Der Sodomit - S. B. Sasori - E-Book

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S.B. Sasori

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Beschreibung

Ungarn im 15. Jahrhundert. Mihály Szábo ist Arzt im Dienste König Matthias Corvinus. Der Wissenschaft verpflichtet kämpft er nicht nur gegen die Pest, sondern auch gegen den Vorwurf der Ketzerei.
Als ein Junge wegen seines Buckels halb totgeschlagen wird, sieht sich Mihály als Arzt und als Mann herausgefordert. Er kümmert sich um „das Hexenbalg“ und macht es sich zur Aufgabe, seine Entstellung zu richten. Doch während der schmerzhaften Prozedur kehren Gefühle zurück, die besser im Verborgenen geblieben wären.

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Der Sodomit
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Epilog
Weitere Romane von S.B. Sasori

Der Sodomit

Ein historischer Roman

S. B. Sasori

Copyright © 2023 S. B. Sasori

2. Auflage

Erstauflage 2013 im Weltenschmiedeverlag

Alle Rechte vorbehalten.

E-Books dürfen nicht kopiert oder weiterverkauft werden. Bitte denkt daran und wertschätzt mit eurem fairen Verhalten die Arbeit der Autor*innen, die viel Mühe und Zeit in ihre Geschichten stecken.

Wie bei allen fiktiven Romanen gilt auch bei diesem: Sämtliche Personen und Ereignisse sind frei erfunden.

Impressum:

https://sbnachtgeschichten.com/impressum/

Coverdesign: Antonio Kuklik

Korrektorat: Ingrid Kunantz

1. Kapitel

Zwei Fliegen umkreisten den Stumpf. Mihály scheuchte sie fort. Einen Madenbefall im frisch amputierten Bein hatte der Mann nicht verdient. An seinem Kinn spross noch Flaum. Weit entfernt davon, ein Bart zu sein. Er schien jünger als Dávid, der ihm mit zitternden Fingern neue Verbände reichte.

Dávid. Sein Kleiner. Er folgte ihm seit drei Jahren als Geselle und half ihm dabei, Vlads Männer nach Kämpfen wie diesem zusammenzuflicken. Im Normalfall gewann Vlad III., Woiwode der Walachei und erklärter Gegner des Osmanischen Reiches, seine Schlachten. Nur diesmal nicht. Weil es keine Schlacht, sondern eine Flucht war. Vor seinem Halbbruder Radu, der Vlads Volk gegen ihren Woiwoden aufgewiegelt hatte.

Niemand suchte sich seine Verwandtschaft aus und Vlad hatte diesbezüglich tief in die Scheiße gegriffen. Als Kind vom eigenen Vater als Geisel dem osmanischen Herrscher überlassen zu werden war kein Honigschlecken. Auf Vlads Rücken reihten sich die Narben zahlreicher Peitschenhiebe. Schlug das Wetter um, spürte er jeden einzelnen und rief Mihály und sein Arsenal an Wundsalben zu sich.

Sie brachten nichts, doch das sagte er dem Herrscher nicht. Was den Schmerz auf Vlads Rücken linderte, waren die gleichmäßigen und festen Berührungen, mit denen er die Salben einmassierte. Ebenso gut hätte er ihm reines Schafswollfett verabreichen können, doch das stank zum Himmel.

Dávid spülte den Stumpf sauber und tupfte ihn sorgfältig ab. Mittlerweile versuchte er nicht mehr, das Würgen zu unterdrücken. Es war auch nicht nötig. Mihály kannte die Schwächen seines Geliebten und verzieh sie ihm.

Sein Vater hatte das nie.

Die Lehre bei Ádám Szábo war hart gewesen. Seine Kindheit hatte in Lazarettzelten stattgefunden. Schon früh hatte er dem berühmten Wundarzt beim Knochenrichten und Därmezusammennähen helfen müssen.

Flinke Finger, die wissen, dass sie kein Schwert schmieden oder Stein schneiden, sondern die Krone der Schöpfung heilen sollen.

Bei diesen Worten hatte ihm sein Vater das Kinn angehoben und für einen Augenblick diese schreckliche und grausame Welt mit einem Lächeln verzaubert. Bevor er ihm mit vor Blut verkrusteter Hand eine Ohrfeige verpasste, weil er ihm das falsche Besteck angereicht hatte.

Sollte es tatsächlich ein Paradies geben, saß sein Vater jetzt zwischen Engeln und Blüten.

Geschissen auf die Meinung seiner Richter, Ketzer gehörten ins Fegefeuer.

»Wenigstens schreit er nicht mehr.« Dávids Blick zu ihrem Patienten troff vor Mitgefühl. »Ich habe fünf Kreuze geschlagen, als er endlich ohnmächtig wurde.«

»Du musst lernen, alles Störende während der Behandlung auszublenden.« Wie oft predigte er Dávid diesen schlichten Trick. »Konzentriere dich nur darauf, was deine Hände machen.«

Über das blasse, doch sonst wunderschöne Jungmännergesicht huschte ein Lächeln. »Wie bei der Liebe mit dir?« Er sprach leise, aber dass sie jemand aus dem Lazarettzelt hörte, war unwahrscheinlich. Wer nicht schlief, starb oder wimmerte. »Wenn du mich in dich reinlässt, was leider zu selten geschieht, kann ich mich sogar auf zwei Orte gleichzeitig konzentrieren. Meinen Schwanz in dir und meine Hand an deinem. Ich fühle jedes kleine Zucken, das von dir ausgeht, und weiß ganz genau, wann es auf meinen Fingerknöcheln heiß und nass wird.«

Dávid. Der sanfte Mann mit den großen, braunen Augen, der es vorzog zu dichten und schwermütige, vor unerfüllter Liebe triefende Lieder zu singen, als anderen Menschen wehzutun. Und sei es auch nur, um sie zu verarzten.

Mihály beugte sich über den halb verbundenen Stumpf zu ihm und küsste ihn auf die weichen Lippen. Sie öffneten sich sofort.

Dávid wollte mit Liebe gefüttert werden. Über seinen süßen Mund, über seinen noch süßeren Arsch. Seit Dávid ihm eben jene Liebe in einer stürmischen Novembernacht gestanden hatte, das Herz übervoll mit Heimweh, waren sie ein Paar.

Tag für Tag verbargen sie diesen Umstand vor jedem anderen Menschen. Vlad sträubte sich gegen Zwänge und boykottierte gesellschaftliche Regeln, doch zum Thema Sodomie wollte Mihály ihn besser nicht herausfordern. Dazu war das Leben an Dávids Seite zu schön.

Wenn sie nicht gerade bis zu den Knöcheln in Blut standen.

»Wann erreichen wir Visegrád?«, nuschelte Dávid an Mihálys Lippen. »Mir ist dringend danach, mich hinter dicken Festungsmauern zu verkriechen.«

Das Ziel ihrer Flucht. Die Festung des ungarischen Königs Matthias Corvinus. Wenn sie öfter mit Hinterhalten wie dem heutigen rechnen mussten, konnte es einige Zeit dauern, doch Dávid mit der bitteren Wahrheit zu konfrontieren war grausam. Die Hände des Jungen zitterten immer noch. Wenigstens war die Resignation aus seinem Blick gewichen, was dem Kuss zu verdanken war.

Gäbe es nur Menschen wie ihn, würde die Welt keine Kriege kennen.

Mihály ließ von den warmen Lippen ab, zog den Verband stramm. »Weißt du, wohin ich mich verkriechen möchte?« Das Zwinkern zu Dávid geschah von allein.

Die braunen Augen leuchteten. »In mich?«

»Tief und innig.« Nach diesem harten Tag brauchte er etwas Schönes, Berauschendes.

Dávid schlenderte um die Pritsche herum zu ihm, verbarg die blutbesudelten Hände hinter dem Rücken und lächelte auf diese Weise, die Mihálys Herz ebenso erwärmte wie seinen Unterleib. »Ob wir einen Ort finden, an dem wir ineinander einschlafen können?«

Zarte, kostende Küsse.

Wie er Dávids Liebkosungen liebte.

»Ich sehne mich so sehr danach.« Dávid seufzte leise. »Nähe bis zum Morgengrauen. Ungestört. Und dann lieben wir uns ein zweites Mal.«

Was für ein verlockender Gedanke.

Noch einmal stupsten sich ihre Zungen an, dann drang Mihály tief in Dávids Mund. Nur als Vorgeschmack auf das, was er gleich mit seinem längst angeschwollenen Glied tun würde.

Dávid zuckte zurück. »Hast du das gehört?«

Der Ruf eines Käuzchens, das Wimmern der Verwundeten. Sonst nichts Ungewöhnliches.

»Du bist nervös wegen des …«

»Da!« Dávid sah sich um.

Die Zeltplane bewegten sich im Luftzug.

Ein Schatten. Direkt dahinter.

~*~

Niedlich, das kleine Eichhörnchen. Es zuckte mit dem Puschelschwanz, beobachtete ihn und hopste näher.

