Der Sohn - Giacomo Cacciatore - E-Book

Der Sohn E-Book

Giacomo Cacciatore

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Beschreibung

Wer redet, muss sterben. Der neunjährige Giovanni aus Palermo lebt in einer Welt des Schweigens, der Omertà. Denn sein Vater Vincenzo, ein Polizist, arbeitet heimlich für das organisierte Verbrechen. «Wenn man das Böse nicht sieht, existiert es nicht», pflegt er zu sagen – eine Maxime, die ihm in Palermo nur nützen kann. Auch für Giovanni hat das Doppelleben seines Vaters Vorteile: Eine geflüsterte, nicht zu verweigernde Bitte beim Elektrohändler, und Stunden später steht der langersehnte Farbfernseher im Wohnzimmer. Giovanni geht in amerikanischen Polizeiserien auf. Doch die finden ein bedenkliches Echo im echten Leben: Drohanrufe und Leichen auf der Straße zeigen dem Jungen, dass sein Vater in ernster Gefahr ist …

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Giacomo Cacciatore

Der Sohn

Aus dem Italienischen von Judith Schwaab

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Wer redet, muss sterben.

 

Der neunjährige Giovanni aus Palermo lebt in einer Welt des Schweigens, der Omertà. Denn sein Vater Vincenzo, ein Polizist, arbeitet heimlich für das organisierte Verbrechen. «Wenn man das Böse nicht sieht, existiert es nicht», pflegt er zu sagen – eine Maxime, die ihm in Palermo nur nützen kann. Auch für Giovanni hat das Doppelleben seines Vaters Vorteile: Eine geflüsterte, nicht zu verweigernde Bitte beim Elektrohändler, und Stunden später steht der langersehnte Farbfernseher im Wohnzimmer. Giovanni geht in amerikanischen Polizeiserien auf. Doch die finden ein bedenkliches Echo im echten Leben: Drohanrufe und Leichen auf der Straße zeigen dem Jungen, dass sein Vater in ernster Gefahr ist …

Über Giacomo Cacciatore

Giacomo Cacciatore wurde 1967 in Polistena, Kalabrien, geboren. Er studierte Literatur und Sprachwissenschaften und lebt als Journalist und Korrespondent, u.a. von «La Repubblica», in Palermo. Er hat diverse Sachbücher, Erzählungen und Romane veröffentlicht und gilt als eines der groβen literarischen Talente Italiens.

Inhaltsübersicht

Ich trat dem ...Für Raffaella, zum ...In den Taschen ...KinderprogrammDie Tage der lebenden TotenStarsky und HutchKind im Schlafanzug ...ÜberblendungenWir unterbrechen unsere SendungNachbemerkung des AutorsDanksagung

Ich trat dem Wanderer fest entgegen und blickte ihm unverwandt ins Gesicht. Aber er bemerkte mich nicht, sondern setzte seine feierliche Wanderung ruhig fort. Jetzt folgte ich ihm nicht weiter und blieb in tiefem Nachdenken stehen. «Dieser alte Mann», sagte ich endlich zu mir selbst, «ist die Verkörperung, ist der Geist des Verbrechens. Er kann nicht allein sein. Er ist der Mann in der Menge. Es wäre vergebens, ihm noch weiter nachzugehen, denn ich würde doch nichts von ihm, nichts von seinen Taten erfahren.»

Edgar Allan Poe, Der Mann in der Menge

 

Du dachtest, es sei wichtig, etwas zu tun, das klug ist, und schlau, und einfallsreich. Doch du hast dich getäuscht. Das Leben ist nicht so komplex. Komplex sind nur wir. Das Leben ist einfach, und das Einfache ist auch das Richtige.

Oscar Wilde in einem Brief an Robert Ross, 1. April 1897

Für Raffaella, zum zweiten Mal

In den Taschen seines Blousons fand man einen Schal, drei Nagelscheren, zwei Kämme, die Hausschlüssel. Im Gummizug der rechten Socke steckten ein Küchenmesser, Geschenkband, eine Tüte Instant-Orangengetränk, mehrere Nagelfeilen und weitere Kämme. Aus der linken Socke rollte ein Ei, das mit einem Knirschen zerbrach.

Wer sich nicht bereits nach ihm umgedreht hatte, tat es jetzt.

Denen, die ihn festnahmen, nannte er einen Namen. Als sie nicht begriffen, nannte er noch einen anderen.

Dann bat er darum, telefonieren zu dürfen.

Kinderprogramm

Der Zauber kommt durch die Farben, und er löscht alles andere aus: die Schürfwunde am Knie, die seit gestern brennt, das Geschäft, die Straße draußen vor dem Schaufenster und die Hitze, die man in seiner Stadt selbst im Winter spüren kann.

Es ist das erste Mal, dass Giovanni einen solchen Kasten sieht. Er hat schon davon gehört, aber es ist etwas ganz anderes, das Wunderwerk aus der Nähe zu betrachten.

