapitel fünf
Kapitel sechs
Kapitel sieben
Kapitel acht
Kapitel neun
Kapitel zehn
Kapitel elf
Kapitel zwölf
Kapitel dreizehn
Kapitel vierzehn
Kapitel fünfzehn
Kapitel sechzehn
Kapitel siebzehn
Kapitel achtzehn
Kapitel neunzehn
Kapitel zwanzig
Kapitel einundzwanzig
Kapitel zweiundzwanzig
Kapitel dreiundzwanzig
Kapitel vierundzwanzig
Kapitel fünfundzwanzig
Kapitel sechsundzwanzig
Kapitel siebenundzwanzig
Kapitel achtundzwanzig
Kapitel neunundzwanzig
Kapitel dreißig
Kapitel einunddreißig
Kapitel zweiunddreißig
Kapitel dreiunddreißig
Kapitel vierunddreißig
Ich danke …
EMPFEHLUNGEN

Kapiteleins

Sie sagte, sie heiße Emily. Das war für die Leute in England seit jeher einfacher auszusprechen gewesen als Emilienne, und sie war nicht bereit, auch noch diesen Teil ihrer selbst preiszugeben. Zu opfern.

»Okay, Emily, haben Sie Erfahrung als Reinigungskraft?«, fragte die weiße Frau mit dem dicken Hals und schob die auf dem Schreibtisch zwischen ihnen liegenden Formulare zusammen. Sie musterte sie mit wachsender Ungeduld, während Emily überlegte. Die Frage war alles andere als einfach zu beantworten. Die Worte, glatt wie das Fleisch unter der Schale einer Süßkartoffel, waren der Frau ganz leicht über die Lippen gekommen wie so viele andere, die man Emily im Laufe der Jahre an den Kopf geworfen hatte: dumm, undankbar, Kakerlake. Emilys Gedanken wanderten über den schmutzigen Fußboden ihrer Einzimmerwohnung, dem sie bislang nie auch nur mit einem Staubsauger gedroht hatte, dann zum Haus ihrer Tante, in dem sie vorher gewohnt und dessen spiegelblanke Fenster und Türknäufe sie geputzt hatte, und schließlich, widerstrebend, zu den dunklen Blutflecken, die sie vom Fußboden ihres Vaters geschrubbt hatte.

»Ja«, sagte Emily entschlossen. »Ich habe Erfahrung.«

Ihr Lächeln entblößte mehr Zahnfleisch, als ihr lieb war, und zudem die Lücke zwischen ihren Schneidezähnen, aber es war wichtig, stets zu lächeln. Ein Lächeln signalisierte Offenheit, Aufrichtigkeit, Vertrauen.

»Irgendwelche Referenzen?«

»Nein.«

Die Frau seufzte. »Also keine Erfahrung.« Sie schnalzte mit der Zunge und machte das Kreuz jetzt in dem falschen Kästchen auf dem Anmeldeformular.

»Sie hatten nicht nach Referenzen gefragt, sondern ob ich Erfahrung habe«, warf Emily nervös ein.

Doch die Frau lächelte nur, als hätte sie mit derlei Unwissenheit bereits gerechnet. Emily erwiderte das Lächeln. Auf Wissen kam es nicht an, hatte Auntie ihr einmal erklärt. In diesem Land kam es allein auf die Bereitschaft zu arbeiten an, die Bereitschaft, auf Knien die Flecken von den Böden zu schrubben, die den englischen Frauen zu tief unten waren. »Sie werden Gewerbeimmobilien putzen«, fuhr die Frau fort, und dann ratterte sie ohne Vorwarnung die Namen von Reinigungsmitteln sowie allerlei Vorschriften und Unternehmensrichtlinien herunter. Es klang fast wie ein zitierter Kinderreim, und Emily nickte artig im Takt mit dem Kopf, bis ihr auffiel, dass ihr Gegenüber verstummt war und über den Schreibtisch gebeugt fragte: »Können Sie sich das alles merken?« Die Frau lächelte erneut. Aus den Ärmeln ihres grünen Blazers lugten ihre feisten Handgelenke hervor. Emily spürte Übelkeit in sich aufsteigen beim Anblick des grünen Stoffs, der fleischigen Hände sowie des Lächelns, das mehr einem Zähnefletschen glich.

Sie nickte. »Ja.«

Die Dunkelheit ihrer Haut wirkte irgendwie unsauber auf dem blütenweißen Formular, das ihr die Frau zum Unterschreiben hinschob. Emilys Hand schwebte über der Linie, auf die sie ihren Namen malen sollte. Ihre Hand zitterte, und Emily schauderte, und ihr Magen grummelte unheilvoll.

Draußen wickelte sich Emily ihren Schal dreimal um den Hals, sodass er eine Art wollene Stütze für ihr Kinn bildete. Schon jetzt, Anfang September, hing ein erster Anflug winterlicher Kälte in der Luft und kroch ihr in die Knochen. Von nun an würde sie bis mindestens April frieren. Hatte sich die Kälte erst einmal eingenistet, dann war es in diesem Land schier unmöglich, sich wieder aufzuwärmen. Daran würde sie sich wohl nie gewöhnen. Doch der Schal half; es war ein gutes Gefühl, ihn als Barriere zwischen den Kräften der Natur und ihrem langen, schlanken Hals zu spüren. Ihre Tante hatte sie oft gedrängt, ihre heißgeliebten dicken Stricksachen abzulegen und sich etwas femininer zu kleiden. Aber dann hatten sich die unschönen Szenen gemehrt, sodass Auntie und Uncle am Ende sichtlich erleichtert gewesen waren, als Emily schließlich ganz aus ihrem Leben verschwunden war, statt bloß in ihren sackartigen Kleidungsstücken.

Ein Bus brauste an Emily vorüber – ihr Bus. Sie rannte los, um ihn noch zu erwischen, und lächelte den Fahrer an, der gerade so lange anhielt, bis sie eingestiegen war und ihre Oyster Card an das Lesegerät gehalten hatte. Dann machte das Fahrzeug einen Satz nach vorn, sodass Emily beinahe das Gleichgewicht verloren hätte. Früher war sie sportlich gewesen, doch mittlerweile war sie stets etwas wackelig auf den Beinen und musste sich festhalten, um nicht zu stürzen.

Sie hangelte sich von Stange zu Stange durch den Bus, bis sie an einen leeren Platz gelangte, wobei sie es tunlichst vermied, die anderen Fahrgäste anzusehen, die ihrerseits darauf bedacht waren, jeglichen Blickkontakt zu vermeiden. Anfangs, bei ihrer Ankunft in England, war es ein regelrechter Schock gewesen, dass sich die Leute auf der Straße oder im Bus nicht grüßten und auch sonst nur im äußersten Notfall etwas sagten. Dann und wann ging noch immer ihr sonnendurchfluteter Instinkt mit ihr durch, aber wenn es an England etwas gab, das Emily liebte, dann genau das: die Anonymität, die Möglichkeit, nicht bemerkt, nicht identifiziert, nicht kategorisiert zu werden. Es war ein gutes Gefühl, von Scharen von Menschen umgeben zu sein, deren Namen sie nicht kannte und die an einander vorbeihasteten, ohne von ihrer Umgebung Notiz zu nehmen. Es war tröstlich, in einem der hohen Sozialwohnblöcke zu leben, in denen sämtliche Etagen identisch waren und jede Wohnung genau den gleichen Grundriss hatte wie die ihre im fünften Stock. Es war beruhigend, dass die Leute hier ein so ausgefülltes Leben führten, sich so ganz und gar auf sich selbst und ihre individuellen Ziele konzentrierten. Es war willkommene Isolation. Flucht.

An der Haltestelle Golders Green stieg Emily aus. Von dort war es zwar noch eine Viertelstunde zu Fuß bis zu ihrer Wohnung, aber sie musste noch einkaufen und tat das lieber in einem der großen Supermärkte, wo es vor Kunden wimmelte, statt in dem kleinen Laden um die Ecke. Sie war nur ein paarmal dort gewesen, dennoch erkannte die Besitzerin sie bereits und stellte ihr Fragen wie: »Heute keine Avocados? Ich habe wunderbare Mangos, wie wär’s damit? Mögen Sie keine Mangos?«, und in der Vorwoche: »Woher kommen Sie?«

Emily betrat eine Tesco-Filiale und nahm sich einen der Einkaufskörbe. Sie hatte genau vier Pfund und dreiundsiebzig Pence im Portemonnaie. Sie musste also sorgsam auswählen, denn das Geld musste bis Ende der Woche reichen, und es war erst Mittwoch. Widerstrebend steuerte sie den Gang mit den Konserven an, legte je eine Dose Bohnen und Mais der billigsten Marke in ihren Korb, gefolgt von einer reduzierten Packung Toastbrot, bei der das Mindesthaltbarkeitsdatum demnächst ablief, sowie drei Bananen. Sehnsüchtig beäugte sie die Avocados, doch die waren hierzulande exotisch und teuer. Emily griff nach einem kleinen, harten Exemplar und ließ es rasch in ihrer Jackentasche verschwinden. Die Frau an der Kasse begrüßte sie höflich, aber ohne sie wiederzuerkennen. Emily lächelte, rubbelte mit Daumen und Zeigefinger an dem Packen Plastiktüten, ehe sie die obersten zwei abriss und ihre Einkäufe gleichmäßig darauf verteilte, damit ihr die Griffe auf dem Nachhauseweg nicht in die mageren Arme schnitten. Sie hängte sich die Schlaufen stets über die Unterarme, statt sie mit den Händen zu fassen. Wenn sie früher mit Auntie einkaufen gegangen war, hatten sie gemeinsam oft fünfzehn Tüten geschleppt; zehn davon hatte Emily getragen, auf den Unterarmen, die Henkel jeweils im Abstand von drei, vier Zentimetern, sodass sich die Haut dazwischen hochwölbte, als sollte auch sie auf ihren Reifegrad geprüft werden, genau wie die Avocados, die sie gekauft hatten. Das war ganz am Anfang gewesen, als sie noch Dankbarkeit empfunden hatte, weil Auntie gekommen war und sie gerettet hatte. Damals hatte Emily in ihrer Naivität übersehen, dass ein einfacher Ortswechsel nicht genügt für wahre Rettung. Erinnerungen sind nicht in der Erde verwurzelt.

