Der Sommer der Lady Jane - Kate Noble - E-Book

Der Sommer der Lady Jane E-Book

Kate Noble

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Beschreibung

Lady Jane Cummings zieht in das Sommerhaus ihrer Familie in dem stillen Örtchen Reston. Dort lernt sie den attraktiven Byrne Worth kennen, dem kriminelle Machenschaften nachgesagt werden. Jane ist jedoch von seiner Unschuld überzeugt und setzt alles daran, um seinen Namen reinzuwaschen.

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KATE NOBLE

DER SOMMER

DER LADY JANE

Roman

Ins Deutsche übertragen von

Jutta Nickel

Für die Einwohner von Martin Lane – jene von einst,

die von heute und für die, die noch kommen werden –

für unendlich lange Sommer.

Prolog

Vor langer Zeit, bevor England ganz und gar von gepflasterten Straßen und Eisenbahnschienen durchzogen wurde, gab es in der Grafschaft Lancashire ein kleines Dorf namens Reston, von dem niemand besonders Notiz nahm. Wer dort wohnte, wusste selbstverständlich über die weite Welt Bescheid und nahm auch an ihrem Geschehen teil – man zahlte Steuern und schlug die Schlachten, die bedeutendere Männer zu schlagen befahlen. Natürlich warf man gelegentlich auch einen Blick in die Journale, in denen die neueste Mode vorgestellt wurde und aus denen man erfuhr, welche Tänze zurzeit getanzt wurden. Von weitaus größerem Interesse für das Dorf war jedoch, ob die Forellen wieder flussaufwärts wandern würden, wann der Sommerkürbis geerntet werden konnte und ob der Gemeinderat eine Kuhtrift über Morgans Farm beschließen würde.

Reston lag zauberhaft gebettet an einem Fluss, der zwei kleine Seen verband, und dessen Tal von bemerkenswerten Fjells und Bergen umgeben war. Wir wollen uns dem östlichsten See zuwenden, dem Merrymere. Zwar gehörte der See nicht zu jenen grandiosen Gewässern, von denen sich die meisten Touristen angezogen fühlten; dennoch bot er sowohl den Einheimischen wie auch vereinzelten Ausflüglern, die sich verlaufen hatten und durch südlicher gelegene Ortschaften wie Windermere oder Coniston Water streiften, eine herrliche Aussicht und einen angenehmen Zeitvertreib.

Die Menschen in Reston amüsierten sich genauso wie die in anderen Dörfern, sie verdienten sich ihren Lebensunterhalt auf die gleiche Weise, sie beteten, tanzten, lebten, liebten … sie taten kurz gesagt all die Dinge, die Menschen zu Menschen machen. Der vornehmlichste Klatsch und Tratsch drehte sich um öffentliche Belange, und die größte Angst hatten sie vor Fremden, die ihnen noch nicht vorgestellt worden waren. Jeder in Reston war freundlich und höflich und hielt sich – das vor allem – an die Regeln von Sitte und Anstand.

Jeder. Mit einer Ausnahme.

Er sei, so hieß es, ein Held. Andere glaubten, er könne ein feindlicher Soldat sein, der sich in ihrem glückseligen Tal feige versteckte. Wieder andere – die Romantiker – hielten ihn für eine verlorene Seele; und dann gab es noch jene, die in ihm nichts als ein Scheusal sahen. Aber jeder von ihnen hatte nach der ersten Begegnung mit ihm eines begriffen: dass es galt, dem Haus der alten Witwe Lowe fernzubleiben, weil ihr Neffe – der Mann, der ihr Erbe angetreten hatte – jeden sofort von seiner Tür verscheuchte und in die Geborgenheit des Dorfes zurückjagte.

Man flüsterte sich zu, er habe Albträume. Schreckliche Nachtgesichte von Blut und Wasser und Schießpulver, die ihn verfolgten und im Schlaf aufschreien ließen – klagende Laute, die weit über den See trugen; die Schreie eines Verdammten, der zur Hölle fuhr.

Aber sosehr seine Anwesenheit die Menschen auch irritieren mochte, ihre aufrechte britische Seele weigerte sich beharrlich, sich ihren Ängsten zu beugen. Und so lebten die Leute von Reston ihr Leben und schenkten dem anderen Ufer des Sees und seinem einsamen Bewohner keine Beachtung mehr. Wie auch er ihnen keinerlei Beachtung schenkte. Das Dorf stand des Morgens auf, aß, arbeitete, redete, trank Tee, tanzte und schlief, während es im hintersten Winkel seines Gedächtnisses das Wissen verwahrte, dass nur wenige Meilen entfernt die Gefahr in Gestalt eines Ungeheuers lauerte.

1

Lady Jane Cummings, einzige Tochter des Dukes of Rayne, Großcousine zweiten (oder dritten?) Grades des Prinzregenten und gefragteste Ballschönheit der Londoner Gesellschaft, befand sich in Schwierigkeiten.

Und das hatte sie einzig und allein Phillippa Benning zu verdanken.

Beziehungsweise Phillippa Worth, wie Jane sich jetzt angewöhnen musste, ihre Freundin zu nennen. Allerdings blieb unbestimmt, wie lange dieser neu geschlossene Freundschaftsbund wohl noch bestehen mochte, wenn Phillippa sie weiterhin in Situationen brachte, die zu solch groben Schnitzern führten.

Verflixt, jetzt hatte sie schon wieder einen Schritt ausgelassen.

In diesem Moment, in dem Lady Jane stocksteif in Phillippas großem Ballsaal stand, hätte man sie mit einer Statue verwechseln können. Der Saal war hochzeitlich geschmückt; zwischen riesigen Bouquets aus bunten Sommerrosen waren aus weißer Seide lauschige Pavillons errichtet worden. Die Tanzenden, ebenso farbenfroh anzusehen wie die Blumen, wirbelten um Lady Jane herum und setzten ihre Schritte heiter-beschwingt im Takt der Musik, während Jane zu dem Mann mit der auffallenden Haarfarbe hinüberstarrte, der abseits der Tanzfläche stand und seinen Blick müßig umherschweifen ließ. Wer Rang und Namen hatte, feierte heute Phillippas kürzlich erfolgte Namensänderung von Benning in Worth, sprich ihre Eheschließung. Da dies London und überdies dessen bessere Gesellschaft war, und da Phillippa eben Phillippa war, hatte sie jeden eingeladen, der in Debrett’s Adelsverzeichnis aufgeführt wurde. Aber warum ausgerechnet ihn?