Und so steht er vor dem Regal, die Nase nach oben gereckt, und kann den Blick nicht abwenden von diesem Spiel, das nie aufhört. Er denkt: Wie haben die bloß die Farben da reingekriegt? Wer weiß, ob das ganze Blau, das Gelb und das Grün nicht rausspritzen, wenn man diesen Zauberkasten kaputt macht. Wer weiß, ob man sich nicht ein Stückchen davon mitnehmen kann, nur ein ganz winziges, um es im Dunkeln zu betrachten.

Er hält die Hand gegen das Licht, und seine Finger verwandeln sich in einen weißen Schmetterling.

Ach, dieser Kasten, der funkelt, er ist wirklich das Original, nicht bloß ein Stück Glas, wie sie es auf der letzten Seite des Fotoromans seiner Mutter anpreisen: Legen Sie die farbige Scheibe einfach vor Ihren Schwarzweißbildschirm und holen Sie sich ein ganz neues Seherlebnis nach Hause. Papa sagt, die Scheibe aus der Werbung ist sowieso nur ein Flaschenboden.

In dem bunten Schimmer, den Giovanni jetzt sieht, könnte man hingegen baden. Versinken könnte man darin, und verschwinden. Die Bilder bleiben stumm, aber was macht das schon.

Der würde sogar der Mama gefallen, dieser Kasten.

Genau, das könnte Giovanni sagen: Der würde der Mama gefallen.

Das Seherlebnis eines echten Farbfernsehers. Bei Ihnen zu Hause.

Sein Vater und der Inhaber des Geschäfts lassen einander nicht aus den Augen. Papa schaut den Händler an, während der andere überlegt, was es da zu schauen gibt. Aber vielleicht, denkt Giovanni, ist Papa auch nur mit seinen eigenen Dingen beschäftigt und kann es nicht erwarten, seinen gewohnten Rundgang fortzusetzen.

Giovanni tritt noch näher an das Regal heran.

Auf dem Bildschirm ist jetzt eine Familie im Schlafanzug zu sehen, Mama, Papa und Kinder, die alle zusammen auf einer Matratze herumspringen. Die kennt er: Er nennt sie Bidibodibu. Aber wer hat schon gewusst, dass der Vater der Bidibodibu rote Haare und einen roten Bart hat?

Giovanni will so einen Kasten. Er will, er will, er will einen Farbfernseher.

Irgendwo hat er gelesen, dass bis 1978 alle einen haben werden, weil dann Fußballweltmeisterschaft ist.

Bald ist Fußballweltmeisterschaft, Papa. Und dieser Kasten ist das Schönste, was ich je …

Dieser Kasten ist das Schönste, was Giovanni je gesehen hat, und er braucht ihn unbedingt, und zwar sofort. Denn wenn er den Blick vom Bildschirm losreißt und nach draußen schaut, zu dem schmutzigen Stück Straße, dann ist es so, als würde etwas in seiner Brust zerspringen.

Sein Vater und der Händler drehen sich zu ihm. Sie unterbrechen eine Unterhaltung, die hauptsächlich aus Schweigen bestand und in der man einander wenig zu sagen hatte.

Der Händler lächelt. Papa schüttelt den Kopf, erwidert das Lächeln nicht.

Giovanni hofft immer noch. Er hält den Atem an.

Sein Vater fragt den Händler, wie lange denn so ein Fernseher hält …

Der hält, Papa.

 … ob sich ein Kauf überhaupt lohnt und das nicht ein Riesenbeschiss ist und die Farben schon nach ein paar Tagen verblassen, wenn man ihn zu Hause stehen hat.

Wer garantiert ihm denn, dass das nicht passiert?

«Sie machen Witze», sagt der Händler.

Machst du wirklich Witze, Papa?

Sein Vater geht auf den Händler zu. Es ist, als wollte er ihn beschnuppern, und er schaut ihm direkt in die Augen.

Giovanni weiß schon, was passiert, wenn sein Vater jemanden so anschaut.

Er flüstert dem Händler einen Vornamen zu. Vielleicht ist es diesmal aber auch ein Nachname, oder er zeigt auf eine Straße oder eine Bar. Um festzustellen, ob sie sich einigen können.

Der Händler antwortet nicht. Er schaut ihn starr an, als habe er kein Wort verstanden.

 

Als sie dann im Auto sitzen, fängt Giovanni an.

Er fragt, warum es Süßigkeiten gibt, und Fisch auch, aber keinen Farbfernseher.

Papa gibt vor, ihn nicht zu hören.

Giovanni verstummt. Seine Augen sind feucht geworden.

«Du willst immer alles sofort», sagt sein Vater. «Tu einfach so, als hättest du ihn nie gesehen, diesen Fernseher. Dann denkst du nicht mehr dran. Wenn du wüsstest, wie oft ich Dinge vergessen musste, die ich einmal gesehen hatte. Solche, die mir gefielen, und andere, die mir überhaupt nicht gefielen. Was ist los, sagst du jetzt nichts mehr?»