Auntie hatte sie geliebt, das war Emily mittlerweile bewusst, wenngleich sie ihre Liebe damals nicht hatte spüren können; sie hatte sie, wie so vieles andere auch, erst später als solche erkannt, nachdem sie ihr abhandengekommen war. Sie konnte wahrlich von Glück sagen, dass Auntie und Uncle sie so lange ertragen hatten. Drei Jahre hatten sie es mit ihr ausgehalten, wobei Emily stets klar gewesen war, dass sie mit ihrem Geschrei und ihrem Schweigen und ihrem wiederholten Verschwinden die Geduld der beiden überstrapazierte. Mit der Zeit war Auntie ihr gegenüber immer öfter laut geworden, und Uncle hatte sie einmal geohrfeigt. Was alles noch schlimmer gemacht hatte. Als sie sie schließlich vor die Tür gesetzt hatten, war das keine große Überraschung für Emily gewesen. Sie hatte sich gesagt, dass sie sich so ohnehin sicherer fühlte. Allein und jederzeit fluchtbereit.

Als sie um die Ecke bog, erblickte sie vor dem Eingang ihres Wohnblocks einen weißen Transporter. Sie verfolgte, wie zwei Männer hineinkletterten und mit Umzugskisten beladen wieder heraussprangen. In Afrika wären sie von einer Menschentraube umringt gewesen. Jeder Neuankömmling war ein Kuriosum, das beäugt und taxiert werden musste. Wer allein reist, kann erzählen, was er will, besagte eines der vielen Sprichwörter, die Emily selbst nach all den Jahren noch hartnäckig im Kopf herumspukten. Es steckte ein Körnchen Wahrheit darin, und früher – zu einer anderen Zeit, an einem Ort, den es nicht mehr gab – wäre es ihr selbstverständlich erschienen, dass die Geschichten eines Fremden geprüft und wiederholt wurden, dass Fragen gestellt wurden und man ermutigt wurde, welche zu stellen. Emily schob die Henkel der Tüten etwas höher, ehe sie den Transporter wortlos passierte.

Der Lift war wieder einmal defekt, also ging sie zu Fuß und versuchte, den Gestank von Bier und Urin im Treppenhaus nicht allzu tief einzuatmen. Es erstaunte sie nach wie vor, dass man so rasch eine Wohnung für sie aufgetrieben hatte, dass man sie ihr so bereitwillig überlassen hatte, und das in einem Land, in dem die Menschen einander auf der Straße kaum je ins Gesicht sahen. Ihre Tante hatte ihr die Begriffe Asyl und Sozialhilfe erklärt und erzählt, dass sie und ihr Mann beides bekommen hatten, ehe sie einen britischen Pass erhalten und Arbeit gefunden hatten, und deshalb nicht mehr darauf angewiesen waren. Auntie hatte voller Stolz und Zufriedenheit davon berichtet, wie weit sie es gebracht hatten. Das rief sich Emily stets in Erinnerung, wenn auch nicht aus der gleichen Ambition heraus, und sie fand es nicht weiter schlimm, wenn sie im Treppenhaus bisweilen die Luft anhalten musste. Dennoch war sie außer Atem, als sie die fünfte Etage erreicht hatte. Ehe sie den Korridor entlangging, blieb sie stehen, nahm beide Tüten in eine Hand und kramte mit der anderen ihren Schlüssel aus der Handtasche. So machte sie es immer – sie blieb stehen, suchte, spürte die beruhigende Kühle des Metalls in ihrer Handfläche. Ein Instrument der Sicherheit. Der Macht.

Emily hob den Kopf und spähte zur Nachbarswohnung hinüber, deren Tür von einer großen Pappschachtel offengehalten wurde. Aus dem Inneren drangen Männerstimmen. Sie hatte die Bewohnerin nur ein einziges Mal gesehen – eine winzige, bucklige Greisin, die offenbar nie Besuch bekam, das wusste sie immerhin. Das Pfeifen des Teekessels war das einzige Geräusch, das Emily je aus ihrer Wohnung vernommen hatte. Wie es aussah, war die Frau gestorben, denn die Stimmen, die sie nun hörte, waren die der Männer vom Transporter unten. Offenbar zog einer von ihnen gerade ein. Emily fragte sich flüchtig, wie lange die Frau wohl tot nebenan gelegen hatte, wer sie gefunden haben mochte, ob ihr verwesender Körper bereits zu riechen angefangen hatte. Da sich Schritte auf der Treppe näherten, eilte sie zu ihrer Wohnung und schloss gleich darauf sorgfältig hinter sich ab.

Der Raum war winzig, die Fenster gingen auf einen kleinen Innenhof hinaus, in den kaum Licht gelangte, weil die Gebäude ringsum so eng beisammenstanden. Emily atmete tief durch. Sie fühlte sich wohl hier in ihrem düsteren Rattenloch. Es half, dem Licht und der Klarheit sonniger Tage so fern zu sein. Leise leerte sie die Einkaufstüten, legte die gestohlene Avocado zum Nachreifen auf die Arbeitsplatte und steckte eine Scheibe Brot in den Toaster. Sie wusste, sie sollte die Bohnen lieber nicht jetzt gleich essen, aber sie hatte Hunger, also holte sie den einzigen Kochtopf, den sie besaß, aus dem Schrank unter der Spüle und öffnete mit einem Messer die Dose, ehe ihre Vernunft ihr Einhalt gebieten konnte. Der dickflüssige dunkelrote Inhalt landete mit einem befriedigenden Klatschen auf dem Topfboden. Während sie die Bohnen erwärmte, drehte sie den Hahn über der Spüle auf, ließ das Wasser laufen, bis es kalt war, und hielt dann ein großes Trinkglas darunter, bis es überlief – ein Hauch von Luxus, bei dem sie nach wie vor Freude und Hoffnung empfand.

Sobald ihr Abendessen fertig war, begab sich Emily damit zu dem Kissen vor dem Fernseher, der in ihrem früheren Zimmer gestanden hatte. Auntie hatte ihr – wohl in einem Anfall von Nächstenliebe oder aus Mitleid oder um ihr Gewissen zu beruhigen – gestattet, ihn mitzunehmen, nebst der Kleidung, die sie ihr im Laufe der drei Jahre gekauft hatte, und einem Bündel zusammengefalteter Zehnpfundnoten, die sie Emily mit erschöpfter Miene beim Abschied in die Hand gedrückt hatte. Der Fernseher war Emilys wichtigstes Mittel der Ablenkung von der trostlosen Wirklichkeit, und der Platz auf dem Boden davor war für sie zu einem Ort geworden, von dem aus sie Gelächter und Glamour miterleben konnte, Optimismus, Frivolität, Extravaganz, Romantik, Hoffnung, Träume, Erfolg. Manchmal wünschte sie, sie wäre einer der glücklichen Menschen auf dem Bildschirm, oder zumindest eine der jungen Kellnerinnen im Café um die Ecke, die während ihrer Zigarettenpausen draußen herumalberten und beim Lachen mit glänzenden Augen den Kopf in den Nacken warfen. Eine Zeit lang hätte sie alles gegeben für diese Fröhlichkeit, diesen Glanz, doch wie es schien, war sie nicht in der Lage, die in ihr herrschende Finsternis abzuschütteln. Ihren Zorn. Ihren Kummer. Inzwischen machte sie sich kaum noch die Mühe, es zu versuchen.

Sie hörte rasche Schritte vor ihrer Wohnungstür, die sich entfernten und gleich darauf zurückkehrten, mit Verstärkung und deutlich langsamer. Emily stellte den Teller mit den Resten ihres Abendessens vor sich auf den Boden, machte den Fernseher aus und rutschte von ihrem Kissen. Seitlich auf dem Boden liegend, erspähte sie durch den Spalt unter der Tür die großen Turnschuhe eines Mannes, der rückwärtsging, gefolgt von den Füßen seines Gegenübers, die in Sandalen steckten. Die beiden Männer trugen etwas. Der Mann mit den Sandalen war dunkelhäutig, wenn auch nicht so dunkel wie Emily, und auf seinen Zehen sprossen drahtige Härchen, die sich widerborstig zwischen den Riemen des Schuhwerks kräuselten. Er rief dem vorn gehenden Mann etwas zu, in einer Sprache, die nicht Englisch war und die sie nicht verstand, worauf sie beide innehielten. Emily blieb auf dem Boden liegen und lauschte ihrem gedämpften Gemurmel. Nach einer Weile bewegten sich die Füße wieder und verschwanden aus ihrem Blickfeld.

