Der Sommer der Vergessenen - René Grandjean - E-Book

Der Sommer der Vergessenen E-Book

René Grandjean

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Beschreibung

Band 1: Im beschaulichen Ort Neunseen, wo der dreizehnjährige Rolo Blutgut seine Tante besucht, scheint nicht alles mit rechten Dingen zuzugehen. Eine Stadtwache patrouilliert, die Menschen sind altmodisch gekleidet, pflegen mystische Rituale. Und als Rolo auch noch auf die Nachtalben Driftwood und Socke trifft, beginnt ein Abenteuer, das seine Welt auf den Kopf stellen soll. Denn die Nachtalben haben eine Mission. In einer fernen Vergangenheit lebten Menschen mit magischen Wesen Seite an Seite. Bis Ostaguul, der Nachtbringer, der mächtigste aller Zauberer, die Herrschaft begehrte. Die Elben zerstörten in höchster Not die Quelle aller Magie. So wurde Ostaguul seiner Macht beraubt. Aber nicht nur er. Die Welt wurde entzaubert. Die Menschen vergaßen die alten Bündnisse. Zwerge, Elben, Halblinge wurden zu Dämonen erklärt, gejagt und vernichtet. Driftwood und Socke wollen die Magie zurückbringen. Und Rolo soll sie führen. Durch eine moderne Welt, die ihnen völlig fremd geworden ist. Ausgestattet mit einem magischen Stein – dem Eiphon – machen sich die Drei auf die Reise. Und Ostaguuls finstere Diener, die Irrlichter, sind ihnen dicht auf den Fersen. René Grandjean erzählt eine Geschichte vom Fremdsein, von Freundschaft. Davon, dass Gut oder Böse oft nur eine Frage des Blickwinkels ist. Gewürzt mit einer Prise schwarzem Humor, nicht zuletzt durch die Auftritte des chaotischen Nachtalb-Duos Driftwood und Socke und ihrem untoten Hund Kotze, entfaltet sich ein spannendes, vielschichtiges Abenteuer mit Liebe zum Detail. Gehen Sie mit Rolo und den Nachtalben auf eine spannende Reise in der Tradition von Joe Dante und Neil Gaiman. "Der Sommer der Vergessenen ist eine zauberhafte Geschichte à la "Die Goonies" für jung und alt!" (ebookninja.de), "Ein gelungenes Debüt und ich hoffe, weitere Werke des Autors lesen zu können. 5 von 5 Gänseblümchen." (sakuyasblog.blogspot.

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Seitenzahl: 503

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René Grandjean

Der Sommer der Vergessenen

Band 1 von 2

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Widmung

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Epilog

Über den Autor

Leseprobe "Make new Memory"

Impressum neobooks

Widmung

Prolog

Der Dunkle

Es war ein 21. Dezember. Die Dunkelheit lag über dem Wald wie ein samtener Vorhang. Lautlos fielen Schneeflocken aus dem schwarzen Nachthimmel. Ein Schwarm Krähen saß in den Zweigen einer alten Kiefer. Ihre aufgeplusterten Gefieder schützten sie vor dem eisigen Hauch der Nacht. Die schwarzen Vögel drängten sich schweigend aneinander. Seit Jahrzehnten verbrachten sie die düsteren Zeiten zwischen den Tagen im schützenden Geäst der Kiefer. Doch heute Nacht war etwas anders. Ihre dunklen Augen beobachteten unruhig den Boden am Fuß des Baumes. Die Krähen waren ängstlich. Die Jäger der Finsternis gingen lautlos ihren Geschäften nach. Eine Eule schwang sich mit kräftigen Flügelschlägen in die Nacht und verschwand. Ein alter Mann schlich mit bedächtigen Schritten am Ufer des Baches entlang. Obwohl barfuß, schien die Kälte ihn nicht zu stören. Jede seiner Bewegungen war so lautlos wie die weiche Landung der Schneeflocken auf dem vom modrigen Laub bedeckten Waldboden. Nur das leise Fließen des Baches störte die Stille. Langsam bildete sich ein dichter Teppich aus Schnee, verbarg die Spuren des vergangenen Sommers unter seiner hellen Pracht. Der Alte hielt inne. Er strich sich das graue Haar aus der Stirn und richtete seinen Blick hinauf zu den ziehenden Wolken, den Nadelstichen der Sterne im dunklen Dach der Welt. Seine blauen Augen erstrahlten im Glanz des Mondlichts.

„Seltsam“, murmelte er. „Es sind nicht genug Wolken am Himmel für so viel Schnee.“

In der Ferne vernahm er ein Rauschen. Es klang zart und zaghaft wie das Rauschen der belaubten Buchen, welches er aus sorgloseren Zeiten kannte. Damals, als der Wald noch die Welt bedeutete. Ein kalter Wind kam auf. Die Kronen der Bäume schaukelten träge. Die Krähen saßen starr auf ihren Ästen, wogten schweigend mit dem Wind. Wo eben noch das leise Plätschern von Wasser zu vernehmen war, welches sich den Weg durch sein schmales Bett bahnte, kehrte gespenstische Stille ein. Der Bach floss nicht mehr. Im Westen, wo eine kleine Anhöhe den Blick über das Land versperrte, bewegte sich etwas, versteckt zwischen dem dichten Gestrüpp der Haselsträucher. Der Alte duckte sich und starrte zwischen den knorrigen Stämmen der Bäume die Anhöhe hinauf. Der Wind heulte im Geäst. Eine Wolke schob sich vor den Mond. Ihr Schatten verdunkelte die Nacht endgültig. Jedoch hinter der Kuppe der Erhebung war ein blasses Leuchten zu erahnen. Eigenartig. Dort liegt doch der See. Wer sollte dort jetzt ein Feuer entzünden?

Eine Krähe durchbrach die Stille mit einem Schrei. Über den Hang tasteten sich leuchtende Nebelschwaden wie dünne Finger. Sie schwebten hinab. Schon umgarnten sie die Sträucher am Fuß des Hangs. Seltsam, dachte der Alte, der Wind kommt von Osten, der Nebel jedoch kriecht von Westen heran. Ein dichter Wall aus Nebel, dick und undurchsichtig, sammelte sich an der höchsten Stelle. Erst noch flach, türmte er sich rasch auf und floss den Hang hinab wie Honig. Seine ersten Ausläufer erreichten den Alten. Sie streichelten sanft über seine Füße, schlichen zwischen seine Beine, umwoben seinen Körper. Der tanzende Nebel verströmte ein zauberhaftes Licht. Es schmeichelte ihm. Die Welt versank. Der Alte hatte vieles gesehen in seinem langen Leben. Er sah manches Wunder, manchen Irrsinn und die eine oder andere Unglaublichkeit. Er kannte gute Zeiten und elendig schlechte. Weit war er gewandert, seit die Welt sich gewandelt hatte. Doch dergleichen sah er seit Jahrzehnten nicht. Wie ein Traum kam es ihm vor. Ein weißer Traum aus Mondlicht und Eis.

„Ja, das Mondlicht“, flüsterte er. „Es steigt zu mir hinab. Es besucht mich wieder nach all den Jahren. Es vergibt mir.“ Er lächelte schlaftrunken. „Mein Name ist Tweed und dies ist mein Wald“, murmelte er und beantwortete die ungestellte Frage. Seine Augen waren matt, sein Körper starr. Er nickte, wie in ein Gespräch vertieft. Eine wundervolle Schwerelosigkeit hielt ihn in ihrem Bann. Nie sollte sie vergehen. Doch dann regten sich seine Instinkte. Was geschah hier nur? Er blinzelte die Müdigkeit aus den Augen. Sein Körper straffte sich, und zur vollen Größe aufgerichtet rief er: „Ich bin Tweed und dies ist mein Wald!“ Die Worte verhallten. Langsam verblasste das schleierhafte Gefühl. Sein Bewusstsein dämmerte.

Die Nebelfinger zogen sich zurück und vergingen. Auf dem Waldboden hatte sich ein strahlender See aus Nebel gebildet. Tweed hielt die Nase in den Wind wie ein Hund.

Fremde Gerüche. Was geht hier nur vor?

Unmittelbar vor ihm brach ein Ast. Die Krähen erhoben sich krächzend von ihrem Lager in der Baumkrone. Tweed schaute ihnen nach. „Feiglinge!“

Zu seiner Linken ein Rascheln. Eine Eiche stand dort, leicht erhöht zu den anderen Bäumen des Waldes. In ihrer Krone, zwischen den wenigen welken Blättern, die sich den Herbstwinden widersetzt hatten, bogen sich die Äste. Kein Mann erlebt so viele Winter, wenn die Vorsicht nicht sein ständiger Begleiter ist. Tweed war stets auf alles gefasst, hielt Augen und Ohren offen. Aber Nebel, und war er noch so eigenartig, machte ihm keine Angst. Seine zauberhafte Trance schien ihm nicht in Erinnerung geblieben. Die Krone der alten Eiche zitterte, als würde sich eine ungeschickte Taube darin herumdrücken, und der frische Schnee rieselte hinab. Tweed war es, als höre er Musik. Aus weiter Ferne schien der Wind sie heranzutragen. Er vernahm Stimmen, die Worte jedoch verstand er nicht. Die Zweige bewegten sich nicht vom Wind, oder weil jemand den Baum schüttelte. Aus eigener Kraft. Wie tastende Arme, die Halt suchten, wogten sie hin und her, als wollten sie nach dem Mond greifen. Es erschien Tweed wie ein Tanz, so anmutig war die Bewegung. Langsam, aber bald schon deutlich, konnte er erkennen, dass hier kein unkontrollierter Wirrwarr herrschte. Das hier war kein zufälliges Geschehen, keine Laune einer seltsamen Nacht. Hier war ein lenkender Wille am Werk. Die Zweige verwoben sich miteinander. Unsichtbare Hände schienen einen Kranz zu flechten.