Giovanni schüttelt den Kopf.

«Besser so. Wer wenig redet, macht auch keine Fehler.»

Giovanni schaut demonstrativ aus dem Fenster. Das alles hat er schon so oft gehört.

«Die Sprache hat keine Knochen, aber sie kann Knochen brechen. Worte haben ein Gewicht, und sie können so viele verschiedene Bedeutungen haben, dass ein Kind wie du sich das kaum vorstellen kann. Was macht daher ein richtiger Mann?»

Stille. Sein Vater lässt nicht locker.

«An die Dinge, die man nicht haben kann, denkt man einfach nicht mehr, und man darf nur reden, wenn …»

Giovannis Widerstand schwindet. Das Bild, das sein Vater jetzt bringt, hat ihn schon immer zum Lachen gebracht. «… wenn die Henne in den Hof pisst.»

«Das bedeutet, nie. Bravo! Wenigstens in dieser Hinsicht hast du nichts von deiner Mutter. Und jetzt machen wir einen kleinen Test, ob du wirklich vergessen hast. Mach die Augen zu: Wo waren wir gerade eben?»

«Im Elektrogeschäft. Ich will einen Farbfernseher.»

«Verdammt, bist du ein Dickkopf! Glaubt ihr denn, ich kriege alles geschenkt?»

«Manchmal schon, Papa.»

Sein Vater schweigt einen Augenblick. Dann sagt er leise: «Und was macht die Henne? Hat sie gepisst?»

«Nein.»

«Dann sei jetzt endlich still. Gott weiß, was es mich diese Woche wieder gekostet hat, ein paar Lire zu verdienen.» Papa legt missmutig einen Gang ein. «Die Lage ist kritisch. Du hast ja gehört, was Signor Matteo gesagt hat.»

«Nein.»

«Weil du gespielt hast.»

Klar hat er gespielt. Weil es öfter vorkommt, dass Giovanni sich in dem stets leeren Stoffgeschäft von Matteo Scavone langweilt, wohin ihn sein Vater jeden zweiten Nachmittag mitnimmt und wo er sich dann auf einen Karton setzt und mit Fäden und Stoffschnipseln spielt oder etwas auf ein Blatt Papier kritzelt, aber die Zeit vergeht nie. Da sind ihm die pasticcerie, die Konditoreien, lieber, hundertmal lieber.

«Papa?»

«Was denn?»

«Ich glaube an das, was du mir immer sagst: dass du es uns an nichts fehlen lässt und dass du dafür Tag und Nacht arbeitest, auch wenn es so aussieht, als würdest du deine Zeit hauptsächlich damit verbringen, mit deinen Freunden zu reden.»

Schweigen. Vielversprechend.

«Meiner Meinung nach ist dieser Farbfernseher schlecht für die Augen», fängt sein Vater wieder von vorne an.

«Nein! Ich hab gelesen, dass das nicht stimmt.»

«Ich halt einfach nichts von diesen neuen Sachen.»

«Aber bald ist Fußballweltmeisterschaft.»

«Ah …» Sein Vater schließt halb die Augen. Vielleicht stellt er sich vor, wie die Nationalmannschaft gegen die Brasilianer oder die Argentinier spielt. Azurblau. Gelb. Grün. Hellblau.

«Na gut», seufzt er. «Schauen wir mal, was sich machen lässt.»

Giovanni richtet sich kerzengerade auf. «Schwör’s!»

Sein Vater schnaubt. «Schwören hin, schwören her. Wir werden sehen. Aber ich kriege die Sachen nicht geschenkt.»

Und er fügt hinzu, zuerst müsse er sich umhören, bei welchem Händler man sich denn einen Fernseher holen und mit nach Hause nehmen kann.

Ohne zu bezahlen.

***

Das Auto biegt in eine Straße des Zentrums ein, die an Werktagen voller unbekannter Leute ist, doch am Sonntag sieht man hier nur die Freunde von Papa. Freunde, die vor ihren geöffneten Geschäften sitzen, obwohl Sonntag ist und sie geschlossen haben müssten; Freunde, die Arm in Arm spazieren gehen; Freunde, die in Autos ein- und aussteigen; Freunde, die gut oder weniger gut angezogen sind. Die, die weniger gut angezogen sind, haben nicht einmal einen Laden; sie verkaufen Dinge auf der Straße und hängen sich auch bei niemandem ein, aber auch ihnen drückt Papa die Hand. Ab und zu machen die weniger gut Angezogenen die Hälse nach denen lang, die gut angezogen sind und die Konditorei betreten, sie grüßen sie von weitem und heben den Arm, aber ohne jemals dem Schaufenster zu nahe zu kommen.

Der Blumenhändler, der sich fast vor ihr Auto wirft, damit sie langsamer fahren, ist einer von ihnen. Er nähert sich mit seinen dornenzerstochenen Fingern der Tür des Centoventiquattro, verzieht das Gesicht zu einem breiten Lächeln und erkundigt sich nach Mamas Befinden.

