Der Sommerfänger - Monika Feth - E-Book

Der Sommerfänger E-Book

Monika Feth

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Beschreibung

Ein Muss für jeden Thriller-Fan

Der Sommer ist da, und Jette schwebt auf Wolke Sieben: Sie hat ihrem Freund Luke eine neue Chance gegeben und ist endlich wieder glücklich verliebt. Doch dann wird Lukes Mitbewohner tot aufgefunden, und Luke, der unter Mordverdacht gerät, verschwindet spurlos. Überzeugt von seiner Unschuld beginnt Jette, auf eigene Faust nachzuforschen – und kommt allmählich dahinter, dass Luke sich einen mächtigen, gefährlichen Feind gemacht hat, der ein skrupelloses Katz-und-Maus-Spiel mit ihm und allen treibt, die Luke etwas bedeuten …

Die fulminante Spiegel-Bestsellereihe von Monika Feth begeistert Millionen Leser:innen. Die Jette-Thriller sind nervenzermürbend, dramatisch und psychologisch brilliant erzählt. Atemberaubende Spannung der Extraklasse!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 536

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© Peter Godry

Monika Feth wurde 1951 in Hagen geboren, arbeitete nach ihrem literaturwissenschaftlichen Studium zunächst als Journalistin und begann dann, Bücher zu verfassen. Heute lebt sie in der Nähe von Köln, wo sie vielfach ausgezeichnete Bücher für Leser aller Altersgruppen schreibt. Der sensationelle Erfolg der »Erdbeerpflücker«-Thriller machte sie weit über die Grenzen des Jugendbuchs hinaus bekannt. Ihre Bücher wurden in über 20 Sprachen übersetzt.

Weitere lieferbare Titel bei cbt:

Der Erdbeerpflücker (30258)

Der Mädchenmaler (30193)

Der Scherbensammler (30339)

Der Schattengänger (30393)

Teufelsengel (16045)

Das blaue Mädchen (30207)

Fee – Schwestern bleiben wir immer (30010)

Nele oder Das zweite Gesicht (30045)

www.monikafeth-thriller.de

Monika Feth

Der Sommer-fänger

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cbt ist der Jugendbuchverlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe,Neumarkter Str. 28, 81673 München

Originalausgabe Mai 2011

Das Zitat stammt aus Christa Wolf, Kindheitsmuster. © Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007.

© 2011 cbt in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagabbildung: Gettyimages/

Nicolas Cope/ RF

Umschlagkonzeption: init.büro für gestaltung, bielefeld

st · Herstellung: AnG

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-05469-4V003

www.cbt-jugendbuch.de

Das Vergangene ist nicht tot;es ist nicht einmal vergangen.Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd.

Christa Wolf, Kindheitsmuster

1

Die Luft war so heiß, dass sie beim Einatmen schmerzte. Sie flirrte über dem aufgeweichten Asphalt und ließ das stumpfe alte Kopfsteinpflaster auf dem Marktplatz glänzen. Die Urlauber suchten unter den Sonnenschirmen der Straßencafés und Restaurants Abkühlung bei kalten Getränken. Ihre Stimmen summten ermattet und kraftlos im blendenden Licht des Julinachmittags. Wie ausgestorben lagen die Gebäude da.

Ihm war zum Heulen zumute. Alles hatte sich mit einem Schlag verändert. Damals. Nichts war ihm geblieben. Die vertrauten Häuser hatten sich in die Kulisse eines Albtraums verwandelt, in dem er zappelnd gefangen war.

Hin und wieder wurde er gegrüßt und nickte knapp zurück. Kein Gruß, kein Wort hatte mehr Bedeutung.

Seit einer Stunde lief er in Bautzen umher, ohne Plan und ohne Ziel. Seit einer Stunde zermarterte er sich das Hirn. Wie so oft. Und wie so oft vergebens.

Er war nicht der Typ, der an das Schicksal glaubte und alles gottergeben ertrug. Er war nicht geschaffen für Demut und Duldsamkeit. Er nahm sich, was er wollte, notfalls mit Gewalt. So hatte er es sein Leben lang gehandhabt, und er hatte nicht vor, damit aufzuhören.

