Der Sissi-Mord - Jenna Theiss - E-Book
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Jenna Theiss

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  • Herausgeber: Piper ebooks
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

Jenna Theiss lässt den letzten Vorhang fallen: Ein fein durchkomponierter österreichischer Regiokrimi aus der Sissi-Stadt Bad Ischl Ein Toter an der Orgel der evangelischen Kirche in Bad Ischl – ausgerechnet Josi Konarek findet die Leiche, als sie nach 25 Jahren für einige Tage in ihre ungeliebte Geburtsstadt zurückkommt. Der Tote ist der designierte musikalische Leiter des Musicals »Elisabeth«, das im Sommer im Rahmen des Lehár-Festivals aufgeführt werden soll. Was zunächst aussieht wie ein Herztod, stellt sich als Mord durch eine Überdosis Insulin heraus. Chefinspektor Paul Materna und sein Team ermitteln - und stoßen auf erstaunlich viele Verdächtige ...

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www.piper.de

 

ISBN 978-3-492-98420-1

© 2018 Piper Verlag GmbH, München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Scripta Literaturagentur, 80636 München.

Redaktion: Franz Leipold

Covergestaltung: Favoritbüro, München

Covermotiv: saiko3p/shutterstock; gyn9037/shutterstock

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

 

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich der Piper Verlag die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

Inhalt

Cover & Impressum

Zitat

Prolog

Mittwoch, 3. Dezember

Donnerstag, 4. Dezember

Freitag, 5. Dezember

Samstag, 6. Dezember

Sonntag, 7. Dezember

Montag, 8. Dezember

Dienstag, 9. Dezember

Mittwoch, 10. Dezember

Epilog – Glöcklerabend

GLOSSAR

Zu guter Letzt – Danke

Zitat

Oh, dass ich nie den Pfad verlassen,

der mich zur Freiheit hätt’ geführt.

Oh, dass ich auf der breiten Straße

der Eitelkeit mich nie verirrt!

Mai 1854, Elisabeth von Österreich

Prolog

Sie raffte die Röcke, als sie den Laubengang zu den kaiserlichen Stallungen hinaufrannte, fast flog. Der volle Mond warf sein Licht auf die Holzstufen. Wie immer hatte sie das Mieder extrem festgezurrt, um ihre Wespentaille zur Geltung zu bringen; dennoch kam sie kein bisschen außer Atem. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Sie konnte stolz sein auf ihren durchtrainierten Körper. Und sie würde ihn immer weiter stählen, bis zur Vollkommenheit. Zur absoluten Vollkommenheit!

Oben, an der Remise angekommen, hielt sie kurz inne. Dann schritt sie über den Hof auf das riesige Holztor zu, das die Anlagen des kaiserlichen Marstalls vom Park trennte. Mit energischem Klopfen forderte sie Einlass.

Er öffnete sofort und versank in eine tiefe Verbeugung. »Kaiserliche Hoheit!«

»Ist gut, Franz.« Sie klappte ihren schwarzen Seidenfächer auf, fächelte sich etwas Luft zu und betrachtete ihn wohlwollend, als er sich aufrichtete. Ein stattlicher Bursche.

»Wie letztes Mal, Kaiserliche Hoheit?«

»Wie letztes Mal, Franz.« Sie fasste in die Falten ihrer Röcke, zog ein kleines Kärtchen hervor und reichte es ihm.

»Ergebensten Dank, Kaiserliche Hoheit«, sagte der Mann mit belegter Stimme.

Er räusperte sich, nachdem sie sich mit ihren anmutigen, leichten Schritten ein Stück von ihm entfernt hatte, und sah ihr nach, wie sie schließlich in der Weite des nächtlichen Parks verschwand. Er hielt das Kärtchen nahe vor sein Gesicht. Das Mondlicht reichte nicht aus, um die Schrift darauf zu entziffern, aber ein blumiger Parfümduft stieg ihm in die Nase. Gierig sog er ihn ein. »Endlich!«, sagte er leise. »Endlich …«

Mittwoch, 3. Dezember

»Name?«, bellte der rundliche, rotgesichtige Polizist und schaute kurz vom Bildschirm auf.

Josis erster Impuls war es, ihm dieselbe Frage zu stellen. Sie beherrschte sich. Das hier war eine Behörde. Und sie war eine Zeugin. Sie hatte keine Chance, dem Ausgefragtwerden zu entkommen. Dabei hatte sie so gehofft, die paar Tage, die sie in Bad Ischl verbringen musste, nicht erkannt zu werden – und vor allem: von niemandem irgendetwas gefragt zu werden.

»Josephine Konarek«, antwortete sie ordnungsgemäß. »Moment …« Sie fummelte ihren Reisepass aus der Handtasche und händigte ihn dem Beamten aus.

Er legte ihn geöffnet neben den PC. Beim Lesen beugte er sich nach vorne und kniff die Augen zusammen, was seine Kurzsichtigkeit verriet.

Es roch ein wenig nach abgestandener Luft in der Polizeiinspektion Bad Ischl, wie wohl in den meisten Amtsstuben dieser Welt. Josis Blick glitt durch den Raum, streifte über die Wand gegenüber und hakte sich an dem unvermeidlichen Bild des österreichischen Bundespräsidenten fest. Keine Amtsstube ohne Bild des Bundespräsidenten. Alles war wie früher. Nur der Bundespräsident war ein anderer.

Der Polizeibeamte begann, die Angaben aus dem Pass umständlich, im Zwei-Finger-Suchsystem, in den Computer zu tippen. »Anschrift?«

»10719 Berlin, Uhlandstraße 27.«

»D-10719 Berlin …«, las er laut mit, während er schrieb, und betonte dabei das »D« vor der Postleitzahl. »Verheiratet?«

»Geschieden.«

»Geburtsname?«

»Boehm mit oe und h.« Er fügte ihren Mädchennamen konzentriert, aber unbeteiligt den anderen Daten hinzu. Offenbar sagte er ihm nichts. Wenigstens das.

»Beruf?«

Sie zögerte einen Moment. »Wissenschaftsjournalistin.«

»Schur-na-lis-tin«, sprach er mit, während er tippte.

»Na ja, eigentlich bin ich Psychologin.«

»Also was sind Sie jetzt? Journalistin oder Psychologin?«

»Ich habe Psychologie studiert und schreibe für verschiedene psychologische Zeitschriften.«

Er sah sie irritiert an. »Also Psychologin und Journalistin?«

Josi nickte.

Er gab ein undefinierbares Grunzen von sich, dann tippte er erneut.

»Sind Sie auf Urlaub in Ischl?«

Josi hätte am liebsten gesagt, dass sie den Teufel tun würde, ausgerechnet hier ihren Urlaub zu verbringen, aber sie riss sich zusammen.

»Ja«, sagte sie. »Ich mache Urlaub.«

»Frau Konarek, was war der Anlass von ihrem Besuch bei der Orgel droben in der evangelischen Kirche, also … ich mein …«

Auch wenn ihr gar nicht zum Lachen zumute war, verkniff sie sich ein Grinsen. Nach fast fünfundzwanzig Jahren in Deutschland klang das ziemlich komisch in ihren Ohren. »Ich interessiere mich für Orgeln. Ich spiele selbst ein wenig.« Sie war froh, dass ihr diese Lüge so schnell eingefallen war. So richtig gelogen war ja auch nur das Erste. Schließlich hatte sie als Kind und auch noch als junges Mädchen vom Vater ab und zu etwas Unterricht an der Orgel erhalten, auch wenn ihr das wenig Freude gemacht hatte.

»Aha. Also haben Sie den Herrn Koller tot vorgefunden, wie sie die Orgel anschauen wollten?«

»Ja. Er ist auf der Orgelbank gesessen. Eigentlich ist er nicht so richtig gesessen, also so irgendwie …« Sie verstummte.