«Es geht ihr besser», antwortet Papa kurz angebunden.

Die gleiche Frage wiederholt sich immer wieder, während Giovanni und sein Vater zu Fuß auf die Konditorei zugehen.

Bei jedem Mal blickt sein Vater finsterer drein, und Giovanni spürt, wie die Farben seines zukünftigen Fernsehers immer mehr verblassen.

«Und die Signora?», fragt der vom Zeitungskiosk.

«Gut», erwidert Papa tonlos.

«Wie steht’s zu Hause?», will einer wissen, der ihnen wenige Meter vor der Konditorei über den Weg läuft.

«Man schlägt sich durch», sagt Papa und breitet die Arme aus.

«Guten Tag. Und wie geht es Ihrer Frau?», mischt sich der Kellner ein, der Tabletts mit Frittiertem ins Lokal hineinträgt.

Papa antwortet mit einem zerstreuten Kopfnicken.

«In der Familie alles in Ordnung?», ruft mit lauter Stimme der selbsternannte Parkplatzwächter von dem kleinen Platz in der Nähe.

«Kümmer dich um deinen eigenen Mist», fährt ihm Papa über den Mund.

Als sie die Konditorei betreten, ist Papa vor Wut ganz rot im Gesicht. Der Traum vom Farbfernseher ist ausgeträumt.

 

Der Herr mit dem neuen Mantel ist der Einzige, der Giovanni bemerkt und begreift, dass dieses Kind in einer Ecke hockt und die Erwachsenen ertragen muss und dass es etwas auf dem Herzen hat.

Giovanni kennt ihn, aber es ist das erste Mal, dass er ihn in der Pasticceria Francese sieht. Er hat ihn schlechter gekleidet in Erinnerung, und es muss woanders gewesen sein. Er ist etwa so alt wie sein Vater, sieht aber längst nicht so gut aus, denn er ist zu mager und hat zu große Hände, die über und über mit kleinen schwärzlichen Schnitten bedeckt sind, die nicht recht zu seinem eleganten Mantel passen. Hier in der Pasticceria hält er sich ein wenig abseits von den anderen, als hätte ihn jemand in die Ecke gestellt. Er lauscht schweigend und mit gesenktem Gesicht dem Geplauder der Freunde von Papa, macht hier einen Schritt zurück und dort einen vorwärts, als habe er Angst, sich dem Grüppchen weiter zu nähern. Hin und wieder lächelt er Papa zu. Bei den anderen traut er sich das nicht.

Giovanni beobachtet das Spiegelbild des Mannes in einer der Aluminiumsäulen der Konditorei, die wie ein Bonbonpapierchen schimmert. Mit seinem Mantel sieht er aus wie ein Quecksilbertropfen, der sich selbständig macht, wenn ein Thermometer zerbricht, aber nicht weiß, in welche Richtung er fließen soll. Ab und zu wirft er etwas ins Gespräch ein, aber ansonsten bewegt er nur stumm die Lippen, als bete er insgeheim das kleine Einmaleins herunter, das Siebener oder das Neuner, die nie richtig aufgehen.

Giovanni schaut ihn an, er bleibt stehen und erwidert seinen Blick. Da beißt der Mann in dem neuen Mantel die Zähne zusammen und rückt seinen Kragen zurecht, als würde ihm erst in diesem Augenblick bewusst, wo er sich befindet, und er müsse Haltung annehmen, für ihn, für die anderen.

Die Freunde von Papa dagegen scheinen in der Pasticceria Francese geboren zu sein, denn sie tun dort so, als wären sie zu Hause. Sie fassen alles an, sie nehmen sich alles, sie öffnen Türen, bezahlen jedem, der hereinkommt, den Kaffee. Ihr Stammplatz ist an einer Ecke des Tresens.

Der Mann in dem Mantel lächelt ihm noch einmal zu. Giovanni versucht verzweifelt, sich daran zu erinnern, wo er ihn schon einmal gesehen hat.

Es war auf einer Piazza mit Bars ohne Fenster, ohne Bonbons oder Schokolade, neben einem Centoventisette mit geöffneter Tür.

 

Später erklärt ihm Papa, dass dieser Mann Nunzio heißt. Früher sei er Zigarettenschmuggler gewesen, aber jetzt habe man ihm erlaubt, sich in der Konditorei blicken zu lassen. Wenn er grüßt, dann grüß zurück, ermahnt ihn Papa, und wenn er Fragen stellt, sag: Ich weiß es nicht.

«Was ist denn ein Schmuggler, Papa?»

«Einer, der bestimmte Dinge transportiert.»

«Wie Matteo die Schachteln aus seinem Geschäft?»

«Matteo verkauft Stoffe. Er ist Kaufmann. Und er ist ein Herr. Nenn du keine Namen, wenn ich es nicht tue.»