Jane wurde aus ihrer Erstarrung gerissen, als eine Debütantin gegen sie stieß, die sich verzweifelt mit der verzwickten Schrittfolge der Quadrille abmühte. Gemurmelte Entschuldigungen lösten ein Raunen aus, dass Lady Jane – ausgerechnet sie! – sich beim Tanzen einen Fehltritt geleistet hatte. Rasch schloss Jane sich ihrem Partner wieder an und fand sich mit geübter Leichtigkeit in die Schrittfolge zurück.

»Ist alles in Ordnung?«, erkundigte Lord Turnbridge sich in näselndem, aber durchaus aufrichtigem Ton.

»Selbstverständlich, Mylord.« Sie lächelte ihn so strahlend an, dass sein Gesicht sich deutlich himbeerrot färbte. »Ich habe nur … die Dekoration über dem Kaminsims bewundert. Mrs Worth hat sich selbst übertroffen.«

Jane schaute zum Kamin am anderen Ende des großen Raumes, über dem kunstvoll goldfarbene und weiße Seidenvorhänge drapiert waren. Dort hatte sie ihn zuletzt gesehen, den hochgewachsenen Mann, der immer ein wenig gelangweilt wirkte. Doch dieses Mal sah sie ihn nicht. Sie schaute sich suchend um. Vergeblich. Verflixt, wohin war er verschwunden?

Zum Glück für Lady Janes Nerven und Lord Turnbridges Ego endete der Tanz, und sie musste ihren Tanzpartner nicht länger mit ihrer Unaufmerksamkeit strafen. Sie lächelte ihn freundlich an, als er sie von der Tanzfläche an die Seite des Saales führte. Ärgerlich war nur, dass Lord Turnbridge sich dabei sehr viel Zeit ließ. Endlich angekommen, vollführte er entsetzlich langsam eine tiefe Verbeugung. Als er sich schließlich wieder aufrichtete, deutete Jane den flüchtigsten aller Knickse an, bevor er sich umdrehte, um sich seine nächste Tanzpartnerin zu suchen. Und Jane zu gestatten, von ihrem nächsten Tanzpartner gefunden zu werden.

Wenn sie denn gefunden werden wollte.

So schnell es ihre Würde zuließ, bahnte sich Jane ihren Weg durch die Menge, drängelte und schlängelte sich voran wie ein Fisch in der Strömung.

Ausgeschlossen, dass sie sich seine Anwesenheit eingebildet hatte, nicht wahr? Oh, bitte, wenn sie doch unter Wahnvorstellungen litte und sich Jason tatsächlich nur eingebildet hatte … er konnte nicht in London sein. Es war unmöglich. Erst sechs Wochen waren verstrichen, seit seine Trauerzeit zu Ende gegangen und er in die Gesellschaft zurückgekehrt war. Vielleicht auch zwei Monate. Aber jetzt …

Jane bog in einen Korridor ein und hoffte, dass er zu Phillippas überwältigendem Rosa Salon führte. Also wirklich, hätten Phillippa und sie in der Zeit der Renovierung des Hauses miteinander gesprochen, hätte sie ernsthaft versucht, Phillippa zugunsten einer weniger gewagten Farbe zu beeinflussen. Im Rosa Salon wurde üblicherweise das Dessert serviert. Übermäßig pralle Damen würden dort mit so übermäßiger Geschwindigkeit Süßigkeiten vertilgen, dass sie bald die Schnürung ihrer Korsetts sprengen würden. Es war ein Salon, von dem Jane sicher sein konnte, dass ihn kein Mann im heiratsfähigen Alter, der einigermaßen bei Verstand war, betrat. (Verirrte sich ein solcher Mann dennoch in ein Zimmer in einem solchen Rosa, stahl er sich rasch wieder fort, sei es mangels Anwesenheit junger Damen oder wegen der glühenden Begeisterung ihrer Mütter über sein Auftauchen). Links um die Ecke, dann gleich noch mal links – aber leider fand Jane sich nicht in der Nähe des gesuchten Salons wieder. Auf dem Weg zurück schob sie einen Vorhang zur Seite, hinter dem es, so vermutete sie, in den Flur zur Halle ging.

Es mag der Hinweis genügen, dass ihre Vermutung falsch war.

»Jane!«, rief Phillippa Worth (geborene Benning), nachdem sie ihre Lippen von denen ihres Ehemannes losgerissen hatte. Er war so zuvorkommend, sich schützend vor sie zu stellen, während sie ihr verdächtig derangiert aussehendes Äußeres richtete. »Was tust du hier?«

»Ich suche nach einem Versteck!«, entgegnete Jane wütend und stemmte die Hände in die Hüften.

»Ich bitte um Entschuldigung, Lady Jane«, sagte Marcus Worth in seinem gewohnt freundlichen Tonfall. »Aber wie Sie sehen, ist diese Nische bereits vergeben.«

Jane warf Marcus einen anklagenden Blick zu, den er mit einem Lächeln quittierte. »Du bist jetzt seit zwölf Stunden verheiratet. Kannst du nicht noch zwei Stunden abwarten, bis das Hochzeitsbankett vorüber ist?«, fauchte Jane die Freundin an.

Phillippa schaute zu ihrem Ehemann hinauf, der wiederum auf sie herunterschaute. Sein lässiges Grinsen war offenbar ansteckend.

»Nein.«

»Ich glaube nicht, dass wir das können.«

»Nun, das müsst ihr aber«, erwiderte Jane, »weil ich in einer furchtbaren Klemme stecke, und das ist ganz allein deine Schuld!«

»Warum?« Phillippa sah sofort besorgt aus. »Was hast du jetzt wieder angerichtet?«

»Ich habe gar nichts angerichtet, sondern du«, schimpfte Jane. »Und ich verlange, dass du es wieder in Ordnung bringst!«

»Ich?«, rief Phillippa wütend und schaute Marcus an. »Liebling, du kannst doch nicht zulassen, dass sie …«

»Mein liebes Eheweib«, unterbrach Marcus sie, dann grinste er und fügte hinzu: »Oh, wie sehr es mir gefällt, diese Worte auszusprechen. Nun, wie auch immer«, fuhr er fort, als er den Blick des besagten lieben Eheweibs sah, »in der kurzen Zeit, in der ich dir den Hof gemacht habe, ist mir eines klar geworden: Ich werde mich nie zwischen euch stellen, wenn ihr beide anfangt zu streiten.«

Phillippa schien zu erwägen, ihrem frisch angetrauten Mann eine sehr strenge Lektion darüber zu erteilen, was es hieß, seiner Ehefrau zu widersprechen. Aber Jane fehlte die Zeit für solche Verzögerungen. »Warum hast du ihn eingeladen?«

»Wen eingeladen?« Phillippa konzentrierte sich sofort wieder auf das Wesentliche.