»Weiß schon«, sagte der Polizist. »Das war um …? Wissen Sie die Uhrzeit?«

»Zehn. Die Kirchturmuhr hat gerade geschlagen.«

Er tippte kurz und fragte gleich weiter. »Was haben Sie gemacht, wie Sie den Herrn Koller gesehen haben?«

Josis Magen krampfte sich zusammen. »Ich habe … Ich hab gemerkt, dass er nicht mehr lebt.«

»Wie haben Sie das gemerkt? Haben Sie seinen Puls gefühlt?«

Ein Schauder kroch ihren Rücken hinauf und setzte sich in ihrem Nacken fest. »Ich habe ihm einen Spiegel vor den Mund gehalten.«

Der Polizist schaute sie kurz an. Dann nickte er und tippte Josis Antwort in das Protokoll. »Geht auch. Und dann?«

»Ich wollte bei der Polizei anrufen. Der Akku von meinem Handy war aber leer. Also bin ich zum Pfarrhaus gegangen und hab beim Pfarrer geläutet.«

»… geläutet bei Pfarrer Gerd Schäfer«, vervollständigte der Beamte und tippte alles in den Computer. »A Deitscher«, fügte er hinzu, was wohl eine rein private Feststellung war und daher nicht in Schriftsprache vorgetragen werden musste.

Josi nickte. »Ja, genau, der Herr Schäfer. Der hat gleich die Polizei angerufen. Dann sind wir zusammen kurz noch einmal nach oben auf die Empore gegangen. Der Pfarrer hat auch festgestellt, dass der Organist tot ist. Danach haben wir vor der Kirche gewartet. Ein Arzt – Dr. Wagner, glaub ich – ist fast zugleich mit dem Streifenwagen eingetroffen. Er hat gesagt, dass er gerade in der Nähe bei einem Hausbesuch gewesen ist.«

»Aha«, sagte der Beamte und tippte wieder.

Im selben Augenblick trat ein weiterer Uniformierter, ein großer, schlanker Mann mittleren Alters, durch eine Seitentür herein, beugte sich zu seinem Kollegen und flüsterte ihm etwas ins Ohr.

Der Polizist am Computer nickte, dann wandte er sich wieder an Josi. »Brauchen S’ vielleicht a Krisenintervention?«

»Eine – was?«

»Wir bieten Ihnen an, mit unserem Kriseninterventionsteam zu sprechen«, erklärte der neu Hinzugekommene. »Für den Fall, dass Sie das möchten. Es ist doch eine ziemliche Belastung, wenn man einen Toten findet.«

»Danke, ich komm schon klar.« Josi machte eine abwehrende Geste mit der Hand. Das fehlte gerade noch …

»Dann ist es gut. War nur ein Angebot.« Der Mann nickte ihr grüßend zu und verließ den Raum.

Der rotgesichtige Polizist druckte das Protokoll aus und schob es Josi zum Unterschreiben hin. »Bleiben S’ länger in Ischl?«

»Ich weiß es noch nicht genau. Ein paar Tage wahrscheinlich.« Sie kramte in ihrer Handtasche und reichte ihm ihre Karte. »Hier steht auch meine Handynummer drauf. Ich wohne beim Sandwirt.« Sie stand auf. »Und mit wem hab ich gesprochen?«, fragte sie jetzt doch.

Er schaute Josi mit gerunzelter Stirn an. »Revierinspektor Heininger«, antwortete er schließlich und heftete Josis Visitenkarte mit einer Klammer an das Protokoll.

»An Augenblick«, sagte er, als Josi sich zum Gehen wandte.

»Ja?«

»Ihren Geburtsort brauch ich noch.«

Josi schluckte. Sie hatte sich schon gedacht, dass er es übersehen hatte. Schließlich stand es im Pass, doch er hatte sie wie eine Touristin behandelt.

»Bad Ischl«, sagte sie schnell. Dann floh sie vor den neugierig blitzenden Augen des Herrn Revierinspektor Heininger ins Freie.

Die Sonne riss ihn aus dem Schlaf. Ungeachtet der Jahreszeit knallte sie durch die Fensterscheiben und schien alles daranzusetzen, den Linzern einen Bilderbuch-Wintertag zu bescheren.

Ein Blick auf die Uhr, und Paul Materna schoss im Bett hoch. So spät schon! Er wollte doch um jeden Preis den freien Vormittag genießen, die letzten Stunden mit Isabel.

Die Nacht war verdammt kurz gewesen. Er gähnte laut. Dann stand er auf und ging ins Bad.

Der Anblick seines Gesichts im Spiegel verriet ihm, dass er mit seinen 45 Jahren den Schlafmangel doch nicht mehr so locker wegsteckte wie früher. Er hatte deutliche Ringe unter den Augen.

Abgesehen von einem gemütlichen späten Frühstück mit seiner Tochter würde der Tag wohl wenig Erfreuliches zu bieten haben, dachte er, während er frisch geduscht in seine Jeans schlüpfte. Auf den Pressetermin um zwei hätte er liebend gern verzichtet. Er verabscheute Pressetermine, vor allem dann, wenn ein Fall noch nicht komplett abgeschlossen war wie der aktuelle. Er hasste die professionelle Sensationsgier der Journalisten, die Arroganz, die viele von ihnen zur Schau trugen, ihre abgehackten Schema-F-Fragen. Danach wartete jede Menge öder Schreibtischarbeit auf ihn. Und Isabel würde ihn heute auch schon wieder verlassen.

Als er die Tür zur Wohnküche öffnete, schlug ihm ein Duft entgegen, der ihn schlagartig mit jeder Unbill des Lebens versöhnte.

Isabel füllte gerade eine Palatschinke mit Marmelade und legte sie zu den anderen auf einen flachen Servierteller. Aus dem Radio dudelte Free Jazz. Sie drehte den Kopf zu ihm und lächelte. »Guten Morgen, Papa.«

»Palatschinken zum Frühstück! Du verwöhnst mich, Isi.«

Isabel zwinkerte ihm zu. »Sagen wir: Brunch. Wann bist du denn heimgekommen? Ich hab dich gar nicht gehört.«

»So um halb vier.« Er griff nach der Puderzuckerdose und ließ massenhaft Zucker über die goldgelb gebackenen Teigrollen rieseln.

Sie hielt ihn am Ärmel fest. »He – nicht so viel! Sonst kriegen wir noch einen Zuckerschock.« Sie trug die Schüssel zu dem liebevoll gedeckten Tisch in der Essecke. »Kommst du?«

Er nickte, griff nach der Kaffeekanne und trug sie hinüber. Sie setzten sich, und er füllte ihre Tassen.

»Und – habt ihr den Fall abschließen können?«, fragte Isabel, während sie etwas Milch in ihren Kaffee goss.

»Wir haben einen der Täter festgenommen, der andere ist noch flüchtig«, antwortete er ein wenig kurz angebunden. Sie hatten zuletzt in einem brutalen Mord an einer alten Frau ermittelt. Sie war in ihrer Wohnung überfallen, niedergeschlagen, gefesselt und ausgeraubt worden. Da sie nicht in der Lage gewesen war, sich selbst zu befreien, musste sie einen langsamen, qualvollen Tod erlitten haben. Trotz seiner langjährigen Routine als Kriminalbeamter gab es Dinge, die er nicht einfach wegsteckte. Jetzt darüber zu reden war das Letzte, was er wollte.

Er sog den Duft der frischen Mehlspeise ein und kostete. Warm und süß zerging sie auf seiner Zunge. »Traumhaft!« Er spießte ein weiteres Stück auf die Gabel.

Ein prüfender Blick seiner Tochter traf ihn, aber sie fragte nicht weiter.

»Gibst mir den Zucker bitte?«, bat er.

Isabel lächelte ein wenig schief. Sie reichte ihm das Gewünschte und sah ihm kopfschüttelnd zu, wie er vier Würfel in seinen Kaffee tat. »Bei deinem Konsum an Süßem müsstest du eigentlich breiter als lang sein.«

»Bin ich aber nicht.« Wie um sich zu vergewissern schaute er an seiner langen, dünnen Gestalt hinunter. Genüsslich steckte er den nächsten Bissen in den Mund. »Schmeckt super! Willst du nicht doch lieber hierbleiben?«

Sie lachte. »Zum Mehlspeisen backen? Das könnte dir so passen. Kannst mich ja bald mal besuchen. Ich bin gespannt, ob du das schaffst.«

»Hm …«, brummte er. Er lud sich eine weitere Palatschinke auf den Teller und begann, sie mit der Gabel in mehrere Stückchen zu zerteilen. Dann spießte er ein goldgelbes Teigstück nach dem anderen auf, als wolle er eine Art Palatschinken-Schaschlik fabrizieren, und betrachtete sein Werk. Sie hatte ja recht. Dass geplante Unternehmungen aller Art aus beruflichen Gründen ins Wasser fielen, war eher die Regel als die Ausnahme. Schon immer war das Privatleben dem Job untergeordnet gewesen. Seine Ehe war daran zerbrochen; aus denselben Gründen waren ein paar weitere, eher halbherzige Beziehungsversuche gescheitert. Seiner Tochter gegenüber hatte er immer ein schlechtes Gewissen gehabt. Dabei war er früher noch nicht ganz so eingespannt gewesen wie heute, wo er als Chefinspektor der Abteilung Leib und Leben des LKA vorstand.