Giovanni gehorcht, aber manchmal rächt er sich. Wenn er ihn wirklich nicht beim Namen nennen darf, diesen Matteo, dann macht er sich wenigstens den Spaß, ihn sich insgeheim vorzustellen.

Matteo trägt eine goldene Brille und bewegt sich ganz langsam, wie ein Priester, der nach dem Kelch greift, das Brot teilt und so weiter. Er spricht durch die Nase. Er hat schmale Hände, die mit braunen Flecken übersät sind. Er ist groß, bucklig und benutzt nie zu viel Rasierwasser. Er riecht nach Mottenpulver und nach neuen Stoffen. Manchmal verlässt er die Stadt, und der Rollladen vor seinem Geschäft bleibt geschlossen, grau wie eine Mauer, und darüber die Neonschrift Stoffe, die so klein und schmal ist, dass man sie kaum sieht, wenn sie ausgeschaltet ist. Matteo hat immer eine zusammengefaltete Zeitung in der Jackentasche stecken. Er kommt nicht oft in die Pasticceria Francese, nur ab und zu am Sonntag. Eher kommt der Freundeskreis zu ihm, immer am Nachmittag, aber niemals alle zusammen; nur zwei oder drei, die Schweigsamsten.

Matteo lächelt nicht oft. Wenn er es tut, dann sieht es immer so aus, als würde man ihm eine Spritze geben.

 

Jetzt bewegen sich die Erwachsenen auf die Theke zu, weil die Kaffees fertig sind.

Der Mann in dem neuen Mantel streckt einen Arm aus. Er nimmt die Tasse, tritt einen Schritt zurück, nähert sie seinen Lippen und pustet kurz hinein. Er trinkt hastig und scheint den Kaffee nicht zu genießen.

Einer der Freunde von Papa schlägt ihm heftig auf den Rücken. Er lacht, die leere Tasse baumelt ihm zwischen den Fingern, die zu groß sind, um sie durch den Henkel hindurchzustecken. Ein Tropfen Kaffee macht einen Fleck auf seinem Mantel, aber er beschwert sich nicht. Die Gruppe kehrt ihm den Rücken, entfernt sich, bildet eine Art Kreis. Papa bleibt einen Moment lang zurück, der Mann in dem neuen Mantel macht jedoch nicht einmal den Versuch, sich zu nähern. Er nickt, schaut ihnen zu, sucht nach jemandem, zu dem er gehen kann. Seine Wahl fällt auf Giovanni.

Der senkt den Blick. Er sieht nur die Schuhe des Mannes: Mokassins aus hellbraunem Wildleder, spitz, auch sie funkelnagelneu. Sie machen einen langen Fuß.

«Bist du der Sohn des turco?», hört er ihn fragen.

Giovanni schüttelt zuerst den Kopf, dann nickt er. Weil die Freunde seinen Vater tatsächlich so nennen. Il turco, den Türken also, weil seine Haut so dunkel ist, immer von der Sonne gebräunt. Ihm gefällt der eigentliche Name seines Vaters, Vincenzo, besser, und sein richtiger Nachname, Vetro.

Er schaut einen Augenblick lang zu seinem Vater, der gerade Matteo Scavone entgegengeht. Matteo hat ihn beiseitegerufen, und sie palavern mit Gesten, die müde wirken. Giovanni kann das, was Scavone sagt, von den Lippen ablesen.

«Und deine Frau?», fragt auch er Papa, mit einem Lächeln, das halb fröhlich und halb ernst ist.

Papa, den er von hinten sieht, antwortet mit einer Bewegung, bei der die Rückseite seiner Jacke Falten schlägt.

«Aber sie hat sich wieder beruhigt?», beharrt Matteo. Jetzt lächelt er nicht.

«Das hätte ich auch gewusst, wenn du’s mir nicht gesagt hättest.» Der Mann in dem neuen Mantel lacht. «Du und dein Vater, ihr habt den gleichen Gang. Haargenau gleich.» Giovanni dreht sich zu ihm und entlockt ihm ein weiteres Lachen. «Was für ein Gesicht du machst. Zuerst warst du traurig, und jetzt bist du wütend. Was ist denn nicht in Ordnung?»

«Nichts ist in Ordnung.»

«Gleich nichts! Na so was», wundert sich der Mann in dem neuen Mantel. «Wie alt bist du denn?»

«Im November werd ich zehn.»

«Und in dem Alter erzählst du mir was von Traurigkeit! Weißt du, was ich mache, wenn mir alles auf den Sack geht?»

Giovanni wird rot.

«Ich gehe spazieren», erklärt der Mann. «Ganz allein, nur für mich. Du nicht?»

«Meine Mama lässt mich nicht. Sie sagt, auf der Straße ist es gefährlich.»

«Will sie denn, dass du ein Schlappschwanz wirst?»

Giovanni spürt, wie es ihm einen Stich in den Magen gibt.

«Von wegen Schlappschwanz!» Er hebt die Faust und schwenkt sie. «Da war einer in der Schule, der hat mich immer gepiesackt. Dem wollte ich eins auf die Nase geben, so!»