Vor einem kürzlich eröffneten Geschäft standen zwei goldfarbene Blumenkübel mit weiß blühenden Rosenbüschen. Er brach eine Blüte ab und roch daran. Sie duftete nicht, und das erschien ihm wie ein Sinnbild für das, was ihm widerfahren war – sein Leben hatte alle Leichtigkeit verloren.

Er drehte die Rose zwischen den Fingern, während er seine Wanderung wieder aufnahm und weiter vor sich hingrübelte. Dann blieb er plötzlich stehen. Es gab nur einen einzigen Weg, und das hatte er tief in seinem Innern von Anfang an gewusst. Genau das hatte ihn die ganze Zeit gequält. Er hatte es viel zu lange hinausgeschoben.

Mit einem Lächeln überreichte er die Rose dem nächstbesten Mädchen, dem er begegnete. Sie war hübsch und gebräunt und ihr blondes Haar schimmerte silbrig im strahlenden Licht. Errötend drückte sie die Blüte an ihre Lippen, und er wünschte, er könnte sich auf ein Abenteuer einlassen.

Doch er hatte keine Zeit.

Jetzt, wo er wusste, was er tun wollte, musste er einen Plan ausarbeiten, Vorkehrungen treffen und endlich handeln.

Rache.

Ein schönes Wort.

*

Ich trat in den schattigen Innenhof hinaus und atmete unwillkürlich ruhiger. Das hier war mein liebster Ort, eine kleine Oase mit Vogelgezwitscher und Wassergeplätscher und dem Duft nach Lavendel, Rosen und Thymian und all den anderen Kräutern, die Merle mit erstaunlich dekorativem Geschick zwischen die übrigen Pflanzen gesetzt hatte.

Man hätte glauben können, sich in Italien oder Spanien zu befinden. Unser Bauernhof war ein Glücksgriff gewesen. Ich nahm ihn noch immer nicht als selbstverständlich, freute mich jeden Morgen aufs Neue darüber, dass wir hier leben durften, Merle, Mina, Ilka, Mike und ich, wobei wir uns nicht alle ständig hier aufhielten.

Mina nahm an einem Therapieprojekt teil und wohnte mit vier etwa gleichaltrigen Patienten in einer Art Übergangs-WG in der Nähe der Klinik, in der sie behandelt wurde. Sie besuchte uns ab und zu und genoss es, dann kleinere Renovierungsarbeiten zu erledigen. Wir waren längst noch nicht fertig mit den Umbauten und Verschönerungen und dankbar für jede Hand, die mit anpackte.

Ilka und Mike waren von ihrer einjährigen Brasilienreise zurückgekehrt, die Rucksäcke voller Geschichten. Sie hatten sich mit Volldampf an die Einrichtung ihrer Zimmer gemacht, erkundeten das dörflich verträumte Birkenweiler und die Nachbarschaft und gewöhnten sich allmählich wieder an unser Zusammenleben.

Abgesehen von Mina, die noch eine Weile mit ihrer Therapie beschäftigt sein würde, hatten wir alle entscheiden müssen, welchen Weg wir jetzt einschlagen wollten. Ilka hatte sich für ein Studium an der Kunstakademie in Düsseldorf beworben. Nachdem ihr Bruder seinen schweren Verletzungen erlegen war, hatte sie endlich aufgehört, sich gegen ihre Begabung zu wehren.

Sie hatte viel gezeichnet auf ihrer langen Reise und war aus seinem Schatten als berühmter Maler herausgetreten. Die Skizzen, die sie mitgebracht hatte, hauten einen um. Sie waren so grandios, dass ich mich fragte, was sie einer wie Ilka an der Kunstakademie eigentlich noch beibringen wollten.

Merle hatte eine feste Stelle im Tierheim angenommen. Sie schlug sich nicht mit Fragen nach der Zukunft herum. Ihre Zukunft war die Gegenwart und sie kannte ihre Prioritäten genau. Obwohl sie viel arbeitete, hatte sie ihr Engagement im militanten Tierschutz intensiviert. Innerhalb der Gruppe war sie jetzt die allein Verantwortliche für die Planung und Ausführung der Aktionen.

Mikes Traum war es immer gewesen, alte Möbel zu restaurieren. Nun hatte er beschlossen, ihn in die Tat umzusetzen. Im Schweinestall baute er sich gerade eine Werkstatt aus. Man sah ihn nur noch mit Staub und Mörtel im Haar, braun gebrannt und fröhlich und berstend vor Energie.