»Ich hoffe es halt, aber versprechen kann ich nichts. Du weißt ja …« Er seufzte leise. »Deine Mutter hat schon recht gehabt, wenn sie gesagt hat, ich bin nur mit meinem Beruf verheiratet.«

»Na ja, die Mama …«, begann Isabel. Sie wurde vom Läuten seines Handys unterbrochen.

»Ich bin nicht da«, schimpfte er. »Ich hab die Pest. Oder die Cholera.« Er zog das Telefon aus der Brusttasche seiner Jacke und schaute auf das Display. »Conni, was gibt es?«

»Hallo, Paul. Der Pressetermin ist auf zwölf Uhr vorverlegt worden«, sagte sein Kollege. »Der Oberst möcht dich als leitenden Ermittler natürlich unbedingt dabei haben. Musst halt leider doch schon früher kommen.«

»Ah geh, so ein Mist!«, schimpfte Materna. Er hielt das Telefon in der linken Hand, mit der rechten hieb er auf die restlichen Teigstücke auf seinem Teller ein, als wolle er diese harpunieren. »Ja, also, dank dir schön, Conni. Bis nachher. Servus.«

»Ich weiß ja nicht, was los ist – die Palatschinke kann jedenfalls nix dafür«, bemerkte Isabel.

»Pressekonferenz. Um zwölf.« Er steckte das Handy ein.

»Und?« Sie schaute auf die Uhr. »Das schaffst du locker.«

»Schon, aber ich wollte dich doch noch zum Zug bringen.«

Sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange. »Kein Problem. Fahr ich halt mit dem Taxi.«

Er schaute sie an. Sie war ganz anders als ihre Mutter, auch wenn sie ihr mit denselben dunklen Augen und Haaren und der zierlichen Gestalt äußerlich unglaublich ähnlich sah. Isabel war unkompliziert und herzlich. Intensiv spürte er in diesem Augenblick, wie sehr er sie liebte – so sehr, dass es sich fast wie ein Schmerz in seiner Brust anfühlte.

»Vielleicht schaff ich es hinterher ja noch zum Bahnhof, wenigstens zum Winken.«

»Geh, Papa, ich fahr nach Tirol und nicht nach Australien!«

Er schnaufte kräftig durch die Nase, legte sein Besteck auf den Teller, die Serviette daneben, und stand auf. »Gut war’s, danke! Ja – bleibt nichts anderes übrig, ich muss dann …«

Er ging in sein Arbeitszimmer, um seine Sachen zu holen. Auf dem Weg zurück in die Küche hielt er inne, blieb in der Tür stehen und lauschte.

Die Jazzsendung im Radio war zu Ende. Eine weibliche Stimme kündigte die Themen der aktuelle Stunde an.

»Was hat sie gesagt?«, fragte er.

»Wer?«

»Die Sprecherin.«

»Ach so. Sie hat gesagt, dass sie gleich ein Interview mit dem neuen Intendanten des Lehár-Festivals in Bad Ischl bringen.«

»Das hab ich schon gehört. Ich meine, davor. Woran ist der Vorgänger plötzlich verstorben?«

Sie schüttelte lächelnd den Kopf. »Kein Mord, Papa! Der Mann war krank. Du bist wirklich mit deinem Beruf verheiratet.«

Mit einem zufriedenen Seufzer nahm Eisler auf dem bequemen Ledersessel an seinem Schreibtisch Platz. Die Operation war kompliziert und anstrengend gewesen. Allmählich spürte er, dass er nicht mehr der Jüngste war. Immerhin war alles gut verlaufen. Er konnte mit sich und seinem Team zufrieden sein.

Jetzt brauchte er einen guten, starken Tee. Im selben Moment, in dem er seine Sekretärin darum bitten wollte, welchen zu kochen, läutete sein Telefon.

»Herr Professor, der Herr Dr. Wagner für Sie«, vernahm er ihre Stimme.

»Danke, Bärbel, stellen Sie durch. Ach – und würden Sie vielleicht einen Tee machen?«

»Ist gerade fertig, Herr Professor.«

»Wunderbar.« Eisler nickte zufrieden. Sie war ein echter Schatz, seine Sekretärin.

Es knackte in der Leitung.

»Servus, Peter«, hörte er die Stimme seines alten Freundes Karl Wagner. »Du, ich möchte dich um einen großen Gefallen bitten.«

»Nur zu.«

Bärbel betrat mit einem kleinen Tablett das Büro. Eine Tasse Tee, ein Kännchen Milch und Zucker standen darauf.

Eisler nickte ihr dankend zu. »Schieß los, Karl«, forderte er den Freund auf.

Genussvoll sog er den Duft des Getränks in die Nase, schüttete ein wenig Milch in die Tasse und nahm den ersten Schluck ganz bewusst.

»Georg Koller ist heute Vormittag tot aufgefunden worden«, sagte Wagner.

Eisler brachte kein Wort heraus. Mechanisch stellte er die Teetasse ab.

»Peter? Bist du noch dran?«

»Ja, ja.« Eisler atmete tief durch.

»Entschuldige – ich hab ganz vergessen, dass du ihn ja gut gekannt hast. Es ist auch ein Verlust für dich.«

»Ja. Georg Koller ist ein großer Verlust. Für mich, für die Kulturszene, für Ischl und für alle, die ihn gekannt haben.« Er machte eine kleine Pause. »Und worum wolltest du mich bitten?«

»Ich hab noch keinen Totenschein ausgestellt. Im Grunde ist es klar, dass er an einem Herzinfarkt verstorben ist. Es war ja leider zu befürchten, dass sein Herz auf Dauer die starke Arbeitsbelastung nicht mitmacht. Aber weil halt die Polizei mit der Sache befasst ist, wollte ich dich bitten, dass ihr im Krankenhaus auch noch einmal draufschaut.«

»Die Polizei befasst sich mit seinem Tod? Aber warum denn?«

»Eine Touristin hat ihn in der evangelischen Kirche an der Orgel gefunden und zusammen mit dem Pfarrer die Polizei gerufen.«

»Oh, mein Gott! Wo ist er jetzt?«

»Schon bei euch. Ich wollt’ dir schon vorhin Bescheid sagen, hab dich aber nicht erreicht.«

»Gut, ich geh gleich runter. Ich melde mich dann bei dir.«

»Danke, Peter. Bis später also.«

»Bis später. Auf Wiederhören, Karl.«

Eisler stand auf. Ob Baumann noch im Keller war? Vielleicht saß der Pathologe ja gerade beim Essen, und es ergab sich die Gelegenheit, dass er ein paar Augenblicke lang mit dem Toten allein sein konnte. Er nahm seinen Kittel vom Haken, zog ihn über und machte sich auf den Weg zum Lift.

Als Josi vor dem Gebäude der Polizeiinspektion die Handschuhe anziehen wollte, bemerkte sie, dass ihre Hände zitterten. Auch die Magenschmerzen, die sie bei jedem ihrer seltenen Besuche in Bad Ischl überfielen – und die endlich nachgelassen hatten –, meldeten sich zurück. »Scheiß Kaff!«, fluchte sie, während sie in ihren Winterstiefeln auf den Golf zu stapfte.