«Bravo!»

«Aber ich hab’s dann doch nicht gemacht. Wir haben geredet. Und am Schluss hat er mir recht gegeben.»

«So, wie man es mit Schlappschwänzen eben macht.»

«Wie bitte?»

Der Mann lacht immer mehr. «Lass gut sein. Ich gehe also spazieren», wiederholt er. «Oder ich trinke einen schönen Kaffee.»

Giovanni schaut zu dem Mann an der Bar.

Der Mann schlägt ihm auf die Schulter. «Na, junger Mann, für einen Kaffee bist du ja noch zu klein. Such dir was anderes aus. Ich lad dich ein.» Er weist auf die Kasse.

«Ich möchte nichts», erwidert Giovanni verärgert.

«Ach komm, jetzt bist du beleidigt. Vielleicht ein paar Bonbons? Wir machen es so: Ich trink noch einen Kaffee, und du nimmst die Bonbons. Welche Sorte magst du denn?»

Es gibt zig verschiedene Packungen. Giovanni mag die mit dem roten Einwickelpapier und dem Sahnekern. Aber er überlegt es sich anders. Sein Vater hat ihm einmal gesagt, wenn man im Leben weiterkommen will, muss man die Gelegenheit beim Schopf packen.

«Keine. Keine Bonbons. Ich …» Er schaut den Mann in dem neuen Mantel an. Und setzt eine flehentliche Miene auf. «Ich möchte einen Farbfernseher», wagt er sich vor.

 

Der Mann in dem neuen Mantel hat in die Runde gegrüßt, bevor er die Pasticceria Francese verlassen hat. Nicht alle haben ihm geantwortet. Einige Freunde von Papa haben ihm hinterhergeschaut und mit der Hand gewedelt, als wolle man sich frische Luft zufächeln. Giovanni hat geschmollt, weil sein Vater ihm einmal gesagt hat, diese Geste bedeute: Schaut nur, mit wem wir uns abgeben müssen – was für ein Niemand, und er findet, dass sie nicht recht haben.

Dieser Mann ist schon jemand. Er ist freundlich, und ein bisschen lustig ist er auch. Bevor er gegangen ist, hat er ihm sogar die Hand gegeben. So wie man es mit einem Erwachsenen macht.

«Einen Farbfernseher?», hat er noch gesagt und den Satz im Raum stehenlassen. Dann strich der Saum seines Mantels an der Glastür des Lokals vorbei, blitzschnell wie der Schwanz eines Tieres, das flüchtet. Zusammen mit jenen letzten, vielversprechenden Worten ist Giovanni sein starkes Parfüm an den Fingern haften geblieben, ein süßlicher Duft, der einem in der Nase hängt. Er ballt die Faust und spürt immer noch die Kraft der Hand, die er gerade geschüttelt hat. Wie kann bloß ein Mann mit einem so gutmütigen Gesicht einen so festen Händedruck haben?

«Kaum setzt er einen Fuß in die Pasticceria, und schon gibt dieser Herr Nunzio Cardaci Bonbons aus», sagt einer der Freunde seines Vaters.

«Der will doch bloß zeigen, dass er auch ein paar Lire in der Tasche hat», fügt ein anderer hinzu. «Ist doch keine große Kunst, bei dem Kleinen da den Goldesel zu spielen.»

«Dem werd ich schon was erzählen, meinem Herrn Sohn», platzt Papa heraus.

«Mal langsam, turco. Was hat denn der Zigarettenschmuggler dem Kind schon getan?», sagt Matteo. «War doch nur eine nette Geste.»

Alle nicken. Ganz recht, ganz recht, nur eine nette Geste. Ganz harmlos.

«Wie soll ich mich ihm gegenüber verhalten, Matteo?», fragt Papa.

«Das wird man sehen. Zuerst müssen wir mal rausfinden, was für einer er ist.»

Und nachdem er das gesagt hat, befiehlt Matteo Scavone dem Mann am Tresen, das Gebäck gut auszusuchen, das er für Papa einpackt. «Und dass es ja frisch ist! Tadellos soll es sein!»

***

Kaum treten sie aus der Konditorei, taucht überraschend Nunzio Cardaci, der Zigarettenmann, hinter dem Zeitungskiosk an der Kreuzung auf, ein breites Lächeln auf dem Gesicht. Papa zuckt zusammen, Giovanni dagegen macht einen Freudensprung.

«Welches Geschäft war es nochmal?», erkundigt sich Nunzio und zwinkert ihm zu.

Papa packt Giovanni an einem Arm. «Wie oft hab ich dir schon gesagt, dass du nicht …»

«Ach, lassen Sie doch, Onkel Vincenzo.» Nunzio nennt ihn Onkel, obwohl Papa wahrscheinlich jünger ist als er. «Was hat denn der Junge Schlimmes getan? Er hat sich etwas gewünscht und es mir verraten.»