Ein Gesicht. Ein nahezu menschliches Gesicht. Dort sind bereits Mund und Nase zu erahnen.

Aus den Tiefen der Krone schoben sich zwei Eicheln gerade dahin, wo Tweed die Augen erwartete. Darüber nahmen Äste die Position von Augenbrauen ein. Und wie aus einem langen Schlaf erwacht, begannen die Eichenaugen zu strahlen. Es waren freundliche Augen. Der Mund wollte sich öffnen. Erst verweigerten sich die hölzernen Lippen, wollten aneinander kleben wie die Fliege im Netz der Spinne. Tweed konnte die Anstrengung nahezu spüren. Er schmunzelte. So seltsam die Geschehnisse in dieser Nacht waren, er spürte, hier waren die guten Kräfte am Werk. Unbewusst presste auch er seine Lippen aufeinander. Mit einem Plopp öffnete sich der Mund des Holzgesichts. Und dann ertönte eine Stimme, so tief, dass Tweed sie bis in die Magengrube spüren konnte.

„Ahhh.“ Der Baum lächelte. „Ahhh ist das guuut.“ Er schürzte die Lippen, als müsse er sich erst daran gewöhnen, wieder einen Mund zu haben.

Tweed lachte über die Grimassen des Baumes. Doch als die Eichenaugen auf ihn hinab blickten, senkte er den Blick.

„Zu dir später. Jetzt ist es Zeit. Die Zeit! Laaang habt ihr gewartet, laaang habt ihr geruht, meine Kinder.“ Der Baum ließ seinen Blick über den nebligen Boden wandern. An einer Stelle, die für Tweed wie jede andere aussah, verharrte er. „Jaaa, hier. Hier war es. Aufgepasst. Die Zeit drängt!“ Der Baum schloss die Augen und begann einen murmelnden Gesang. Es war dieselbe Melodie, die der Wind herangetragen hatte. Selbst Tweeds feines Gehör reichte zunächst nicht aus, um die Worte zu verstehen. Ein Chor, eine Art Kanon, gesungen vom Wind und dem Baum, entstand.

„Ich bin das Land.“

Waren das die Worte?

„Wieder und wieder.“

Ja, kein Zweifel: „Ich bin das Land, wieder und wieder. Ich bin das Land, wieder und wieder.“

Und mit jeder Wiederholung wurde der Gesang eindringlicher. Der Baum schien sich zu konzentrieren, seine Kräfte zu bündeln. Ein elektrisierendes Flirren fuhr durch den Boden. Es kitzelte Tweed an den Füßen. Die nackten Äste, welche das Gesicht formten, sprossen. Knospen wuchsen, aus denen sich zarte Blätter entfalteten. Das Laub füllte rasch die kahlen Stellen des Gesichts und umrahmte es wie einen Adventskranz. Als würde ein ganzer Frühling in diesem kurzen Moment vollendet. Doch nur an dieser Stelle schien der Winter vorbei, der übrige Wald war von dem Zauber nicht ergriffen. Der Gesang endete abrupt, und auch der Wind schwieg. Mit fester Stimme sprach der Baum:

„Die Sonne weicht, das Dunkel heilt, zu lang im Erdenschoß verweilt. Errette dich, erwecke dich, doch nicht ohne des Mondes Licht. Der Finstere, die dunkle Plage, entsteige deinem erdig’ Grabe. Erwaaache mein Kind!“

Die Worte hallten nach zwischen den Bäumen.

„Erwache“, flüsterte es aus dem welken Laub.

„Erwache“, raunte das morsche Holz.

Tweed suchte die Quellen der Stimmen. Waren das nur Echos? Der Nebel bewegte sich in einer leichten Brise. Der Boden zitterte.

„Erwaaacht meine Kinder.“

Das Zittern wurde stärker. Aus den Kiefern rieselten Nadeln. Ein Zapfen traf Tweeds Kopf.

„Erwaaacht.“

Unter dem Nebel brach der Boden auf. Erst schmal zog sich der Riss schnell lang und breit durch die frostige Erde. Ein dumpfes Klopfen setzte ein. Es schien tief aus dem Erdreich zu kommen. Bamm, Bamm, Bamm! Als schlüge jemand mit einem schweren Hammer zu. Bamm, Bamm, Bamm! Drei Schläge. Dann Stille. Und wieder drei Schläge. Tweed sah, dass wie bei einem Maulwurfshügel feuchtes Erdreich an die Oberfläche quoll. Bamm, Bamm, Bamm!

Da unten war jemand! Tweed schluckte. Der Hügel wuchs.

„Erwaaacht.“

Bamm, Bamm, Bamm! Der Hügel vibrierte. Ein Grollen erfüllte die Luft. Es wurde lauter, schwoll an. Der Boden bebte. Bamm, Bamm, Bamm!

„Jetzt, jetzt, jeeetzt!“

Starker Wind kam auf. Er bog die Bäume, verwirbelte den Schnee. Die Böen peitschten Tweed, trieben ihn vor sich her. Dann rollte ein Donner durch den Wald, wie es keinen zuvor gegeben hatte. Und mit einem ohrenbetäubenden Knall zerbarst der Hügel. Die Wucht der Explosion warf Tweed in die Büsche. Die Eiche ließ ein donnerndes Lachen erschallen.

„Jaaa! Es ist so weit!“

Und dann, so plötzlich, wie es begonnen hatte, endete es. Tweed rappelte sich auf. Gespannt hielt er den Atem an. Nur ein dampfender Krater war zurückgeblieben. Die Eiche schien sehr zufrieden damit.

„Es ist fast geschafft. Und nun – steh auf!“

Der Wald schwieg voller Ehrfurcht. In der Tiefe der Grube war eine Bewegung zu erahnen. Nur ein Schatten in der Finsternis. Und dann streckte sich eine schwarze Pfote, dunkler als das Dunkel selbst, durch den wallenden Nebel hinauf in die Nacht. Und ein Arm, dünn und lang, und mit dem Schwärzesten aller Felle besetzt.

„Steh auf, mein Kind. Es ist Zeit.“

„Meister?“, knarzte die Stimme aus dem Inneren des Kraters. „Na endlich. Mir ist saukalt!“

Kapitel 1

Rolo hatte sich an jenem Morgen schon zweimal übergeben. Frau Gottlieb, seine Lehrerin für Mathematik, hatte es wiederholt abgelehnt, ihm in den Waschraum für Jungs zu folgen, um sich die Beweisstücke anzuschauen. Sie ignorierte die Unruhe im Klassenraum und zog unbarmherzig ihren Unterricht durch. Nur die Streber in den ersten Reihen folgten ihren Ausführungen über natürliche Zahlen, als ob nichts Besonderes wäre. Dabei war heute nicht weniger als der beste Tag des Jahres. Der letzte Schultag vor den Sommerferien.

Patze, Rolos Freund und Tischnachbar, versuchte ihn hartnäckig davon zu überzeugen, dass es saukomisch wäre, wenn er Spuckkugeln auf die erste Reihe abfeuern würde. Als Rolo darauf nicht ansprang, was ungewöhnlich war, blickte Patze ihn mit einer Mischung aus Enttäuschung und Mitleid an.

„Alter, du siehst echt mies aus. Geh nach Hause, bevor es hier ein Unglück gibt.“

Rolo strich sich das schwarze Haar aus der Stirn. Er schwitzte. Diese plötzliche Übelkeit hatte ihn in den letzten Wochen mehrmals heimgesucht. Und immer in unpassenden Momenten. Im Hallenbad konnte er sich diesen Sommer nicht mehr sehen lassen. Wenn das so weiter ging, musste er seinem Vater davon erzählen. Er schaute auf die große Uhr über der Tafel. Erst fünf vor neun. Es war wie verhext. Jede neue Minute verging langsamer als die vorherige. Der Minutenzeiger schien sich auf seinen Runden an den Ziffern fest zu klammern. Rolo konzentrierte sich darauf, ihn mit der Kraft seiner Gedanken zu beschleunigen. Er wusste, dass er das nicht konnte. Er war ja kein Spinner. Aber der Versuch allein war spannender als Mathe. Patze schubste ihn an.

„Alter, du guckst so verkniffen. Geh lieber zum Klo.“

Tina, die hinter ihnen saß, stopfte Rolo einen Zettel in die Kapuze seines Pullis. Er fischte ihn umständlich raus und faltete ihn auseinander. Es war eine Zeichnung von Rolo. Sie zeigte ihn mit dem Kopf in der Toilette. Darunter stand Rolo Kotzgut. Patze zog den Zettel zu sich rüber, zerknüllte ihn und warf ihn Tina treffsicher vor die Stirn. Rolo grinste. Nicht, dass er sich nicht selbst wehren konnte. Aber Patze war schon seit dem Kindergarten sein selbsternannter Leibwächter. Er riskierte einen vorsichtigen Blick zur Uhr. Wenn man zu oft hinsah, verging die Zeit noch langsamer. Zu seiner Überraschung stand der Zeiger schon auf fünf nach. Auch die Übelkeit hatte etwas nachgelassen.

Rolo blickte an Patze vorbei aus dem Fenster. Er hätte auch gern den Fensterplatz gehabt, aber Patze war nun mal größer und stärker als er. Dafür konnte Rolo schneller rennen.