Sie riss die Autotür so heftig auf, dass der Dackel aus dem Schlaf hochschreckte. »Servus, Poldi, da bin ich endlich! So lang bist du jetzt im Auto gesessen, du Armer. Gleich darfst du raus.«

Sie stieg ein und strich dem Hund über das borstige Fell. Dann schaltete sie die Standheizung aus. Ihr Blick fiel auf das Hotelverzeichnis, das noch immer auf dem Beifahrersitz lag. Willkommen in Bad Ischl, dem Herzen des Salzkammerguts, stand darauf. Sie schnaufte kräftig durch die Nase und warf es ins Handschuhfach. Nach einem kurzen Moment der Besinnung ließ sie den Motor an und fuhr zurück Richtung Stadtzentrum.

Am Adalbert-Stifter-Kai parkte sie den Golf, stieg aus und zog einen Parkschein. Sie blieb einen Augenblick lang stehen und schaute sich um. Es fühlte sich unwirklich an, in dieser Stadt zu sein, die ihr so vertraut und zugleich vollkommen fremd war.

Sie zog ihre Wollmütze etwas tiefer ins Gesicht und ließ das darunter hervorquellende dicke rote Haar hinter dem Schal verschwinden. Dann hob sie den Dackel aus dem Auto und leinte ihn an.

Für Poldi war es allerhöchste Zeit, nach draußen zu kommen. Gleich beim ersten Baum riss er eines seiner kurzen Hinterbeine hoch, und ein nicht enden wollender Strahl rieselte gegen den Stamm. Das war kein Eintrag in die Hundezeitung. Das war Rettung in letzter Minute.

Josi wählte den Weg entlang der Traun. Sie ging an der alten Saline und dem Sportplatz vorbei, während ihre Gefühle Flickflacks sprangen. Dieser Vormittag hatte sie an die Grenzen ihrer Kraft gebracht. Die ganze letzte Zeit war belastend gewesen, die Trennung von Bernhard, aber auch der konstante Ärger mit ihren Ischler Mietern. Und jetzt, wo sie wild entschlossen gewesen war, das Problem zu lösen, hatte sie ihr Häuschen verwahrlost, verdreckt und verlassen vorgefunden. Sie blieb kurz stehen und seufzte tief auf. Sie musste eine Firma beauftragen, das Haus zu renovieren. Morgen würde sie mit dem Anwalt sprechen, Marie-Sophie aufsuchen, die hoffentlich noch in Ischl wohnte, und dann so schnell wie möglich wieder von hier verschwinden.

Hinter dem Bahnhof überquerte sie den Fluss an der Steinfeld-Brücke und bog in den Weg am anderen Traunufer ein, den der Vater früher immer die grüne Steiermark genannt hatte. Ob dieser Teil der Maxquellgasse jemals offiziell so geheißen hatte, wusste sie nicht. Grün war hier zurzeit jedenfalls gar nichts.

Bei jedem Schritt knirschte der Schnee unter den Füßen. Josi ließ den Poldi von der Leine, der sich gleich darauf wie ein kleiner Schneepflug über die verschneite Wiese am Traunufer schob. Winterwunderland, Vorweihnachtszauber wie aus dem Bilderbuch. Aber Bad Ischl sah ja meistens postkartengerecht-fremdenverkehrsförderlich-idyllisch aus – nach außen wenigstens. Eine Liedzeile aus einer Lehár-Operette ging ihr durch den Kopf: Doch wie’s da drin aussieht, geht niemand was an – oder so ähnlich. Ob es das Lehár-Festival im Sommer noch gab? Sie nahm sich vor, ihre Wirtin zu fragen.

An der Maxquelle angekommen, blieb sie einen Augenblick stehen. Das Quellbecken war jetzt im Winter mit Holz verhüllt. Die Bänke links und rechts davon ragten wenig einladend aus dem Schnee. Ein paar Sonnenstrahlen bahnten sich ihren Weg durch das Geäst der kahlen Kastanien und streichelten ihr Gesicht. Sie sog die prickelnde Winterluft durch die Nase tief in die Lungen. Josi lächelte, als sie auf einmal das kleine Mädchen vor sich sah, das sie einmal gewesen war.

»Nicht, Papa, hier darfst du nicht sitzen! Die Bank ist doch nur für Kurgäste.«

»Komm her, Joserl. Sind wir halt zwei Kurgäste.«

Josi schüttelte heftig den Kopf, und ihr Traum verflog so rasch, wie er gekommen war. Mit der Hand strich sie den Schnee von der Rückenlehne der Bank. Natürlich trug diese die alberne Aufschrift Nur für Kurgäste nicht mehr.

Ihr Blick fiel auf einen Abfalleimer. Sie suchte in ihrer Umhängetasche nach dem Schminkspiegel. Es war der, den sie benutzt hatte, um zu überprüfen, ob der Mann an der Orgel wirklich tot war. Mit spitzen Fingern ließ sie ihn samt Hülle in den Eimer gleiten und schnaufte befreit durch.

Niemand hatte von ihr wissen wollen, ob sie den Toten gekannt hatte, der Pfarrer nicht, und der Polizist ebenfalls nicht. Genaugenommen hatte sie das auch nicht. Sie hatte eher von ihm gehört, als dass sie ihn persönlich gekannt hätte. Sein Vater, Franz Koller, war Leiter der Musikschule gewesen, als Josi noch ein Kind war, und der erste Cellolehrer ihrer Freundin Sibylle. Er hatte auch manchmal in der Kirche Cello gespielt, wenn zu Weihnachten Werke mit Orchester aufgeführt worden waren. Von seinem Sohn Georg Koller hatten die Leute gesagt, er würde ein großer Dirigent werden. Er hatte damals noch studiert. Sie war jetzt 43, also musste Georg Koller Mitte bis Ende 50 gewesen sein.

Der Arzt hatte etwas von einem Herzinfarkt erwähnt, das hatte sie noch mitbekommen. Wie konnte er das nach einem ersten Blick auf den Toten so bestimmt behaupten? Niemand hatte von ihr wissen wollen, ob ihr irgendetwas aufgefallen war oder Ähnliches. Spielte ihr etwa ihre Krimi-Leidenschaft einen Streich? Waren solche Fragen in der Realität vielleicht völlig überflüssig? Oder hatte sich einfach nichts geändert, im Herzen des Salzkammerguts? Vermutlich war es immer noch äußerst wichtig, dass Sissi-Ischl nach außen hin sauber blieb, sodass man alles, was nicht zum Image passte, eben ignorierte oder unter den Teppich kehrte.

Josi versuchte, an etwas anderes zu denken, während sie weiter die Maxquellgasse entlang schlenderte. Es misslang. Am Stelzhammer-Kai pfiff sie dem Poldi und leinte ihn an. Vor dem Steg, der über die Traun zurück zu ihrem Parkplatz führte, nahm sie ihn auf den Arm und trug ihn die Stufen hoch.

Mitten auf der schmalen Brücke blieb sie abrupt stehen. Sie setzte den Hund auf den Boden und starrte hinunter auf den Fluss, in dessen eisigem Wasser sich zwei Schwäne treiben ließen.

Die Erkenntnis kam schlagartig. Mit einem Mal war ihr klar, was sie zu tun hatte.

»Tut mir leid, Poldi«, sagte sie zum Dackel. »Du musst noch einmal ins Auto.«

Die Polizisten hatten den Streifenwagen direkt vor der Koller-Villa geparkt.

»Komm, Flo, fahren wir«, sagte Abteilungsinspektor Maurer zu seinem jungen Kollegen. »Da ist keiner.«

Florian Unterberger nickte.

Sie waren gerade im Begriff einzusteigen, als ein weinroter Mini Cooper in die schmale Straße einbog und direkt vor ihnen hielt. Eine hochgewachsene Dame in einem grünen Lodenmantel entstieg dem Fahrzeug. Ein paar Silberfäden zogen sich durch ihr dunkles Haar, das sie im Nacken zu einem Knoten gedreht hatte.

»Wollen Sie zu mir?« Sie legte den Kopf schief und sah die beiden Polizisten mit leicht zusammengekniffenen Augen an.

»Sind Sie die Frau Schindler? Katrin Schindler?«

»Ja. Bin ich zu schnell gefahren? Hab ich falsch geparkt?«

»Frau Schindler, dürfen wir vielleicht hereinkommen? Abteilungsinspektor Maurer. Das ist mein Kollege, der Revierinspektor Unterberger.«

»Schon, aber …« Katrin Schindler schüttelte irritiert den Kopf. Sie wühlte in ihrer Handtasche nach dem Hausschlüssel und sperrte auf. »Ich darf vorgehen. Bitte schön.« Sie öffnete die Haustür.