»Jason!« Jane beobachtete Anzeichen leichter Verwirrung auf Phillippas Stirn.

»Jason? Soll das heißen, dein …« Als Jane nickte, protestierte Phillippa. »Ich habe ihn nicht eingeladen. Ich wusste ja noch nicht einmal, dass er in London ist. Hätte ich es gewusst, hätte ich ihn selbstverständlich auf die Gästeliste gesetzt, aber …«

»Was, du hättest ihn auf die Gästeliste gesetzt?«, rief Jane.

»Ja, natürlich … er ist schließlich ein Marquis …«, erwiderte Phillippa unbekümmert, während Jane die Hände rang.

»Ist dir nicht in den Sinn gekommen, dass ich ihn vielleicht nicht sehen möchte?«

»Oh, ich bedaure sehr«, gab Phillippa schnippisch zurück, »dass ich mich über deine Wünsche nicht auf dem Laufenden gehalten habe. Das nächste Mal plane ich meine Hochzeitsfeier wohl besser ganz nach deinen Vorlieben und Abneigungen, nicht wahr?«

Bevor die beiden Frauen sich weiter angiften konnten, mischte Marcus Worth sich ein, und dass auf sehr kluge Weise.

»Liebste«, besänftigend legte er die Hand auf den Arm seiner Frau, ehe er sich ihrer Angreiferin zuwandte, »Lady Jane … verstehe ich richtig, dass Sie den Wunsch haben, unauffällig von hier zu verschwinden?« Sie nickte. »Hat Ihr Vater Sie heute Abend hierher begleitet?«

Jane schüttelte den Kopf. »Er hat sich ein wenig müde gefühlt. Lady Charlbury war so freundlich, sich als Anstandsdame zur Verfügung zu stellen.«

Selbst Phillippa zog die Brauen hoch, denn Lady Charlbury war ein interessantes Paradoxon: Die Witwe in mittleren Jahren regierte die Gesellschaft auch wegen ihrer Freundschaft mit den Ladys Patronesse, den Schirmherrinnen des Almack’s. Aber in jüngster Zeit war es immer schwieriger geworden, Lady Charlbury dazu zu bringen, eine Einladung anzunehmen. Zwar durften die beiden Freundinnen sich so glücklich schätzen, zu Beginn der Saison an einem Fest der Lady teilgenommen zu haben, aber sie dazu bewegen, zu Phillippas Feier zu kommen …

»Sie ist eine alte Freundin meines Vaters«, erwiderte Jane, und es klang nur einen winzigen Hauch prahlerisch.

»Nun, dann wird mein liebstes Eheweib sogleich zu ihr gehen und ihr sagen, dass Sie Kopfschmerzen haben und heimgefahren sind«, erklärte Marcus und lenkte die Unterhaltung zurück in ihr ursprüngliches Fahrwasser. »Und ich zeige Lady Jane den Weg zum Hintereingang.«

Phillippa nickte – vermutlich war sie deshalb einverstanden, davon war Jane jedenfalls überzeugt, weil es ihr die Gelegenheit verschaffte, plaudernd mit Lady Charlbury gesehen zu werden – die selbst nach Phillippas Maßstäben beeindruckend war.

Phillippa drückte ihrem Ehemann einen keinesfalls flüchtigen Kuss auf den Mund. Dann bot Marcus Jane den Arm an und führte sie aus der Nische.

Gegen den Strom bahnte Marcus Worth ihnen beiden den Weg durch die Menge. Dabei gelang es ihm, so unauffällig zu bleiben, dass keiner der Gäste ihm anerkennend zulächelte oder ihn ansprach, um ihm alles Gute zu wünschen. Ein ganz erstaunliches Kunststück, wenn man bedachte, dass es sich um seine Hochzeitsfeier handelte; ein Kunststück, das ihm oft von Nutzen gewesen sein musste, wenn er für das Innenministerium in geheimem Auftrag tätig geworden war. Es ging das Gerücht, dass er für seine Verdienste um die Krone zum Ritter geschlagen werden sollte. Aber ganz gleich, wie sehr die Öffentlichkeit sie auch umschmeicheln mochte, Phillippa würde keinesfalls Näheres über die Umstände besagter Verdienste ausplaudern. Was die Gerüchte natürlich noch anheizte.

Jane allerdings war in die Wahrheit eingeweiht. Sie war Zeugin gewesen, als Marcus und dessen Bruder Byrne so heldenhafte Taten vollbracht hatten, wie sie üblicherweise nur in reißerischen Romanen vorkamen.

»Hier entlang«, unterbrach Marcus ihre Grübelei und bog in einen schlecht beleuchteten Flur ein, der vermutlich nur von den Dienstboten benutzt wurde.

Janes Augen brauchten einen Moment, um sich an das Dämmerlicht zu gewöhnen. Dann folgte sie Marcus Worth, der ihr mit langen Schritten in Richtung der Küche vorausging.

»Und jetzt hier entlang, Lady Jane«, sagte Marcus Worth, der den Kopf einziehen musste, um sich an der niedrigen Flurdecke nicht zu stoßen. Phillippa hatte den vielleicht größten Mann in ganz London geheiratet, jedenfalls außerhalb des gesellschaftlichen Zirkus’. Lady Janes Körpergröße lag ein wenig unter dem für eine Frau üblichen Durchschnitt, und wenn sie mit Marcus’ weit ausholenden Schritten mithalten wollte, musste sie fast schon laufen.

Die Küche barst vor Geschäftigkeit. Daher bemerkte niemand den neuen Hausherrn, als er mit der Tochter eines Dukes hindurchmarschierte. Marcus wechselte mit einem der Diener einige kurze Worte und führte Jane anschließend in einen weiteren Flur.

»Von hier aus gelangen wir in die Pantry des Butlers, die rechts neben der Eingangstür liegt«, erklärte Marcus.

»Phillippa bewahrt ihr Silber neben der Eingangstür auf?«, fragte Jane.«Will sie damit Diebe anlocken?«

Marcus quittierte die schnippische Bemerkung mit einem Lachen. »Nein, das Silber wird woanders verwahrt. Wo es sicher ist. Die Pantry ist der kleine Arbeitsraum, der dem Butler zur Verfügung steht. Manchmal ruht er dort auch ein wenig, wenn er nicht zur Tür muss, um Besucher zu empfangen.«

Jane lag die Frage auf der Zunge, wie es sein konnte, dass Marcus sich nicht nur mit der Organisation des Haushalts, sondern auch mit dessen geheimen Korridoren so genau auskannte. Immerhin waren er und Phillippa erst seit wenigen Stunden verheiratet. Doch sie verkniff es sich zu fragen, zumal sie jetzt die Pantry erreicht hatten.