Draußen war fantastisches Wetter. Am blauen Himmel war nur eine einzelne dunkle Wolke zu sehen. Sie zog ungewöhnlich schnell. Rolo schaute genauer hin. Das war gar keine Wolke. Es war ein großer Schwarm Krähen. Sogar der größte Schwarm, den er je gesehen hatte. Es mussten Hunderte der schwarzen Vögel sein. Und sie kamen schnell näher. Schon fiel ihr Schatten auf die nahen Stoppelfelder. Auf ihrem jetzigen Kurs würden sie sehr dicht über das Dach der Schule fliegen. Rolo wurde es mulmig. Er schob seinen Stuhl zurück und trat ans Fenster. Die Vögel machten keine Anstalten, an Höhe zu gewinnen.

„Sind die blind? Hey!“ Er wedelte mit den Armen. Nur noch wenige Meter. Ihr Krächzen drang schon in den Raum. Dann prallte die erste Krähe gegen die Scheibe. Mit ausgebreiteten Schwingen hackte sie auf sie ein. Rolo sah das Funkeln in den schwarzen Augen. Er wich zurück. Schnell war die ganze Fensterfront ein Chaos aus schlagenden Flügeln und scharrenden Schnäbeln. Es wurde dunkel. Rolo wandte sich zu Patze. Aber es war nicht mehr Patze, der auf dem Stuhl neben seinem saß. Es war ein alter Mann. Sein schütteres Haar hing ihm in fettigen Strähnen vom Kopf. Er war klein, uralt und faltig. Und er grinste wie eine Hyäne. In diesem Augenblick zerbarsten die Fenster unter der Attacke der Vögel in tausend Scherben. Rolo warf sich zu Boden und verbarg den Kopf unter den Armen. Die Krähen schwirrten wie von Sinnen durch den Raum. Rolo schaute auf, suchte nach einem Ausweg. Da sah er, dass der alte Mann keine Beine hatte, sondern den Unterleib einer Made. Die weiße Haut war halb durchsichtig und glänzte feucht. Und zwischen den Krähen sah er ein Wesen auf sich zukommen, das ihm auf seltsame Weise vertraut war. Es hatte lange dünne Arme und Beine. Sein ganzer Körper war von weißem und braunem Pelz bedeckt. Das Gesicht war dunkel um die Augen, mit einer spitzen Schnauze und einer Stupsnase. Und es rief seinen Namen. Aber die Krähen ließen es nicht zu ihm durch. Der Madenmann lachte das gackernde Lachen einer Hyäne. Sonst rührte er sich nicht. Rolo fasste sich ein Herz und kam auf die Beine. Die Krähen stürzten sich sofort auf ihn. Ihre Schnäbel zerhackten die Haut in seinem Gesicht. Rolo schlug wild um sich und schrie. Der Schrei schraubte sich rauf wie eine Sirene und ließ die Krähen platzen wie Luftballons. Es regnete Blut und Federn. Der Madenmann klatschte Beifall und lachte. Dann streckte er die Hand nach Rolo aus. Rolo, von Blut überströmt, spürte zu seiner eigenen Überraschung das Verlangen, sie zu ergreifen. Doch als er seine Hand nach der des Madenmannes ausstreckte, kehrte wie aus dem Nichts das pelzige Wesen zurück. Mit einem beherzten Sprung überwand es den Raum, und mit einem gewaltigen Hieb seines Schwertes trennte es den Kopf des Madenmannes vom Rumpf. Als der Kopf über den Boden rollte, erkannte Rolo, dass es der Kopf seines Vaters war. Mitleid lag in den gelben Augen des Wesens, als ihre Blicke sich trafen. Plötzlich schwang es sein Schwert. Rolo sah die glänzende Klinge auf sich zukommen. Er schrie.

„Alter“, raunte Patze.

Es war totenstill im Klassenzimmer. Die Fenster waren nicht zerbrochen. Rolo blutete auch nicht. Keine Krähen. Mit offenen Mündern glotzten seine Mitschüler ihn an. Mitten in einer Divisionsaufgabe versteinert stand Frau Gottlieb an der Tafel.

„Roland!“

Rolo stand auf. Er war am ganzen Körper schweißnass, und ihm war schwindlig. Die Sohlen seiner Turnschuhe quietschten auf dem Linoleumboden, als er sich langsam zur Tür schleppte. Dann erbrach er sich in den Papierabfall.

Rolo lag auf dem Bett. Sein Zimmer war in ein mattes, unwirkliches Licht getaucht. Durch den Spalt zwischen den geschlossenen Fensterläden fiel nur ein schmaler Streif Sonnenschein. Staubflocken tanzten darin umher. Frau Gottlieb hatte schließlich ein Einsehen gehabt und ihn nach Hause geschickt. Rolo fand, er hatte den Beweis für sein Unwohlsein eindringlich und für alle sichtbar erbracht. Zum Glück konnte jetzt erstmal sechs Wochen Gras über die Sache wachsen. Er war aus der Schule auf direktem Weg nach Hause gegangen, hatte seine Tasche in die Ecke geworfen und sich in sein Zimmer verzogen. Das war kein einfacher Tagtraum gewesen. Die kannte Rolo. Er hatte den Schmerz wirklich gespürt, als die Krähen ihn verletzten. An viel mehr konnte er sich, trotz angestrengtem Nachdenken, nicht erinnern. Nur daran, wie alle ihn angestarrt hatten. Sogar Patze. Rolo machte sich ernsthaft Sorgen um seinen Verstand. Vielleicht sollte er seinem Vater davon erzählen. Er musste bald von der Arbeit kommen. Von draußen drang Vogelgezwitscher ins Zimmer. Rolo streckte sich und schwang die Beine aus dem Bett. Auf Zehenspitzen balancierte er durch das Durcheinander aus Büchern und Klamotten, das den Boden bedeckte, zum Fenster. Schwungvoll stieß er die Fensterläden auf. Er musste die Augen abwenden, so hell war der Tag. Sonnenschein durchströmte den Raum und vertrieb die dunklen Bilder aus seinem Bewusstsein. Er stützte die Ellbogen auf die Fensterbank und schaute hinaus. Die Sonne stand wunderbar an einem wolkenlos blauen Himmel. Unten vor dem Haus lag der Garten. Sein Vater war schon da. Er saß auf der runden Holzbank, die den ältesten der Bäume umschloss, mit der Nase in einem großen Buch. Es sah aus, als würde er an dem Buch schnuppern, anstatt darin zu lesen, so dicht war sein Gesicht an den Seiten. Außer dem Gesang der Vögel und dem leisen Brummen eines elektrischen Rasenmähers, der irgendwo in der Nachbarschaft seinen Dienst tat, war es ruhig. Rolo ließ seinen Blick schweifen. Die Straße jenseits der Hecke, die den Garten begrenzte, flimmerte in der Mittagshitze. Die Platanen am Straßenrand ließen durstig ihre Äste hängen. Kein Mensch war zu sehen. Die meisten Bewohner der Windigen Straße hatten sich einen kühlen Platz in ihren windschiefen Häuschen gesucht. Die Häuser, ausnahmslos Fachwerk mit dunkelbraunen Reetdächern, hatten alle im Laufe ihres langen Daseins eine ordentliche Schieflage entwickelt. So sah es aus, als würde ein Haus sich müde auf das nächste stützen, welches wiederum seinen Halt im folgenden fand. Wie eine betrunkene Polonaise. Sein Vater hatte ihm erklärt, dass so was durch unüberlegte Bebauung, schlechte Stadtplanung und Windkanäle passierte. Doch das war Rolo egal. Er fand, es war die schönste Straße in ganz Rabenstadt. Niemals hätte er mit seinen Freunden getauscht, die mit ihren Familien die neuen und einwandfreien Doppelhaushälften in den Neubaugebieten bewohnten. Furz langweilig!

Nach einem kurzen Abstecher ins Bad polterte er die gewundene Holztreppe hinab und raus in den Garten.

Sein Vater schien sehr vertieft in seine Lektüre. Er trug Sandalen, eine braune Cordhose und ein grünes T-Shirt. Schwarze Locken standen ihm vom wirr vom Kopf ab. Ein zerzauster Vollbart bedeckte das Gesicht. Er hätte viel jünger aussehen können ohne den Bart. Doch auch so hatte er sich für seine achtunddreißig Jahre einen gewissen jungenhaften Charme bewahrt. Das nicht zuletzt wegen seiner schlaksigen Statur. Seine blauen Augen blickten durch die dicken Gläser einer Hornbrille.

„Na Paps, mal wieder im Dunkeln angezogen?“, lachte Rolo und pflückte sich einen Apfel von einem niedrigen Ast.

Sein Vater räusperte sich und musterte ihn über den Rand seiner Brille. „Roland? Ich hab dich gar nicht kommen gehört.“

Rolo schauderte. Niemand nannte ihn Roland. Außer Lehrer und manchmal sein Vater.

„Ich war vor dir da. Wir konnten früher nach Hause. Letzter Schultag“, log er. „Jetzt sind Sommerferien!“ Er reckte begeistert die Arme in die Luft.

Sein Vater blieb völlig unbeeindruckt, blätterte eine Seite weiter und murmelte so etwas wie: „Ach so.“

Rolo rollte genervt mit den Augen. Wenn Paps in dieser Stimmung war, hatte es keinen Sinn, mit ihm zu reden. „Gibt’s was zu essen?“, fragte er, um irgendwas zu sagen.

Sein Vater schaute nicht mal auf, als er antwortete. „Steht in der Küche.“

Rolo lief ins Haus.

„Und füttere den Kater!“, hörte er Paps noch rufen.