»Georg?«, rief sie laut, als sie den Flur betrat. »Georg, bist du noch da?« Sie öffnete die Tür zu einem großen, hellen Wohnzimmer und lud die Polizisten mit einer Geste zum Eintreten ein.

Florian Unterberger warf seinem Kollegen einen hilflosen Blick zu.

»Frau Schindler«, begann Maurer. »Könnten wir uns vielleicht setzen?«

Kollers Freundin fuhr sich mit den Fingern durch die Haare, ehe sie auf das Ledersofa vor dem Kamin deutete. »Bitte.«

Die Polizisten warteten, bis sie auf einem der mächtigen Sessel ihnen gegenüber Platz genommen hatte, dann setzten sie sich auch.

Maurer räusperte sich. »Wir haben leider eine sehr traurige Nachricht für Sie.«

»Ist etwas passiert?«

»Ihr Lebensgefährte Georg Koller ist heute in der Früh in der evangelischen Kirche tot aufgefunden worden.«

Katrin Schindler sah ihn eher interessiert als schockiert an. Auf einmal bewegte sie langsam den Kopf hin und her. »Sie irren sich. Der Georg hat heute eine Probe für ein Weihnachtskonzert in Linz. Er ist bestimmt schon losgefahren.« Ihre Stimme hatte den geduldigen Tonfall, mit dem man einem kleinen Kind etwas erklärt. »Er hat ziemlich viel zu tun, wissen Sie …« Sie brach plötzlich ab, und ihr Blick wurde starr. »Sie meinen, er ist … tot?« Unvermutet sprang sie von ihrem Sessel auf. »Das kann nicht sein.«

»Es tut mir sehr leid, Frau Schindler«, sagte Inspektor Maurer leise.

Sie begann, leicht zu schwanken. Florian Unterberger packte blitzartig zu und veranlasste sie mit sanftem Nachdruck, sich wieder zu setzen.

»Brauchen Sie einen Arzt?«, fragte Maurer.

Sie schüttelte den Kopf. »Das Herz? War es das Herz? Der Georg … es war doch alles recht gut mit dem Herz in letzter Zeit, ich mein …« Sie starrte Maurer an, als hoffe sie immer noch auf ein erlösendes Wort von ihm.

Der nickte. »Dr. Wagner geht davon aus.«

»Dr. Wagner ist unser Hausarzt. Er kennt den Georg gut, ich mein, er hat ihn gut gekannt …« Sie stand erneut auf. »Ich hol mir nur schnell ein Glas Wasser.«

»Ich mach das, wenn ich darf«, bot Florian Unterberger an.

»Danke. Da drüben ist die Küche.« Sie deutete auf die gegenüberliegende Tür, setzte sich wieder hin und schaute Inspektor Maurer ausdruckslos an. »Ein Herzinfarkt also?«

»Ja, wahrscheinlich«, bestätigte Maurer.

Florian kam mit einem Glas zurück.

Katrin Schindler trank es in hastigen Zügen leer. »Wo ist er?«

»Im Krankenhaus. Dr. Wagner hat einen Kollegen gebeten, dass er noch einen Blick auf den Verstorbenen wirft.«

Sie fuhr hoch. »Eine Obduktion?« Ihre Stimme klang auf einmal laut, fast hysterisch. »Warum denn das?«

»Nein, Frau Schindler«, versuchte Florian, die aufgebrachte Frau zu beruhigen. »Der Herr Dr. Wagner hat nur darum gebeten, dass ein zweiter Arzt …«

»Welcher zweite Arzt?«, fiel sie ihm ins Wort.

»Der Herr Primar Eisler«, sagte Maurer.

Sie sprang auf. »Ich muss ins Krankenhaus. Ich muss zum Georg! Ich will ihn sehen.«

»Das geht jetzt nicht. Bitte, Frau Schindler, Sie werden sofort verständigt, wenn Sie zu ihm können«, redete Maurer in ruhigem Ton auf die aufgelöste Frau ein. »Wir rufen jetzt erst einmal Ihren Hausarzt an, ja? Der kann Ihnen auch mehr über die Todesumstände sagen.«

Sie schwieg ein paar Augenblicke lang. Schließlich nickte sie, und Florian Unterberger griff zu seinem Handy. Dr. Wagners Nummer hatte er bereits eingespeichert.

»Er ist unterwegs«, sagte er, nachdem er kurz telefoniert hatte. »Der Herr Dr. Wagner sagt, er wollte ohnehin gerade zu Ihnen kommen.«

»Frau Schindler …«, begann Maurer erneut.

Sie starrte, ohne auf ihn zu reagieren, in den kalten Kamin.

»Frau Schindler«, sprach er sie noch einmal an. Endlich wandte sie sich ihm zu. Ihr Blick war leer.

»Haben Sie Ihren Lebensgefährten gestern Abend nicht vermisst? Oder heut in der Früh?«

»Ich war über Nacht bei meinem Bruder in Salzburg. Ich war nicht da.«

Florian öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn jedoch wieder, als sein erfahrener Kollege abwinkte.

»Ich war nicht da«, wiederholte Katrin Schindler und verbarg ihr Gesicht in den Händen.

Zum zweiten Mal an diesem Tag betrat Josephine Konarek die Polizeiinspektion in Roith. Sie hätte zum Leichenfund in der evangelischen Kirche noch eine Aussage zu machen, erklärte sie dem diensthabenden Beamten. Der riss die Seitentür auf und rief nach draußen: »Da ist wer für dich, Hubsi!«

Hubsi, aha. Wahrscheinlich hieß der Polizist von vorhin Hubert.

Der Revierinspektor Heininger Hubsi betrat die Amtsstube.

»Noch eine Aussage also«, sagte er, nachdem Josi ihr Anliegen wiederholt hatte. Er begann auf der Tastatur des Computers herumzutippen. »Ah, da haben wir’s. Frau Josephine Konarek, wohnhaft in Berlin …«

»Ja«, unterbrach ihn Josi. »Mir ist noch etwas eingefallen, was vielleicht wichtig sein könnte.«

»Ja, und was wäre das?«, fragte Heininger, ohne den Bildschirm aus den Augen zu lassen.

»Wie ich den Herrn Koller auf der Orgelbank vorgefunden habe, war der Motor nicht an.«

»Der Motor? Was für ein Motor?«

»Da ist ein Motor, der den Blasebalg der Orgel betreibt. Wenn er nicht eingeschaltet ist, kann der Organist nicht spielen«, erklärte sie schnell.

»Aha. Und wieso wissen S’ das, dass er nicht an war, und wieso so plötzlich?«

»Ich hab zuerst nicht drauf geachtet. Aber jetzt ist es mir auf einmal eingefallen. Die Stirn vom Herrn … von dem Toten hat auf die Tastatur gedrückt und ein Bein auf das Pedal. Die Orgel hätte einen schrecklichen Dauerton von sich geben müssen, wenn der Motor eingeschaltet gewesen wäre.«

Der Polizist, der Josi gestern die Krisenintervention angeboten hatte, betrat den Raum und gesellte sich zu ihnen. Er blieb neben Heininger stehen und schaute über dessen Schulter auf den Computerbildschirm.

»Und?«, Heininger hob den Blick und runzelte die Stirn.

»Ich meine, welcher Organist sitzt bei ausgeschaltetem Motor an der Orgel«, versuchte sie, die Sache auf den Punkt zu bringen, ohne gleich die Interpretation mitliefern zu müssen.

Der Blick, der sie daraufhin vonseiten des Revierinspektors Hubert Heininger traf, war einer von der Sorte, über die man sagte, sie wären nicht zu überleben, wenn Blicke denn töten könnten.

»Dafür kann es viele Gründe geben«, meinte Heininger unbeeindruckt.

Josi hätte am liebsten geschrien, auf den Tisch gehauen oder sich sonst irgendwie Luft gemacht. Natürlich konnte es viele Gründe geben, aber sie waren allesamt sehr viel unwahrscheinlicher als der, dass dies schlicht ein Hinweis auf Mord war. Ein Organist schaltete den Orgelmotor immer als Erstes ein, so automatisch und ohne darüber nachzudenken wie der Fahrer eines Schaltautos die Kupplung tritt, ehe er einen Gang einlegt. Hätte sie warten sollen, ob die Polizei selbst dahinterkam? Sie stand auf.