Josias saß ganz still, obwohl sich sein krummer Rücken an den Baumstumpf drückte und schmerzte.

Wieder einen Hopser auf ihn zu. Als ob das Tier ahnte, dass er ihm nichts tun würde.

Bei Anna kam alles, was Fleisch lieferte, in den Topf. Er fragte nie nach, was zwischen Pastinaken und Zwiebeln stückchenweise im Sud herumschwamm. Im Zweifel hatte er es wenige Momente vorher noch gestreichelt.

Seine Mutter machte kein langes Federlesen, wenn es darum ging, satt zu sein und am Leben zu bleiben. Dafür teilte sie auch hin und wieder mit dem Dorfschulzen das Bett. So wie in diesem Augenblick. Deshalb saß er hier. Im Wald und allein. Das Gekeuche des Schulzen konnte er nicht ertragen, ohne dass ihm schlecht wurde. Anna erging es ebenso. Manchmal erbrach sie sich danach.

Ob ihr Leben anders verlaufen würde, wenn sein Vater nicht der Leibhaftige wäre, sondern irgendein normaler Mann?

Anna schwieg sich aus, sobald er sie nach ihm fragte. Dabei brannte er vor Neugierde.

Was hatte sie dazu getrieben, sich mit dem Teufel einzulassen?

Sicherlich war der ein besserer Liebhaber als der Schulze. Vermutlich roch er sogar besser. Schwefel war das eine, der saure Schweißgestank des Schulzen das andere.

Das Eichhörnchen wagte noch einen vorsichtigen Hopser näher zu ihm.

Wie niedlich es die Nase in die Luft streckte und schnupperte.

Hinter den Haselnusssträuchern knackten Zweige.

Das Tierchen huschte mit keckernden Lauten auf die nächste Eiche.

Wenn er ihm doch folgen könnte. Dann wäre er ebenfalls in Sicherheit. Er kannte das lauter werdende Lachen nur zu genau. Es gehörte zu Bela und Joscha, den Söhnen des Schulzen.

Ihm wurde kalt vor Angst.

Aufstehen. Schnell. Sonst waren ihre Füße zu nah an seinem Gesicht. Seine Nase schmerzte noch von der letzten Begegnung mit ihnen.

Sein Rücken war steif wie ein Brett. Verdammt, er hatte zu lange bewegungslos herumgesessen.

Die beiden schlenderten hinter den Sträuchern hervor. »Das Teufelsbalg!« Joscha bemerkte ihn zuerst und boxte sich in die Hand. »Wo ist deine Hurenmutter? Will sie ihren kleinen, buckligen Bastard nicht beschützen?«

»Sie reitet euren werten Herrn Papa.«

Das gehässige Lachen verstummte.

»Er hat’s gern, wenn nicht jedes Mal er es ist, der aufbockt.« Ihm schlug das Herz im Hals. Trotzdem setzte er eine spöttische Miene auf. »Ist sicher auch für eure Ziege eine Erholung oder nimmt er ab und zu die Sau, wenn es aus seinem stinkenden Schwanz tropft?« Kalter Schweiß floss ihm über den Buckel.

Gott, er war tot. Die Blicke der Brüder sagten nichts anderes.

Hätte er doch den Mund gehalten!

»Lust, deinen Vater zu besuchen?« Bela sprach leise, aber der Hass in seiner Stimme ließ Josias’ Herz gefrieren. »Vielleicht freut er sich, seinen Sohn überm Fegefeuer zu braten. Ist bestimmt ein gutes Gefühl, wenn einem der glühende Spieß so lange in den Arsch geschoben wird, bis er mit der Spitze aus der Fresse wieder rauskommt.«

Die Brüder sahen einander an. Nur kurz aus den Augenwinkeln, dann stürzten sie sich brüllend auf ihn.

Bisher hatte er ihre Attacken überlebt.

Das würde sich jetzt ändern.

Joscha packte ihn, Bela zerrte ihm den Strick von der Hose.

Er versuchte sich zu wehren. Umsonst. Seine Schläge gingen ins Leere oder wurden abgewehrt. Die beiden waren stärker und beweglicher als er. Sie fingen seine Hände ein, fesselten sie aneinander.

»Nicht zu hoch aufhängen«, keuchte Joscha und boxte ihn in den Magen. »Nur so weit, dass er nicht mehr stehen kann.«

Lichtblitze vor den Augen.

Josias presste die Lippen zusammen. Vor den beiden würde er sich nicht übergeben. Schon gar nicht vor Angst.

»Hier gibt es Wölfe, Missgeburt. Die riechen dein Blut meilenweit.« Joscha warf das andere Ende des Stricks über den untersten Ast der Eiche. Zu zweit zogen sie ihn hoch.

Was hatten sie vor? Er konnte mit den Füßen den Boden nicht mehr berühren. Alles Zappeln und Treten half nichts. Es brachte ihm nur einen weiteren Schlag in den Magen ein.

»Dem rutscht die Hose runter.« Joscha lachte dreckig.

»Höher!«, rief Bela direkt über ihm.

Joscha umklammerte Josias und hob ihn ein Stück nach oben. »Mach hin! Der ist schwer! Wehe, der verdammte Strick reißt!«

Er schnitt in seine Handgelenke. Mit jedem Ruck mehr.

»Fertig!« Bela sprang ihm vor die Füße.

Joscha ließ ihn los. »Da kannst du bis zum jüngsten Tag hängen, Missgeburt.«

Ein Reißen fuhr ihm durch Schultern und Rücken. Er musste sich auf die Zunge beißen, um nicht aufzuschreien.

»Und jetzt sorgen wir dafür, dass es für dich noch lustiger wird, als es eh schon ist.« Joscha schlenderte zu den Haselnussbüschen, brach ein paar dünne Zweige ab und ließ sie in der Luft zischen wie Peitschen. »Hier, nimm.« Eine davon gab er Bela. »Das Teufelsbalg wird nie wieder schlecht über Vater reden.«

Ihm etwas entgegenschleudern. Ihn und seine gesamte Sippe verfluchen!

Die Angst schnürte Josias die Kehle zu.

Joscha trat dicht vor ihn, riss ihm ein Stück aus dem Hemd. »Damit du nicht schreist.«

Oh nein, er würde sich nicht knebeln lassen!

Zappeln und treten.

Bela fing seine Beine ein. »Schnell!«

Der Schmerz in seinen Handgelenken, zu viel!

Er schrie.

Joscha stopfte ihm den Fetzen in den Mund. Dass er sich dabei auf die Zehenspitzen stellen und sich an ihm festhalten musste, ließ es in seinen Gelenken noch ärger reißen.

»Wenn dich deine Mutter findet, haben dir die wilden Tiere längst die Beine weggefressen.« Joscha trat einen Schritt zurück, holte mit der Haselnussrute aus. »Was soll’s? Du bist ein Krüppel. So oder so.«

Sie wollten ihn auspeitschen und hängenlassen. Niemand würde ihn hören. Auch nicht Anna.

Bela hob die Hand. »Warte, Bruder.«

»Was ist?«

»Findest du nicht auch, dass wir ihm die Brouche ausziehen sollten?« Belas Grinsen kam direkt aus der Hölle. »Ist eh nur ein dreckiger Lumpen.«

Joscha schnalzte. »Gute Idee, Bruder.«

Gott, hilf mir!

Er war ein Teufelskind. Gott hörte ihn nicht.

~*~

2. Kapitel

 

Drei Jahre später

 

Zu alt. Er hätte es wissen müssen. Keine Leichenflecke und längst keine Totenstarre mehr. Spätestens am Geruch hätte der Junge erkennen müssen, dass der Körper bereits faulte.

Hatte er sich unklar ausgedrückt? Was war an frischen Leichen nicht zu verstehen?

Mihály trat vor Wut gegen den Tisch. Der Frau darauf war es gleichgültig. Sie war tot. Schon viel zu lange, wie die gelbgrüne Färbung ihres Bauches zeigte. Aufgebläht und stinkend lag sie vor ihm und klagte ihn aus leergefressenen Augenhöhlen an. Zuerst hatten die Krähen ihre Totenruhe gestört, jetzt er.

Aus den kleinen weißen Eiern in den Mundwinkeln schlüpften bereits Maden.

Silas war ein Trottel!

Mihály wandte sich für einen Moment ab. Ihm war übel vor Gestank.

Erst das Zungengeschwür des Metzgers, das er am Nachmittag aufgeschnitten hatte, und jetzt das.

Erstaunlich, nach all den Jahren als Wundarzt war seine Nase immer noch nicht abgestumpft.

Wenn er den Bauch der Leiche aufschnitt, würde er sich übergeben müssen.

Lohnte sich die Qual, um einen Blick auf Organe zu werfen, die er längst kannte?

Auf keinen Fall.

Wenigstens die äußeren Zeichen des Verfalls musste er notieren, damit er sein Leben nicht umsonst riskierte.