Drinnen fand sich tatsächlich kein Silber, dafür aber ein bequemer Stuhl und mehrere Wolldecken für den entweder mit großer Vorsicht behandelten oder sehr geschätzten Butler der Familie. Das Buch auf dem Stuhl vervollständigte das Bild, und Jane hätte gern dessen Titel gewusst. Aber dazu hätte sie sich umdrehen müssen, und dafür war das Gelass schlicht gesagt zu eng.

»Hier hinaus und vor dem Haus nach links«, erklärte Marcus und zeigte auf eine schmale Tür. »Am Ende der Auffahrt wartet eine Kutsche auf Sie.«

»Mr Worth«, Jane lächelte ihn an, »Sie sind wirklich ein überaus nützliches Mannsbild.«

Marcus schien die Bemerkung tatsächlich als Kompliment werten zu wollen, denn er neigte lächelnd den Kopf.

»Ich bin sehr froh, dass Phillippa Sie geheiratet hat«, fuhr Jane fort und tätschelte ihm den Arm, »und ich hoffe, dass Sie es überleben.«

Marcus Worth warf den Kopf zurück und lachte laut heraus, dann öffnete er die Tür und begleitete Jane aus der winzigen Kammer.

Und weil er so herzlich lachte, konnte Jane einfach nicht anders, als in sein Lachen einzustimmen. Was vielleicht dazu führte, dass sie das von Kerzenlicht helle Foyer betraten, ohne darauf zu achten, wer sich dort aufhalten könnte.

Daher traf Marcus der Kinnhaken ein wenig überraschend.

Nicht dass der Schlag wirklich traf. Marcus besaß verblüffend schnelle Reflexe, und seine außergewöhnliche Größe erlaubte es ihm, der Reichweite seines Angreifers knapp zu entkommen. Jane unterdrückte einen Schrei, während Marcus die Hände seines Angreifers packte und ihm die Arme gnadenlos auf den Rücken drehte. Obwohl es viel zu sehr die Aufmerksamkeit der Gäste in der Halle erregte, drückte er den Mann mit dem Gesicht gegen die Kammertür.

»Um Himmels willen, Jason«, schrie Jane, als der Mann sich unter Marcus Worths eisenhartem Griff wand, »bist du jetzt vollkommen verrückt geworden?«

»Ich darf annehmen, es handelt sich um den Mann, dem Sie keinesfalls begegnen wollten?«, sagte Marcus.

»Ja … Mr Worth … es tut mir …«

»Verdammt, Jane, halt den Mund«, spie Jason förmlich aus und fügte in Richtung Marcus hinzu: »Und jetzt zu Ihnen. Was zum Teufel haben Sie in der Kammer mit meiner Schwester gemacht?«

2

»Hast du völlig den Verstand verloren, als du auf dem Kontinent warst?«

Wütend betrat Jane das Haus der Raynes am Grosvenor Square. Ihre Worte hallten von dem kalten Marmor und den golden gestrichenen Zierleisten des großen Foyers wider. Jason folgte ihr, nachdem er Hut und Umhang in die Hände des wartenden sehr alten und sehr ernsten Butlers geschleudert hatte.

»Ich bin vielmehr überzeugt, dass ich die einzige Person in dieser Familie bin, die sich noch ihrer geistigen Gesundheit erfreut«, erwiderte er.

Jane riss den Kopf hoch und hörte auf sich abzumühen, die Bänder ihres Umhangs zu lösen. Zwei zornige rote Flecken überfluteten ihre Wangen. »Das nimmst du zurück«, stieß sie mit zusammengebissenen Zähnen hervor.

Mit nur drei Schritten war Jason bei ihr. »Habe ich nicht ausdrücklich gesagt, dass du in der Burg bleiben sollst? Bei meiner Rückkehr wollten wir gemeinsam entscheiden, was zu tun ist.«

»Bei deiner Rückkehr?«, kreischte Jane. »Ich habe ein ganzes verdammtes Jahr lang gewartet, aber du bist nicht zurückgekehrt! Hast du wirklich erwartet, dass ich in diesem zugigen alten Gemäuer hocken bleibe, während du dich mit deinen Freunden irgendwo herumtreibst? Nein, vielen Dank.«

Jason war so gnädig, sich unter seinen Sommersprossen leicht rosa zu verfärben. »Ich habe mich nicht herumgetrieben. Ich hatte eine Menge Forschungsaufgaben zu erledigen. Wenn Mutter noch am Leben wäre, sie hätte es verstanden.«

Nur die Tatsache, dass ihre Finger sich in den Bändern des Umhangs verfangen hatten, hielt Jane davon ab, ihrem Bruder eine Ohrfeige zu verpassen. »Mutter vielleicht«, entgegnete sie steif. »Aber Vater auf keinen Fall.«

Nach der Beerdigung vor über einem Jahr waren nur sie drei zurückgeblieben. Ihre Mutter, die fürsorgliche, anpackende und geliebte Duchess of Rayne, war nach einer plötzlichen Erkrankung, auf die ein langes Leiden gefolgt war, verstorben. Das Herz, hatten die Ärzte gesagt. Die nervösen Zuckungen, die immer über sie gekommen waren, wenn sie erschöpft war, hatten sich als bedrohlich ernst herausgestellt und die Duchess viel zu früh ihrer Familie entrissen.

Sie hatten sich auf einer kurze Reise aufs Land nach Crow Castle befunden, dem Ahnensitz des Dukes of Rayne, als ihre Mutter zum ersten Mal krank geworden war. Die Burg verdankte ihren Namen nicht nur der Krähe als dem Wappentier der Raynes, sondern auch deren lebenden Artgenossen, die sich irgendwann im vierzehnten Jahrhundert im Nordturm eingenistet hatten. In der dunklen, kalten Erde des Friedhofs von Crow Castle war die Duchess dann auch nach ihrem Ableben bestattet worden. Jetzt ruhte sie neben den toten Dukes und Duchesses der Familie, die unter den geraden Reihen zerfallender Grabsteine begraben lagen. Der Erdhügel auf ihrem Grab ist viel zu schwarz, hatte Jane gedacht, und der Marmor ihrer Grabplatte viel zu schwer. Wie konnte es sein, dass ihre Mutter hier war, auf diesem kalten, stillen Friedhof? Ihre Mutter war immer so heiter und fröhlich gewesen … nein, sie lag jetzt nicht stumm in dieser kalten Erde! Sie lebte! Sie bewegte sich, und sie sprach mit ihr!