»Der Vorgang ist ja auch eigentlich schon …«, setzte Heininger noch einmal an.

»Vielen Dank, Frau Konarek, wir nehmen es ins Protokoll«, unterbrach ihn sein Kollege.

Gar nichts werden sie tun, dachte Josi. Wie auch immer, falls sie doch noch draufkommen würden – sie hatte es jedenfalls gemeldet.

»Wiederschaun«, sagte sie und ging. Sie brauchte dringend frische Luft.

Es war kalt und zugig auf dem Bahnsteig des Linzer Hauptbahnhofs. Eine verhallte Stimme tönte aus einem Lautsprecher. Sie kündigte an, dass der Zug nach Innsbruck zwanzig Minuten Verspätung haben würde.

»Und ich hab mich so abgehetzt, dass ich dich noch erwisch.« Paul Materna schaute seine Tochter an.

»Magst du noch einen Kaffee trinken gehen? Ich mein, bevor wir hier herumstehen.«

Das Handy vibrierte in seiner Hosentasche. Er zog es hervor und hielt es dicht ans Ohr. »Ja, Conni, was gibt’s?«

»Hallo, Paul. Wir müssen nach Ischl. Mordverdacht.«

»Verdacht?«

»Die Ischler haben einen Toten mit ungeklärter Todesursache. Der Arzt ist von einem Herzinfarkt ausgegangen, war sich aber nicht ganz sicher. Deswegen ist im Ischler Krankenhaus noch eine Leichenschau durchgeführt worden, und die Ärzte dort haben die Einstichstelle von einer Injektionsnadel entdeckt.«

»Ah, ja, das kann ja dann aber wirklich wer anderer machen. Jetzt, wo wir kurz davor sind, dass wir den Mord an der alten Frau Weber abschließen können, werd ich nicht wegen irgendeinem vagen Verdacht nach Ischl fahren.«

»Der Oberst hat ausdrücklich gebeten, dass du dich drum kümmerst.«

»So. Und warum?«

»Keine Ahnung, aber ich glaub, es ist ihm wichtig.«

Materna schnaufte etwas unwillig. »Wichtig. Verstehe. Sind die von der Spurensicherung schon unterwegs?«

»Nein, wir wollten erst mit dir …«

»Gut, danke. Sie sollen losfahren. Und der Christian soll die Leitung im Fall Weber übernehmen. Pass auf, ich bin am Hauptbahnhof. Hol mich bitte am Haupteingang ab.«

Materna steckte das Handy ein. »Isi, ich …«, wandte er sich an seine Tochter. »Das tut mir jetzt leid, aber …«

»Kein Problem, Papa. Ich trink noch einen Kaffee und dann bin ich eh weg.«

Er küsste sie auf die Wange. »Also, servus. Und alles Gute für den Einstand! Wir telefonieren, ja?«

»Klar. Jetzt geh schon. Servus, Papa.«

»Ja, dann …« Ein Kuss auf die andere Wange, und er strebte dem Bahnsteig-Ausgang zu. Als er sich kurz umwandte, um ihr noch einmal zuzuwinken, stand sie noch immer am selben Platz. Sie schaute ihm nach. Und sie lächelte.

»Wer ist das Opfer?«, fragte Materna, der neben Conni Laubenbacher auf dem Beifahrersitz des Dienstwagens saß.

»Ein Musiker, Georg Koller, 58 Jahre. Eine Touristin hat ihn an der Orgel in der evangelischen Kirche tot aufgefunden.«

»Georg Koller, der Dirigent?« Materna richtete sich abrupt im Sitz auf.

»Dirigent? Weiß net, ich hab geglaubt, er war Orgelspieler.«

»Ich kenne ihn. Ich hab schon ein paar Konzerte von ihm gehört. Kein Superstar, aber ein wirklich sehr guter, renommierter Dirigent. Was der wohl an der Orgel gemacht hat?«

»Keine Ahnung. Das ist doch mehr dein Ressort, Chef, das mit der Musik und so.«

»Stimmt, Cornelius.« Materna grinste. Er wusste, dass sein Kollege den Namen Cornelius ebenso wenig ausstehen konnte wie er selbst die Anrede Chef – und dann noch in Kombination mit dem polizeiüblichen kameradschaftlichen Du. »Du bist eine echte Kulturbremse.«

»Pfff …«, schnaufte Conni durch die Nase und trat das Gaspedal durch. Sein kurzes blondes Haar stand wie fast immer in alle Windrichtungen, was ihm ein verwegenes Aussehen gab.

Als sie die Autobahn verließen, läutete Maternas Handy.

»Patzak«, meldete sich der Leiter des oberösterreichischen Landeskriminalamts.

»Guten Tag, Herr Oberst«, grüßte Materna förmlich.

»Sind S’ schon unterwegs nach Ischl?«

»Ja, wir sind bald da.«

»Na gut. Geh, bitte Materna, schaun S’, dass Sie die G’schicht möglichst g’schwind erledigen. Sie werden doch sicher den Mordverdacht ausräumen können. Wiederschaun, Materna.«

»Auf Wiederschaun, Herr Oberst.«

»Was wollte er?«, fragte Conni.

Materna zuckt die Achseln. »Er hofft, dass wir den Mordverdacht ganz schnell aus der Welt schaffen können. Klar, wo es sich doch um einen Prominenten handelt – da wird sich die Presse bestimmt reinhängen.«

»… und er hofft, dass wir keine Spesen machen«, ergänzte Conni grinsend.

»Ich mach keine großen Spesen. Ich kann in Ischl bei einem Freund wohnen.«

»Und ich? Ich darf unter der Brücke schlafen, oder wie hast du dir das gedacht, verehrter Boss?«

»Jetzt schauen wir erst einmal, ob wir überhaupt dableiben müssen.«

»Aha.« Conni stieg aufs Gas, und der Tachozeiger kletterte auf hundertvierzig.

»Äh – hundert!«, warnte Materna.

»Wir sollen doch um halb vier im Krankenhaus sein! Auf der berühmten Salzkammergut-Bundesstraße werden ja wohl keine Kieberer rumstehen und den Fremdenverkehr behindern!«

»Ein Kieberer bist du selber. Fahren wir halt nur kurz bei den Kollegen in Ischl vorbei, grad schnell Bescheid sagen, dass wir da sind, und dann gleich weiter ins Krankenhaus.«

»Wie sollen wir schnell irgendwohin fahren, wenn du mich zwingst zu schleichen, mein Boss?«

»Du sollst nicht immer Boss zu mir sagen!«

»Net?«

»Na, net. Und Chef auch net!«

»Auch net. Aber du sagst doch auch Oberst zum Oberst!«

»Das ist was anderes.«

»Wieso?«

»No ja, der Oberst ist …« Materna räusperte sich. »Der Oberst ist halt der Oberst«, sagte er.

»Sehen Sie, hier.« Dr. Baumann hielt ein Vergrößerungsglas über den Bauch des Toten und reichte es an den Chefinspektor weiter.

Materna nickte. Mit dem Vergrößerungsglas war der Einstich deutlich erkennbar.

»Mir sind ein paar Symptome aufgefallen, die auf eine tödliche Hypoglykämie hindeuten können«, setzte Dr. Baumann fort. »Der Mann war extrem verschwitzt, und seine Pupillen waren stark erweitert. Ohne diese Auffälligkeiten hätte ich gar nicht so intensiv nach Einstichen gesucht. Dieser hier stammt übrigens auch nicht von einem der üblichen Insulin-Pens, sondern von einer dickeren Injektionsnadel.«

»Und es ist sicher, dass der Mann kein Diabetiker war?«, fragte Conni.

»Inzwischen ja, absolut«, bestätigte der Pathologe. »Ich habe mit dem Kollegen Wagner gesprochen, der die Leichenschau in der Kirche vorgenommen hat. Der war ja auch der Hausarzt von Georg Koller. Er hat bestätigt, dass sein Patient zwar an Angina Pectoris gelitten hat, aber Diabetes hatte er nicht. Der letzte Bluttest ist grade erst vor ein paar Tagen gemacht worden. Außerdem müssten sich dann mehrere Einstiche finden.«

»Und ein Herzinfarkt ist ausgeschlossen?« Conni schaute den Arzt gespannt an.