Drinnen war es angenehm kühl. Die schattige Diele mit dem tief hängenden Deckenleuchter durchquerte Rolo leicht gebückt, um sich nicht den Kopf zu stoßen. Die Küche war nicht groß. In zahllosen Regalen stapelten sich Konservendosen und Tütensuppen, die Grundnahrungsmittel des Männerhaushaltes. Viele waren so alt, dass die Etiketten ganz blass und unleserlich geworden waren. Rolo nannte das Überraschungsessen. Auf einem Stuhl rekelte sich Igel. Der Kater war schwarz wie die Nacht mit bersteinfarbenen Augen.

„Guten Tag, Igel.“ Rolo warf einen Blick auf die Uhr. „Herrje, schon Viertel nach eins!“ Er beeilte sich, um nicht den Rest des Tages auch noch im Haus zu vertrödeln. Gespannt lüftete er den Deckel des Topfes auf dem Herd. Spaghetti. Es gab Schlimmeres. Während er aß, warf er Igel Nudeln zu, was der Kater mit dösiger Gleichgültigkeit hinnahm.

Stimmen vor dem geöffneten Küchenfenster ließen Rolo aufhorchen. Er stand auf und schaute hinaus. Es war seine Lehrerin, Frau Gottlieb.

„Verdammt!“ Er ahnte, dass ihm ein unangenehmes Gespräch mit seinem Vater bevorstand, und schloss das Fenster. Dabei fiel sein Blick auf ein gerahmtes Foto an der Wand. Rolo war bestimmt eine Million Mal daran vorbei gelaufen, aber richtig betrachtet hatte er es noch nie. Seine Nase war genau so spitz wie ihre. Auch die glatten, schwarzen Haare hatte er von ihr. Nur waren seine kürzer und strubbeliger. Sie hatte auch grüne Augen. Wie er. Es war das einzige Bild, das er kannte, auf dem sie zusammen zu sehen waren. Wieso hatte sein Vater es eigentlich in die Küche gehängt? Mit ihrem bunten Kleid verschwand sie zwischen den Blumen, die auf der Wiese wuchsen, auf der sie saß. Rolo überlegte. Er war jetzt dreizehn. Dann war er ein Jahr alt gewesen, als das Foto entstanden war. Sie dreiundzwanzig. Er fand, sie sah nett aus, wie sie den Kopf in den Nacken warf und lachte. Ihre Hände wirkten riesig groß, wie sie seine kleinen Ärmchen umfassten. Sie hielt ihn ganz fest. Dass man seine Mutter vergessen kann, ging es ihm durch den Kopf. Sie war schon zwölf Jahre tot. Rolo kam ein Film in den Sinn, den er kürzlich gesehen hatte. Es war Peter Pan. Kapitän Hook drohte Peter mit dem Tod. Und Peter erwiderte: „Sterben, was für ein Abenteuer.“ Rolo stellte sich sterben vor wie einschlafen. Oder wie Stromausfall. Und dann wie vor der Geburt. Wäre es nicht prima, wenn man sich daran erinnern könnte, wie es vor der Geburt war? Dann müsste niemand mehr Angst haben vor dem Tod. Der Gedanke gefiel ihm. Der Tod seiner Mutter war plötzlich gekommen. Rolo wusste, dass man sagte, dass in diesem Moment das ganze Leben an einem vorbei zieht. Was sie wohl sah? Vielleicht ihn? Wäre sie an jenem Tag nicht mit dem Auto gefahren, wäre sie noch da. Hätte sie nicht ein bisschen besser aufpassen können? Der Gedanke machte ihn wütend. Er musste sich das doch auch jeden Tag anhören. Kletter’ da nicht hoch! Schneide dich nicht! Sei nicht so wild! Fass das nicht an! Als wäre er bescheuert! Das hätte Paps mal lieber dir erzählt: Fahr nicht so schnell. Er nahm sich vor, besser auf sich aufzupassen, wenn er mal eine Familie hätte. Plötzlich wusste er, warum er das Bild noch nie richtig angeguckt hatte. Es stach im Bauch. Er ärgerte sich. Heute begannen die Sommerferien, und er stand hier wie sieben Tage Regenwetter. Jetzt fuhren wieder alle in den Urlaub. Alle außer ihm. Sein Vater war so belesen. Er wusste fast alles über andere Länder, was es zu wissen gab. Aber mal hinfahren? Pustekuchen. Immer die Ausrede, sie könnten die Katze nicht allein lassen. Rolo glaubte, sein Vater hatte vor irgendetwas Angst. Darum ging er auch so selten raus. Nur wenn er musste. Er war wirklich ein Kauz. Zwar mit dem Herz am rechten Fleck, aber ein Kauz. Was hatte er gestern noch gleich gesagt? „Mit dem Kummer ist es wie mit einer Katze, die sich putzt. Man wird nie fertig. Ist hinter dem Ohr alles sauber, fängt man an den Beinen von vorne an.“ Manchmal erzählte er echt schräge Sachen. Wie er auch immer rumrannte. Rolo hätte ihm so gern mal was Cooles zum Anziehen ausgesucht. Er war seit ihrem Tod allein. Schon zwölf Jahre. Nicht richtig allein. Rolo war ja da. Aber trotzdem. Mit einer Frau im Haus wäre bestimmt vieles anders gewesen. Auf die hätte Paps vielleicht gehört. Ihm hörte er ja nicht mal zu. Er hat nicht gewusst, dass heute die Sommerferien beginnen. Das wette ich. Wenn sein Vater ihn mal in die Arme nahm, musste Rolo immer an die feierliche Begrüßung zweier Staatspräsidenten denken, die sich eigentlich spinnefeind sind und nur vor den Kameras der versammelten Weltpresse auf dicke Kumpels machten. Die umarmten sich auch immer so steif. Vielleicht wäre es gut gewesen, einen Bruder zu haben. Dann hätte Rolo jemanden zum Rumhängen, auch in den Ferien. Aber keinen großen. Dann müsste er noch dessen olle Klamotten auftragen. Und keinen kleinen, der ihm nur an der Schleppe hing. Wenn ich mal eine Familie habe, dann fahren wir jeden Sommer weg. Ans Meer. Nicht in die Berge. Er wunderte sich, was heute in seinem Kopf los war. Er dachte an die verflixte Pubertät, von der in der Schule alle redeten. Das musste ja ganz furchtbar sein. Rolo hatte viele coole Jungs gesehen, die sich in totale Weichkäse verwandelt hatten. Mit Gesichtern wie Streuselkuchen, voll mit Pickeln, stotterten sie nur noch Unsinn, sobald Mädchen in der Nähe waren. Das mach ich nicht mit! Bei Patze hatte es schon angefangen. Plötzlich war es kindisch, im Wald zu spielen. Er wollte lieber in der Eisdiele hocken und Milchshakes schlürfen. Das kann er mit seiner Oma machen, der Waschlappen. Wobei, vielleicht konnte Patze gar nichts dafür. Nannte man das nicht Erwachsen werden? Rolo nannte es ein Langweiler werden. Alle Erwachsenen, die er kannte, waren irgendwie öde. Klar, sein Vater war auf seine Art schräg. Aber richtig Spaß haben konnte er auch nicht. Konnte nicht einfach alles so bleiben, wie es war?

Ein lauter Knall riss ihn aus seinen Gedanken. Sein Vater kam in die Küche und hielt sich die Stirn.

„Diese verdammte Lampe. Erinnere mich daran, dass ich sie verschwinden lasse. Oh, du hast die Katze gefüttert?“

Der Boden war übersät mit Spaghetti.

„Yep“, erwiderte Rolo.

Sein Vater seufzte, legte das Buch auf den Tisch und setzte sich.

„Deine Lehrerin war gerade hier“, begann er steif.

„Hab ich gesehen.“ Rolo schlürfte eine Nudel.

„Warum sagst du mir nicht, wenn es dir nicht gut geht?“

„Geht schon wieder.“

„Sie sagte, du hast geschrien. Hast du Schmerzen?“

Rolo war es unangenehm, wenn sein Vater sich nach seinem Wohlergehen erkundigte.

„Patze hat mich mit seinem Bleistift gepikt“, log er, in der Hoffnung, das Gespräch wäre damit erledigt.

„Wenn dir wieder schlecht ist, sagst du es mir dann?“

„Klaro.“

Sein Vater nickte, stand auf, und ging zur Anrichte, wo er sich einen Kaffee einschenkte. Rolo entspannte sich und betrachtete das Buch. Der Titel war in einer fremden Sprache geschrieben, die er nicht kannte. Auf den alten, brüchigen Ledereinband war ein seltsames Symbol gezeichnet. Es sah aus wie eine Hand auf einem Herzen. Allerdings hatte sie nur vier Finger. Neugierig schlug Rolo den schweren Einband auf. Erst kam nur unverständlicher Text in einer geschwungenen Handschrift. Doch dann fand er ein Bild. Es zeigte eine Frau an einem See. Sie war nackt und hatte langes, wallendes Haar. Inmitten von Bäumen und Büschen streckte sie beschwörend die Arme zum Himmel. Um sie herum standen Geschöpfe mit schwarzem und weißem Fell. Sie kamen Rolo bekannt vor. Gerade bis zur Hüfte reichten ihr die kleinen Kerle. Ihre langen Arme hatten sie wie die Frau nach oben gereckt. Ihre Blicke jedoch ruhten auf ihr. Der Zeichner hatte einige Blätter und Gehölze so geschickt angeordnet, dass sie auf den zweiten Blick Gesichter formten. Manche freundlich, andere grimmig, mit offenen und geschlossenen Mündern. Rolo staunte über die Details. Eine der affenähnlichen Kreaturen schaute ihn an.

„Nanu!“

„Was ist los?“, fragte sein Vater, der an die Spüle gelehnt seinen Kaffee trank.

„Ach nichts. Ich hätte nur schwören können, dass dieser kleine Kerl hier …“.