Jane hatte den Verlust ihrer Mutter kaum begriffen – hatte kaum Zeit gehabt, ihre Garderobe für das Trauerjahr tintenschwarz zu färben –, als Jason ankündigte, dass er beabsichtigte, seine Kavalierstour durch Europa zum Abschluss zu bringen … sofort.

»Du kannst doch jetzt nicht abreisen!«, hatte Jane gerufen und sich das alte Wolltuch fester um die Schultern gelegt. Schon seit Langem war es zugig in der Burg. Selbst angesichts der gemäßigteren Winde in den südlichen Grafschaften hatte sie daher immer genügend Tücher vorrätig.

»Es muss sein«, hatte Jason geantwortet, während er die Unterlagen auf seinem Schreibtisch in dicke, lederne Ordner einsortierte. Hinter ihm dirigierte sein Kammerdiener eine kleine Armee Lakaien, die die feinsten Leinenhemden und Seidenkrawatten, die man in der Bond Street finden konnte, für ihren Herrn einpackten. Das galt auch für die diversen Reitjacken, Fracks und Mäntel. Jason machte gerade eine leicht geckenhafte Phase durch; während seines Aufenthalts auf dem Kontinent würde er bestimmt den dandyhaften Kleidungsstil George Brummells für sich entdecken. »Du weißt doch, dass ich ein Papier präsentieren muss, sobald ich zur Historischen Gesellschaft zurückkehre.«

Die Aufnahme in die Historische Gesellschaft – Gesellschaft der Historischen Künste und Architektur der Bekannten Welt, so der vollständige Name – war Jasons wahrer Traum gewesen. Unglücklicherweise diente die Gesellschaft ihm oft als bequeme Ausrede.

»Da geht es doch nur um Geschichte«, hatte Jane erwidert, »und die kann warten!«

»Mein Thema sind die Schäden, die Napoleons letzter Feldzug an der mittelalterlichen Architektur auf dem Kontinent angerichtet hat. Ich muss ein Verzeichnis erstellen, solange die Schäden noch frisch sind, und vor allem auch, bevor jemand anderes es tut. Charles und Nevill sind bereits in Bruges …«

»Ah ja, Charles und Nevill.« Jane zog die Brauen hoch, als sie die Namen der zwei besten Freunde ihres Bruders – und Komplizen seines Unfugs – wiederholte. »Mit ihnen an deiner Seite wirst du unglaublich viel Arbeit erledigen können.« Der Sarkasmus tropfte ihr wie Honig aus dem Mund.

Jason bewies ein Fünkchen Intelligenz und reagierte nicht auf ihren Köder. Jane durchquerte das Zimmer und legte ihm die Hand auf die Schulter, damit er aufhörte, seine Unterlagen zu sortieren.

»Bitte, Jase«, sagte sie mit einer Stimme, die in ihrer Aufrichtigkeit weich klang, »ich möchte nicht allein hierbleiben. Es ist so seltsam ohne …«

»Du wirst nicht allein sein. Vater ist doch hier«, konterte Jason.

Jane seufzte und sprach die Wahrheit aus, die ihr schon die ganze Zeit über durch den Kopf geisterte. »Vater fühlt sich nicht wohl.«

Jason schaute seiner Schwester in die Augen, blickte dann über seine Schulter und nickte dem Kammerdiener zu. Der Mann klatschte kurz in die Hände, womit er die Horde Lakaien aus dem Zimmer scheuchte.

»Vater geht es gut«, sagte Jason, kaum dass sie allein waren.

»Nein, das stimmt nicht«, widersprach Jane ruhig, »wie du genau weißt.« Einen Moment schwieg Jason, was ihr bestätigte, dass sie recht hatte – er wusste um den Zustand des Vaters, war aber nicht bereit, es einzugestehen.

»Er ist … er trauert einfach nur. Er wird sich schon wieder fangen«, sagte er schließlich. Aber Jane wusste es besser.

Der Duke of Rayne war ein stolzer Mann – stolz vor allem auf seine zwei Kinder, aber auch auf seinen Verstand. Er konnte die Zahl Pi ohne Stift und Papier bis auf die fünfzigste Dezimalstelle berechnen; er konnte jeden Vogel, der an seinem Fenster vorbeiflog, sowohl mit seinem gemeinen Namen als auch mit der wissenschaftlichen lateinischen Bezeichnung benennen. Aber in letzter Zeit hatte er gelegentlich ein paar Dinge vergessen. Den Namen des Hausverwalters von Crow Castle zum Beispiel, der schon vor Janes Geburt in Diensten der Familie gestanden hatte. Oder dass England nicht länger Krieg gegen Frankreich führte. Die Kinder hätten es natürlich auf die Trauer schieben können, darauf, dass der Mann seine Ehefrau verloren hatte … wenn diese kleinen Vergesslichkeiten nicht schon vor dem Tod der Duchess aufgetreten wären. Und seit sie nach Crow Castle gekommen waren, war alles noch schlimmer geworden.

»Lass uns nach London fahren … damit ein Arzt ihn untersuchen kann«, schlug Jane vor. Aber über Jasons Miene huschte nur ein ärgerlicher Ausdruck.

»Nein«, unterbrach er sie heftig, »glaubst du im Ernst, Vater möchte, dass irgendjemand über seine … Fehlleistungen Bescheid weiß?« Erneut wandte Jason sich seinen Unterlagen zu, vehement schob er sie in einen seiner Ordner. »Er braucht nur ein wenig Erholung von der Stadt. Ich wage die Behauptung, dass ihm das Drama um deine erste Saison in London gereicht hat, ihm den Verstand zu rauben. Das wäre allen anderen übrigens auch so ergangen.«

Jane stiegen die Tränen in die Augen, und sie spürte, wie ihre Wangen sich röteten. »Das ist nicht fair.« Jason schaute auf und ging sofort zu seiner Schwester.

»Es tut mir leid«, entschuldigte er sich zerknirscht und legte ihr den Arm um die Schultern. »Das hätte ich nicht sagen dürfen. Aber du kannst doch sowieso nicht nach London gehen. Die Familie des Dukes of Rayne trauert auf ihrem Familiensitz. So ist es immer gewesen.«

»Die Familie … das bist auch du!«, schniefte Jane.