Emily begann zu weinen.

Manchmal überkam es sie ganz langsam, sodass ihr noch genügend Zeit blieb, um sich eine Tasse süßen Tee zu machen, ein Bad einzulassen oder im Fernsehen nach Ablenkung zu suchen. Dann wieder überfiel es sie wie jetzt ganz plötzlich. Wütend schlug sie mit der flachen Hand auf die heißen Tränen ein, die ihr über die Wangen strömten, doch das ließ sie nur umso heftiger fließen. Sie richtete sich mühsam auf und schlang die Arme um die Beine, die Knie an die Brust gepresst, doch nun wanderten ihre Gedanken zu der Rasierklinge, die sie im Schrank unter der Spüle versteckt hatte, unter Toilettenpapier und Zahnpasta. Die Narbe auf ihrer Stirn pochte so heftig, dass ihr schwindelte. Ihr Magen krampfte sich zusammen. Aus Angst, sich übergeben zu müssen, legte sie sich wieder seitlich auf den Boden. Ihr fehlte die Energie, um sich zur Toilette zu schleppen, oder auch nur zum Mülleimer in der Ecke. Sie konnte bloß daliegen und sich an den steifen, ausgetretenen Teppich klammern, der ihr Halt gab, bis es vorbei war.

Als es endlich vorüber war, kroch sie zurück zu dem Kissen vor dem Fernseher. Sie fühlte sich schlapp und antriebslos, und beim Anblick der erkalteten restlichen Bohnen auf ihrem Teller wurde ihr übel. Ihr dröhnte der Schädel nach dem langen Weinkrampf, und ihre Kehle war trocken, doch sie konnte sich nicht dazu aufraffen, sich noch ein Glas Wasser zu holen. Sie machte den Fernseher wieder an. In einer Dokumentation ging es um irgendwelche Insekten. Hastig schaltete sie um. Nun erschien Talkshow-Moderator Jeremy Kyle, wie immer darum bemüht, einen der herrlich trivialen Dispute zu schlichten, die ausreichten, um die in die Sendung eingeladenen Familien zu entzweien. Emily rollte sich zusammen und drückte erneut die Knie an die Brust. Ihr Kopf ruhte auf dem Kissen, doch kaum schloss sie die Augen, lag sie keuchend und nach Luft ringend auf einem Acker, in einer flache Furche zwischen zwei schnurgeraden Reihen Süßkartoffelpflanzen, die Wange an den Erdboden geschmiegt, sodass sie die fetten Raupen an der Unterseite der Blätter sehen konnte.

Sie schlug die Augen auf.

Blinzelte. Schmeckte Dunkelheit, trocken und erdig; eine kratzende Dunkelheit, die ihre Augen bedeckte, während in der Nähe Stimmen ihren Namen kreischten und grässlich fiebrig und überdreht »Gleich haben wir dich!« johlten.

Sie blinzelte erneut. Konnte plötzlich wieder klarer sehen und erspähte mit einem Mal in der Ferne ihre Mutter. Emily rappelte sich auf und rannte auf sie zu, immer schneller, bis die Muskeln ihrer Arme und Beine vor Anstrengung brannten, doch die Distanz zwischen ihnen schien immer größer zu werden. Sie schrie, brachte aber keinen Ton heraus. Sie winkte, doch ihre Bewegungen waren langsam und kaum zu erkennen. Sie rannte, aber mit jedem Meter, den sie zurücklegte, entfernte sie sich noch weiter, und je länger Emily rannte, desto mehr Kummer spiegelte sich in den Augen ihrer Mutter. Schließlich blieb Emily stehen. Ihre Mutter war unerreichbar. Unbekleidet. Unbewaffnet. Unbeugsam.

Emily schlug die Augen auf.

Ihre Mutter war fort.

Und aus dem Fernseher tönte tröstlich Jeremy Kyles krakeelende Stimme.

Kapitel zwei

Manchmal starrt sie sich minutenlang im Spiegel an. Zumindest nimmt sie an, dass Minuten verstreichen. Vielleicht auch Sekunden. Oder Stunden. Manchmal schneidet sie Grimassen, verzieht ihr Gesicht zu abstoßenden Fratzen, zu einer hässlichen Version ihrer selbst. Aus Schönheit wird Biest. Sie hört oft, dass sie schön ist. Luke sagt es ihr andauernd. Er bringt ihre Frisur in Ordnung, indem er ihr eine blonde Haarsträhne hinters Ohr streicht, und dann legt er ihr den Daumen auf die Lippen, um sie sanft zu schließen, und flüstert es ihr zu. Auch Charlie hat es ihr gesagt, hat es ihr ins Ohr gekeucht, während er sie von hinten nahm. Er hat sich anders ausgedrückt – schön gehörte nicht zu seinem aktiven Wortschatz, dennoch hatte es den Anschein, als sei es ehrlich gemeint, und es hat sie heiß gemacht. Manchmal rümpft sie die Nase, schielt, stülpt die Lippen nach außen, um zu testen, ob sie ihre Schönheit trotzdem noch sehen kann – die, die angeblich von innen kommt. Sie sieht nichts dergleichen. Sie murmelt ihren Namen, wie um sie auf diese Weise heraufzubeschwören. Vera, Vera, Vera. Sie kann nicht antworten. Noch einmal: Vera.

»Vera?«

Vera blinzelt. Sie fragt sich, wie lang sie wohl schon nach oben starrt auf den glänzenden Stoff des Heißluftballons. Sie schweben über einem Acker in Hertfordshire, nur ein paar Kilometer von dem Haus entfernt, in dem sie aufgewachsen ist. Luke kniet vor ihr, einen Ring in der Hand. »Ja«, sagt sie.

Dreihundertfünfundsechzig Tage sind vergangen seit ihrer ersten Begegnung auf einer Benefizveranstaltung, auf der sie als PR-Beraterin zu tun hatte und er im Auftrag des Ministeriums für auswärtige Angelegenheiten und Commonwealth-Fragen eine Rede hielt. »PR-Leute sind schlimmer als Paparazzi«, scherzte er damals, »die sind noch nicht einmal auf der Jagd nach der Wahrheit, sondern produzieren bloß einseitige Propaganda.« Worauf sie konterte: »Wer für die Politik zu feige ist, wird Beamter, da hat er Macht, aber keine Verantwortung.«; »Vor Gott, dem Herrn müssen wir früher oder später alle Rechenschaft ablegen«, erwiderte er, und dank der Mischung aus Verschmitztheit und Ernst, mit der er sie dabei ansah, war sie binnen Sekunden verrückt nach ihm. Ihre neueste Droge. Innerhalb eines Jahres hat er alle anderen ersetzt.

Es ist sechshundertzwei Tage her, seit Vera das letzte Mal gekokst hat, und vierhundertdreiunddreißig Tage, seit sie etwas anderes als Camel Light geraucht hat – wobei Luke glaubt, dass sie auch die nicht mehr anrührt –, und genau dreihundertsechsundsechzig Tage, seit sie zuletzt Sex hatte. Charlie findet ihre wundersame Wandlung höchst amüsant und ist überzeugt, dass sie nicht von Dauer sein wird. Sie telefoniert noch gelegentlich mit ihm, was Luke nicht weiß. Er hat sie schon früh gebeten, Charlie nicht mehr zu kontaktieren. Sie hat damals eingewilligt, ohne darüber nachzudenken, aber es ist eine der wenigen Angewohnheiten, die sie nicht ablegen kann. Eine Art Selbstgeißelung.

Vera beugt sich nach vorn und küsst Luke zärtlich auf den Mund. Er riecht nach Kaffeebohnen. Nach denen von Abel und Cole, die er von Hand mahlt, mit seiner Kaffeemühle.

Er riecht nach Kaffeebohnen.

Wäre Veras Leben ein Film, dann einer mit zahlreichen Voiceover-Kommentaren. Er riecht nach Kaffeebohnen. Sie fragt sich manchmal, ob sie Dinge bemerkt, die andere Menschen nicht bemerken. Sie registriert alles, was ihr durch den Kopf geht. Sie glaubt, dass sie alles registriert. Findet das Gehirn aller Menschen die Zeit, jeden Satz fünf Mal umzustellen? Als hätte jemand auf die Pausetaste gedrückt. Stillstand. Pause und Schnellvorlauf zugleich. Sie sieht sich selbst von außen. Ihre Gedanken rasen. Verstreichen Minuten? Hat sie wieder die Nase gerümpft? Manchmal hat sie das Gefühl, noch immer high zu sein. Luke, der vor ihr kniet, betrachtet sie, als wäre sie ein glitzerndes Schmuckstück. Als wäre sie brandneu. Natürlich heirate ich dich.