In diesem Moment pochte es laut an der Haustür. Igel sprang auf und versteckte sich unter der Anrichte. Paps Kaffeetasse fiel zu Boden und zersprang.

„Jetzt hab ich mich aber erschrocken. Wenn das wieder die Gottlieb ist.“ Und mit mürrischer Entschlossenheit eilte er aus der Küche.

Rolo schaute ihm, halb verborgen hinter dem Türrahmen, hinterher.

Paps öffnete die Haustür zögerlich. Eine Brise fuhr ihm durchs Haar. Auf der Fußmatte lag ein Brief. Er hob ihn auf. „An die Familie Blutgut“, las er und reichte ihn Rolo.

Der braune Umschlag war umrahmt mit zarten, stilisierten Efeuranken in grüner Farbe. Der Buchstabe B in Blutgut war mit allerlei Schnörkelei verziert, wie man es sonst nur in alten Büchern und Schriften sah. Rolo staunte. Sein Vater ging den Weg bis zum Gartentor. Es stand offen. Aber auf der Straße sah er nur drei kleine Mädchen mit Springseilen. Er warf das Tor ins Schloss und ging zurück zum Haus.

Einen Moment mussten sie suchen, bis sich ein sauberes Messer fand, mit dem sie den Umschlag öffnen konnten. Paps zog ein vergilbtes Blatt Papier aus dem Umschlag. Wie Pergament sah es aus. Er entfaltete es und begann leise zu lesen. Rolo sah ihn erwartungsvoll an. „Nun lies doch vor!“

„Lieber Grellon, lieber Roland,

Viele Winter sind durch das Land gezogen, seit sich unsere Wege ein letztes Mal kreuzten. Und es waren Zeiten des Kummers, da ich zuletzt die Gelegenheit hatte, das Wort an Euch zu richten. Ich erinnere mich gut, dass die Geschehnisse dieser düsteren Tage Dich, lieber Grellon, mit Kummer und Trauer erfüllten. Und auch erinnere ich mich gut an Dich, lieber Roland, ein kleiner Hoffnungsschimmer in den Armen Deines Vaters. Oft wart Ihr in meinen Gedanken, und ich bin mir sicher, dass Ihr gemeinsam den Weg zurück ins Licht gefunden habt. Doch nun, wo alte Wunden verheilt und das Dunkel verzogen, regt sich die Vergangenheit. Es gibt Neuigkeiten über Vivianne, meine Nichte, Eure Frau und Mutter. Nachrichten, die uns ermöglichen, die tragischen Ereignisse der Vergangenheit im neuen Licht zu betrachten. Es würde den Rahmen dieses Briefes sprengen, und ich würde ein Gespräch Auge in Auge begrüßen. Zumal es wundervoll wäre, Euch wiederzusehen. Ich hoffe für uns alle, und besonders für Dich, lieber Roland, dass sich alles zum Guten wenden wird. Ich möchte Euch beide bitten, mich alsbald als möglich in meinem Haus aufzusuchen. Ihr seid mir jederzeit willkommen.

Gute Reise.

Kinsella Farrah, Neunseen“

Paps legte den Brief auf den Tisch.

„Wer ist Kinsella Farrah“, fragte Rolo.

Paps seufzte. „Kinsella Farrah ist die Tante deiner Mutter. Ich habe sie zuletzt gesehen“, er grübelte, „kurz nach dem Tod deiner Mutter.“

Rolo nickte. Paps strich sich mit dem Handrücken durch den Bart. „Was denkst du, mein Sohn?“

Rolo setzte eine entschlossene Miene auf. „Ich denke, wir sollten packen!“

Kapitel 2

Der Helle

In einem schattigen Teil des Waldes umkreiste eine dunkle Gestalt eiligen Schrittes einen dampfenden Krater. Sie gestikulierte wild mit den Armen und plapperte vor sich hin, wie in ein Gespräch vertieft. Doch außer ihr war niemand zu sehen. Plötzlich blieb sie stehen, warf den Kopf in den Nacken und rief: „Meister, ich bitte dich! Er ist so ein Spielverderber!“

Die Antwort folgte prompt. Sie kam aus dem welken Laub, aus den hohen Baumwipfeln, vielleicht sogar aus der frostigen Erde selbst. Und eine Stimme, so tief, dass die Vögel ehrfürchtig das Singen vergaßen, hallte durch den Wald. „Das besprachen wir bereits, Driftwood. Ihr wart Gefährten, und ihr werdet es wieder sein.“

Driftwood zuckte unmerklich zusammen. Wie alle Nachtalben war er nicht sehr groß. So um die 1,30 Meter. Sein Körper war mit dem schwärzesten aller Felle bedeckt. Das war, stets gut gepflegt, nur am Bauch etwas weniger dunkel. Seine dünnen Arme baumelten an ihm herab wie gekochte Spaghetti. Bis zu den Waden hingen sie, und dabei waren seine Beine nicht weniger lang. Das Gesicht, eine vorstehende Schnauze, war ohne sichtbare Nase und mit kürzerem Fell bewachsen. Eine Mähne rahmte es ein wie Kronblätter eine finstere Blüte. Seine Lippen waren so schmal, dass der Mund unsichtbar blieb, hielt er ihn geschlossen. Das passiert jedoch nur, wenn er schlecht gelaunt war. Das allerdings war nicht so selten. Dann wimmerte er, dass seine rostige Stimme jedem ins Mark fuhr. Seine Ohren ähnelten Mäuseohren und saßen schräg hinten am Kopf. Der thronte ohne Hals zwischen schmalen Schultern, weshalb er recht groß wirkte. Das machte ihm das Tragen von Sonnenbrillen nahezu unmöglich. Es wäre aber auch zu schade gewesen, hätte er seine runden Rehaugen hinter dunklen Gläsern verborgen. Ihr zartes Braun verlieh ihm etwas Sanftes. Driftwood blinzelte nie - ein Ass im Ärmel bei jedem Glotzduell! Seinen buschigen Schwanz trug er stets mit Würde und Bedacht. Setzte sich Driftwood, rollte er ihn ordentlich ein oder trug ihn über dem Unterarm wie ein Kellner sein Gläsertuch. Sein voller Name lautete übrigens Driftwood D. Flog. Aber wofür das D. stand, das verriet er niemandem. Und wer zu neugierig nachfragte, der machte die Bekanntschaft der vierfingrigen Pfoten.

„Ja, natürlich waren wir das“, rief Driftwood. „Aber seht Ihr denn nicht, wo es uns hinbrachte? Hunderte Jahre kalter Schlaf!“

„Und du weißt, dass es ebenso wenig seine Schuld war wie deine. Der Wind hatte sich gedreht, gegen uns. So ist der Lauf der Welt. Er ist dein Tag, du seine Nacht. Ihr braucht einander.“

„Gebt mir ein Heer, Meister. Eine berittene Hundertschaft unter meinem Kommando wird das Rätsel in null Komma Nix lösen. Habt Euch doch nicht so!“

„Das war nie unser Weg. Und unser Weg soll es nicht werden. Willst du dich so der Welt präsentieren, als bewaffnete Horde? Das wäre mir ein triumphales Ende, wo ein Anfang sein sollte. Wir brauchen keine Waffen, wir brauchen Verstand.“

Driftwood schaute in die Baumkronen und breitete beschwörend die Arme aus.

„Aber Meister, das Rätsel. Wir müssen das Eisen schmieden. Jetzt ist es heiß!“

„Und es wird noch heißer, mein pelziger Freund. Jetzt ist der Wind unser Verbündeter. Er bläht unsere Segel, er heizt unsere Esse, er weht unter unseren Flügeln.“

Kopfschüttelnd lief Driftwood zwischen den Bäumen umher. „Hab Geduld“, wisperte das Laub.

„Geduld, Geduld“, wiederholte Driftwood. „Ich spüre noch das Gewürm und die Asseln in meinem Pelz. In meinem wundervollen Pelz.“ Er strich sich nervös über den Bauch, wie um Käfer zu verjagen.

Eine Eichel an einem nahen Baum flüsterte: „Und wundervoll wird es in Kürze wieder sein, mein eitler Freund. Erinnere dich an das Ende. Erinnere dich daran, wie es war, vergessen zu sein. Mit letzter Kraft schenkte ich euch einen tiefen Schlaf, der euch die Zeiten überdauern ließ. Und für euch beide entschied ich mich, weil ihr mir die treuesten aller Diener wart. Lass es mich nicht bereuen. Schau zurück, erinnere dich an seine Weisheit, seinen Mut - und vor allem, an seine Treue.“

Driftwood hielt inne. Betreten schaute er zu Boden. „Und ich vermisse ihn. Aber!“, er hob mahnend die Pfote, „erinnert Ihr Euch auch an seine Predigten und sein ewiges Gezappel?“ Mit einem Seufzer setzte er sich auf einen Baumstamm, den langen Schwanz ordentlich über die Beine gelegt. „Und der Mensch?“

„Tweed ist ein Freund“, fiepte ein Pilz im Morast. „Ohne zu zögern, schloss er sich unserer Sache an. Er hat eine Schuld zu büßen.“

„Mmh, Ihr seid der Meister, Meister.“

„Seine Erfahrung macht Tweed zu einem wertvollen Verbündeten“, knarzte eine kahle Buche. „Ich sandte ihn aus zu kundschaften. Unsere Rückkehr wird dem Nachtbringer nicht verborgen bleiben. Vorsicht ist geboten. Driftwood, ich brauche dich mehr denn je! Deine alte Stärke, deine Zähigkeit! Und seinen Sanftmut. Ich brauche euch.“

„Euch“, flüsterte Driftwood. „Das klingt vertraut, Meister. Vertraut und gut.“

Die Bäume rauschten: „Wo ist mein entschlossener und wagemutiger Kämpfer aus alten Zeiten? Wo ist mein Streiter, dem Worte nichts und Taten alles bedeuten? Noch betrübt die Vergangenheit dein müdes Herz.“

„Fürwahr, Meister, ich bin müde, so müde.“ Sein Kinn sackte ihm auf die Brust, und er begann zu schnarchen.