Er rückte den Stuhl näher an den Tisch, schob den Arm der Toten beiseite und platzierte Papierbögen und Tintenfass neben der halb nackten und trotzdem nicht mehr verführenden Hüfte.

Marmorierte Haut, Tendenz ins Grünliche, an den Fraßspuren der Unterschenkel wibbelte es agiler als am Mund der Leiche.

Gott, wie das stank!

Mihály tropfte Pfefferminzöl auf ein Leinentuch und hielt es sich unter die Nase.

Nur Mut. Sein Vater hätte niemals eine Gelegenheit zum Lernen vergeudet. Ob ekelerregend oder nicht. Oft verbarg sich an den finstersten Orten das klarste Licht der Wahrheit.

Leider nicht mehr für diese Frau. Aus nur ihr bekannten Gründen hatte sie sich am Donauufer erhängt. Theoretisch ein seltener Glücksgriff für ihn, wäre Silas nur früher an dem Baum vorbeigekommen.

Der Bauch war prall. Was geschah, wenn er ihn öffnete, spielte sich in Sekundenschnelle in seiner Erinnerung ab. Es war nicht sein erstes überlagertes Forschungsmaterial.

Unter der Haut schimmerten im Licht der zu wenigen Fackeln und Kerzen dunkel die Adern hervor.

Kein Tropfen Blut würde mehr in ihnen fließen. Es ruhte in den Füßen und Unterschenkeln und ein Stück weit in den Händen. Aber nicht im Fleisch. Nur in dem schlauchartigen Gewebe.

Und es war längst gestockt.

Mihály schmierte sich das Minzöl unter die Nase.

Warum sickerte das Blut nicht in die Beine, wenn man stand? Wieso nur, wenn der Tod eingetreten war? Auch nachts, während des Schlafes, bildeten sich keine blauvioletten Flecken am Rücken, sondern der Lebenssaft verteilte sich gleichmäßig im gesamten Körper.

In das Herz hinein und aus dem Herzen heraus führten zwei große Adern. Im Takt des Herzschlages spritzte beim Aderlass das Blut in die Schüssel. Sehr viel in recht kurzer Zeit. Wurde es in den Organen in derselben Geschwindigkeit verbraucht, bedeutete es eine immense Anstrengung für das Herz, es ständig neu zu bilden.

Da lag der Hase im Pfeffer. Schon sein Vater zweifelte an dieser Theorie. Woher nahm der Körper die Substanz für die Unmengen an neu zu produzierendem Blut?

Mihály schnitt vorsichtig entlang der Adern des Unterarmes durch die Haut. Die schlauchähnlichen Gefäße waren leer. Von dick zu dünn. Von oben nach unten.

Und dann?

Versickerte das Blut im Gewebe der Leber? Der Niere? In den Fingerspitzen und Fußzehen?

Er strich über den Hals, dessen Strangulationsmal sich tief in die Kehle eingegraben hatte.

Wirkte das Leben in einem Menschen, schlug hier der Puls. Auch an den Hand- und den Fußgelenken.

Pumpte das Herz mit all seiner Kraft das Blut nur von sich weg, damit es verlorenging?

Sein Magen rebellierte, obwohl das Minzöl die empfindliche Haut unter seiner Nase verbrannte. Seine Augen begannen zu tränen, die Tote löste sich in Nebel auf.

Verdammt, er brauchte eine frische Leiche!

Noch dringender brauchte er einen anständigen und klugen Gehilfen, der sie ihm beschaffte. Einer, der schweigen konnte und gesehene Dinge schnell wieder vergaß.

»Herr Szábo?« Silas drückte sich mit dem Rücken an die Wand. Sein Blick huschte in den Gewölbegang, der zum Donauufer und damit nach draußen in die frische Luft führte. »Mir ist hundeelend.«

»Ja, mir auch.«

»Wenn ich mich übergebe, muss ich es dann wegwischen?«

»Worauf du dich verlassen kannst.«

Silas war verschwiegen, aber gierig. Pro Leiche ließ er sich zehn Heller zahlen. Dafür könnte er sich in Buda die teuerste Dirne leisten, doch Herr Barti hielt ihn an der kurzen Leine. Das stand ihm zu. Silas war sein Geselle und er der einzige Apotheker im Ort.

Vielleicht hatte Bartis Gier auf den Jungen abgefärbt.

Der Bengel war bildhübsch. Es gab Tage, da musste sich Mihály zusammenreißen, um ihm keinen begehrlichen Blick zuzuwerfen.

Seine Neigung ging nur ihn etwas an. Sollte er entdeckt werden, war es aus.

Sollte jemand hinter seine Leichenschnippeleien kommen, war es ebenfalls aus.

Sollte dem König klar werden, dass sein Leibarzt der Sohn eines zum Tode verurteilten und längst verbrannten Ketzers war, war es ohnehin aus. Außer Vlad Tepes hatte Matthias Corvinus davon überzeugt, dass es weit und breit keinen besseren Wundarzt gab.

Der Woiwode hockte im Salomonturm der Festung und war seit drei Jahren Matthias’ Gefangener. Zwar war er dort sicher vor seinen Verfolgern, doch die Hilfe des Königs hatte er sich gewiss anders vorgestellt.

Matthias der Gerechte. Tepes hatte sich darauf verlassen, dass der König diesen Beinamen nicht umsonst trug. Außerdem war er einst sein Verbündeter gewesen.

Der König mochte seine Gründe haben. Immerhin war Vlad nicht mit glühenden Eisen geblendet und anschließend lebendig begraben worden. In der Familie des Woiwoden kamen derlei Grausamkeiten vor. Er machte daraus keinen Hehl. Bei einem abendlichen Glas Wein hatte er hin und wieder davon erzählt.

Friedliche Augenblicke inmitten von Krieg und Leid. Mihály hatte sie dennoch genossen.

Hätte er geahnt, welchen Verlauf die Flucht vor Radus Truppen nehmen würde. Vlad hatte mit seiner Freiheit bezahlt und Dávid mit seinem Leben.

Mihály wischte sich mit dem Handrücken die Erinnerung aus dem Kopf. Aus dem Herzen ließ sie sich nicht verbannen, das hatte er längst aufgegeben.

Silas schleppte sich fluchend ein paar Schritte weiter Richtung Ausgang.

War ihm der Gestank beim Abschneiden der Leiche entgangen?

Der Nachtwind wehte ein wenig frische Luft in das Gewölbe.

Dass der Keller des ihm zugewiesenen Hauses einen Gang nach draußen besaß, der kurz vorm Donauufer endete, gehörte zu den seltenen glücklichen Zufällen in seinem Leben. Ein Weinkeller mit Zugang zum Fluss, um die Fässer mit dem Boot weitertransportieren zu können. Seit Jahren ungenutzt und mittlerweile hoffentlich vergessen.

Die leeren Weinfässer und das Gerümpel hatte er fortgeräumt. Nun beherbergte das Gewölbe alles, was er für seine Forschung benötigte. Tisch, Stuhl, sorgfältig zugeschnittenes Papier, Federn und Tintenfass, eine Pritsche mit einer ordentlich zusammengefalteten Decke, zwei Truhen, in denen neben den Büchern seines Vaters auch ein zweites Operationsbesteck verborgen lag, Tücher und Planen zum Abdecken und ein Vorrat an Fackeln und Kerzen.

Der perfekte Ort, um seine Forschungen am menschlichen Körper voranzutreiben.

Aus Gründen der Sicherheit lehnte ein Ruderboot an der Wand. Direkt hinter dem Ausgang. Eine Flucht über die Donau ging leicht, schnell und unauffällig vonstatten. Das Uferstück vor dem Eingang war schlecht einzusehen. Rechts und links wucherten Büsche zwischen emporragenden Felsen. Wer den verborgenen Pfad nicht kannte, musste durch das Wasser waten. Auch von der Straße aus, die sich oberhalb des abfallenden Ufers von Visegrád bis hinauf zur Festung schlängelte, war nichts von seinem Versteck zu erkennen.

Ein Glücksgriff für ihn und seine Arbeit.

»Herr Szábo«, jammerte Silas. »Beeile dich. Es wird Tag und ich muss zu meinem Meister.«

»Gleich.«

Verdammt noch mal. Was tat er sich an? Diese Leiche verriet ihm nichts, was er nicht längst wusste. Ein Fehlgriff und ein lebensgefährlicher dazu.

»Pack die Frau ein und hänge sie wieder auf.« Das war das Beste.

Silas klappte der Kiefer hinunter. »Das kannst du nicht von mir erwarten.«

Und ob er das konnte. Dafür bezahlte er ihn schließlich.

Mihály schnippte dem Jungen eine weitere Münze zu. »Ab in die Karre mit ihr und pass auf, dass dich niemand sieht. Für heute brauche ich dich nicht mehr.«

Die halbe Nacht hatte er die Aufzeichnungen seines Vaters studiert und das wenige an Schlaf, das ihm theoretisch geblieben wäre, hatte er mit sinnloser Fäulnis vergeudet.

Was für eine Verschwendung.