Ich selbst hatte mein freiwilliges soziales Jahr im St. Marien beendet, arbeitete jedoch weiterhin dort. Zum einen, weil ich jeden Cent brauchen konnte, zum andern, weil die alten Leute mir ans Herz gewachsen waren. Ich brachte es noch nicht fertig, mich von ihnen zu trennen.

Ab Oktober würde ich studieren. Ich hatte mich für Psychologie entschieden und hoffte auf das phänomenale Glück, einen Studienplatz an der Uni Köln zu ergattern und in Birkenweiler wohnen bleiben zu können, anders als Ilka, die sich in Düsseldorf ein Zimmer nehmen wollte und in nächster Zeit nur Wochenendgast bei uns sein würde.

Die Wahl meines Studienfachs war mir leichtgefallen. Ich hatte lange Gespräche mit Tilo geführt und tief in mich hineingehorcht. Menschen interessierten mich. Menschen wie Mina mit ihrer multiplen Persönlichkeitsstörung. Menschen wie die Demenzkranken im St. Marien. Mir war, als hätte ich schon immer unbewusst die Nähe zu denen gesucht, die durch das Raster der sogenannten Normalität gefallen waren.

Doch über das, was insgeheim hinter meinen Überlegungen stand, hatte ich noch mit niemandem gesprochen, nicht mit Tilo, nicht mit Luke oder meinen Freunden und erst recht nicht mit meiner Mutter. Ich spielte nämlich mit dem Gedanken, später Polizeipsychologin zu werden, und es war ratsam, das für mich zu behalten, wenn ich keine schlafenden Hunde wecken wollte.

Meine Mutter hätte alles getan, um mich davon abzubringen. Ich war zu oft in Verbrechen verwickelt worden, zu oft in Gefahr geraten. Inzwischen witterte sie hinter jeder Ecke einen Vergewaltiger, Entführer oder Mörder. Ich hatte absolut keine Lust, mich wieder im Netz ihrer Ängste zu verheddern.

Aus dem Haus dröhnte ein lautes blechernes Scheppern, wie von einem auf den Boden gefallenen Topfdeckel. Ich hörte Merle und Mike lachen. Dann kam Smoky mit gesträubtem Fell herausgeschossen und verkroch sich unter dem üppigen Gelb und Grün des Frauenmantels. Einzig eine graue, ärgerlich zuckende Schwanzspitze schaute noch unter der Pflanze hervor.

Du alter Haudegen, dachte ich zärtlich. Machst immer einen auf Macho und lässt dich dann von dem kleinsten unerwarteten Geräusch in die Flucht schlagen.

Irgendwie erinnerte mich diese Überlegung an Luke, der gerade angerufen hatte, um im letzten Moment abzusagen. Wieder einmal. Ich war sauer.

Merle und ich hatten diesen Tag so lange herbeigesehnt. Wir hatten dieses wunderschöne Bauernhaus im Süden Bröhls gefunden, das Platz für uns alle bot, einschließlich unserer drei Katzen. Die notwendigsten Renovierungsarbeiten und der Umzug lagen hinter uns, ein spannendes Zusammenleben konnte beginnen – wenn das kein Grund für eine Riesenfeier war.

Luke jedoch schloss sich, wie so oft, aus.

Die Enttäuschung trieb mir Tränen in die Augen. Wütend wischte ich sie weg.

Ich merkte, dass sich die Stimmen der Vögel verändert hatten, seit Smoky herausgekommen war. Sie sangen nicht mehr, sondern riefen sich gellende Warnungen zu.

Oder mir?

Luke, du verdammter, blöder Spielverderber!

Wir kannten uns seit vier Monaten und er war mir noch immer ein Rätsel. Ich wusste so gut wie nichts über seine Kindheit, seine Familie, sein Leben.

Als wär er vom Himmel gefallen.

Ich wusste, dass er Jura studierte, bei dem Makler arbeitete, der uns den Bauernhof vermittelt hatte, und Büroarbeiten für meine Mutter erledigte. Dass er sich mit seinem Freund Albert eine Wohnung in der Palanterstraße in Köln-Sülz teilte, in der ich noch nicht gewesen war, weil es sich merkwürdigerweise nie ergeben hatte, ihn dort zu besuchen. Ich kannte einige seiner Lieblingsplätze und hatte erfahren, welche Filme er mochte.