»Ich bin in kürzester Zeit wieder zurück«, versprach er und knuffte seine Schwester liebevoll in die Schulter. »Und falls Vaters … Problem bei meiner Rückkehr immer noch nicht geklärt ist, dann können wir uns überlegen, was zu tun ist. Aber bis es so weit ist, musst du hierbleiben und dich um ihn kümmern.« Jason legte ihr die Hände auf die Schultern und warf ihr einen durchdringenden Blick zu, so, wie er es immer getan hatte, als sie noch Kinder gewesen waren und er ihr das Versprechen abringen wollte, ihrer Gouvernante nichts von dem Frosch auf deren Stuhl zu verraten. »Jane … du und ich, wir halten doch zusammen. Und zusammen stehen wir das auch durch.«

Und so hatte sie genickt und sich gefügt und ihrem Bruder am nächsten Tag am Burgtor zum Abschied gewinkt. Und gewartet.

Und gewartet.

Es dauerte nicht lange, bis Jasons Briefe nach Hause nur mehr recht oberflächlich klangen. Und bald kamen überhaupt keine mehr.

Was Jane allerdings nicht beunruhigte – schließlich kannte sie ihren Bruder. Er mochte für sich in Anspruch nehmen, ja sogar beabsichtigt haben, sich aus nobleren Gründen im Ausland aufzuhalten, aber die Annehmlichkeiten des Kontinents würden immer schwerer wiegen als diese Tugenden. Außerdem erreichten ihn ihre Briefe (zumindest kamen sie nicht als unzustellbar zurück); daraus schloss sie, dass es ihm immerhin gut genug ging, den Empfang quittieren zu können. Nein, Jane machte sich darüber ebenso wenig Sorgen, wie man sich Gedanken um … versalzenes Fleisch machte: Es war zwar ärgerlich, aber es löste keinen tief greifenden Konflikt aus. Wir alle haben unsere eigene Art, zu trauern, dachte sie großmütig, Jason wird bald wieder zu Hause sein.

Schließlich hatte er es versprochen.

Eigentlich war Jane – die sich nicht eingestehen wollte, wie einsam sie sich fühlte – der Meinung, dass die Abwesenheit ihres Bruders von den übrigen Hausbewohnern gar nicht bemerkt wurde. Falls die Dienerschaft, die schon ihr ganzes Leben lang im Hause arbeitete, die Sache überhaupt ansprach, dann jedenfalls nicht ihr gegenüber. Und ihr Vater … die Trauer um seine Frau war so groß, dass sie jede mögliche Enttäuschung über seinen Sohn in den Schatten stellte. Nein, Jasons Abwesenheit bemerkte er gar nicht.

Dachte sie jedenfalls.

An einem regnerischen Morgen kurz nach Weihnachten kam Jane die Treppe herunter und wickelte sich dabei ihr Tuch fester um die Schultern. Im Sommer und im Herbst hätten die Leute kondoliert – die Pächter, die Nachbarn. Aber da nun einmal Winter war, blieb jeder zu Hause. Welchen Trost die ländliche Einsamkeit auch immer hätte bieten können, an Jane war er verschwendet. Sie sehnte sich nach London, um dort die Zwischensaison verbringen zu können, um Leute zu sehen und gesehen zu werden – um nicht hier alleingelassen und vergessen zu werden. Aber Gedanken wie diese schob sie beiseite, denn es war selbstsüchtig, sich dem Jammer zu überlassen. Ganz besonders dann, wenn sie ihren Vater zu ihrer Gesellschaft hatte und er sie. Aber als sie sich an jenem Morgen zum Frühstück an den Tisch setzte, hatte sie vergeblich auf ihren Vater gewartet.

Besorgt suchte sie nach ihm und fand ihn an der geöffneten Eingangstür, wo er auf den Hausdiener wartete, den er nach der Post geschickt hatte.

»Jason muss uns in Kürze einen Brief senden, meine Liebe«, hatte er gesagt. Im gefrierenden Regen, der sowohl den Duke als auch den Orientteppich im Foyer durchnässte, sah sein Atem aus wie eine scharfe Frostsichel.

»Seit dem letzten Brief sind doch erst ein paar Wochen vergangen«, sagte Jane besänftigend. »Wir können nicht erwarten, dass er jeden Tag schreibt.« Obwohl auch Jane auf eine etwas höhere Frequenz gehofft hatte. »Komm weg von der Tür, draußen ist es nass und schrecklich ungemütlich.«

»Es sind schon fünf Wochen. Fünf!«, konterte der Duke. Jane war überrascht, dass er mitgezählt hatte.

»Bei solchem Wetter kommt die Post doch nie pünktlich«, wandte sie ein, aber er schüttelte vehement den Kopf.

»Ich habe verlangt, dass er jede Woche schreibt, meine Liebe. Wenn er die Absicht hat, den ersten Versuch in Oxford zu wagen, dann müssen seine Noten in Eton tadellos sein! Ich brauche regelmäßige Berichte von ihm, von seinen Lehrern …«

Ihr Vater hatte zwar weitergesprochen, doch Jane hatte sekundenlang nichts davon mehr wahrgenommen. Die Welt um sie herum war still geworden.

Er hält Jason immer noch für einen Schuljungen, hatte sie erschüttert festgestellt, und er glaubt, dass ich …

»Nur zu bald wird auch Jane die Schule besuchen, Liebling«, hatte der Duke gesagt, »und ich werde es ganz und gar nicht schätzen, auf die Erziehung meiner Kinder keinen Einfluss mehr ausüben zu können.«

In diesem Augenblick war Jane klar geworden, dass der Zustand ihres Vaters ernster war, als sie befürchtet hatten.

Als Jane ihrem Bruder jetzt von dieser Episode berichtete, tat Jason nichts anderes, als zur Anrichte zu gehen und zwei Gläser Brandy einzuschenken.

»Ladys trinken keinen Brandy«, bemerkte sie ruhig, als er ihr das Glas reichte.

»Was dich wohl ausschließt, oder?«, lautete Jasons Antwort. Nachdem er im Ohrensessel vor dem Kamin Platz genommen hatte, stürzte er seinen Brandy in einem einzigen Schluck hinunter.

Jane nippte vorsichtig an ihrem Glas und schaffte es, den Schock über das Brennen in ihrer Kehle zu verbergen.