Er schlug den Körper in die Decke ein und half Silas, ihn auf die Handkarre zu hieven.

»Kein Wort zu deinem Meister, wie immer.«

Silas nickte mürrisch. Er schob seine Last fluchend durch den Gang und verschwand hinter dem Eisengatter aus Mihálys Blickfeld.

Es war kein halbes Jahr her, da hatte Silas ihn dabei erwischt, wie er ein ertrunkenes Mädchen aus der Donau fischte. Silas war ihm nachgeschlichen. Gerade, als er Haut und Fleisch des Brustkorbes zurückgeklappt und festgeklammert hatte, war Silas lautlos aus dem Schatten des Ganges getreten, um gegen eine entsprechende Bezahlung seine Hilfe und sein Schweigen anzubieten. Seitdem waren sie Verbündete. Leider benötigte der Apotheker seinen Gesellen tagsüber, sonst hätte Silas ihm auch beim Zähneziehen und Amputieren helfen können.

Mihály wählte ein Stück Seife aus Schafsfett, schwappte einen Eimer Wasser über den Tisch und schrubbte den Schaum mit einer Wurzelbürste ins Holz.

Der Leichengeruch musste weg. Wenigstens das meiste davon.

Ein zweiter Schwall Wasser spülte den Schaum auf den Boden. Bis morgen wäre er in den Ritzen versickert.

Ein paar Stunden Schlaf? Sein Blick schweifte zu der Pritsche. Sie diente ihm als Bett, wann immer er zu müde war, um den Weg nach oben hinter sich zu bringen.

Oder ein zeitiges Frühstück bei Sara. Sicherlich war sie schon auf den Beinen. Sie hielt ihr Gasthaus in Schuss. Außerdem hatte das den Vorteil, dass er sich die beiden Herren Doktoren ersparte, die seit einigen Wochen bei ihr wohnten. Sie hielten Vorträge vor dem König, wann immer er es zuließ. Zum letzten war er ebenfalls eingeladen worden.

Ob sie wussten, dass der Fluss des Blutes im Takt des Herzschlages floss?

Unwahrscheinlich. Sie hatten schwarze und gelbe Gallensäfte unterschieden, obwohl sie garantiert nie einen Menschen von innen gesehen hatten. Sie wirkten nicht wie Männer, die ihr Leben für die Wissenschaft riskierten. Sie waren studiert. An Universitäten befasste man sich nur theoretisch mit Blut und Galle.

Es gab einen Grund, weshalb er sich mit den beiden herumschlagen musste. Matthias Corvinus hatte es sich zusammen mit dem frischgebackenen Papst Paul II zum Ziel gesetzt, dem ungarischen Königreich eine Universität zu verpassen. Tamás und Bence waren gebeten worden, einen Teil des Lehrkörpers zu stellen.

Einen bejammernswerten Teil. Die beiden besaßen im Umgang mit Verletzungen keinerlei Praxis. Als Tamás ihm beim Richten eines Unterschenkels helfen sollte, aus dem der Knochen herausstand, war er in Ohnmacht gesunken. Dafür kannte er sich mit Diäten gegen Blutarmut und üblen Schweißgeruch aus.

Apropos Gestank.

Er zog das Wams aus und streifte das Hemd über den Kopf. Alles an ihm roch nach altem Tod.

Schafsfettseife?

Nein. Er hatte sich etwas Besseres verdient.

Lavendel, Rosmarin, Salbei, Pfingstrose. Der Weidenkorb mit den feinen Seifen war gut gefüllt. Das Sieden entspannte ihn und weckte seine Kreativität ebenso wie seine Experimentierfreude.

Rosmarin. Er nahm das handliche Stück, schnupperte daran. Der Duft vertrieb einen Teil der Erschöpfung. Das kalte Wasser der Donau würde den Rest in die Flucht schlagen.

Je näher er dem Ausgang kam, umso kälter wehte ihm die Luft entgegen. Die Morgendämmerung war heraufgezogen, Sträucher und Felsen glitzerten vor Raureif.

Die letzten Schritte zum Ufer rannte er. Das Wasser biss ihm eisig in die Füße, der erste Schwall ins Gesicht nahm ihm den Atem. So schnell wie möglich seifte er sich ein und träumte dabei von einem heißen Bad in Saras Zuber. Einmal in der Woche machte sie sich die Mühe für ihn. Er feierte diesen Tag jedes Mal.

Ihm blieb ohnehin zu wenig Zeit für die guten Dinge im Leben. Zu viel Arbeit.

Und seine Forschungen? Die kamen ebenfalls nur schleppend voran. Alles musste im Geheimen geschehen und sein Leben setzte er dennoch aufs Spiel.

Verflucht noch mal!

Arme, Achseln, Beine, Bauch. Überall schäumte es. Auch zwischen Backen und Schenkeln.

Was sich dort abspielte, musste ebenfalls geheim bleiben. So sehr, dass es nur in seinem Kopf stattfinden durfte.

Seine Finger gaukelten ihm Zärtlichkeit vor. Schlossen sich nass und glitschig um sein einsames Glied. Sie massierten die Hoden, während er sich einredete, sich dort nur zu waschen.

Welch eine Heuchelei.

Er zwang sich, an sie zu glauben, obwohl er die Lüge kannte. Sie war drei Jahre alt und würde noch lange leben.

Breitbeinig stand er mit den Füßen im Wasser und sah einem kalten Herbsttag entgegen. Dabei sehnte er sich nach der Wärme eines anderen Mannes. Nach festen Berührungen, nach harten Stößen, die seinen Leib erzittern ließen. Nacht für Nacht glitt seine Hand zwischen seine Schenkel. Ein Einschlaf-Ritual. Dass er damit Sünde auf sich häufte, war ihm gleichgültig. Seine Gedanken und Sehnsüchte gehörten ihm allein.

Solange sie in seinem Kopf blieben.

Sein Griff wurde fester. Zwischen Seife und Haut pulsierten prall gefüllte Adern und das Blut in ihnen sang ihm zu, dass es vor Leben strotzte. Dass es nicht in die Füße sickerte. Dass es nicht seine Beine blau färbte und zu stinken begann. Es floss heiß und stark durch ihn hindurch, drückte sich hart in seine Hand, biss ihm lustvoll in die Lenden.

Immer schneller glitt die Faust über den Schaft. Immer fester krallte er sich dabei in die eigenen Backen. Abwechselnd, so als würde seine Hand jemand anderem gehören.

Nur eine Lüge.

Besser als nichts.

Lust blieb, auch wenn sie einsam war.

Er warf den Kopf in den Nacken und hörte seinem Stöhnen zu. Noch zwei Stöße, und er taufte den See mit seiner Sehnsucht.

Milchweiß.

Vielleicht freute sich ein Fisch darüber.

 

~*~

 

Zwei dunkle Pfützen. In ihrer Mitte glomm der Fieberblick seiner Mutter.

Josias berührte die Schwärze um Annas Augen. Ganz vorsichtig. Sie hatte noch nie so elend ausgesehen. Nicht, als sie im vorherigen Winter hungern mussten, nicht, als sie beinahe an dem Kind gestorben wäre, das seine Schwester hätte sein sollen. Anna war immer wieder auf die Beine gekommen.

Nun lag sie seit Beginn des kalten Herbstes und mit jedem Regentag wurde es schlimmer. In den Nächten konnten sie beide nicht schlafen, weil sie ein böser Husten schüttelte. Während der Tage fehlte ihm die Kraft für die Arbeit, die er an ihrer Stelle übernahm.

Die aufgesprungenen Lippen versuchten zu lächeln. Die Hand, die manchmal vor Fieber glühte und dann wieder eiskalt war, schob sich über das Laken auf ihn zu.

Josias nahm sie in seine.

Noch am Vortag hatte sie ihn weggestoßen. Er sollte gesund und stark bleiben. Kein Fieber bekommen.

Nun war Anna dafür zu schwach.

Die Medizin hatte nicht geholfen, die ihr der Junge aus Visegrád heimlich mitbrachte. Auch nicht das Brot und der Honig, den er nach jedem kurzen Besuch zurückließ.

Wir haben jemanden, der auf uns aufpasst.

Wie oft sie diesen Satz gesagt hatte.

Meinte sie damit den Dorfschulzen oder seinen Teufelsvater?

Annas Lider sanken über ihre großen blauen Augen. Wenn sie lachte, leuchteten sie.

Sie hatte lange nicht mehr gelacht. Ihr Husten hätte es ihr übel genommen.

Josias hob ihre Hand an seine Lippen.

Als ob er einen Stein küsste. Ebenso kalt, ebenso leblos, obwohl ihre Finger zuckten.

Nur einmal. Dann waren sie ruhig.

Zu ruhig.