„Aufwachen!“, rief der Wald.

Driftwood zuckte und sprang auf.

Die Tannenzapfen erhoben ihre Stimmen: „Genug der Worte. Viel Kraft kostete mich deine Erweckung, viel Kraft vergeude ich mit diesem Geschwätz. Ich brauche dich, um Sokrates Solaris zu wecken. Jetzt!“

Driftwood verneigte sich und ließ seinen Blick durchs Dickicht schweifen. Als er sicher war, dass niemand ihn beobachtete, stapfte aus dem Schatten des Waldes ins Licht. „Er heißt Socke“, murmelte er verstimmt. Sein Atem war Dampf in der kalten Luft. „Meister, seid Ihr bei mir?“

„Meine Kraft ist deine Kraft.“

Driftwood sprach ein Wort, und der Schnee am Saum des Waldes schoss in die Höhe. Dort blieb er und wehte wie ein Vorhang im Wind. Was immer jetzt auf der Lichtung geschah, es blieb für neugierige Augen jenseits des frostigen Walls verborgen. Die Wintersonne lag verborgen hinter dunklen Wolken. „Meister, ich bitte Euch, ein wenig mehr Hilfe könnte ich wohl brauchen. Auch meine Kraft ist noch lange nicht völlig wieder hergestellt“.

„Du bist nicht bei der Sache! Konzentriere dich!“

Driftwood verzog gekränkt das Gesicht. „Kein Grund, gemein zu werden. Ich kann mich einfach nicht erinnern!“

„Was?“

„Der Vers! Ich habe den Vers vergessen.“

Ein Seufzer ging durch den Wald. Eine Bachstelze kam geflogen. Sie landete auf Driftwoods Schulter und zwitscherte ihm ins Ohr. Driftwood lauschte. Als er genug gehört hatte, wischte er den Vogel mit der Pfote von seiner Schulter. Lautstark protestierend flog die Bachstelze davon. „Danke, Meister. Bereit, wenn ihr es seid. Oh, da fehlt noch was.“ Driftwood griff in seinen Pelz und zog ein Samenkorn hervor. Ruhig sprach er zu der gefrorenen Erde. Als nichts geschah, wiederholte er sein Anliegen sehr eindringlich, und endlich taute an einem kleinen Fleck der gefrorene Boden. Auf ein weiteres Wort bildete sich ein feiner Spalt. Dort ließ er den Samen hineinfallen. Sofort schloss der Spalt sich wieder.

„So“, sagte er. „Kann losgehen.“

„So sprich den Vers, mein schwarzer Freund.“

„Und Ihr?“

„Ich helfe dir. Beginn!“

Und Driftwood begann. Er riss die Arme in die Luft, und ein Schauer fuhr durch sein Fell. Das Braun seiner weit geöffneten Augen verflüssigte sich. Wie ein Wasserfall aus morastigen Tränen floss es über seine Wangen. Rasch wuchsen seine Pupillen. Sie füllten die Augen und strahlten wie schwarze Sonnen. Seine Füße versanken in der Erde, als er Worte murmelte, nur für diesen einen Augenblick überliefert. Und unzählige Stimmen fielen mit ein. Sie erklangen aus den Baumwipfeln, den Büschen, den frostigen Grashalmen unter der Schneedecke und sogar aus der kalten Erde selbst. Und der Wald bebte unter ihrer vereinten Kraft.

„Aus Sonnenlicht bist du gemacht, geboren als ein Kind gelacht. Flog tagwärts wie ein Schmetterling zur schönsten aller Blüten hin. Der Helle bist du stets geblieben, so komm herbei, die Welt zu lieben."

Und ein dunkler Strahl reiner Magusch entsprang jeder Faser von Driftwoods Körpers und schoss durch seine ausgestreckten Arme in den Himmel wie eine Säule schwarzen Wassers. Sie durchbrach die dunklen Wolken am Firmament, und ein kreisender Strudel bildete sich, durch den die Sonne sichtbar wurde. Driftwood kippte hintenüber wie ein morscher Baum. Rauchfahnen stiegen von ihm auf. Er befreite seine Füße aus der Erde und wischte sich den schmutzigen Schnee vom Pelz.

„Nun komm schon Socke, ich brauche dich.“ Nur das unruhige Schwingen seines Schwanzes verriet seine Ungeduld.

Und dann begann es. Die schwache Wintersonne, vor einem Augenblick noch ein matter, gelber Punkt, schien sich an ihre alte Kraft zu erinnern. Wie durch ein Brennglas konzentrierte sich am Rand der Lichtung ein heller Punkt aus gebündeltem Sonnenschein. Rasch bildete sich dort eine Pfütze. Driftwood konnte die Bahn der Sonnenstrahlen vor dem hellen Hintergrund des Schneewalls erkennen, jenseits dessen der Winterwald gespannt den Atem anhielt. Langsam bewegte sich das Licht auf seinen Standort zu, auf die Mitte der Lichtung. Wo es den frostigen Boden berührte, hinterließ es einen schmalen Streif grünen Grases im geschmolzenen Schnee. Nur noch wenige Schritte trennte es von Driftwoods Position. Er verdrehte die Augen. „Mach schon!“

Endlich sah es aus, als hätte die Sonne ihr Ziel gefunden. Das Samenkorn. Die Strahlen bündelten sich noch einmal, wie um ihre gesamte wunderbare Kraft auf diese eine Aufgabe zu fokussieren. Es galt, die Kälte zu besiegen. So bildete sich schnell ein kleiner See aus Tauwasser. Ein Knirschen, als bräche Eis in Stücke, drang aus dem Boden. Grollend öffnete sich ein Spalt. Die Sonnenstrahlen schienen hinein, eroberten das düstere Erdreich. Einige Augenblicke vergingen, bevor ganz allmählich der zarte Trieb einer grünen Pflanze emporwuchs. Es sah aus, als würden die wärmenden Strahlen das grüne Pflänzchen aus dem Boden locken. Der Trieb streckte sich und bildete zwei zarte Blättchen, die sich wie Sonnensegel aufspannten. Am höchsten Punkt des Sprosses entsprang eine weiße Blüte.

„Komm, mein Freund, der Frühling naht“, hauchte Driftwood.

In der Mitte der Blüte erschien ein kleiner schwarzer Punkt wie eine Johannisbeere. Plötzlich hatte die Blüte Augen. Gelb und knopfförmig. Sie blinzelten. Es schien, als schaue die Blume selbst nach dem Rechten. Und die Johannisbeere reckte sich, denn sie war die Nasenspitze. Dann wuchs das Gesicht. Es war spitz und schwarz um die Augen. Umgeben von den Kronblättern sah es aus wie eine kleine Sonne. Mit einem leisen Plopp flutschten die Ohren hervor. Schon war der ganze Kopf zu sehen. Breiter als die Blüte selbst saß er oben auf. Der zarte Stängel der Pflanze schaukelte nur sacht unter dem Gewicht. Weiße Pfoten drückten sich ins Freie. Das Geschöpf schien völlig fokussiert auf seine Aufgabe, keine Regung zeigte sich in dem freundlich anmutenden Gesicht. Lange Arme drückten sich an den Blütenblättern ab, und ein schlanker, pelziger Körper hob sich selbst empor. Als nur noch die Füße in der Blume steckten, kippte es vornüber. Driftwood fing es auf, und legte es vorsichtig auf den sonnengewärmten Boden.

„Bist du das, Driftwood?“, fragte das Kind der Blume schwach.

„Ja, ich bin es, Socke. Ruh dich aus, mein Freund, wir haben viel vor“.

„Ich bin so müde“, sagte Socke leise. Dann schlief er ein.

Unbemerkt schwang sich eine Krähe aus dem höchsten Wipfel einer Tanne in die Luft und flog davon.

Kapitel 3

Die Sonne schien heiß. Der gelbe Renault R4 holperte die Straße entlang. Rolo saß auf dem Beifahrersitz und schaute aus dem Seitenfenster. Er hatte schlecht geschlafen und war mies gelaunt. Auf der Rückbank des Wagens lagen sein Rucksack, der alte lederne Koffer seines Vaters und ein großer Transportkorb mit einer angriffslustigen Katze. Sein Vater saß am Steuer. Sie waren am Morgen nach dem Erhalt des Briefes von Tante Farrah in aller Herrgottsfrühe aufgebrochen, und so war keine Zeit geblieben, jemand für die Versorgung des Katers zu finden. Außerdem waren alle Freunde selbst verreist. Den Gedanken, die Nachbarin Frau Dr. Schimpfkäse zu bitten, hatten sie schnell wieder verworfen. Der Kontakt war nicht der Beste. Den Abend vor der Abreise hatte Rolo genutzt, um in Ruhe alles zu packen, was sich unterwegs als nützlich erweisen konnte. Natürlich gehörte dazu Kleidung für jedes mögliche Wetter – außer für Schnee und Eis, es war ja Sommer. Ein großer Straßenatlas mit Karten des ganzen Landes, ein Kompass, ein Jagdmesser, welches er aus seiner kurzen Zeit bei den Pfadfindern behalten hatte, ein Naturführer, ein Erste-Hilfe-Set, Angelschnur, Kerzen und Streichhölzer, eine Taschenlampe und ein Haufen alter Comics. Man wusste ja nie.