»Bevor ich zum Benning-Ball gefahren bin, habe ich im Klub vorbeigeschaut. Übrigens, was hattest du auf Phillippa Bennings Fest eigentlich zu suchen? Ich dachte, ihr beide hasst euch.«

»Du bist lange fort gewesen«, gab Jane knapp zurück. »Die Zeiten ändern sich.«

Jason tat ihren Zorn mit einem Winken ab und griff seinen ersten Gedanken wieder auf. »Im Klub lautete die erste Frage nicht etwa, ›Wie war es auf dem Kontinent?‹ oder ›Hast du die Zeit im Ausland genießen können?‹« Er hielt das leere Glas gegen das Kaminfeuer und beobachtete, wie ein zarter Lichtstrahl über den Schliff spielte. Ihr Bruder bemühte sich angestrengt um Lässigkeit. »Die erste Frage lautete ›Wie geht es deinem Vater?‹«

Jane verharrte reglos. »Das ist doch ganz natürlich, sich nach dem Duke zu erkundigen«, wiegelte sie ab.

»Jane, du verstehst nicht. Jeder hat mir zuerst diese Frage gestellt.«

Jane trank den Rest ihres Brandys.

»Du hättest nicht nach London zurückkommen dürfen«, fluchte Jason und setzte sich kerzengerade auf. »Vater ist ein stolzer Mann. Glaubst du, er will, dass sein Ansehen durch das Gerücht beschmutzt wird, er würde den Verstand verlieren? Schließlich ist er ein Großcousin zweiten Grades des Königs!«

»Ich dachte, dritten Grades«, unterbrach Jane.

»Das spielt keine Rolle! Ein verrückter König, ein verrückter Duke – die Leute werden noch denken, die gesamte Blutlinie sei verdorben!«

»Vater ist nicht verrückt«, erwiderte Jane hitzig und stand auf. »Und übrigens – was hätte ich deiner Meinung nach tun sollen, Jason?«

»Tu doch bitte nicht so, als hättest du nicht die erste Gelegenheit beim Schopfe ergriffen, nach London zurückzukehren. Kaum ist das Trauerjahr um ihre Mutter verstrichen, rennt die berühmte Lady Jane auf den Glockenschlag zurück in die Salons der Stadt.«

»Wir waren praktisch allein auf der Burg!«, schoss sie zurück. »Die Dienerschaft hatte jeden zweiten Sonntag frei. Ich hatte Angst. Wenn Vater einen guten Tag hatte, war es in Ordnung, aber es kamen mehr und mehr schlechte Tage, und … ich konnte es einfach nicht. Ich konnte nicht allein dortbleiben.«

»Warum nicht? Ist Vater gewalttätig geworden? Ist er zur Gefahr für sich selbst oder andere geworden?«, fragte Jason plötzlich alarmiert.

»Nein«, gestand Jane ein und freute sich über die Erleichterung, die sie in der Miene ihres Bruders las. »Aber er ist noch … verwirrter. Immer häufiger.«

Jason schwieg einen Moment lang. »Was hat der Doktor gesagt?«

Jane seufzte. »Die Ärzte sagen viel. Und nichts. Sie schieben es auf das Alter, auf seine Abstammung, sie …«

»Sie?«, hakte er nach. »Wie vielen ist er denn vorgestellt worden?«

Jane überging seine Frage. »Aber am Ende sagen sie nur, dass es schlimmer wird und dass er ständige Pflege braucht.«

Einige Minuten lang sah Jason nachdenklich aus. »Dann sollten wir uns um eine dauerhafte Pflege kümmern.«

Jane atmete vor Erleichterung aus und sank für einen kurzen Moment in sich zusammen – zum ersten Mal erlaubte sie sich, die beherrschte Haltung abzulegen, die sie den ganzen Abend über bewahrt hatte. Die sie vielleicht schon das ganze Jahr über bewahrte. Endlich hatte Jason die Lage begriffen. Endlich würde er ihr einen Teil dieser schrecklichen Bürde von den Schultern nehmen.

»Gleich morgen solltest du eine Anfrage an die Vermittlungsagenturen schicken«, sagte Jason. »Du kannst engagieren, wen auch immer du brauchst. Aber sorge dafür, dass die Leute verschwiegen sind und reisen können.«

»Reisen?« Jane spannte sich an.

»Natürlich wirst du Vater begleiten, wenn er auf die Burg zurückkehrt«, diktierte Jason ihr rundheraus. »Und dieses Mal wirst du ausreichend Hilfe haben, und du kannst …« Wie auch immer, den Rest hörte Jane nicht mehr, ganz einfach deshalb, weil ihr angesichts des erschütternden Missverständnisses, das aus den Worten ihres Bruders sprach, alles vor Augen verschwamm.

»Jason«, stieß sie aus und bewahrte ihre Haltung mit all der Kraft, die ihr nach der langen Nacht noch geblieben war, »ich gehe nicht zurück in die Burg.«

»Wie bitte? Du glaubst, dass du weiterhin durch London ziehen und mit dem einen oder anderen Marquis herumtändeln kannst?«, antwortete Jason trocken. Jane spürte, wie ihr die Hitze in die Wangen stieg. »Du hast wohl nicht damit gerechnet, dass ich von dieser Sache Wind bekomme, nicht wahr? Deine kleine Wette um diesen gelackten Stutzer Broughton?«

Jane musste sich eingestehen, dass ihre Wette mit Phillippa Benning zu den größten Albernheiten zählte, die sie je begangen hatte. Sie hatten gewettet, wer von ihnen beiden den jüngst in die Stadt zurückgekehrten Lord Broughton für sich gewinnen würde. Davon einmal abgesehen, war auch sie erst vor ungefähr vier Wochen nach London zurückgekommen. Sie war begierig darauf gewesen, sich wieder in das Spiel zu werfen, aus dem sie vor einem Jahr hatte aussteigen müssen. Aber irgendetwas hatte sich verändert – entweder hatte die fröhliche Jagd ihre Fröhlichkeit verloren oder Jane die ihre. Ohne dass sie es hätte erklären können, interessierte es sie nicht mehr so wie zuvor, auf der Jagd nach dem begehrtesten Mann und der begehrtesten Einladung durch die Stadt zu streifen.

Solche Beschäftigungen hatten sich als hohl und leer erwiesen … und bewiesen Jane einfach nur, wie sehr die Dinge sich geändert hatten. Der Reiz war verschwunden.

»Das hat nichts damit zu tun, warum ich nicht mehr auf die Burg zurückgehen will.« Jane beantwortete die Frage ihres Bruders mit einem hochmütigen Schniefen.