»Natürlich heirate ich dich«, flüstert sie und fügt dann hinzu: »Aber bist du auch ganz sicher? Wenn das Ding hier nämlich erst einmal an meinem Finger steckt, gibt es kein Zurück mehr!«

»Nun steck ihn schon an, du Scherzkeks.« Luke steht lachend auf und schiebt ihr den Ring an jenen Finger, an den sie aus purem Aberglauben noch nie etwas gesteckt hat, noch nicht einmal einen dieser Hula-Hoop-Knabberzeug-Ringe. Luke hat einen Ring aus Roségold gewählt, mit einem funkelnden Diamanten, der das Licht der untergehenden Sonne einfängt und dessen strahlende Schönheit Vera regelrecht blendet. Sie bewundert das kostspielige Kleinod mit leicht zusammengekniffenen Augen. Der Ring ist zu groß; sie wird ihn enger machen lassen müssen. Im Augenblick begnügt sie sich damit, die Faust zu ballen, um ihn nicht zu verlieren, wobei sie die leichte Reibung der Kante auf ihrer Haut registriert. Sie befinden sich nun im Sinkflug. Unter ihnen erstreckt sich eine sumpfige Wiese.

»Ich habe etwas für dich«, verkündet Luke, sobald sie auf der Rückbank der riesigen weißen Limousine, die er für den Rückweg nach London gebucht hat, Platz genommen und sich etwas aufgewärmt haben.

»Na, ein Glück. Ehrlich gesagt fand ich den Diamantring ein bisschen dürftig.«

Luke lacht. »Du bist so witzig.« Vera liebt es, dass er jeden ihrer Scherze kommentiert, als wäre auf seine körperliche Reaktion allein kein Verlass. Alles an ihm ist eindeutig, unmissverständlich. Sie fühlt sich so sicher und geborgen angesichts dieser Gewissheit, dieser Klarheit. Vera kann nicht mehr beurteilen, ob sie witzig ist. Früher hat sie oft gehört, sie sei witzig. Sie hat sich auch immer sehr ins Zeug gelegt und darauf geachtet, beim Witzereißen alles richtig zu machen. Sie wollte diese Kunstform ebenso meisterhaft beherrschen wie ihr Vater. Inzwischen tut sie das nur noch für Luke und verlässt sich auf sein Urteil.

Luke sitzt sehr aufrecht da. Er wirkt fehl am Platz in dieser Limousine mit ihren Ledersitzen. Obwohl er sich etwas Besseres leisten könnte, fährt er einen Toyota Prius aus zweiter Hand, weil das Ressourcen schont; er verwendet eine Aktentasche mit den Initialen seines Vaters und einem Riss an der Vorderseite, und er trägt Hemden, die uralt sind oder die seine Mutter ihm gekauft hat. Das besondere Programm des heutigen Tages zeugt von seinen besonderen Gefühlen für Vera. Sie lächelt und will seine Hand nehmen, doch Luke angelt stattdessen etwas vom Beifahrersitz der Limousine – einen kleinen, schweren Gegenstand, den er ihr nervös überreicht. »Ich dachte … Also, ich hoffe, du freust dich darüber«, sagt er. »Über eine eigene … Eine neue, meine ich. Na ja, lies erst die Karte.«

Wäre sie allein, würde sie sich wie ein kleines Kind sofort auf das Geschenk stürzen und ungeduldig das Papier aufreißen. Lukes Blick ruht auf ihr, während sie bedächtig die Karte aus dem roten Umschlag zieht und den Kunstdruck – ein Ölgemälde, das einen Heißluftballon zeigt – betrachtet.

»Hm, ein Ballon? Wie kommst du denn darauf?« Sie grinst, doch jetzt ist nicht die Zeit für Scherze. Luke schweigt, während sie liest, was er hineingeschrieben hat. Es ist nur ein Satz: Eine dreifache Schnur reißt nicht so schnell.

Das ist garantiert ein Bibelzitat, denkt Vera. Seit sie Luke kennt, geht sie regelmäßig zur Kirche. Weil das sein Ding ist, und weil es ihr von Anfang an eingeleuchtet hat. Nun besucht sie jede Woche die Heilige Messe. Mit ihm, in seiner Kirche. Sie hat sogar ein Gebet, das sie sich jeden Tag viele Male vorsagt wie ein Mantra: Herr, hilf mir, mich zu bessern, mach mich würdig, mach mich rein. Herr, hilf mir, mich zu bessern, mach mich würdig, mach mich rein.

Vera sieht zu Luke hoch, ehe sie vorsichtig das Geschenk auspackt. Mach mich würdig … Es ist ein Buch. Eine Bibel mit goldenen Schnittkanten. Auf dem geschmeidigen schwarzen Ledereinband prangen erhabene goldene Buchstaben.

»Für unseren gemeinsamen Neubeginn«, sagt Luke. »Ich weiß ja, wie sehr du … Ich meine, ich war sehr beeindruckt, dass du … Na, jedenfalls dachte ich, das könnte genau das Richtige für dich sein.« Er mustert sie gespannt. In seinem Blick liegen Ernst, Eifer, Hoffnung – all die Eigenschaften, zu denen sie sich von Anfang an hingezogen fühlte. Und sein Geschenk verrät ihr, was sie ihn nicht zu fragen gewagt hat: Er verzeiht ihr, er vertraut ihr, er glaubt an sie, ihrer Vergangenheit zum Trotz. Ihrer Vergangenheit zum Trotz.

Der Vergangenheit, von der er weiß …

Er wartet ab, und Vera blickt in seine strahlenden Augen und nickt, ganz langsam, mit einer Aufrichtigkeit, die Charlie völlig fremd wäre. »Es ist perfekt, Luke, genau wie du. Ich liebe dich.«

Draußen driften von Nebelschleiern bedeckte Wiesen vorüber. Auf der Straße herrscht allmählich wieder etwas mehr Verkehr. Sie überholen einen Kleinbus mit einer Horde Kinder, die versuchen, durch die beschlagenen Scheiben einen Blick auf die Leute in der imposanten weißen Limousine zu erhaschen. Luke ergreift ihre Hand und verschränkt die Finger mit den ihren. Den freien Arm hat er Vera um die Schultern gelegt. Sie atmet seinen Geruch ein, den Kopf an seine Schulter gelehnt. Sicherheit. Gewissheit. Bestätigung. Sie prägt sich den Moment ein, blendet ihre schlammig-feuchten Schuhe ebenso aus wie den dezenten Kuhdung-Geruch, der irgendwie einen Weg in den Wagen gefunden hat. Die Kamera in ihrem Kopf schwenkt in die Ferne. Es war ein Tag wie kein anderer … Und Vera ignoriert die gerötete Stelle an ihrem Finger, an der der zu große Verlobungsring zu reiben begonnen hat.

Kapitel drei

Fünf Wochen vorher, am Geburtstag seines Vaters, hatte Luke seine Mutter zum Brunch besucht. Sie hatten pochierte Eier mit Weißbrot und gebratenen Tomaten gegessen, jedoch ohne zu erwähnen, dass dies das Lieblingsessen seines Vaters gewesen war oder dass es für dieses Ritual einen besonderen Anlass gab. Danach hatte er sie noch zur High Street begleitet. Seine Mutter hatte beim Abschied nicht erwähnt, dass sie vorhatte, in dem Laden mit Künstlerbedarf Farben zu kaufen, die er nie zu Gesicht bekommen würde, so wie Luke nicht erwähnt hatte, dass er noch einen Abstecher auf den Friedhof machen würde. Doch genau das hatten sie getan. Und an diesem Nachmittag hatte sich Luke, am Grab seines Vaters Philip stehend, ausgemalt, wie es wohl wäre, mal wieder ausführlich mit seinem alten Herrn zu plaudern. Luke war fast sicher, dass sein Vater Vera gemocht hätte. Er hätte ihm geraten, den Ring heimlich zu kaufen. Er hätte ihn gedrängt, romantisch zu sein. Er hätte gesagt, er solle darauf achten, dass seine Partnerin seine Leidenschaften und Prinzipien teilt, was, wie Luke in diesem Moment aufging, dasselbe war.

Er erzählte seinem Vater nicht von Veras Lächeln, erwähnte weder ihre Weichherzigkeit noch die Schwermut in ihrem Blick, die sie bisweilen so abwesend wirken ließ, so errettungsbedürftig. Oder dass ihm in ihrer Gegenwart manchmal schier das Herz überging vor Hoffnung.

Luke hatte die Bibel noch vor dem Ring besorgt. Er hatte die Karte gekauft, bevor er sich Gedanken über die Gestaltung des Antrags gemacht hatte, sie hatte ihn erst dazu inspiriert. Er hatte sich ausgemalt, wie ihre Kinder aussehen würden, eher er darüber nachgedacht hatte, wie die Hochzeit werden sollte. Falls sie einen Sohn bekämen, würde er ihn Philip nennen.