Papa hat gar nicht die Zeit, ihm zu antworten, weil Nunzio noch schneller redet. «Wenn man etwas Schönes haben kann, dann ist es auch unsinnig, darauf zu warten. Stimmt’s?»

Stimmt, denkt Giovanni.

«Also, gehen wir.»

Nunzio hakt sich bei Giovanni ein, und sie gehen zusammen zu seinem Centoventisette. Papa folgt ihnen murrend.

***

Als der Händler Nunzio Cardaci hereinkommen sah, hat er aufgehört, Batterien in eine Fernbedienung zu legen. Die Batterien fielen ihm aus der Hand, und es ist etwas Seltsames passiert: Nunzio hat sich verwandelt. Von der Straße aus schien es Giovanni, als sei er größer geworden und gehe aufrechter und als habe sich sein Gesicht verändert.

Jetzt steht er nicht ein Stück weit vom Tresen entfernt, wie in der Pasticceria Francese, sondern stützt sich mit den Ellbogen auf.

«Entschuldigt mich einen Moment», bedeutet er ihnen durch die Glasscheibe hindurch.

Giovanni konzentriert sich auf das Gesicht des Händlers, der keine gelangweilte Miene aufsetzt wie vorhin, als Papa sich bei ihm erkundigt hat. Er lächelt, aber es ist das Lächeln von jemandem, dem man auf den Fuß getreten ist. Indessen lässt Nunzio ihn sämtliche Fernseher einschalten. Sie zeigen Fußballer beim Training, die sich flink hin und her bewegen, eine unendliche Reihe identischer Bilder. Im Juni findet die Fußballweltmeisterschaft statt, aber die Farben des Sommers sind jetzt schon da.

«Den auch», bedeutet Nunzio und zeigt auf einen kleinen Bildschirm ganz oben, den einzigen, der noch ausgeschaltet ist.

Der Händler steigt auf eine Leiter und schaltet ihn ein. Fast rutscht er auf einer Sprosse der Leiter aus, es gelingt ihm gerade noch, einen Sturz zu vermeiden. Er steigt hinunter. Bleibt einen Moment lang schweigend stehen. Dann schlägt er mit der Hand auf den Tresen. Nunzio nimmt die Ellbogen nicht weg.

«Einmal im Monat haben wir ausgemacht, und nur Geld, keine Ware», schreit der Händler, und die Worte sind bis auf die Straße hinaus zu hören.

«Und wer hat es dir erlaubt, auch am Sonntag offen zu haben?», gibt Nunzio zurück. Auch er hat die Stimme erhoben, ohne die Haltung zu verlieren.

«Einmal im Monat, haben wir gesagt», wiederholt der Fernsehmann, mit schwächerer Stimme. Dann senkt er den Kopf.

Auch Papa, der die Szene beobachtet, setzt ein anderes Gesicht auf.

Als Nunzio herauskommt, geht er ihm entgegen, nimmt ihn am Arm und schaut ihn an, als habe auch er jetzt begriffen, was für einer er ist. Der Händler schleppt indessen einen riesigen Karton zum Auto, ohne ein Wort zu sagen.

«Sag danke zu meinem Freund hier», befiehlt Papa Giovanni und zeigt auf Nunzio.

Während sie im Rückwärtsgang aus der Straße stoßen, mit dem Karton auf dem Rücksitz, schaltet der Mann in dem Laden alle Fernsehschirme aus. Ein glückloser Fußballspieler versucht noch, sich aufzurichten, aber es gelingt ihm nicht mehr: Das Dunkel verschluckt sein Bild und lässt alles verschwinden – das leuchtende Grün des Rasens, das Olivbraun seiner nackten Beine, den Schweiß, der ihm aus den Locken rinnt.

Der Händler steht unbewegt in seinem Geschäft, in dem es plötzlich ganz still geworden ist.

Er hat das Gesicht eines Mannes, dem man gerade mit der Faust die Nase eingeschlagen hat.

 

Der Wagen bremst so stark ab, dass Giovanni auf dem Rücksitz gegen den Karton mit dem Fernseher geschleudert wird und plötzlich zu seinem Vater schaut, der den Motor bereits ausgemacht und die Handbremse gezogen hat und starr vor sich hin schaut. «Nur ganz kurz, dann parken wir», sagt er. «Aber zuerst komm mal her.» Er klopft mit der Hand auf den Beifahrersitz. Sie haben ganz in der Nähe der Wohnung angehalten, sind aber noch zu weit weg, um diesen riesigen Fernseher ohne großes Schwitzen und Ächzen zum Tor zu tragen.

«Soll ich jemanden rufen, damit er uns hilft?»

«Gleich. Jetzt setz dich erst mal hier neben mich.»