»Ein leichter Infarkt könnte zu einem Insulinschock hinzugekommen oder ihm vorhergegangen sein. Genaueres kann ich aber ohne Obduktion nicht sagen.«

Es klopfte an der Tür, und ein weiß gekleideter junger Mann betrat den Obduktionssaal. Mit einem knappen »Bitte schön, Herr Doktor!« überreichte er dem Pathologen ein durchsichtiges Plastiksackerl und verschwand wieder nach draußen.

»Das sind die Sachen, die der Tote in den Jackentaschen hatte. Die wollen Sie sicher mitnehmen.«

Materna nahm das Sackerl an sich. Da die Kollegen von einem natürlichen Tod ausgegangen waren, hatte man Kollers persönliche Dinge in seinen Taschen belassen. Er würde sie nachher dem Kriminaltechniker übergeben. Materna betrachtete den Inhalt, ohne den Plastiksack zu öffnen, und musste trotz der gar nicht komischen Situation schmunzeln. Er enthielt neben einer Geldbörse und einem Schlüsselbund auch ein buntes Papiertaschentuch, das mit dem Konterfei der Kaiserin Elisabeth bedruckt war. Diese Ischler!

»Wann ist denn der Tod eingetreten?«, fragte Conni.

»Vermutlich zwischen 22.00 und 24.00 Uhr. Wenn es sich wirklich um Insulin handelt, kann das aber wesentlich früher verabreicht worden sein. Man stirbt nicht sofort an einer Hypoglykämie. Wenn der Zuckergehalt im Körper stark absinkt, wird die Funktionsfähigkeit der Zellen beeinträchtigt. Die Hirnleistung ist je nach Ausmaß der Unterzuckerung reduziert, der Betroffene ist desorientiert und hilflos. Es kann zu Krampfanfällen kommen, und ohne Hilfe von außen führt die Hypoglykämie auf diese Weise zum Tod.«

»Tod durch Insulin, der perfekte Mord …«, murmelte Conni vor sich hin.

»Das hat man lange so gesehen«, bestätigte Dr. Baumann. »Insulin lässt sich nach dem Tod nicht im Blut nachweisen. Es verschwindet einfach aus dem Blutkreislauf.«

Materna nickte. »Ja, ich weiß. Aber inzwischen gibt es doch neue Möglichkeiten in der Toxikologie, oder?«

»Die gibt es.« Baumann ergriff einen Zipfel des Leintuchs, das über den Toten gebreitet war, und deckte ihn vollständig zu. »Einfach ist es allerdings noch immer nicht. Man kann Insulin eventuell im Gewebe der Einstichstelle nachweisen, oder auch im Glaskörper des Auges. Das überschreitet aber unseren Auftrag und auch unsere Möglichkeiten hier.«

»Natürlich. Danke, Herr Doktor.«

Es war Materna klar, dass es tausend Erklärungen für den Einstich geben konnte und auch, dass die Beobachtungen des Arztes allenfalls vage Verdachtsmomente waren. Doch sein Instinkt sagte ihm, dass es Wahnsinn wäre, diesen nicht nachzugehen. Er spürte die typische Erregung in sich, dieses Prickeln wie beim Genuss eines kohlensäurehaltigen Getränks. Es begann in der Magengegend und breitete sich allmählich im ganzen Körper aus. Er kannte das Gefühl. Es erfasste ihn jedes Mal, wenn er es mit einem Verbrechen zu tun hatte – und er von dem eisernen Willen getrieben wurde, den Täter zu fassen, koste es, was es wolle.

Er wandte sich an Conni. »Der Tote muss in die Gerichtsmedizin. Sofort. Ich rede mit der Staatsanwaltschaft.« Er zog sein Handy aus der Tasche und ging auf den Ausgang zu. »Entschuldigen Sie mich bitte einen Moment.«

»Der Oberst wird sich freuen«, murmelte Conni.

»Ist mir wurscht«, erklärte Materna und verschwand nach draußen.

»Chefinspektor Paul Materna, und das ist mein Kollege, Kontrollinspektor Laubenbacher, vom Landeskriminalamt Oberösterreich«, stellte Materna sich und Conni vor, nachdem sie das Büro von Prof. Dr. Eisler betreten hatten.

Der grauhaarige Professor erhob sich von seinem Sessel, reichte den beiden Polizisten die Hand und bot ihnen Platz an.

»Dr. Baumann hat Sie schon angekündigt. Tut mir leid, dass ich vorhin nicht dabei sein konnte. Der Georg …, ich meine, der Herr Koller wird also in die Gerichtsmedizin Salzburg-Linz überführt, sagt Dr. Baumann?«

Materna nickte. »Ja. Ich habe gerade mit der Staatsanwaltschaft telefoniert. Gut, dass Sie diesen Einstich gesehen haben.«

»Oh nein, es war Dr. Baumann, der ihn gefunden hat. Er war zwar nie gerichtsmedizinisch tätig, aber er ist ein erfahrener Pathologe.«

»Sie haben den Toten gekannt?« Materna nahm ein leichtes Flackern in den Augen des Professors wahr, das nicht zu seiner äußerlich souveränen, gelassenen Art passte.

»Wir waren freundschaftlich verbunden«, erwiderte Eisler.

»Gibt es irgendeinen Grund, warum der Herr Koller sich das Leben genommen haben könnte?«, fragte Conni.

Der Professor schüttelte den Kopf. »Das kann ich mir nicht vorstellen. Er hatte ein Herzproblem, das war aber nicht so gravierend, dass man deswegen auf Suizidgedanken kommen würde. Der Tod seiner Frau vor ein paar Jahren hat ihn sehr mitgenommen. Aber er hat das inzwischen verkraftet und lebt … lebte in einer neuen, glücklichen Beziehung. Georg Koller war ein viel beschäftigter und erfolgreicher Dirigent.«

»Ich hab schon ein paar Konzerte gehört, die er dirigiert hat«, erklärte Materna.

»Sie interessieren sich für Musik?«

Materna überging diese Frage. »Wir fragen uns, was ein renommierter Dirigent an der Orgel der evangelischen Kirche macht. Können Sie uns da weiterhelfen, Herr Professor?«

»Er hat wohl geübt. Jedes Jahr zu Weihnachten gibt er dort ein Orgelkonzert, eine Benefizveranstaltung, die der Kirchenmusik zugutekommt.«

»Georg Koller war also der evangelischen Kirche sehr verbunden?«

»Oh ja. Schauen Sie, Herr Materna, die Evangelischen waren im katholischen Ischl immer in der Minderheit. Früher, als die Kirche noch eine viel größere Rolle gespielt hat als heute, war in Ischl alles, was auf sich hielt und evangelisch war, in der Kirchenmusik engagiert. Die Kollers auch. Georg Koller hat sogar zuerst Kirchenmusik studiert, wollte Kantor werden – bis er auf diesem Umweg seine Begeisterung und sein Talent für das Dirigieren entdeckt und umgesattelt hat. Er hat die Musik in ihrer ganzen Vielfalt geliebt, von der Kirchenmusik über die Orchestermusik und die Oper bis hin zum Jazz und sogar zur Operette und zum Musical. Dieses alljährliche Benefizkonzert an der Orgel war sozusagen sein Beitrag, die Kirchenmusik weiterhin zu würdigen und zu unterstützen.« Die Augen des Professors hatten immer stärker zu leuchten begonnen. Die Anzeichen von Nervosität waren verschwunden.

Plötzlich läutete ein Handy. Eisler holte mit einer fahrigen Bewegung ein Smartphone aus seiner Jackentasche, warf einen Blick darauf, steckte es wieder ein und zog ein zweites, einfaches Mobiltelefon hervor. »Verzeihen Sie«, wandte er sich an die beiden Polizisten. »Ich komme gleich«, sagte er ins Telefon und erhob sich. »Ich muss Sie bitten, meine Herren, mich jetzt zu entschuldigen.« Er reichte erst Materna, dann Conni die Hand. Das Flackern in seinen Augen war zurückgekehrt.