Kapitel vier

Vera war nie ein Morgenmensch, doch in letzter Zeit schläft sie schlecht. Obwohl es noch sehr früh ist, sitzt sie aufrecht im Bett und beobachtet das von ihrem Verlobungsring reflektierte Licht, das durch einen Spalt zwischen den dicken roten Vorhängen in ihr Hotelzimmer fällt und bunte Tupfen an die Decke zaubert. Sämtliche Farben des Regenbogens tanzen über ihr in gebündelten Punkten, die sie mit der geringfügigsten Regung des Fingers manövrieren und verheißungsvoll aufblitzen lassen kann. Ihre Fingerspitzen wandern über den goldenen Ring, der nicht nur für das Versprechen gegenüber Luke steht, sondern auch für eines, das sie sich selbst gegeben hat. In ihrem Portemonnaie steckt ein Zeitungsausschnitt, den sie heute nicht auseinanderfalten wird. Sie hofft, sie gelobt, es bald zu tun, ein letztes Mal, und dann wird sie ihn wegwerfen. Sie ist glücklich, so … beinahe glücklich. Doch erst muss sie Buße tun. Vera geht durch das kühle Zimmer zur Kommode, auf der ihre neue Bibel liegt, und kehrt damit zurück zum Bett. Sie kuschelt sich wärmesuchend unter die in Satin gehüllte Daunendecke, schiebt ihr fluffiges Hotelkissen zwischen Rücken und Kopfteil, dann atmet sie einmal tief durch, schlägt das Buch auf und lächelt, weil sie zufällig das Lukasevangelium erwischt hat.

Ein paar Wochen, nachdem sie mit Luke zusammenkam, hat sie den Vorsatz gefasst, jeden Tag zumindest ein klein wenig in der Bibel zu lesen. Luke liest, wie sie weiß, jeden Morgen ein oder zwei Passagen, und in seinem Fall scheint es der ideale Einstieg in den Tag zu sein, ein Ritual, das ihm bei der Konzentration auf das Gute hilft. Sie selbst tut sich da schwerer. Andauernd ist von Jesus die Rede, und sie fühlt sich bei der Lektüre unwillkürlich zur Sünderin abgestempelt, der die anderen auf sein Geheiß verzeihen sollen. Aber sie kann den Hype um die Bibel durchaus nachvollziehen. Sie versteht, welchen Zweck sie erfüllt: Sie ist ein Leitfaden, eine Sammlung von Prinzipien, die eine Art zu leben vorgibt. Sich daran zu orientieren ist einfacher als die qualvollen Grübeleien bei jeder Entscheidung, die Zweifel, die Fehler, die man macht. Und es fällt Vera leicht, sich an den Lehren darin festzuhalten, wie Luke es tut. Oder stundenlang in tristen steinernen Bauten auszuharren. Oder sich ihr Mantra vorzusagen: Herr, hilf mir, mich zu bessern, mach mich würdig,mach mich rein. Die Worte der Bibel sind wie Ziegelsteine und Mörtel, sie bilden einen Wall zum Schutz vor schlimmeren Dingen. Vor den Gedanken an schlimmere Dinge. Vor schlimmeren Taten. Das kann sie nachvollziehen, und es gefällt ihr. Sie ist überrascht, dass sie nicht selbst darauf gekommen ist, schon vorher.

Luke ist begeistert, dass sie »zu Gott gefunden« hat. Ihr ist bewusst, dass er ihr den Antrag nicht gemacht hätte, wäre sie keine bekennende Christin. Für ihn ist das ausschlaggebend. Aber er ist ja auch damit aufgewachsen und hat das alles schon zigmal gehört. Zweifellos sind ihm die christlichen Lehren längst in Fleisch und Blut übergegangen. Vera wird noch ziemlich viel in der Bibel lesen müssen, ehe sie so weit ist, aber sie hofft, dass auch sie eines Tages, mit genügend Übung, das gleiche Strahlen in den Augen haben wird wie er.

In ihrem Film schwenkt die Kamera jäh auf sie und zeigt, wie sie sich im hellen Schein eines Kronleuchters postiert. Um Luke hereinzulegen?

Sie blinzelt wie vom Lichtschein geblendet. Sie hat noch keine Zeile gelesen. Wie viele Minuten sind bereits verstrichen?

Sie wagt es nicht, den Blick vom Licht abzuwenden.

Auch im Lukasevangelium wird es um Vergebung gehen, um Abkehr von der Sünde, darum, den verlorenen Sohn zu Hause willkommen zu heißen. Um Barmherzigkeit. Doch der Gedanke an die Ereignisse des vergangenen Abends lässt sie unbarmherzig in der kühlen Morgenluft schaudern.

Phase zwei von Lukes Antrag bestand aus einem opulenten Mahl im exklusiven Restaurant des postmodernistischen Hotels, in dem er zwei Zimmer reserviert hatte. Es ist viel schicker als die, in denen sie bisher abgestiegen sind, ein Gebäude aus dem Georgianischen Zeitalter mit einem Interieur in allen nur erdenklichen Farben und Materialien, sodass kein Möbelstück dem anderen gleicht. Beim Betreten des Restaurants reichte ihnen eine uniformierte Angestellte je ein Glas Sekt, das Luke unauffällig gegen einen antialkoholischen Cocktail umtauschte. Vera tat es ihm bereitwillig nach. Sie brauchte keinen Sekt, sie war ohnehin wie berauscht von der Ungeheuerlichkeit ihres gemeinsamen Vorhabens und von dem neuen Leben, dem sie schon so nah waren. Luke bestellte für sie beide und flocht dabei mit einem spitzbübischen Lächeln die Worte »Meine Verlobte nimmt …« ein. Der Augenblick hätte nicht romantischer sein können. Sie fassten sich über den Tisch hinweg an den Händen und konnten über nichts anderes reden als über ihre bevorstehende Hochzeit, und es fühlte sich herrlich konspirativ an. Nachdem sie zum Abschluss gemeinsam die Ereignisse des Nachmittags rekapituliert und einander dabei tief in die Augen gesehen hatten, brachte Luke sie dann zu ihrem Zimmer – und folgte ihr hinein.

Daran könnte sie ihn vermutlich erinnern; dass er es war, der ihr gefolgt ist. Dass er es war, der sich auf ihr Bett gesetzt und ihr die Hand auf den Oberschenkel gelegt hat, dass es seine Zunge war, die mit unverhohlenem Verlangen ihren Mund erforscht hat. Ja, an all das kann sie ihn erinnern, kann es in ihrer Argumentation vorbringen wie Humbert, wenn er von Lolita spricht; lieber Luke, lieber Leser. Und Luke versteht sich geradezu trügerisch gut aufs Küssen. An dem Abend, an dem sie sich das erste Mal geküsst haben – bei ihrem zweiten Date, in einer verlassenen Straße vor einem unabhängigen Kino, wo sie sich einen Film über einen verlorenen Stamm in den Anden angesehen hatten –, hat Luke sie leidenschaftlich geküsst, nur um dann mit ebenso viel Leidenschaft zu verkünden, er sei Christ und noch Jungfrau, in dieser Reihenfolge, und außerdem sei er gegen Geschlechtsverkehr vor der Ehe. Sie hat gelacht damals, ist so richtig ins Fettnäpfchen getreten, indem sie ihn in den Arm geboxt und immer wieder »Du veräppelst mich, oder?« gefragt hat, bis er ebenfalls lachen musste und gar nicht mehr aufhören konnte. Sie hat ihm nicht abgenommen, dass jemand, der so innig küsste, noch Jungfrau war, wobei das damals im Nachhinein betrachtet kaum mehr als ein flüchtiger Schmatzer war verglichen mit der Sinnlichkeit, mit der Luke sie gestern, ein Jahr später, geküsst hat. Sie dachte, es läge daran, dass sie nun verlobt waren, dachte, damit hätten sich die Grenzen dessen, was bis dahin stets ausgeschlossen war, verschoben. Und außerdem liebte er sie, und es war ein perfekter Tag gewesen. Als Luke daher die Finger von ihrem Rücken nach oben wandern ließ in ihr Haar und den vom Radfahren durchtrainierten Oberschenkel fest an den ihren presste, während seine Zunge drängend ihren Mund erkundete, gleich einer unausgesprochenen Frage, da war sie gern bereit zu antworten, und die Antwort lautete ja. Natürlich lautete sie ja. Ja, sie wollte ihn, sie wollte seine Erste sein. Sie konnte gar nicht fassen, dass sie so lange gewartet hatten! Sex, das würde er bald merken, war eine genauso hilfreiche Ablenkung wie Gebete.

Sie murmelte eine Entschuldigung und huschte ins Bad. Luke sah ihr mit einem wissenden Lächeln nach. Es war ein Jahr und einen Tag her, seit Vera zuletzt Sex gehabt hatte. Mit heftig klopfendem Herzen schlüpfte sie aus der verblichenen Baumwollunterwäsche, die sie morgens nichtsahnend angezogen hatte. Ihr Verlobungsring fühlte sich schwer an angesichts ihrer Nacktheit. Das blonde Haar fiel ihr über die bloßen Schultern, auf denen einige Sommersprossen von längst vergangenen Sonnenbädern zeugten. Der Gedanke an Lukes ermutigenden Blick ließ sie schaudern. Die Zeit raste vorüber. Ein Moment von historischer Tragweite war erreicht. Ihr Körper hatte endlich mit ihrem Geist gleichgezogen, und nun waren sie im Einklang und ganz auf Luke fokussiert. Erfüllt von Aufregung und Nervosität und einer Liebe, wie sie sie noch nie zuvor verspürt hatte, betrachtete sie sich ein letztes Mal im Spiegel, widerstand dem Drang, eine Grimasse zu schneiden, und trat aus dem Badezimmer, eine Erscheinung aus glatter, blasser Haut, die unbedeckt war bis auf einen schmalen Streifen unter dem roségoldenen Ring.