Nicht auf ihre Brust sehen. Nicht bemerken, dass sie sich nicht mehr hob und senkte, dass es still war und nicht mehr bei jedem Atemzug rasselte. Sich einreden, dass es nur ein tiefer Schlaf wäre, und wenn Anna morgen früh erwachte, würde sie lächeln und endlich aus dem längst stinkenden Bett aufstehen. Sie würde ihm eine Grütze kochen und ihm über den Buckel streicheln. Vielleicht wäre sie noch schwach und müsste sich bald wieder hinlegen. Auf frisches Heu mit einem frischen Laken, aber jeden Tag würde es ihr bessergehen.

Die dünne Hand in seiner wurde schwer. Über den knochigen Arm, zu der Schulter, die unter dem durchgeschwitzten Hemd verschwand, weiter zu dem Hals, zur Brust.

Sie rührte sich nicht.

»Ist sie tot, die Hure?«

Was suchte die Mutter des Dorfschulzen bei ihnen?

Sie blieb in der Tür stehen und reckte den Hals. »Da ist es schwarz unter den Augen.«

»Sie war krank. Das weißt du.« Wie er die Alte hasste. Sie hatte nur böse Worte und Verwünschungen für Anna und ihn übrig.

Sie humpelte näher. Ihr Buckel wölbte sich höher als seiner, doch ihr schrie niemand Teufelsbalg hinterher.

»Flecken auf den Armen«, brabbelte sie und ihre wässrigen Augen verengten sich, bis sie kaum noch zu sehen waren. »Da und da und da!« Ihr dürrer Finger durchstach die Luft. »Hinter Visegrád sind sie gestorben. Hunderte! Beulen und Flecken, Fieber und Husten.«

»Das sind Wanzenbisse.« Sie entzündeten sich bei Anna und wurden dicker als bei anderen. Das wusste die Frau. Sie sah Anna nicht zum ersten Mal.

»Deine Hurenmutter hat uns die Pest ins Dorf geschleppt!«

Hatte sie ihm nicht zugehört?

»Die Strafe für ihre Sünden!« Die Alte schlug ein Kreuz vor der Brust. »Und jetzt greift das Übel nach uns allen!« Keifend überschlug sich ihre Stimme. »Du und sie! Ihr lockt den Teufel nach Dömös! Ich habe es immer gewusst, habe meinen Sohn gewarnt, aber er wollte nicht auf mich hören!« Sie holte Luft und es rasselte.

Wenn sie doch als nächstes starb.

Die Wut ballte Josias’ Hand und Annas Finger knackten in seinem Griff.

Spürte sie es noch?

Keine Bewegung. Kein Atemholen, kein Zucken der Lider.

Aber auch einer Toten wollte er nicht wehtun.

Er legte ihre Hand zurück auf ihren Bauch und streichelte über die eingefallene Wange. »Höre nicht auf das böse Weib«, flüsterte er ihrer Seele zu. »Sie weiß nicht, dass es ihr Sohn mit Ziegen treibt.« Nicht auf dem Hof und unter den Augen seiner Söhne und Mutter. Oh nein. Dazu führte er die Ziegen in den Wald und bildete sich ein, niemand würde ihn dort beobachten, doch eben das hatte Josias getan. Mehr als einmal. Den Schulzen zog es offenbar zu derselben Lichtung wie ihn. Sie war klein und die Sonnenflecken tanzten im Moos. Ein schöner Ort. Der Kerl besudelte ihn mit seiner Fickerei.

»In der Hölle wird sie schmoren«, zischte die Alte und wich zurück. »Und du mit ihr!«

Wer so freundlich und sanft lächelte wie Anna, schmorte nirgends. Der schönste Engel würde kommen, um sie abzuholen. Darum würde er heute Nacht beten und wehe, Gott hielt ihm vor, vom Teufel gezeugt worden zu sein. Das hatte nur mit Annas Körper zu tun, aber nicht mit ihrer Seele. Der musste es gutgehen. Dafür würde er sorgen.

»Die Pestilenz«, faselte es hinter ihm. »Tod und Verderben für uns alle. Und du bist schuld, du Hexenbalg!«

»Eben war Anna noch eine Hure für dich.« Diese böse Frau einfach erschlagen und aus der Hütte schleifen.

»Sie war beides!« Zischte sie und ihr gichtkrummer Finger fuchtelte in der Luft. »Es heißt: An den Früchten werdet ihr sie erkennen!«

Warum verschwand sie nicht einfach? Mit ihrem Gekeife störte sie Annas jungen Tod.

»Sieh dich an, Josias. Dann weißt du, welche Art Baum deine Mutter war.« Ein letzter hasserfüllter Blick und die Alte schlurfte zur Tür.

Sie würde ihrem Sohn erzählen, Anna sei an der Pest gestorben. Ob es stimmte oder nicht, was spielte es für eine Rolle? Anna war tot und er war noch da.

Allein.

 

~*~

 

Zwischen Tamás’ fettigen Haaren kroch eine Filzlaus. Sie verschwand in den Tiefen des grauschwarzen Bartes und wurde einen Atemzug später von einer zweiten verfolgt. »Nun denn, werter Herr Kollege …« Tamás nickte zu Bence, mit dem zusammen er in Prag studiert hatte, was beide bei jeder noch so kläglichen Gelegenheit erwähnten. »… und teurer Freund.« Nun bedachte er Mihály mit einem Blick zwischen Hochmut und Mitgefühl.

Mihály verzichtete darauf, sich gekränkt zu fühlen. Zwar war er nur ein Wundarzt, dafür aber ein verdammt guter. Das wusste jedermann in Visegrád, in Pest, in Buda und in der Walachei war sein Name ebenfalls ein Begriff. Nicht umsonst praktizierte er am selben Ort, an dem der König residierte. Dorf oder nicht. Visegráds Palast machte was her.

»Die Pestilenz beginnt in unserem geliebten Land zu wuchern.« Tamás’ Stimme nahm von Silbe zu Silbe einen unheilvolleren Ton an. »Die Gerüchte sind eindeutig.«

Dann wären es Tatsachen. Gerüchte gab es reichlich zu sämtlichen Geißeln der Menschheit.

Ob sich Tamás die Mühe gemacht hatte, ihnen nachzugehen?

Mihály zwang sich, ihm in die Augen zu sehen und die dritte Laus zu ignorieren, die Richtung Kinn wuselte.

»Sie wird unsägliches Leid mit sich bringen, denn ungeachtet neuester Überlegungen ist und bleibt sie Gottes Strafe für unseren Sittenverfall und unsere Abkehr vom einzig wahren Glauben.« Laut und zitternd sog Tamás die Luft ein. Seine Augen weiteten sich dabei dramatisch. »Wir müssen uns auf das Schlimmste vorbereiten.«

Erstaunlich, dass Tamás als Gegenmaßnahme keine öffentlichen Geißelungen vorschlug.

Doch halt! Die waren ja verboten worden. Die wenigen Flagellaten, die im Verborgenen wirkten, galten längst selbst als Ketzer.

Eine richtige Entscheidung aus den falschen Gründen, aber nun denn.

»Die Pest.« Tamás nickte düster.

Mihály versteckte seine Gedanken hinter einer Maske aus Gleichgültigkeit. Sein Vater hatte ausführliche Berichte zu dieser Krankheit und ihren gesellschaftlichen und moralischen Folgen besessen. Sie waren in einer Chronik zusammengefasst, die sein Ururgroßvater begonnen hatte. Lesen und Schreiben zu können war in der Familie Szábo Tradition. Ebenso das Denken. Leider brachte Letzteres meist Ärger ein.

Mihály erinnerte sich an die wenigen Lehrsätze, die ihm spontan zu der Krankheit einfielen. Sie überschwemmte weite Teile des Landes in kurzer Zeit. Dem hohen Fieber und der Schwäche mit starken Kopfschmerzen folgten dunkle Beulen an Hals, Achseln und Leisten. Brachen sie auf, stank es erbärmlich, doch manchmal überlebte das Opfer. In der Regel jedoch sprang der Tod nach dem dritten Tag zu seiner nächsten Beute über.

Es existierte noch eine zweite Variante. Die befiel nur die Lunge, brachte keine Beulen hervor, endete aber ebenso tödlich.

Tamás dozierte von Sühne und Versuchung, nannte sämtliche Vergehen der Menschheit und zählte Gottes gerechte Strafen dafür auf. Dank seiner unheilschwangeren Worte verwandelte sich das Gasthaus in ein dunkles Verlies mit direktem Eingang zur Hölle.

Sara schaute mit gerunzelter Stirn aus der Küche zu ihnen hinüber. Jedes Mal, wenn Tamás eine neue Sünde nannte, zuckte sie zusammen. Ihrem Blick war abzulesen, dass sie die meisten Vergehen auf Tamás’ Liste mehr als nur vom Hörensagen kannte.

Bence hing an den Lippen seines Kollegen und verschlang jedes Wort.

Beide übersahen, was die Pest tatsächlich war. Nach wie vor eine Krankheit. Es musste eine Möglichkeit gefunden werden, sie zu heilen. Nicht heute, vielleicht auch nicht morgen, aber irgendwann war sie fällig.

Von Rechts wegen fielen Krankheiten in Bences und Tamás’ Aufgabenbereich. Wundärzte wie er waren ausschließlich fürs Grobe zuständig.