Und damit hörte es auch schon auf.

Wir sahen uns nicht oft. Manchmal verabredeten wir uns, und er sagte im letzten Augenblick ab, genau wie heute. Es konnten Tage vergehen, ohne dass er sich meldete und ohne dass ich ihn erreichen konnte.

Wenn ich ihn darauf ansprach, lenkte er vom Thema ab. Darin war er Meister. Er schien meinen Ärger oft schon vor mir zu spüren und ließ ihn an seinem umwerfenden Lächeln abprallen.

Luke war mir so nah.

Und so fremd.

Ich hatte mich gegen alle Vernunft und viel zu überstürzt auf ihn eingelassen. Es war noch nicht lange her, dass ich meiner großen Liebe begegnet war. Und dann hätte diese Liebe mich beinah getötet. Damit wurde man nicht so schnell fertig.

Hin und wieder spürte ich ein Erschrecken in mir, das mir den kalten Schweiß auf die Stirn trieb und meinen Herzschlag beschleunigte. Es konnte von allem Möglichen ausgelöst werden, dem Profil eines Mannes, dem Duft von Erdbeeren, einer Schlagzeile in der Zeitung. Ich war nie dagegen gefeit, brach schutzlos unter meinen Erinnerungen zusammen und kam nur mit Mühe wieder auf die Füße.

Meine Freundin Merle hatte mir geholfen, Schritt für Schritt wieder in unserem Leben Fuß zu fassen. Sie war immer an meiner Seite gewesen. Wir hatten jede Herausforderung gemeinsam gemeistert. Ich legte großen Wert auf ihre Meinung, und ihre Skepsis Luke gegenüber, die sie noch immer nicht wirklich abgelegt hatte, bedrückte mich.

Was, wenn ihr Gefühl sie nicht trog?

Wie auf ihr Stichwort kam sie nun aus dem Haus, in jeder Hand ein Glas Orangensaft.

»Magst du?«

Der Saft war eiskalt. Schwitzwasser rann an den Gläsern hinab. Selbst hier, im wohltuenden Schatten der Akazie mit ihrem weiten dunkelgrünen Blätterschirm, machte sich allmählich die Hitze breit.

»Gerne.«

Ich streckte die Hand aus und spürte die Kälte wie einen Schock.

»Luke?«, fragte Merle.

Ich hob die Schultern. Wir hatten schon so oft über Luke gesprochen, über sein Verhalten gerätselt und nach Erklärungen gesucht – nie kamen wir zu einem Ergebnis, mit dem wir etwas anfangen konnten. Luke entzog sich mir wie ein Geist. Kaum hatte ich das Gefühl, ein bisschen mehr von ihm gesehen zu haben, da löste er sich auch schon wieder in Luft auf.

Wir tranken in friedlicher Eintracht unseren Saft und genossen den kurzen Aufschub. In einer Stunde würden unsere Gäste eintrudeln und bis dahin war noch einiges vorzubereiten.

Merle und Mike hatten gekocht. Ilka hatte Lampions in Garten und Innenhof aufgehängt. Sie hatte die Tische drinnen und draußen mit Blumen und Windlichtern geschmückt und die Sessel und Stühle mit bunten Tüchern drapiert. Mina, die für dieses Wochenende von der Klinik beurlaubt worden war, wollte sich um die Musik kümmern. Sie hatte Mikes Anlage an einer überdachten Stelle des Hofs aufgebaut, sich bei unseren CDs bedient und ihr ganz persönliches Programm zusammengestellt. Von Rock und Pop über Jazz, Techno und Rap bis zu Klassik und Musical war so ziemlich alles vertreten.

»Jeder von uns hat andere Vorlieben«, hatte sie dazu erklärt und ganz selbstverständlich im Plural gesprochen, denn sie bestand ja aus vielen unterschiedlichen Persönlichkeiten, von denen jede einzelne zu ihrem Recht kommen wollte.

Mir war die Rolle des Mädchens für alles zugefallen. Ich hatte Mike und Merle bei den Vorbereitungen zum Kochen geholfen, in der Küche das Büfett aufgebaut und war überall da eingesprungen, wo man mich gebraucht hatte.