Sie kann die Verachtung in seinem Blick noch jetzt geradezu körperlich spüren.

Der perfekte Tag war plötzlich mit einem Makel behaftet, gleich einem pockennarbigen Gesicht.

Luke wich entsetzt zurück, mit gekränkter, gequälter Miene, und dann kam er auf sie zu, eine Hand erhoben, um sich die Augen abzuschirmen, in der anderen die Bettdecke, als handle es sich um eine Waffe, mit der er Vera bedecken, sie gleichsam zähmen wollte. »Zu deinem eigenen Schutz«, betonte er und ließ nicht zu, dass sie beschämt ins Bad floh, sondern zwang sie, sich hinzusetzen. »Zum Schutz vor dir selbst. Liebling, ich weiß, wir sind verlobt, aber die Verlobung ist nicht gleichbedeutend mit der Ehe, sie ist die Vorbereitung darauf. Es wäre falsch, jetzt Sex zu haben. Es würde unsere Beziehung ebenso kompromittieren wie unsere Verpflichtung gegenüber Gott.«

»Was ist mit deiner Verpflichtung mir gegenüber?«, hatte sie in jenem ersten, peinlichen Augenblick empört hervorgestoßen. »Was glaubst du, was das für ein Gefühl ist, vom eigenen Verlobten zurückgewiesen zu werden?«

»Meine Zurückweisung gilt nicht dir, sondern der Sünde.«

Oh ja, die Worte der Bibel waren ihm wahrlich in Fleisch und Blut übergegangen.

Das ›Pling!‹ des Aufzugs im Korridor beendete ihr Gespräch. In der nun herrschenden erdrückenden Stille empfand Vera abwechselnd Wut, Verwirrung, Scham und Gekränktheit. Sie rief sich in Erinnerung, was dem Moment vorangegangen war: Seine Berührungen und Blicke, der Zungenkuss. Kein Zweifel, er hatte sie ermutigt. Doch dann dachte sie noch weiter zurück. Luke hatte ihr von Anfang an gesagt, dass Sex vor der Ehe für ihn nicht infrage kam, er hatte ihr erst heute eine Bibel geschenkt, in der Annahme – oder Hoffnung –, dass sie seine Ansichten teilte … War ihm jetzt aufgegangen, dass sie nur so tat als ob? Tat er das nicht auch? Taten das nicht alle? Diente der Glaube nicht allen nur dazu, um etwas zu übertünchen, von etwas abzulenken?

Giftige Gedanken wanden sich schlangengleich durch ihren Geist. Schlangengleich. Schlangengleich.

Sie war die Schlange. Nach wie vor. Sie war die Sünderin. Es lag an ihr, nicht an ihm, dass sie sich abgelehnt und gedemütigt fühlte. »Lass uns kein Drama daraus machen, okay?«, sagte sie schließlich. »Ich dachte bloß … Ich muss wohl noch viel lernen, was Jesus und seine Regeln angeht.«

»Es tut mir leid, Liebling. Mach dir keine Gedanken deswegen«, versicherte Luke ihr, doch er schüttelte kaum merklich den Kopf, eine Bewegung, die nicht für ihre Augen bestimmt war, aber sie nahm sie trotzdem wahr. Eine winzige Geste des Missfallens, die ihr Angst einjagte. Sie atmete tief durch.

»Nein, mir tut es leid«, sagte sie versöhnlich. »Vergiss es einfach, Luke, okay? Betrachte es als eine Vorschau. Die Hauptattraktion kommt erst noch.«

»Genau. Ganz genau«, stimmte er ihr bereitwillig zu, worauf sie ebenso bereitwillig die Decke enger um sich zog und, den Kopf an seine Schulter gelehnt, spürte, wie er sich etwas entspannte, nun, da die Gefahr gebannt war.

Charlie hätte sie aufs Bett geworfen, ihr hinterher eine Nase voll Koks angeboten und sich dann schleunigst aus dem Staub gemacht, vermutlich zum nächsten Date. Sie hätte sich besser gefühlt. Und schlechter.

Vera klappt die makellose neue Bibel zu. Im selben Moment klingelt das Zimmertelefon. Es ist Luke. Sie verabreden sich zum Frühstück und kommen bei Toast, Marmelade und frisch gebrühtem schwarzem Kaffee zu dem Schluss, dass es an der Zeit ist, ihre Neuigkeit publik zu machen.

Lukes Mutter lebte allein in einer herrschaftlichen Stadtvilla im Londoner Nobelviertel Saint John’s Wood, nur drei Straßen von Luke entfernt. Sie bepflanzte jede Saison die Blumenkästen vor den Fenstern neu, ließ alle drei Jahre die Fassade streichen und ging jeden Dienstag mit dem Staubwedel durch das gesamte Haus. Samstags stand sie früh auf, zog eine Hose, flache Schuhe und eines der alten Hemden ihres Mannes an und nahm den Kittel vom Haken in der Speisekammer. Dann ging sie in den glasüberdachten Anbau im hinteren Teil des Hauses, und dort ließ sie, bis es dunkel wurde, zärtlich ihre Zobelhaarpinsel über Leinwände gleiten. Den Rest der Woche war dieser Raum abgeschlossen, und Lynn zeigte niemandem die riesigen Landschaftsbilder oder die detailgetreuen Porträts, die sie darin schuf. Die Samstage waren für sie das Highlight der Woche. Trotzdem hatte sie sich ihre Verstimmung nicht anmerken lassen, als Luke angerufen und gefragt hatte, ob er mit Vera zum Tee kommen dürfe, sondern gesagt, sie freue sich darauf, Vera mal wieder zu sehen.

Lynn hängte den Kittel an seinen Haken, wählte ein dunkelblaues Kleid aus ihrem Schrank und rümpfte angewidert die Nase beim Anblick ihres Spiegelbildes. Früher war sie eine richtige Schönheit gewesen. Die Männer hatten sie angestarrt und ihr nachgepfiffen, wenn ihr Rock kurz genug gewesen war, und die Frauen hatten sie um ihre vollen Brüste und ihre schmale Taille beneidet. Sogar eine Modelagentur hatte einmal Interesse bekundet. Mittlerweile war ihr einst blondes Haar weiß und schütter, an der papierenen Haut um ihre Augen wollte die Schminke nicht mehr so recht haften, und ihre Brüste hingen knapp über der Taille, die nach zwei Schwangerschaften und einem Kaiserschnitt längst nicht mehr so perfekt geformt war, zumal sie bereits achtundfünfzig war. Lynn strich sich das dünne Haar aus dem Gesicht und schlang es im Nacken zu einem provisorischen Knoten zusammen, dann betrachtete sie sich erneut. Es erstaunte sie nach wie vor bisweilen, Philip nicht neben sich im Spiegel zu erblicken. Er war ein stattlicher Bursche gewesen, als sie sich damals in Cambridge kennengelernt hatten, gerade mal volljährig, in dieser Phase zwischen kindlichen Fantasien und Realitätssinn, lange bevor sie beide auch nur im Entferntesten in Erwägung gezogen hatten, einmal Kinder in die Welt zu setzen. Lynn hatte einer neuen Fraktion junger Frauen angehört, die sich für ein ernsthaftes Studium eingeschrieben hatten, und in Geschichte die gleiche Vorlesung belegt wie Philip. Sie war fachlich versierter gewesen als er, dem schlechten Licht zum Trotz, das ihre Abschlussnote auf sie warf.

Zusammen hatten sie geträumt. Sie hatten sich oft auf halbem Weg nach Grandchester am Ufer des Cam ins Gras gelegt, und Philips Fingerspitzen, die die Zukunft kannten – oder zu kennen schienen – waren mit zärtlich-akribischer Genauigkeit über die Kurven und Täler ihres Körpers gewandert, während er von Paris und Rom geflüstert hatte, von der Sixtinischen Kapelle, von Notre Dame und Mont-Saint-Michel, vom Colosseum und dem Pantheon mit seiner riesigen Kuppel, von Straßencafés und Parks und Kirchen und Mondlicht. Dann und wann hatte sie ihm eine ihrer Zeichnungen gezeigt. Sie war unheimlich produktiv gewesen in jenen Jahren; jeden Tag mussten neue, lebensverändernde Gefühle mit kühnen Strichen festgehalten werden. Mit ihren Aquarellfarben schuf sie sanft glühende Hügellandschaften, ihre Kohlezeichnungen stellten für gewöhnlich Philip dar. Im Laufe jenes letzten Sommers in Cambridge hatten sie ihre Träume dann gegen Bücher ausgetauscht, die sie regelrecht verschlangen, wobei sie einander ihre Lieblingspassagen daraus vorlasen.