Rolo hatte in jener Nacht lange auf seiner Fensterbank gesessen und nachdenklich in den klaren Nachthimmel geschaut. Er freute sich auf die Reise. Aber der Brief hatte ihn in einer Weise berührt, wie er es selbst nicht für möglich gehalten hatte. Bisher war er doch sehr entspannt durchs Leben marschiert. Alles war gut, wie es war. Zumindest okay. Doch an diesem Abend kreisten alle Gedanken um seine Mutter. Wie es wohl wäre, wenn sie da wäre. Für ihn da. Mit aller Kraft schob er den Gedanken beiseite, in einen abgelegenen Winkel seines Kopfes. Mit seinem Vater hatte er an jenem Abend kaum noch gesprochen. Auch er wirkte bedrückt und war noch verwirrter als sonst. Deshalb hatte Rolo kurz vor der Abfahrt auch noch heimlich seinen Koffer kontrolliert. Er wollte sichergehen, dass auch wirklich Kleidung darin war. Dort hatte er das Buch wiedergefunden, mit der Zeichnung der Frau am See. Lange hatte er das Bild betrachtet, aber keine der Kreaturen schaute in seine Richtung. Er hatte sich wohl geirrt.

Die Blutguts hatten ihre Reise begonnen, als der Frühnebel noch über den Wiesen lag. Sie erwarteten einen weiteren heißen Sommertag und wollten einen Großteil des Weges bewältigen, bevor die Sonne das Auto in einen rollenden Backofen verwandelte. Es war nicht leicht gewesen, den Kater davon zu überzeugen, den Platz im kühlen Haus gegen den engen Transportkorb zu tauschen. Die Kratzer an Rolos Armen waren der Beweis für Igels mangelnde Begeisterung.

Das Haus hatte traurig ausgesehen mit den geschlossenen Fensterläden in den ersten Stunden eines neuen Tages.

Zunächst waren sie durch vertraute Gegenden gefahren, passierten vertraute Orte. Um Rabenstadt war die Gegend flach und weit. Kaum eine Erhebung trübte den Blick auf den weiten blauen Himmel, der von Schönwetterwolken durchzogen war. Die meisten freien Flächen in der näheren Umgebung waren Felder, Äcker und Weideland mit alten hölzernen Zaunpfählen und verwucherten Grünstreifen. Zwar gab es auch zahlreiche kleine Wälder und den einen oder anderen wilden Fleck, der nicht von Menschenhand gezähmt schien, doch alles in allem wirkte das Land kultiviert und geordnet. Die Wanderwege waren befestigt, die Radwege asphaltiert und ausgeschildert. In Scharen von den Bewohnern von Rabenstadt genutzt, herrschte hier bei gutem Wetter ein geschäftiges Treiben wie in der Stadt. Das war ein schöner Platz, kein Zweifel, aber ein Platz für Abenteuer war das nicht. Kilometer für Kilometer arbeitete sich der alte Wagen tapfer die Straßen entlang in Richtung Ferne. Paps hatte den Sitz so weit nach vorne gerückt, dass seine Stirn beinahe die Windschutzscheibe berührte. Kerzengerade saß er am Steuer und fixierte hoch konzentriert die Straße.

Rolo hing entspannt daneben, die Rückenlehne so weit zurück gestellt, dass er mit dem linken Arm die reisemüde Katze erreichen konnte. Doch auch seine stetigen Versuche, das Tier bei Laune zu halten, konnten nicht die Strapazen eines heißen Reisetages verscheuchen. Sie sprachen nicht viel miteinander und hingen ihren eigenen Gedanken nach. Um große Umwege zu vermeiden, übernahm Rolo schließlich die Navigation.

Lange musste er die Landkarten studieren, bis er das kleine Neunseen entdeckte. Wo Rabenstadt schon ein recht übersichtlicher Ort war, war Neunseen ein echtes Nest. So winzig war der Fleck auf der Karte, der das Dorf kennzeichnete, es hätte Fliegendreck sein können. Neunseen lag inmitten von vielen blauen Flecken und grünen Flächen, die Seen und Flüsse in großen Wäldern symbolisierten. Umgeben von einem Gebirge trug das Ganze den Namen Nachtschattental. In Rolo erwachte der Entdecker.

„Wieso hab ich noch nie davon gehört oder gelesen? Ist doch nur eine Tagesreise entfernt?“

„Was sagst du?“, fragte sein Vater.

„Ach, schon gut.“ Rolo hatte einfach keine Lust zu reden.

So wurde es Mittag. Als sie beinahe die halbe Strecke bewältigt hatten, bekam Rolo den ersten Vorgeschmack der Fremde. Die Landschaft jenseits der Straße veränderte sich. Kleine Hügel tauchten am Horizont auf. Nicht hoch waren sie, nur zarte Erhebungen in einer Landschaft, die ihr buntes Sommergewand aus Gräsern und erntereifem Getreide trug. Bald sahen sie Wälder, in denen die Bäume, anders als zuhause, nicht in ordentlich gepflanzten Reihen wuchsen. Dicht und verwuchert standen sie und erschienen Rolo sehr geheimnisvoll. Der wilde Charme lockte ihn, und lange blickte er über die Schulter zurück, als sie längst vorbeigefahren waren.

Er konnte sich nicht daran erinnern, seine Tante Farrah schon mal gesehen zu haben. Auch in den Erzählungen seines Vaters kam sie nie vor. Er war sehr gespannt, jemanden zu treffen, der seine Mutter gekannt hatte.

Aus grünen Hügeln wurden bewaldete Berge. Sie warfen lange Schatten über tiefe Täler. Kleine Ortschaften lagen dort, durch die sich Flüsse schlängelten. Sie fuhren über eine Brücke, und zu beiden Seiten ging es Hunderte von Metern in die Tiefe. Unten floss ein reißender Strom zwischen den Brückenpfeilern hindurch. Rolo war begeistert. Die Fahrt dauerte jetzt schon viele Stunden. Sie verließen unter Rolos Kommando die Hauptstraße und bogen auf eine schmale Serpentine. Hier sahen sie das erste Schild mit der Aufschrift Neunseen. Wo der Weg bisher sachte anstieg, fuhren sie jetzt mitten durch das Gebirge. Zu ihrer Linken erhob sich eine steile Felswand. Grüne zottelige Pflanzen hingen an ihr hinab wie Bärte. Zu ihrer Rechten ging es steil abwärts in eine Schlucht. Rolo schaute aus seinem Seitenfenster, konnte aber die Tiefe nicht abschätzen.

„Bitte kein Gegenverkehr. Alles, nur kein Gegenverkehr“, murmelte Paps nervös. „Diesen Weg habe ich nie gemocht.“

Er musste schreien, um das Geräusch des Motors zu übertönen. „Schon damals war es die einzige Straße zu Tante Farrah. Aber dass hier immer noch nicht ausgebaut wurde?“

„Wahrscheinlich wegen des Gebirges“, rief Rolo. „Hier ist einfach kein Platz. Ich find’s super. Was ist denn im Winter, wenn der Pass zuschneit?“

„Es ist keine Seltenheit, dass Neunseen monatelang von der Außenwelt abgeschnitten ist. Aus diesem Grund haben wir Tante Farrah auch nie zu Weihnachten besucht. Wäre nicht unwahrscheinlich gewesen, dass wir vor Ostern nicht wieder zuhause gewesen wären. Viele der Bewohner von Neunseen scheinen gerade das sehr zu mögen. Ist ein ganz eigenes Völkchen. Wirst schon sehen.“

Die Felswand zur Linken war so steil, dass der höchste Punkt aus dem fahrenden Wagen nicht zu sehen war. Selbst dann nicht, als Rolo sich so weit aus dem Seitenfenster lehnte, bis sein Vater ihn am Hosenbund zurück ins Auto zog. Nach und nach wölbte sich die Felswand zur Straße hin, und schon bald fuhren sie unter einem Felsvorsprung, wie unter einem steinernen Dach.

Paps drosselte das Tempo und schaltete die Scheinwerfer ein. Der Motor knatterte gleichmäßig. Es war neblig hier drin. Doch machte der Nebel keine Anstalten, hinaus auf die Wiese zu gelangen.

„Bestimmt wegen des Luftdruckes“, versuchte Paps zu erklären.

Rolo schaute durch das Dachfenster des Wagens und betrachtete die steinerne Decke über sich. Aus kleinen Rissen tropfte Wasser hinab. Das Plätschern hallte nach. Flechten und Moose wuchsen hier, gut geschützt vor der Sonnenhitze. Hier unten war immer Zwielicht.

„Stopp!“, schrie Rolo.

Sein Vater trat kräftig auf die Bremse. Der Wagen tat einen Ruck und der Motor verstummte. Die Gestalt stand in der Mitte der Straße. Tief ins Gesicht einen breitkrempigen Hut gezogen, unter dem ein weißer Bart hervorkam. Ein langer grauer Mantel, derbe schwarze Stiefel. Der Mann hielt mit ausgestreckten Armen einen hölzernen Wanderstock vor der Brust. Sein Kopf war gesenkt.

Paps seufzte. „Willkommen in Neunseen, der Heimat der Bekloppten.“ Er klang gereizt. „Ich sagte ja, sie sind sehr eigen hier!“ Mit diesen Worten öffnete er die Autotür und stieg aus. Er war zwar ein Bücherwurm, aber kein Feigling. „Sagen Sie mal, sind Sie noch ganz dicht?“

Rolo beobachtete, wie sein Vater mit energischen Schritten auf die graue Gestalt zuging. Diese überragte ihn in Größe und Statur um ein gutes Stück.