Eine Ahnung sagte ihm, dass sich die beiden nicht um diese Pflicht reißen würden. Ihre Angst vor Ansteckung war zu groß.

Die Gebrechen der Welt fordern uns heraus. Bei diesen Worten hatte sich sein Vater die Ärmel hochgekrempelt. Das Leid wartet nur darauf, von Menschen wie uns gelindert zu werden. Das ist ein Handwerk. Willst du es zum Meister bringen, musst du es üben.

Nicht für diese, aber für zahlreiche andere der Kirche widersprechenden Ansichten war Ádám Szábo der Häresie überführt und verbrannt worden. Dass er heimlich Leichname beschafft und noch heimlicher seziert hatte, mochte ebenfalls eine Rolle bei seiner Verurteilung gespielt haben. Eventuell auch die Tatsache, dass er auf dem Marktplatz von Prag öffentlich, weil sturzbetrunken, herausgeschrien hatte, dass Gott eine billige Hure sei, die um die Schicksale der Menschen Würfel spielte.

Es hatte einen Grund für das ungebührliche Verhalten seines Vaters gegeben. In dieser Nacht war ein enger Freund unter dem Skalpell gestorben, das er geführt hatte.

Der damalige Administrator ließ diesen Schicksalsschlag nicht als Entschuldigung gelten.

Nach dem Tod seines Vaters war Mihály geflohen. Der Sohn eines Ketzers war der Inquisition ein Dorn im Auge. Weit kam er nicht. Aus einem simplen Grund. Er war wie sein Vater ein guter Wundarzt und damit heiß begehrt.

Mihály Szábo. Ausgebildet von seinem Vater Ádám Szábo. Einer Legende unter den Wund- und Feldärzten und ein unübertroffen emsiger Schüler und Freund der Naturwissenschaften. Dass Ádám nie eine Universität von innen gesehen hatte, hielt ihn nicht davon ab, zu studieren. Am Menschen. Sowohl am toten als auch am lebendigen.

»Die Pest wird verursacht durch übel riechende Winde.« Tamás kratze sich an der Stelle, die eben noch ein Krabbeltier passiert hatte. »Die kommen aus Asien. Also wenn es stinkt in der Luft, schließt die Fenster. Nur die nach Norden hin dürfen geöffnet werden. Aus dieser Himmelsrichtung kommen allzeit gute Winde. Das hat mein werter Kollege aus Buda ebenfalls geraten.«

Es stank immer. Auch hier. Aus Tamás’ Richtung nach saurem Bier, aus Bences nach altem Schweiß.

Ob er einen Teil seines Seifenvorrates an die beiden abtreten sollte? Gegen einen Aufpreis würde Sara ihnen sicherlich den Zuber mit heißem Wasser füllen.

»Aber nein!« Bence sprang auf. Vor Eifer leuchtete seine Nasenspitze rot. »Es ist das Ungleichgewicht der Körpersäfte. Wir müssen beim Elementaren ansetzen. Bekömmliche Diäten, würziges Räucherwerk und fleißiges Aderlassen. Dort liegt das Heil! Das vermutet wiederum mein geschätzter Kollege aus Pest.«

Aderlass, um die Gesunden zu schwächen, damit sie umso schneller der Seuche erlagen. Um das zu wissen, brauchte er kein Studium. Schlichte Beobachtung genügte. Was blass und müde machte, wirkte niemals stärkend.

Apropos Beobachtung. Das Furunkel an Bences Hals sprang ihm regelrecht ins Auge. Rotleuchtend und prall vor Eiter flehte es um Mihálys zierlichstes Skalpell, um sich endlich über den speckigen Kragen des Wamses entleeren zu dürfen.

Ihm zuckte es in den Fingern.

Wie hielt es Bence bloß mit dem Ding an der Kehle aus? Es musste schmerzen.

Schon fuhr Bence mit den Fingernägeln darüber und verzog das Gesicht. »In zwei Dörfern im Umkreis von drei Tagesmärschen sind Bauern am Fieber krepiert. Die einen sagen, sie wären mit Beulen übersät gewesen, die anderen sprechen von einem üblen Husten.«

Beide Berichte passten zu dieser Plage, aber nicht die Tatsache, dass sie zuerst in Dörfern Fuß gefasst hatte. In den überfüllten Städten fühlte sich die Pestilenz wohler und gedieh schneller. Außerdem gab es zahllose böse Fieber mit bösem Husten und bösen Toden.

Mihály fuhr sich durch die kurzen Haare. Wie gern hätte er sie gerauft, doch das gab die Länge noch nicht her.

Vor wenigen Wochen hatte ihm einer seiner Patienten eine Handvoll Läuse vermacht. Um das Übel auszumerzen, hatte er sich geschoren. Überall dort, wo Haare wuchsen. Er war keine Heimstatt für Tamás kleine Filzfreunde.

»Gestern starb in Dömös eine Frau.« Tamás senkte die Lider. Auf jedem wurde ein schmaler Dreckstreifen sichtbar. Farblich passte er zum Ausschnitt seines ehemals weißen Hemdes. »Die Lunge soll sie sich aus dem Hals gehustet haben.«

Das Dorf lag nur knappe zwei Stunden von Visegrád entfernt. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als hinzureiten und nach dem Rechten zu sehen.

»Der König will, dass wir der Sache auf den Grund gehen.« Tamás klang alles andere als begeistert. »Der hat gut reden. Er verschanzt sich hinter seinen Palastmauern, genießt alle Pracht und Herrlichkeit, die ihm die italienischen Farbkleckser an die Wände pinseln, und unsereins muss sich Gottes Zorn aussetzen. Dazu sind wir nicht hergerufen worden!«

Matthias’ Bedenken war begründet. Sein eigener Vater war an der Pest gestorben.

»Der König hält doch so große Stücke auf dich.« Bence warf ihm einen hochmütigen Blick zu. »Warum schickt er dich nicht nach Dömös?«

»Weil er auf zwei Doktoren verzichten kann, nicht aber auf seinen besten Wundarzt.« Matthias war ein Pragmatiker.

Bence schnaubte empört. »Wenigstens ich habe Vorsorge getroffen.« Er griff unter den Tisch und klatschte einen Beutel darauf. »Die hier habe ich von Herrn Barti, dem Apotheker.« Er schleuderte Ledermasken und Schwämmchen aus dem Leinensack. »Er schwor mir, mit dieser Erfindung sei er der Geschichte der Medizin um mindestens zweihundert Jahre voraus.« Er nickte ebenso dramatisch wie Tamás. »Er sagte, er hätte diese Masken in einer Vision gesehen. Ein Mann mit weißem Bart und italienischem Dialekt hätte ihm die Funktionsweise erklärt.« Er griff in sein Wams und zog ein Fläschchen und eine Dose hervor. »Essig und Kräuter.« Dose und Fläschchen landeten in der Mitte des Tisches. »Das hilft gegen den Pesthauch der Kranken.«

Mit den unheimlichen Masken ersparten sie der Seuche die Arbeit. Jeder Kranke musste sich zu Tode erschrecken, wenn sie mit den Dingern über den Köpfen auftauchten.

»Was schaust du so pikiert?« Tamás tränkte einen Schwamm mit Essig und stopfte ihn hektisch in den gekrümmten Lederschnabel. »Herr Barti klang sehr überzeugend.«

Herr Barti war nicht nur ein guter Apotheker, er war auch ein vortrefflicher Krämer.

»Wie viel hat er euch dafür abgenommen?«

Tamás lief rot an. »Viel. Aber das sollte uns unser Überleben wert sein. Also tu nicht so hochnäsig, Feldscher, wenn du keinen besseren Vorschlag …«

»In der Walachei gibt es keine Seuchen«, fiel ihm Bence ins Wort. »Weil dein früherer Herr sie weggehext hat.«

Nicht diese alten Geschichten.

»Vielleicht pfählt er die Kranken, um sich mit ihren Seelen vom Teufel freizukaufen.« Bences Blick war so düster wie seine Stimme.

Um Vlad III. kreisten haarsträubende Gerüchte. Der Woiwode war grausam, daran bestand kein Zweifel. Aber Mihály verdankte ihm, dass er noch seine Manneswürde besaß. Ohne sein Eingreifen hätten ihn die Soldaten damals kastriert. Einer hatte das Messer bereits gezückt.

Sodomit.

Das angewiderte Zischen des Scheißkerls klang ihm in bösen Nächten in den Ohren.

Es war nur ein harmloser Kuss gewesen. Dávid und er hatten den ganzen Tag Verletzte geflickt. Das Blut der letzten Beinamputation klebte ihnen noch an den Händen und sie brauchten beide etwas Schönes für den Moment. Ein bisschen Trost, einen Funken Hoffnung auf erfüllte Lust in der Nacht.