Drei Tage vor der ersten Abschlussprüfung machte Philip ihr den Antrag. Es war sein Geburtstag, und sie hatten sich gegen eine Party entschieden, weil alle ihre Freunde rund um die Uhr büffelten. Sie hatten es immerhin geschafft, sich eine Stunde freizuschaufeln, damit sie sich in ihrem Stammlokal treffen konnten, einem winzigen, unauffälligen Bistro am Ende einer schmalen Gasse hinter dem Lion-Yard-Einkaufszentrum. Dort kamen noch Öllampen zum Einsatz, und selbst bei der schlimmsten Sommerhitze stand eine herzhafte Zwiebelsuppe auf der Karte. Lynn hatte sich den ganzen Tag mit den Gräueln der Französischen Revolution auseinandergesetzt und keine Zeit mehr gehabt, um sich hübsch zu machen. Sie hatte sich lediglich das lange, dichte Haar zu einem verspielten Pferdeschwanz zusammengebunden und das gelbe Kleid angezogen, in dem Philip sie am liebsten sah. Dann hatte sie sich mit dem zum Kleid passenden Seidenschal, den sie schon vor Wochen für ihn besorgt und eingepackt hatte, auf ihren Drahtesel geschwungen und war den Hügel hinuntergeradelt zu ihrer Verabredung. Philip hatte ein hellblaues Hemd getragen, das sie nie vergessen würde, nachdem sie im Zuge der Feierlichkeiten Rotwein darauf verschüttet hatte. Er hatte sie mit der Bemerkung getröstet, der Fleck werde garantiert nicht halb so lange überdauern wie ihre Ehe. Er sollte sich täuschen – das Hemd lag noch immer nebst anderen Erinnerungsstücken in einer Schachtel oben im Speicher, einer Schachtel, die größer war als die Messingurne mit Philips Asche. Der Fleck hatte sich als deutlich langlebiger erwiesen als ihre Ehe.

Die Französische Revolution hatte damals auf einen Schlag an Bedeutung verloren.

Die hastig geplante Verlobungsparty legten sie auf den Tag nach ihren letzten Prüfungen, bevor all ihre Freunde nach Hause fuhren, und Lynn brachte den Großteil der darauffolgenden Woche damit zu, Listen mit Menüabfolgen und Zeichnungen von Frisuren und Kleidern anzufertigen. An Geschichte verschwendete sie kaum einen Gedanken. Erst viele Jahre später ging ihr auf, was für einen schwerwiegenden, folgenreichen Fehler sie damit begangen hatte.

Sie ging ins Erdgeschoss, eine Hand am Treppengeländer. Die Schmerzen unter dem rechten Rippenbogen waren weniger schlimm als am Vortag, trotzdem erfüllten sie sie mit jener Niedergeschlagenheit, die sie nun allmorgendlich erfasste, im Laufe des Tags immer mehr zunahm und nach und nach ihre persönliche Geschichte vergiftete. In der Küche füllte sie den Teekessel und arrangierte Kekse mit Schokoladenguss auf einem Teller, dann bereitete sie eine Ladung dreieckiger Gurkensandwiches zu, holte ein Tablett aus dem Schrank unter der Spüle und stellte ihre schönsten Teetassen darauf. Früher hatte sie das gute Porzellan so gut wie nie verwendet. Sie hatte es mit Philip kurz nach der Hochzeit ausgesucht, und danach war jedes Jahr an ihrem Hochzeitstag ein Stück dazugekommen, anfangs begleitet von einem herrschaftlichen Expansionsdrang, später mit dem Gefühl, in einer Art Porzellankäfig gefangen zu sein. Sie hatten dieses Service in der Vitrine im Esszimmer aufbewahrt, in der nun Philips Urne stand. Lynn hatte dafür das oberste Fach leer geräumt und die Tassen und Untertassen von dort in die Küche verlagert. Mittlerweile benutzte sie das zart geblümte gute Porzellan jedes Mal, wenn sie sich eine Tasse Tee machte, stets begleitet von dem Gedanken, wie schade es doch war, dass sie es so lange nicht verwendet hatte.

Lynn hörte die Tür von Lukes Prius zufallen, gleich darauf klingelte er, aus reiner Höflichkeit, denn er hatte einen Schlüssel. Sie schaltete die Herdplatte ein und begab sich in den Korridor, wo sie durch das kleine Fenster verfolgte, wie die Freundin ihres Sohnes durch den Vorgarten hopste. Sie war so jung, so unbekümmert. Ihr Sohn lachte, entzückt über ihren Übermut. Vera schlang ihm die Arme um den Hals, und er ergriff ihre Hände und neigte den Kopf, um sie auf die Stirn zu küssen. Die Szene erinnerte Lynn vage an einen Tag, den sie irgendwo in einem Park verbracht hatte. Sie richtete sich zu ihrer vollen Größe auf, ehe sie die Tür öffnete. Luke überragte sie, obwohl er eine Stufe unter ihr stand. Hinter ihm trat Vera von einem Fuß auf den anderen und lächelte mit irritierender jugendlicher Begeisterung.

»Hallo, meine Lieben! Wie geht’s? Wie schön, dass ihr so spontan vorbeikommt. Immer rein mit euch.«

Sie führte sie ins Wohnzimmer, wo Luke es sich auf dem Sofa gemütlich machte, während Vera wie üblich neben ihm auf der Kante kauerte. Heute wirkte sie, als wäre ihr noch unwohler als sonst in ihrer Haut. Sie zupfte in einem fort an den langen blonden Haaren herum, die auf ihre blassen, jungen, knochigen Arme fielen. Luke nickte ihr zu, wie um sie zu beruhigen. In der gegenüberliegenden Ecke stand der Lehnstuhl, in dem Philip immer gesessen hatte. Auf der Sitzfläche zeichnete sich noch sein Abdruck ab.

»Bin sofort bei euch«, rief Lynn von der Schwelle aus. »Das Teewasser sollte gleich kochen.«

»Keine Eile, Mutter. Ich mache inzwischen Feuer«, erwiderte Luke auf seine typische, zupackende Art. Als sie zurückkam, hantierte er allerdings noch immer mit den Kohlen. Sie unterdrückte ein Schmunzeln und deponierte das Tablett mit Tee, Keksen und Sandwiches souverän auf dem Mahagonisofatisch, dann bedeutete sie Luke, zur Seite zu treten, und machte sich mit dem Rücken zu ihren Gästen am Kamin zu schaffen. »So … Voilá, geschafft.« Mit triumphierender Miene ließ sie sich den beiden gegenüber nieder. Vera hatte begonnen, den Tee auszuschenken, in dem Bestreben, einen guten Eindruck zu machen. Sie hatte einige Mühe mit der Kanne, die man leicht nach links kippen musste, damit sie nicht tropfte, doch Lynn beschloss, dieses kleine Detail für sich zu behalten. Wie schon beim vorigen Besuch. Endlich hatte Vera es geschafft, eine Tasse zu füllen. »Milch und Zucker, Mrs Hunter?«, flötete sie.

»Gott bewahre. Nur eine Zitronenscheibe.«

Vera reichte ihr die Tasse, wobei etwas Tee auf die Untertasse schwappte. Lynn tupfte die Flüssigkeit mit einer Serviette auf, ehe sie die Tasse auf dem Beistelltisch neben ihrem Fauteuil abstellte.

»Na, funktioniert Ihre Waschmaschine wieder?«, erkundigte sich Vera und schickte sich an, eine zweite Tasse einzuschenken, doch statt sich auf die Teekanne in ihrer Hand zu konzentrieren, tauschte sie einen verstohlenen Blick mit Luke, sodass erneut etwas danebenging. Lynn kannte diese Art von Blick. Die beiden heckten etwas aus.

Sie erhob sich. »Danke, Vera, ich übernehme den Rest.« Vera überließ ihr lächelnd die Kanne, wobei nicht ersichtlich war, ob sie sich widerstrebend geschlagen gab oder aus echter Dankbarkeit lächelte. Bis jetzt hatte es keine offizielle Kriegserklärung gegeben, aber Vera war die erste von Lukes Freundinnen, bei der Lynn das Gefühl hatte, auf der Hut sein zu müssen. Sie hob die Augenbrauen, goss mit einer geübten Handbewegung den Tee in die verbliebenen beiden Tassen und hielt ihren Gästen dann den Teller mit den Sandwiches hin.

»Oh, nein, danke, ich bin pappsatt. Wir hatten gerade ein riesiges Frühstück«, wehrte Vera ab und wirkte betreten, als Luke eilfertig »Ich nehme eins, Mutter« sagte.

»Zwing dich nicht, wenn du keinen Hunger hast. Ich hatte sie schon gemacht.«

Luke tat, als hätte er es nicht gehört, und nahm gleich zwei Sandwiches. »Die sehen köstlich aus.«

Dann saßen sie eine Weile alle drei sehr aufrecht da, nippten dann und wann an ihrem Tee und lauschten Lukes Kaugeräuschen. Normalerweise hätte Lynn sich bei Vera nach ihren Eltern erkundigt, nach ihrer Arbeit, nach ihren Plänen für das Wochenende, doch heute konnte sie den Gedanken nicht ertragen, sich die Antworten anhören zu müssen. Vera konnte kaum still sitzen, ihr Blick huschte über die zahlreichen Regale, in denen die Bücher dicht an dicht standen. Lynn hatte jedes einzelne davon gelesen, mit Ausnahme der Lexika und Enzyklopädien sowie einiger alter juristischer Nachschlagewerke von Philip. Schließlich verkündete Luke: »Wir haben Neuigkeiten, Mutter.«

»Ach ja?« Lynn stellte die Tasse wieder hin und runzelte die Stirn, weil sie einen stechenden Schmerz in der Seite verspürte.

»Es sind erfreuliche Neuigkeiten«, schob Luke, dem es nicht entgangen war, mit einem besorgten Blick hinterher.