Als Josephine die ehemalige k.u.k. Hofkonditorei Zauner in der Pfarrgasse betrat, stieg ihr sofort der altvertraute Duft in die Nase. Hier roch es immer ein wenig nach Eiscreme und frischen Waffeln, obwohl Eiscreme mit Waffeln gar nicht zu den bekannten Spezialitäten des Hauses zählte. Da sie nicht mehr sicher gewesen war, ob Hunde im Zauner erlaubt waren, hatte sie den Poldi im Hotel gelassen. Er würde ohne Probleme zwei, drei Stunden in seinem Körbchen schlafen.

Sie sehnte sich danach, endlich abzuschalten, den Gedankenkreiseln zu entkommen, für kurze Zeit wenigstens. Ihr war nach einer Melange und einem Stückchen Zaunerstollen. Zaunerstollen mochte Gift für die Figur sein, für die Seele war er Balsam – echter Balsam!

Sie setzte sich auf einen rot gepolsterten Stuhl an einem der runden Marmortischchen und betrachtete das riesige Gemälde von Kaiserin Elisabeth an der Wand. Auch von Franz Joseph gab es ein Bild. Es war kleiner als das von Sissi, ebenfalls in Gold gerahmt und zeigte ihn bei der Jagd. Was auch sonst. Als Kind hatte Josi den Kaiser dafür gehasst, dass es offenbar seine Lieblingsbeschäftigung war, Bambi & Co. totzuschießen …

Es kam ihr vor, als wäre das große Elisabeth-Bild von der einen zur anderen Wand umgezogen, während sie sich an das von Franz Joseph gar nicht erinnern konnte. Aber früher hatten sie solche Dinge auch nicht sonderlich interessiert.

Als Teenager war sie oft hier gewesen, meist zusammen mit ihrer besten Freundin Sibylle. Bei dem Gedanken an Billy spürte Josi einen Stich im Herzen.

Ganze Nachmittage hatten sie früher beim Zauner verbracht. Stundenlang waren sie hier nach der Schule bei einem kleinen Schwarzen gesessen. Mehr konnten sie sich für gewöhnlich nicht leisten. Obwohl der Zauner eher Konditorei als Café war, servierte man ihnen nach guter alter Kaffeehausmanier von Zeit zu Zeit ein neues Glas Wasser. Und da das gesamte Bedienungspersonal die sparsamen Stammgäste kannte, belästigte man sie auch nicht mit der überflüssigen Frage, ob sie noch einen Wunsch hätten. Sie plauderten, philosophierten, lernten für die Schule und schrieben Artikel für die Schülerzeitung. Sie fühlten sich dabei ein bisschen wie jene berühmten Kaffeehausliteraten, die in ihren – zumeist Wiener – Stammcafés mehr oder weniger gelebt und dort Gedichte, ganze Bücher oder Theaterstücke verfasst hatten. Mit Sissi und Franz Joseph, die hier die Wände zierten, hatten Billy und sie damals wenig im Sinn gehabt.

Jetzt, ein Vierteljahrhundert später, nahm Josi die Atmosphäre der k.u.k. Hofkonditorei anders wahr. Jedes Detail hier war dazu angetan, die Gäste in die Zeit der Donaumonarchie zurückzuversetzen. Nie zuvor war ihr aufgefallen, dass sogar die Tafel am Eingang zu den Toiletten über einen goldenen Rahmen verfügte. Sie enthielt den Hinweis, dass es hinter dieser Tür auch ein Telephon gab. Ein Telephon mit ph.

Man konnte meinen, im nächsten Moment würde von hier ein Bote aufbrechen, um den täglichen Gugelhupf zu Kaiser Franz Joseph zu bringen, der gerade in der Kaiservilla mit Regierungsgeschäften beschäftigt war oder auch in der Schratt-Villa mit seiner Mätresse Katharina Schratt. Und wäre plötzlich die Kaiserin Elisabeth persönlich durch die Tür der Café-Konditorei Zauner geschritten, im langen, weißen Kleid, ihre wirklich unglaubliche dunkle Haarpracht mit sternenförmigen Blüten geschmückt und von ihrem Hofstaat umgeben – es hätte hier wohl niemanden ernsthaft gewundert.

Eine männliche Stimme holte Josi aus ihren Träumereien. Offenbar hatte sich am Nebentisch Graf Bobby niedergelassen, der adelig-vornehm näselte. In Wirklichkeit hieß Graf Bobby Eugen. So jedenfalls nannte ihn der Mann, der ihm gegenüber saß: Eugen mit Betonung auf gen, wie Prinz Eugen, der edle Ritter.

Sie ließ einen verstohlenen Blick zu den beiden Herren hinübergleiten. Graf Bobby-Eugen hatte sein eher dünnes braunes Haar von einem Seitenscheitel aus so gekämmt, dass ihm andauernd eine Strähne vor die Augen fiel. Mit einer sehr aristokratischen Geste, einem kurzen In-den-Nacken-Werfen des Kopfes, beförderte er diese immer wieder aus dem Gesicht.

Josi musste an die Tante Wilhelmine denken. Sie hatte immer gesagt, seit der Adel in Österreich radikal abgeschafft worden war, würden die offiziell Nicht-mehr-Adeligen ihre Zugehörigkeit zu diesem Stand sehr viel nachdrücklicher demonstrieren als zu Zeiten, in denen die Adeligen noch adelig waren. Man tat dies mithilfe eines Siegelrings, durch stilvolle Trachtenkleidung, die man bei praktisch allen Gelegenheiten trug, und – sofern man ein männlicher Adels-Demonstrant war – nach Möglichkeit auch mithilfe eines gepflegten Oberlippenbärtchens. Der Graf-Bobby-Eugen trug keinen Siegelring, dafür verfügte er über die beiden letzteren Attribute. Sein Trachtenanzug war edel und bestimmt teuer gewesen. Das beinahe-obligatorische Aristokratenbärtchen lenkte ein wenig von der deutlich hervorspringenden Unterlippe ab.

»Geh, du mit deiner ÖVP«, sagte der andere Mann zum Graf Bobby.

»No ja, schau, wir sind halt noch nicht so weit. So kann ich am meisten für uns’re Sach’ tun«, raunzte Eugen durch die Nase. »Der politische Einfluss ist doch …«

»Bitt’schön, gnä’ Frau?«, unterbrach der Ober Josis ebenso unziemliches wie gespanntes Lauschen.

»Eine Melange, bitte. Und Zaunerstollen«, bestellte sie.

»Sehr gern, gnä’ Frau. Die Zaunerschnitte hell oder dunkel?«

»Hell und dunkel«, sagte sie entschlossen. Zum Kuckuck mit der schlanken Linie! Damit wurde es doch sowieso nie so recht was, egal, wie sehr sie sich anstrengte. Außerdem hatte sie seit mindestens einem Vierteljahrhundert keinen Zaunerstollen mehr gegessen. Dabei war er das Beste unter allen Süßigkeiten, das sie kannte. Mit Abstand. Josi fand, dass er sogar das Beste an dem ganzen Bad Ischl war.

»Nein, mit dem Koller auch nicht«, ertönte Eugens Graf-Bobby-Stimme energisch vom Nebentisch.

Josi fuhr zusammen. Koller? Schon wieder Koller! Jetzt verfolgte Koller sie auch noch zum Zauner …

»Geh bitte«, näselte Eugen. »Elisabeth! Von vorne bis hinten nichts als Verleumdung und Verspottung der Habsburger. Die Kaiserin soll die Welt der Monarchie für brüchig g’halten haben, und der Kaiser hätt’ sich bei einer Prostituierten mit einer Geschlechtskrankheit infiziert. Geh, das ist doch grauslich! So was woll’n wir hier auf keinen Fall haben.«

Na bravo. Kaum hatte Josi es geschafft, Koller für ein paar Momente aus ihren Gedanken zu verbannen – da erwähnte dieser Mensch prompt seinen Namen. Sie hatte über den Kaiser und die Kaiserin nachgedacht, und schon war das Kaiserpaar offenbar Thema am Nebentisch. Das war ja völlig verrückt. Und ein bisschen unheimlich war es auch.

»Ihre Melange und die Zaunerschnitten, bitte sehr«, unterbrach der Ober ihre Gedanken.

Ende der Leseprobe