Plötzlich stürmte der Hauptmann mit seinen Leuten das Lazarettzelt, zerrte Dávid mit sich und schlug ihm den Griff seines Degens an die Schläfe. Dávid wurde mit dem Kopf an das Holzgestell geschleudert, an dem er eben noch einem Mann das Leben gerettet hatte.

Er hatte gegen Dávids Tod angeschrien, Soldaten niedergeschlagen, doch schließlich hatten sie ihn gepackt, ihm die Hose in die Kniekehlen gezerrt und ihm dieses verfluchte Messer an den Schwanz gedrückt.

Vlad war wie ein Geist erschienen. Als hätte er sich samt seinem Säbel ins Zelt gehext. Er hatte den Hauptmann zurückgerissen und gedroht, jeden zu köpfen, der es wagen sollte, Hand an seinen Wundarzt zu legen oder auch nur ein Sterbenswörtchen von diesem Vorfall zu erwähnen. Gleichgültig wem gegenüber. Er dächte nicht daran, Szábo wegen einer Lappalie an den Scheiterhaufen zu verlieren.

Damals war sein Herz gebrochen. Dávids sinnloser Tod hatte für ihn die Welt in einen noch dunkleren und grausameren Ort verwandelt, als sie es ohnehin war.

»Wenn uns die Pestilenz überrennt, werden wir alle sterben.« Bences Grabesstimme riss ihn aus der Erinnerung.

Angst half niemandem. Wissen schon. Dummerweise wusste er nichts über die Ursachen der Pest. Böse Winde oder ein sündiges Leben schieden aus. Sonst säße keiner von ihnen hier. Er wegen der Sünde, Tamás und Bence wegen ihres üblen Geruchs.

Dreck und Gestank waren schädlich bei Wunden, auch wenn es Bader gab, die das Gegenteil behaupteten und sie mit Mist einstrichen, um sie zum Eitern und damit zum Abheilen zu zwingen. Sein Vater war diesem Rat nie gefolgt, sondern hatte sich stattdessen vor und nach jeder Behandlung die Hände mit Seife gewaschen. Seine Wundbrandrate war erstaunlich gering gewesen. Ein Grund, seinem Beispiel zu folgen.

Was, wenn dasselbe für Krankheiten wie die Pest galt?

Es war nicht seine schlaueste These, aber im Moment seine einzige.

Er holte tief Luft und wappnete sich moralisch gegen einen verbalen Angriff. »Wenn wir die Ursache des Gestanks verhindern, verhindern wir vielleicht die Ausbreitung der Pestilenz und jeder anderen Krankheit.« Ausgesprochen klang die Vermutung weitaus logischer als nur gedacht.

Tamás schien das anders zu sehen, denn er lächelte milde. »Asien existiert in weiter Ferne.« Sein nach überanstrengtem Magen riechender Atem fand den Weg in Mihálys Nase. »Demnach ist es uns unmöglich, die Quelle der bösen Winde zu beseitigen.«

»Es sind auch nicht die Winde allein.« Wieder begann Bences Nase zu leuchten. »Wie mein hochgeschätzter Kollege aus Pest ausführte, liegt es einzig am Zusammenspiel gelber und schwarzer Galle.«

Ihm war danach, mit dem Kopf gegen die Wand zu schlagen. Mit Bences oder wahlweise mit Tamás’.

Buda und Pest waren einen Steinwurf voneinander entfernt. Nur die Donau trennte die linke von der rechten Dummheit sogenannter Kollegen.

»Freunde, wascht euch einfach. Das scheint mir eine gute Vorbeugung zu sein.« Zugegeben, mit Seife allein kam er der Krankheit wahrscheinlich nicht bei. Aber es war ein Anfang. Immerhin sprossen auf seiner Haut keine eitrigen Furunkel.

Zwei Augenpaare starrten ihn entsetzt an.

»Waschen?«, japste Tamás und schüttelte energisch den Kopf. »Nach den neuesten Erkenntnissen dringt das Wasser durch die Poren der Haut, macht sie weich und schwemmt sie auf. Es verdünnt die Säfte und schwächt den gesamten Organismus. Erst dadurch können Krankheiten eindringen und ihn von innen heraus vergiften.« Er blähte die Wangen, was einer seiner krabbelnden Gäste Grund zur Flucht gab.

Mihály rückte mit dem Stuhl weiter von ihm weg. Die Tierchen waren winzig. Wären seine Augen nicht so geschult, hätte er sie nicht gesehen, dafür aber bald gespürt.

»Wer gesund sein und bleiben will, lieber Mihály, muss sich vom Wasser fernhalten. Ein konsequentes Umsetzen dieser Theorie würde auch endlich zur Schließung der Badehäuser führen, die durch ihre Existenz den Sittenverfall vorantreiben und arglose Seelen direkt in Teufels Rachen treiben.«

Bence nickte eifrig. »Jeder weiß, was in den Badehäusern geschieht.«

Baden, rasieren, Nägel feilen, Haare schneiden, eventuell Zähne ziehen, ab und an zur Ader lassen. Bei Gelegenheit auch ein angenehmer Fick in heißem Wasser. Als sein Vater und er eine Zeit lang in Buda gelebt hatten, waren sie regelmäßig in eines dieser Häuser gegangen. Gegen ein paar Münzen teilte eine Hübsche den Zuber mit dem Gast und rieb ihn in einen süßen Rausch. Breitbeinig hatte Mihály derlei Dienste genossen und dabei von einem gut gebauten Jüngling geträumt, bis das geronnene Zeichen seiner erfüllten Lust sich auf der Wasseroberfläche mit dem Seifen- und Hautfett mischte.

»Hurerei.« Bence spuckte angewidert aus.

Das mochte sein, aber auf hohem und sauberem Niveau.

Tamás schnupperte in seine Richtung. »Du riechst nach Blumen.«

Eher nach selbst parfümierter Seife.

Abschätzig verzog Tamás den Mund. »Das ist weibisch, findest du nicht?«

Nicht halb so weibisch wie meine heimlichen Penetrationssehnsüchte.

Der Gedanke blieb verschlossen in seinem Geist.

»Das schickt sich nicht für einen gottesfürchtigen Mann.« Mit zusammengekniffenen Augen musterte ihn Tamás von oben bis unten. »Das Seifensieden ist keine Kunst. Es ist ein abgeschmacktes Handwerk, das der Sünde den Weg bereitet.«

Zum Teufel mit gelehrter Einfältigkeit!

Vlad war während eines Feldzuges gegen Mehmed II. in den Besitz eines eigenen Seifensieders gekommen. Mihály hatte bei dem Türken alles über die Feinheiten dieser Kunst gelernt. Nicht bloß simples Knochenfett-und-Pottasche-zusammen-matschen, sondern die Herstellung wohlriechender Kostbarkeiten, denen je nach verwendeten Zutaten wie Blüten und Kräutern besondere heilende und auf die Seele wirkende Eigenschaften innewohnten.

Wenn die Osmanen in naher Zukunft das Heilige Römische Reich überrannten, konnte sich nur ein Dummkopf darüber wundern. In Handwerk, Kunst und Wissenschaft waren sie dem Abendland turmhoch überlegen.

Er schnappte sich eine der Masken und stopfte ebenfalls Essigschwämme in den Lederzinken. Darauf geschissen, ob es etwas brachte. Früher oder später starb jeder, doch er wollte dieser Vorsichtsmaßnahme zumindest eine Chance geben.

 

~*~

 

»Sieht mager aus.« Levente warf einen spöttischen Blick in die Kasse. »Strotzen Visegráds Bürger vor Gesundheit oder knausern sie?«

»Weder noch.« Attila klappte den Hort der zu wenigen Münzen zu. »Ich verschwende mein Vermögen gerne für ein süßes Leben in einer bitteren Welt.« Wenn die Apotheke sein einziges Auskommen wäre, müsste er seinen Lebensstand überdenken. Zum Glück waren da noch die zwei Badehäuser in Buda und die Taverne in Pest. Zwar alle drei in den fähigen Händen seines Bruders Levente aber die Hälfte der Einnahmen floss zu ihm.

An Staat und Kirche vorbei, wohlgemerkt. Die Familie Barti hielt zusammen.

»Macht sich Silas gut?« Levente sah über die Schulter nach draußen, wo der Junge den Schlamm von der Schwelle fegte.

Tagelang hatte es wie aus Eimern geschüttet. Die Straßen waren kaum passierbar.

»Hübsch ist er ja.«

»Ja, das kannst du laut sagen.« Ein ganz prachtvoller Bursche.

Offiziell galt Silas vor den Augen der Welt als sein Geselle. Inoffiziell teilte er mit ihm das Lager - hinter geschlossenen Läden und Türen. Nicht einmal der Hauch eines Verdachtes durfte den ehrenhaften und stets freundlichen Apotheker aus Visegrád treffen. Dass sein Bruder mit süßen und zum Glück sündigen Mädchen und sanften Jungen ein Vermögen verdiente, war ebenfalls ein gut gehütetes Geheimnis.

Silas war ein ganz reizender Appetithappen und bereits vortrefflich eingeritten. Von ihm persönlich und nach allen Regeln der Kunst.