„Ich hätte Sie fast nicht gesehen! Soll ich den Wagen zurücksetzen und Sie mit Schmackes überfahren? Wollen Sie das?“

Keine Reaktion. Das spornte seinen Vater nur noch mehr an. „Hallo? Hören Sie? Sind Sie wach? Herrje, schon wieder so ein entlaufender Irrer.“

Rolo setzte sich auf, um besser sehen zu können. Warum sagte der Graue nichts? Er rührte sich nicht einmal.

„Ich hab eine Idee. Wissen Sie was? Stecken Sie sich doch rohe Steaks in die Hose und springen in ein Haifischbecken. Na?“ Paps gestikulierte wild mit den Armen. Reisen waren nichts für ihn. Und dann noch so was. Er drehte durch. „Oder Sie hängen sich neun Tage kopfüber an einen Baum? Wäre das was?“

„Das hab ich schon getan“, erwiderte der Graue und hob sein Haupt.

Rolos Vater tat einen Schritt zurück. Der Alte hatte eine kaum vorstellbar dicke Knollennase, die einen Großteil des runzeligen Gesichts füllte. Der Bart reichte ihm bis auf die Brust. Dazu trug er eine Augenklappe. Sein Auge war strahlend blau.

Rolo fluchte, stieg zögerlich aus und näherte sich. Sein Vater stand starr wie ein Reh im Scheinwerferlicht. Derartige Konflikte waren nichts für ihn. Der Graue war mehr als zwei Meter groß, und sein Stab war noch länger. Und dieser lauernde Blick. Es ging etwas Bedrohliches von ihm aus. Wasser tropfte von der Decke und verschwand im Nebel zu ihren Füßen. Sonst rührte sich nichts.

„Du!“, sagte der Graue plötzlich und stupste Paps mit der Spitze seines Stockes an. Rolo hatte die Bewegung überhaupt nicht gesehen, so schnell war sie gewesen. „Du bist ein lustiger Kerl“, entschied der Graue. „Verrate mir deinen Namen.“

Rolo wunderte sich. Es war die Stimme eines jungen Mannes, kräftig und ungebrochen. Und der Ton war nicht unfreundlich. Sein Vater schielte überrascht auf den Stock, der seine Brust berührte.

„Blutgut, Grellon Blutgut“, sagte er steif. „Und das hier ist mein Sohn Roland“.

Rolo sah, dass der Knauf des Stocks ein fein geschnitzter Krähenkopf war. Das gefiel ihm. Er erwiderte den Blick des Grauen und nickte wortlos zum Gruß, wobei er versuchte, möglichst verschlagen auszusehen.

„Man nennt mich Solomon“, sagte der Graue und stützte den Stock wieder vor sich auf die Erde. „Ich bitte um Entschuldigung, wenn ich euch erschreckt habe. Wollte nur nach dem Rechten sehen, damit hier niemand im Nebel vor ein Auto läuft. Versteht ihr?“ Er schnitt eine Grimasse und lachte schallend.

Zunächst war Rolo etwas besorgt, ob dieser Mann noch ganz richtig im Kopf war, und er warf seinem Vater einen besorgten Blick zu. Aber das Lachen war so herzlich, das es bald ansteckend wirkte. So löste sich auch die gespannte Atmosphäre. Das Lachen verebbte zu einem Glucksen.

Solomon rieb sich eine Träne aus dem Auge. „Ihr seid so lustig“, schnaubte er. „Nicht zu glauben. Wisst ihr, ich bin der Schäfer hier im Tal. Mein Name ist … ach, hab ich ja schon gesagt. Ich vermisse ein Lamm. Hat sich wohl im Nebel verlaufen, das arme Ding. Ich glaube, ein Fuchs hat es erschreckt. Darf gar nicht dran denken. Das arme Ding.“ Er blickte zu Boden und ließ die breiten Schultern hängen. „Papperlapapp! Was führt euch ins wundervolle Nachtschattental?“

Paps ergriff das Wort. „Familienangelegenheiten. Eine Verwandte lebt hier. Vielleicht kennen Sie sie? Kinsella Farrah?“

„Na lüg ich denn? Natürlich kenne ich sie. Jeder im Tal kennt sie. Und ihren Gefährten, Belenus Brock. Ein guter Mann, der olle Belenus. Und du, mein junger Freund, dein Vater hat dich bestimmt gezwungen, deine langweilige Verwandtschaft in der Einöde zu besuchen?“ Er lächelte.

„Eigentlich nicht. Ich bin gerne draußen“, antwortete Rolo ernst. Er fühlte sich ein bisschen beleidigt.

„Ja, mein Sohn ist ein richtiger Waldläufer“, ergänzte Paps.

„Ist das so? Na, da haben wir ja ein seltenes Exemplar. Freut mich, freut mich wirklich.“

„Sagen Sie, Solomon“, fragte Paps, „ist es noch weit bis ins Tal? Wissen Sie, dieser neblige Tunnel hier ist schwer zu fahren.“

„Nein, weiß ich nicht. Weit? Nein, nicht mehr weit.“

„Sie haben einen schönen Stock da. Besonders der geschnitzte Krähenkopf ist toll“, warf Rolo ein.

„Findest du?“ Solomon betrachtete seinen Stock, als sehe er ihn zum ersten Mal. „Ja, fürwahr. Der ist wirklich schön.“

Rolo glaubte, so etwas wie Überraschung in Solomons Gesicht zu erkennen. Der graue Mann beugte sich hinunter und kam mit seiner Kartoffelnase ganz nah an Rolos Gesicht.

„Tatsächlich? Ist das so? Du bist ein aufmerksamer Kerl. Ein guter Beobachter, fürwahr, das bist du. Das liegt an deinen wissenden Augen. Glaub mir, dafür hab ich ein Auge.“ Solomon gluckste. „Ha, ein Auge. Na, egal. Ich glaube, mein Junge, du trägst eine alte Seele. Ja, das wird es sein. Aber keine Sorge, das ist gut. Wirklich gut, vor allem für dich.“

Eine alte Seele. Rolo verstand nicht, was Solomon meinte. Aber er fand, es klang gut. Noch etwas war seltsam. Gerade eben wirkte Solomon noch so gewaltig. Jetzt erschien er Rolo kaum größer als sein Vater.

„Nun, denn“, sagte Paps, „ich hoffe, dass Sie Ihr Lamm finden.“

„Lamm? Oh, ja, mein Lamm. Na, ich nun wieder. Stehe hier rum und träume wie eine alte Esche. Nun, wenn ihr es nicht gesehen habt, muss es noch im Tal sein. Gibt ja nur den Weg hier. Hoffe, das arme Ding hat sich nicht in die Berge geschlagen. Nicht dran zu denken. Und dann noch der Fuchs.“

„Sagen Sie, Herr Solomon“, meldete sich Rolo, „wer hütet denn Ihre Herde, wenn Sie hier sind?“ Rolo fand, das war eine gute Frage. Er kam sich sehr schlau vor.

„Herde?“, stutzte Solomon. „Ach, die Herde. Nun ja, die hütet sich selbst. Ungemein unterschätzte Tiere, diese Schafe. Wirklich.“ Plötzlich erstarrte er. „Hört ihr das?“ Er blickte über die Wiese zum Waldrand.

Auch Rolo schaute, sah aber nichts außer Wildblumen. Er hörte auch nichts Ungewöhnliches.

Solomon ließ seinen Blick schweifen. „Driftwood“, flüsterte er. „So hat es schon begonnen. Auf bald ihr Blutguts, es hat mich gefreut. Wirklich gefreut hat es mich.“ Sprach es und stapfte, ohne sie anzusehen, ins hohe Gras hinaus, wobei er eine Spur von Nebel hinter sich her zog. Mit eiligen Schritten verschwand er zwischen den Bäumen.

„Driftwood?“, wunderte sich Paps. „Seltsamer Name für ein Lamm.“ Er schüttelte den Kopf. „Was für ein Irrer“.

Rolo schaute Solomon hinterher. „Irre.“

Der Nebel in der halben Höhle war nicht mehr so dicht und sie kamen gut voran. Rolo schaute sich jetzt noch aufmerksamer um. Wo die Bäume nicht so hoch gewachsen waren, konnte er einen Blick auf die Berge am Horizont werfen. Er lächelte, lehnte sich zurück und freute sich auf den Sommer. Endlich wurde es heller. Die halbe Höhle war zu Ende. Paps stoppte den Wagen. Die beiden Blutguts ließen sich mit einem Seufzer in ihre Sitze fallen.

„Abgefahren“, meinte Rolo.

„Nein, jetzt nicht“, erwiderte sein Vater, „erstmal die Beine vertreten.“

Rolo lachte. Sie stiegen aus. Es raschelte in den Büschen, wo sich anscheinend einige Bewohner des Waldes erschrocken davon machten. Rolo blickte zurück zum Ende ihrer Passage unter dem Fels. Erst jetzt erahnte er, unter welch einem gewaltigen Bergmassiv sie unterwegs gewesen waren. Das war kein einzelner Hügel oder Berg. Es war eine in sich geschlossene Gebirgskette. Wie gewaltig mussten die Bäume dort oben sein, dass sie so tiefe Wurzeln schlugen, die bis hinab zur Straße reichten? Sein Vater trat von hinten an ihn heran. „Beeindruckend, oder?“

Rolo nickte.

„Neunseen liegt in einem Gebirgskessel. Das Nachtschattental geht einmal drum herum wie ein Atoll. Unterbrochen wird das Gebirge nur hier, wo die Straße läuft. Und durch die Wiesen mit dem angrenzenden Wald. Allerdings ist dieser Weg kaum begehbar. Mündet dahinten in eine tiefe Schlucht. Und jenseits der Bäume geht der Fels weiter.“

„Wie geil ist das denn!“, staunte Rolo.