»Warum dann?«, erkundigte Jason sich misstrauisch. »Welchen Ärger hast du dort angerichtet?«

»Überhaupt keinen.« Sie seufzte, äußerte sich aber nicht weiter. Weil …

Weil … es die dümmste Sache überhaupt war. Ihrerseits handelte es sich um Schwäche, was sie vor Jason natürlich nicht eingestehen würde, aber … die Burg war der Ort, an dem ihre Mutter krank geworden war. Wo sie begraben war. Und Jane hatte es ertragen … diesen beständigen Stachel in ihren Gedanken, einen Korridor hinunterzulaufen und die Halle zu sehen, in der ihre Mutter gestürzt war … das Bett, in dem ihre Mutter im Fieber gelegen hatte … aber jetzt war sie fort, und der Gedanke, in die Burg zurückzukehren, war schier unerträglich.

Aber Jane wollte verdammt sein, wenn sie mit ihrem Bruder darüber sprechen würde. Weil sie wusste, dass er lachen würde.

»Welchen Unfug du auch immer in der Burg angerichtet hast …«, fing Jason erneut an, aber Jane schnitt ihm das Wort ab.

»Versteh doch, Jason Cummings. Ich kehre nicht auf die Burg zurück.«

»Hast du mich nicht verstanden, als ich sagte, dass Vater sich in London nicht blicken lassen kann? Ganz besonders nicht mit einem Wärter, der ihn versorgt, als sei er ein Kind. Ich nehme an, das ist der Grund, der dich bisher gehindert hat, jemanden anzuheuern. Die Sorge um Vaters Stolz.«

»Die Waagschale neigt sich inzwischen zur anderen Seite, Bruderherz. Ich fürchte vielmehr für seine Gesundheit und Sicherheit.«

Jason grübelte kurz. Rieb sich mit der Hand über das Kinn – genau wie Vater, dachte Jane, obwohl er es nicht wahrhaben will.

Jason hob abrupt den Kopf. »Das Cottage ist nur drei Meilen von Reston entfernt«, sagte er.

»Das Cottage? Reston? Jason, du kannst doch wohl nicht meinen, dass wir uns in den Lake District zurückziehen!«, protestierte Jane.

»Warum nicht? Dr. Lawford ist ein weithin anerkannter Mediziner, und er praktiziert dort ganz in der Nähe. Die frische Luft wird Vater sehr guttun …«

»Es geht nicht um seine Verfassung«, entgegnete Jane und fügte mit größerem Jammern, als ihr recht war, hinzu: »Jase, es ist … das Cottage. Im Lake District. Willst du uns wirklich dorthin ins Exil schicken?«

»Dein Widerstand gegen die Burg zwingt mich zu diesem Schritt. Reston liegt ganz in der Nähe, und der gute Dr. Lawson kann schnell zur Hand sein. Außerdem sind Manchester und York nur eine halbe Tagesreise entfernt, wenn schwierigere Behandlungen nötig sind.«

»Aber wir haben mehr als ein halbes Dutzend andere Ländereien, auf die wir uns zurückziehen können«, wandte Jane ein.

»Aber nichts ist so einleuchtend wie eine Reise zur Hütte. Wir haben dort viele Sommer verbracht. Nun, und jetzt haben wir Sommer. Niemand würde es merkwürdig finden, dass du dorthin fährst«, überlegte Jason laut, und seine Argumente klangen, verflucht noch mal, ziemlich vernünftig. »Ein kurzer Rückzug aufs Land. Die Etikette ist dort übrigens nicht so streng wie hier …«

»Für dich vielleicht nicht«, brummte Jane.

»Und«, Jason schenkte ihr keine Beachtung, »Vater hat es immer geliebt, an den See zu fahren. Es wird ihn glücklich stimmen.«

Jane wusste, dass sie ihrem Bruder nicht mehr entkommen konnte. Ihr Vater hatte die Aufenthalte im Cottage tatsächlich immer geliebt. Das kleine Anwesen hatte zur Mitgift ihrer Mutter gehört und war immer ganz und gar ihr Haus gewesen; aber nie hatte der Duke sich weniger als Aristokrat und mehr als Mensch gefühlt als in der Zeit, die er am See verbrachte.

Ja, Jason wusste, dass Jane ihm nicht entkommen konnte. Aber er wusste nicht, dass es sich umgekehrt genauso verhielt.

»In einem wichtigen Punkt liegst du falsch, Jason.« Jane erhob sich, ging würdevoll zur Anrichte und stellte ihr geleertes Glas darauf ab. »Du sagtest, dass niemand es merkwürdig fände, wenn ich zum Cottage fahren würde.«

»Das wird auch niemand«, erwiderte Jason. »Vier Wochen weiter wird die Hälfte der Gesellschaft die Stadt verlassen haben, um die süßere Landluft zu schnuppern. Du reist einfach nur ein wenig früher ab.« Jason zog die Brauen hoch. »Jane, ich kenne dich ganz genau. Es wird dir nicht gelingen, dich vor deiner Pflicht zu drücken. So lange war ich nun auch wieder nicht fort, als dass ich mich darüber irren könnte.«

Jane beugte sich zu ihrem Bruder herunter, der es sich in seinem Sessel und in seiner Überlegenheit bequem gemacht hatte.

»Nein, darüber nicht. Aber dein Irrtum war, von der Einzahl zu sprechen.« Sie lächelte katzengleich, als ihr Bruder sie irritiert anschaute. »Ich bin sicher, dass du nicht nur mich gemeint hast, sondern uns.«

3

»Das Cottage? Bist du dir sicher, Minnie?«

Victoria Wilton hielt mit einer Hand ihre Röcke gerafft, damit sie nicht nass wurden, während sie mit der anderen eine besonders störrische Pfefferminzpflanze aus dem Boden zog. Die Minze wuchs wild am Ufer des Broadmill Rivers, der durch den kleinen Park des Anwesens der Wiltons floss, und sie brauchte sie für das Minzgelee, das sie und ihre Mutter heute Nachmittag einkochen wollten. Aber plötzlich galt ihre ganze Aufmerksamkeit Minnie, der stämmigen Haushälterin der Wiltons.

»Ja, Miss Victoria«, erwiderte die Haushälterin, die aufgeregt einen Zipfel ihrer groben Musselinschürze knetete. »Der Metzger hat es direkt von der Haushälterin des Dukes. Sie hat gesagt, dass der Bote sie mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen hat, um ihr die Nachricht zu bringen. Der Reiter hat gesagt, dass man ihm das Doppelte der üblichen Bezahlung gegeben hat, damit er sich besonders beeilt, herzukommen.« Eingedenk dieser Geldverschwendung zog Minnie die Brauen hoch.

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