Levente grinste, als er Attilas Seufzen vernahm. »Der Kleine war ein Glücksgriff. Am liebsten würde ich ihn wieder nach Buda mitnehmen. Sein Zuckerarsch ist blankes Gold wert.«

»Bei deinem nächsten Besuch.« Immer musste ihm Levente die Bengel wegnehmen, wenn er sie gerade eingearbeitet hatte. Im Bett und in der Apotheke.

»Hm«, brummte Levente und fuhr sich durch die grauen Haare. »Mit meinem neuen Fang habe ich nicht so viel Glück.«

Sein Bruder sah gut aus, obwohl er das rüstigste Mannesalter bereits hinter sich gelassen hatte. Zum Teil lag das an seiner Aufmachung. Sie war die eines wohlhabenden Kaufmanns und dafür hielten ihn die Leute auch.

Levente war ein Bader, Zuhälter und noch einiges mehr, was den Ruf der Familie Barti ruinieren würde. Damit das nicht geschah, hatte er diesen Namen abgelegt und nannte sich Leske. In Visegrád wusste niemand, dass sie Brüder waren.

Wenn er über die Dörfer zog und Mädchen für spezielle Aufgaben für seine Badehäuser anwarb, ließ er ebenfalls Vorsicht walten. Er kleidete sie in Männerhosen. So gingen sie als junge Burschen und seine Gesellen durch.

»Die beiden Gänslein sind zwar schön, aber dumm.« Levente seufzte. »Für Visegrád mag es genügen, doch in Buda sind die Männer anspruchsvoll.«

»Stelle sie auf die Probe, bevor du dich mit ihnen belastest.« Das Gasthaus zur Zitadelle besaß ein geräumiges Hinterzimmer und gegen gutes Geld drückt die Wirtin beide Augen zu. Außerdem war Sara verschwiegen. Eine unbezahlbare Eigenschaft. »Wie wäre es mit den beiden Doktoren, die mir bei jeder Gelegenheit auf den Geist gehen?« Ständig versuchten sie, ihn in wissenschaftliche Dispute zu verwickeln, nur um seine Argumente mit einem höhnischen Lächeln beiseite zu wischen.

Levente runzelte die Stirn, nickte schließlich. »Eine gute Idee. Kennst du ihre Vorlieben?«

»Ich weiß nur, dass Wasser und Seife nichts damit zu tun haben und dass sie aus Prag stammen.«

Levente hob die Brauen. »Die dortige Universität genießt einen guten Ruf.«

Erstaunlich bei der fragwürdigen Qualität ihrer Dozenten. Die beiden hatten sich seinen Bestand an venezianischen Karnevalsmasken aufschwatzen lassen und ihm anstandslos geglaubt, dass es funktionstüchtige Waffen gegen jedwede Ansteckung waren.

Vor Jahren hatte sie ihm ein fahrender Händler überlassen. Nun waren sie dank seines Einfalls ein Vermögen wert.

»Was ist mit dem Weindestillat, von dem du mir geschrieben hast?«, fragte sein Bruder und rieb sich die Hände. »Wenn das Zeug Löcher in den Magen ätzt, vernebelt es auch den Kopf.«

Das Destillat war ein Wundermittel. Es reinigte nicht nur die Glaskolben von Fett-, Talg- und sonstigen Resten, es brannte auch Wunden ohne Glüheisen aus.

»Ich wollte es Szábo anbieten.« Der Arzt hätte seine Freude daran.

»Szábo.« Etwas in Leventes Blick veränderte sich. »Ist er so gut wie sein Vater?« Wie zufällig strich er sich mit der Hand über die Brust.

Die Narben, die das Hemd verbarg, sahen nur noch wenige, seit er das Huren anderen überließ.

»Ich kannte Ádám Szábo nicht so gut wie du, aber ich halte den jungen Szábo für vortrefflich.«

Levente nickte versonnen.

Was ging im Kopf seines Bruders vor sich? Oder besser: Was in seinem Herzen?

Er war mit Ádám Szábo beim selben Bader in die Lehre gegangen. Die beiden hatte eine innige Freundschaft verbunden.

Bis sie Leventes Sinn für alles Unmoralische zum Opfer fiel.

Attila seufzte. Es stand ihm nicht zu, seinen Bruder zu verurteilen. Schließlich profitierte er von Leventes Skrupellosigkeit.

Er stellte eines der Fläschchen mit dem Destillat vor ihn. »Dank meiner Erfindung wird er bald der beste Bader weit und breit sein.«

Levente entkorkte es und schnupperte.

Nur um erschrocken zurückzuweichen.

»Bei allen Heiligen! Das Zeug beißt in der Nase!«

»Und in die Haut, in den Arsch und wo immer du es verwenden willst.« Silas hatte sich zum Zweck wissenschaftlicher Forschung kein zweites Mal als Versuchsperson zur Verfügung gestellt. »Außerdem dreht es dir schon nach wenigen Schlucken den Kopf, so du es schaffst, deine Kehle damit zu schmieren, ohne am Hustenreiz zu ersticken.«

»Davon hätte ich gerne mehr.« Grinsend verschloss Levente das Glasgefäß und steckte es ins Wams. »Ich werde es meinen Gästen in den Wein mischen. Das wird sie von übertriebenem Anstand kurieren und sie den Abend intensiver genießen lassen. Auch wenn die Mädchen Bockmist verzapfen.«

Zweifellos wären die beiden Doktoren aus Prag Leventes erste Opfer. Die beiden taten ihm beinahe leid. Als er das Destillat an sich selbst ausprobiert hatte, hatte er sich in einen Rausch gesoffen, der zwei Tage nachgewirkt hatte.

Levente zwinkerte. »Hier.«

Ein Lederbeutel landete auf dem Verkaufstresen. Aus seinem Innern klimperte es verheißungsvoll.

»Dein Anteil der letzten beiden Monate. Mach was Schönes damit.«

Das würde er ganz sicherlich.

Eine kurze, feste Umarmung und Levente verließ die Apotheke. Als er grußlos an Silas vorbeimarschierte, verneigte der sich, sah ihm einen Wimpernschlag lang nach und stürmte in die Apotheke.

»Dein Bruder nimmt mich nicht mit?«

Weshalb starrte er ihn dermaßen fassungslos an? Gefiel es ihm hier nicht mehr?

»Ich dachte, er ist gekommen, um mich abzuholen.«

»Offenbar nicht.« Silas ging es zu gut bei ihm. Die Schuhe an seinen Füßen waren der Beweis. »Sag es gerade heraus, wenn du meiner überdrüssig bist. Dann rufe ich ihn zurück und du kannst …«

»Nein.« Seine Geste beschwichtigte. »Ich beklage mich nicht. Ich bin nur erstaunt.«

Ein bisschen zu sehr, nach seinem Geschmack.

Draußen begann es zu regnen. Mal wieder.

Attila seufzte. Er war diesen Schlamm und Matsch in den Gassen so überdrüssig.

Silas tauchte die Hand in das Glas mit den Anispastillen. »Übrigens ist Anna tot.«

Oh nein.

»Ich wollte ihr den Hustensaft bringen, aber der Dorfschulze verstellte mir den Weg.« Silas warf eine der Süßigkeiten in die Luft und fing sie mit dem Mund auf.

Anna. Die süße, leicht anämische Maus aus halbwegs guter Familie. Sogar lesen und schreiben hatte sie gekonnt. Ein kluges Köpfchen und hübsch obendrein. Damals hatte sie die Arbeit im Badehaus dem Klosterleben vorgezogen.

Er hatte sie während der Besuche bei Levente oft genossen.

»Der Schulze fürchtet, es könnte die Pestilenz sein.« Wieder verschwand Silas’ Hand im Glas.

Dachte der Junge, Süßes sei umsonst? Alles hatte in dieser Welt seinen Preis.

Annas war moderat gewesen.

Attila winkte ihn zu sich hinter den Verkaufstresen. »Hinknien.« Er nestelte die Bänder seiner Hose auf.

Es wurde Zeit für eine Lektion. Draußen goss es in Strömen und Visegráds Gassen waren leer wie hoffentlich gleich sein Gehänge. Entspannt ließ es sich ohnehin leichter über tragische Zwischenfälle nachdenken.

Silas verdrehte die Augen. »Muss ich?«

Die Kopfnuss erinnerte den Bengel an seine Pflichten. Noch kauend ließ er sich vor ihm nieder.

Anisduft strömte zu ihm empor, als Silas die Lippen um Attilas Lieblingskörperteil schloss.

Sollten die Pfaffen predigen, was immer sie wollten. Wahre Erlösung fand ausschließlich unterhalb der Gürtellinie statt.

»Fester!« Er war keine zwölf mehr und in mancherlei Hinsicht abgehärtet.

Silas gehorchte. Sein Schmatzen und Saugen zusammen mit der durchblutungsfördernden Eigenschaft des Anis wirkte Wunder. Auch bei seinem schon betagten Geschlecht.