Es war nicht seine Schuld, das wusste sie, trotzdem ärgerte es Lynn. Sie würde es ihnen bald sagen müssen. »Gut«, erwiderte sie knapp.

»Es ist eine ziemlich große Sache …«

»Na, dann mal raus damit!« Im Gegensatz zu Philip hatte sie nie dazu tendiert, bei der Bekanntgabe schlichter Fakten die Spannung unnötig zu steigern.

Lukes Hand wanderte über das alte Sofa hinweg zu Veras. Er stellte die Beine ordentlich nebeneinander ab, legte sogleich wieder ein Bein über das andere, hüstelte. »Nun, ich habe Vera gefragt, ob sie mir die Ehre erweisen würde, meine Frau zu werden. Und sie hat ja gesagt. Wir werden heiraten, Mutter!«

Das Feuer knisterte. Nebenan pfiff der Teekessel – Lynn hatte ein zweites Mal Wasser aufgestellt, in der Annahme, dass sie eine weitere Kanne brauchen würden. Ein brennender Schmerz in der Seite ließ sie das Gesicht verziehen.

Luke musterte sie erwartungsvoll.

»Habt ihr euch das auch gut überlegt?«

Vera zuckte zusammen, Luke dagegen lachte. »Natürlich haben wir das, Mutter!«

Lynn verzog erneut das Gesicht und gab sich Mühe, nicht nochmal die Stirn zu runzeln. So heftig war der Schmerz überhaupt noch nie gewesen. »Ja, natürlich.«

Es entstand eine Pause, während die beiden darauf warteten, dass sie fortfuhr. Lynn setzte sich unbeholfen etwas anders hin.

»Deiner Mutter hat es ganz offensichtlich die Sprache verschlagen«, scherzte Vera halbherzig.

»Freust du dich nicht für uns, Mutter?«

»Doch, natürlich.« Lynn nahm ihre geblümte Tasse zur Hand, stellte sie wieder hin und schüttelte den Kopf vor Zorn über die Schmerzen. Sonst gelang es ihr so gut, ihre Symptome zu kaschieren. Sie stand auf. »Selbstverständlich freue ich mich.«

»Du wirkst aber nicht sonderlich erfreut«, bemerkte Luke.

»Ach, nein?« Sie tat, als wollte sie ihr Kleid zurechtzupfen, und bohrte sich dabei unauffällig den Finger in die Seite, in die schmerzende Stelle.

»Nein, du machst ein ganz finsteres Gesicht, Mutter!«

»Es ist eine wunderbare Neuigkeit, Luke«, erwiderte Lynn hölzern und setzte ein gezwungenes Lächeln auf. Dann drehte sie sich um und griff nach ihrer Teetasse auf dem Beistelltisch, wobei sie unauffällig ein klein wenig der brennenden Luft ausatmete und sich rüstete, ehe sie sich wieder ihren Gästen zuwandte, die heimlich beschwörende, verwirrte Blicke austauschten.

»Die Sache ist die …«, fuhr Lynn abrupt fort, »es könnte sein, dass ich die Hochzeit nicht miterleben werde.«

Jetzt hatte sie die volle Aufmerksamkeit ihres Sohnes. Er erhob sich. »Was soll das heißen, Mutter? Wir haben doch noch gar kein Datum festgelegt. Willst du verreisen?«

»Nein, Luke«, sagte Lynn bedächtig. »Ich werde sterben.«

Lynn legte sich auf das breite Doppelbett, das sie sich mit Philip geteilt hatte, schob sich ein Kissen unter die Beine und schloss die Augen. Ohne das Kleid und die einengende Strumpfhose hätte sie es weitaus bequemer gehabt, doch sie behielt beides an und dachte stattdessen an Luke. Sie hatte nur seinetwegen eingewilligt, sich ein wenig hinzulegen. Auf ihrem Eichenholznachttisch stand ein Foto, das ihn als vierjährigen Jungen zeigte, ernst und aufrecht vor Philip stehend, daneben sie mit John auf dem Arm, der damals noch ein Kleinkind war. Lynn musste nicht die Augen öffnen, um ihre Söhne in diesem Alter vor sich zu sehen. Schon damals war ihr unterschiedliches Wesen deutlich zutage getreten: John – zappelig, hübsch, emotional und sensibel – war ein richtiges Muttersöhnchen gewesen und hatte geweint, wann immer sie kurz den Raum verließ. Luke dagegen hatte sich gegen Umarmungen gewehrt und Anstalten gemacht, seinem Vater in die Kanzlei nachzufolgen. Er hatte sich neben Philip vor den Spiegel gestellt und sich nach seinem Vorbild die Haare mit Wasser nach hinten gekämmt, und beim Einkaufen hatten seine Finger stets Lynns Hand umklammert, in dem Drang, sie zu beschützen. Und nun würde er heiraten. Ein hübsches junges Ding, dem noch alle Möglichkeiten offenstanden, mit faltenfreien Fingern, mit denen er die seinen verschränken würde.

Laute Stimmen drangen von unten an ihr Ohr. Vera war fast unmittelbar danach gegangen. In diesen grauenhaften ersten Sekunden hatte sie nach Lukes Hand getastet und mitfühlende Worte gemurmelt, darum bemüht, sich die Enttäuschung darüber, dass sich der Nachmittag so entwickelt hatte, nicht anmerken zu lassen. Doch Luke hatte sie gebeten zu gehen, und dann hatte er sich von Lynn die Telefonnummer ihres Arztes geben lassen und mit selbigem fast eine Stunde telefoniert. Zu guter Letzt hatte er John angerufen und herbestellt, obwohl seine Probe noch nicht zu Ende war. Als sei Eile geboten wegen dieses Leidens, das sie ihnen schon seit Wochen verheimlichte, als gäbe es noch etwas, das man dagegen unternehmen konnte.

Nun saßen ihre Söhne unten am Küchentisch und zankten sich. Es überraschte Lynn nicht, dass sich für die beiden auch in dieser Angelegenheit wieder einmal alles ausschließlich um sie selbst drehte – um ihren Kummer, ihre Verantwortung, ihre Rivalität. Genau das war es, worum man Lynn schon die ganze Zeit betrogen hatte: eine eigene Geschichte. Da passte es ins Bild, dass man sich auch ihres Todes bemächtigte. In jenen ersten Tagen, nachdem ihr der Arzt eröffnet hatte, dass sich der Krebs ausgehend von ihrer Brust über die Lungen bis in die Leber gefressen hatte und sie seiner Ansicht nach nur noch einige wenige Monate zu leben hatte, selbst, wenn sie sich behandeln ließ, hatte sie oft darüber nachgedacht, wo genau ihr ihre Geschichte abhandengekommen war, ihr eigenes Leben. Wann und wo sie es verlegt hatte. Denn genau so fühlte es sich an – wie eine To-do-Liste, die sie irgendwo hatte liegen lassen. Ein Gegenstand, den sie aus den Augen verloren hatte, der verschütt gegangen war, der aber unzweifelhaft noch zu ihr gehörte, ähnlich wie bei den Kriegsveteranen, die sich einbilden, verlorene Gliedmaßen noch spüren zu können.

Wann war es geschehen?

Sie konnte es nicht genau sagen. Es ließ sich nicht an einem konkreten Zeitpunkt festmachen. Es war ein Prozess gewesen, schleichend und unbemerkt, genau wie ihre Krebserkrankung. Die Zukunft, die eben noch verheißungsvoll glitzernd vor ihr gelegen hatte, war urplötzlich zu einem müden, trüben Kielwasser mutiert, ein Kontrast, der manchmal nur schwer zu ertragen war. Die Sommer hatten sich unbemerkt von hinten angeschlichen in jenen Tagen, Jahren, in denen sie noch forsch und ambitioniert gewesen war, die Gattin des Neuen, vor der alle Hochachtung oder gar Angst verspürt hatten. Sie hatte der Generation von Frauen angehört, die sich glücklich schätzen konnten ob der sich ihnen bietenden Möglichkeiten, ob der Tatsache, dass ihnen die ganze Welt offenstand, vorausgesetzt, sie waren mutig genug, die Gelegenheit beim Schopf zu packen. Niemand hatte damals damit gerechnet, dass ausgerechnet sie, die intelligente, burschikose, willensstarke Lynn, sich für ein Dasein als ordnungsliebendes Heimchen am Herd entscheiden würde, mit Teeservice und allem Drum und Dran. Für ein Leben, wie schon ihre Mutter es geführt hatte. Nicht einmal sie selbst hätte damit gerechnet, und sie hätte sich wohl auch nicht dafür entschieden, hätte sie in jenen Stunden, in denen sie neben Philip am Flussufer gelegen hatte, geahnt, wofür sie sich entschied. Dass sie sich entschied.

War es seine Schuld gewesen?

Lynn wusste es nicht mehr. Ein Schleier hatte sich ohne Vorwarnung über ihre Erinnerungen gesenkt. Sie konnte nicht mehr sagen, ob es ihr eigener oder Philips Wunsch gewesen war, dem sie sich gefügt hatte, ob es ihr eigener Vorschlag gewesen war oder der ihres Mannes, dass sie zu Hause blieb, statt ihren Master und danach Karriere zu machen. Wer dafür verantwortlich war, dass sie ihre Geschichte geopfert hatte.

Mrs Hunter.