Giovanni macht die hintere Tür auf und setzt sich vorne neben seinen Vater. Bevor er sich in das Polster fallen lässt, hält er noch einen Moment inne. Es ist, als hätte das Auto noch einmal gebremst, obwohl es sich doch längst nicht mehr bewegt. Sein Vater hat eine Hand in die Tasche seines Blousons gesteckt und kramt darin herum. Er stößt an etwas, das eine Verpackung aus knisterndem Papier hat. Schließlich lässt er die Hand stecken. «Setz dich», wiederholt er. Er schaut immer noch starr auf die Straße hinaus. «Dein Geschenk hast du gekriegt», fügt er mit gedämpfter Stimme hinzu. «Jetzt möchte ich eins von dir.»

Giovanni fährt sich mit der Zunge über die Lippen. Er kann den Blick nicht abwenden von der Hand des Vaters, die in der Tasche steckt. Nein, bitte, lass uns nach Hause gehen. Schauen wir uns die Farben an, die immer lebendig bleiben.

«Wir machen Folgendes», sagt sein Vater und dreht sich zu ihm. «Ich bring den großen Karton hoch», erklärt er und zeigt auf den verpackten Fernseher, «und du diese kleine Schachtel hier.» Er zieht ein Päckchen aus der Apotheke hervor. Er reißt das Zellophan ab, zerknüllt es, öffnet die Pappschachtel und nimmt den Zettel heraus, auf dem die Wirkungsweise des Medikaments erklärt wird. Schließlich wirft er das Papier aus dem Fenster und reicht ihm die Schachtel. Sie macht ein gluckerndes Geräusch.

«Deine Frau, deine Frau, deine Frau», sagt er und nimmt ihn am Handgelenk. «Alle haben sie mich heute das Gleiche gefragt. Ich schäme mich, Giovanni. Du nicht? Gewisse Dinge darf deine Mutter einfach nicht wieder machen.»

Papa lockert seinen Griff.

«So weit wie vorgestern ist sie noch nie gegangen. Dieses Geschrei auf der Straße und all das. Aber wer hätte gedacht, dass dieses Auto sie fast totfährt?»

Giovanni senkt den Kopf. «Ja.»

Papa trommelt mit den Fingern auf das Lenkrad. «Jetzt hat sie einen Verband am Fuß, sonst nichts. Aber was in Wirklichkeit unter die Räder gekommen ist, das ist der Respekt, den die anderen vor mir haben. Ich weiß nicht, ob ich mich klar genug ausdrücke. Die Frauen der anderen machen so etwas nicht. Das erlauben sie sich nicht.»

Sie bleiben schweigend sitzen.

«Und warum macht die Mama das?», fragt Giovanni nach einer Weile.

«Weil sie hys-te-risch ist.» Papa betont das Wort, als habe er es auswendig gelernt, aber es falle ihm schwer, es richtig auszusprechen. Er zeigt auf die Schachtel mit den Tropfen. «Das sag nicht ich, das sagt ein guter Arzt.»

Giovanni sucht insgeheim nach einem Bild, durch das er dieses Wort mit seiner Mutter in Verbindung bringen kann. «Hys … hysterisch ist, wenn man immer etwas auf Zettelchen schreibt? Weil sie nämlich …»

«Ich weiß es nicht», unterbricht ihn sein Vater. «Aber glaubst du denn wirklich, jemand ruft sie jeden Tag an und sagt zu ihr, irgendwann würde ich nicht mehr nach Hause kommen?»

«Aber das Telefon klingelt.»

«Das kann irgendjemand sein.»

«Dann ruft eben irgendjemand sie ständig an.»

«Ich glaube eher, da macht sich einer einen Scherz und hat Gefallen daran gefunden.»

«Die Mama hat immer so einen Druck hier», erinnert sich Giovanni und fährt mit einer Hand über seinen Magen. «Ist das hysterisch?»

«Hat sie dir das mit dem Druck gesagt?»

«Ja. An dem Tag, als der Unfall passiert ist.» Giovanni blickt zu seinem Vater hoch. «Und diese Tropfen nehmen den Druck weg?»

«Gewiss. Ja.»

«Aber zuerst könnten wir es doch anders probieren. Warum lassen wir sie nicht ein Taxi nehmen und fahren, wohin sie will, so wie sie es neulich machen wollte?»

«Jetzt reicht’s! Diese Tropfen hier muss sie nehmen. Und du gibst sie ihr. Du weißt ja, wie sie sich bei mir immer anstellt.»

Papa dreht den Kopf zur Windschutzscheibe.

«Ich hab Angst, Papa.» Giovanni spürt, dass ihm die Tränen in der Kehle hochsteigen, wie eine Art salziger Knoten.

«Aber vor was denn?»

Er kann es nicht sagen. Vielleicht hat es mit dem Lügen zu tun. Vor seiner Mutter hat er noch nie etwas verborgen.

«Komm mal her, hierher.» Sein Vater zieht ihn an sich, und Giovanni entfährt ein lautes Schluchzen. Papa nimmt sein Gesicht in eine seiner großen, warmen Hände. «Und was soll das jetzt? Ist es schon vorbei mit der Freude über den Fernseher?»