Es klingelte und wir hörten Claudios Stimme. Er hatte versprochen, italienische Vorspeisen und frisch gebackene Brötchen beizusteuern. Sein Pizzaservice hatte in Bröhl eingeschlagen wie eine Bombe und bot inzwischen fast alles an, was man auch in einem italienischen Restaurant bestellen konnte.

»Scheißkerl«, murmelte Merle und starrte verstockt auf ihre Füße.

Merle und Claudio waren alles andere als ein Traumpaar. Ihre Beziehung war von Anfang an schwierig gewesen, weil Claudio es nicht fertigbrachte, in seinem Leben aufzuräumen, in dem es neben Merle noch eine Verlobte in seiner sizilianischen Heimat gab.

Mitten in der Nacht hatten sie sich wieder gestritten und Merle war im Morgengrauen fuchsteufelswild nach Hause gekommen. Sie hatte mich aus dem Tiefschlaf gerissen, sich zu mir ins Bett gekuschelt und sich ihren Frust von der Seele geredet, bis ich vor Erschöpfung wieder eingeschlafen war.

»Und Luke ist genauso«, behauptete sie jetzt und sah mich grimmig an. »Lass dich nicht unterkriegen. Mach nicht die Fehler, die ich gemacht habe. Versprich mir das.«

»Okay«, sagte ich. »Ich mache andere.«

Sie grinste und trank den letzten Schluck Saft. Dann erhob sie sich seufzend und ging mit den leeren Gläsern ins Haus zurück.

»Amore mio!«, hörte ich Claudio rufen.

Er betrat jeden Raum wie eine Theaterbühne, mit großer Geste und überschäumendem Gefühl. Er war ein Hansdampf in allen Gassen, aber ich mochte ihn. Eine Ähnlichkeit mit Luke konnte ich an ihm allerdings nicht erkennen. Außer einer vielleicht – anscheinend hatte keiner von beiden das Talent, dauerhaftes Glück zu verschenken und selbst glücklich zu sein.

Ich stand auf und folgte Merle ins Haus. Ich hatte keine Lust zu grübeln. Dieser Tag sollte ungetrübt sein.

Claudio kam mir mit ausgebreiteten Armen entgegen.

»Ah, Bella …«

Er drückte mich an sich, küsste mich auf beide Wangen und schwor mir, niemals ein schöneres Mädchen gesehen zu haben.

»Außer Merle«, sagte er mit samtweicher Stimme. »Sie ist meine Madonna.«

Das war ein gewagter Vergleich, denn Merle hatte so gar keine Ähnlichkeit mit einer Madonna, weder äußerlich noch innerlich. Sie ließ sich von niemandem die Butter vom Brot nehmen, erst recht nicht von Claudio, dessen dominantes Gehabe sie immer wieder auf die Palme brachte.

»Und wo ist Luke?«, fragte er und schaute sich suchend um.

»Ihm ist was dazwischengekommen«, sagte ich.

»Oh.«

Ich mochte den Blick nicht, mit dem Claudio mich bedachte. Als hätte Luke mich sitzenlassen. Und als wüssten alle, warum. Alle außer mir.

»Du hast es gerade nötig«, fauchte Merle ihn an. »Du bist doch auch nie da, wenn man dich braucht.«

Claudio beugte sich zu ihr und küsste sie hinters Ohr. Ich konnte sehen, wie Merle gegen ihren Willen dahinschmolz. In diesem Moment klingelte der erste Gast.

Eine halbe Stunde später vibrierte unser Haus von Stimmen, Gelächter und Musik. Meine Mutter trug ein schwarzes Leinenkleid und hatte sich ein hinreißend fein gewebtes weißes Seidentuch um die Schultern geschlungen. Sie war so schön, dass Tilo sie immerzu betrachtete.

Meine Großmutter, die in letzter Zeit mehrmals gestürzt war, stützte sich auf einen Stock. Er war aus tiefschwarzem Ebenholz und hatte einen versilberten Griff. Mit leisem Erschrecken nahm ich wahr, dass meine Großmutter alt geworden war. Wieso hatte ich das nicht bemerkt?

Ilkas Tante war gekommen, ebenso wie Minas Mutter. Beide schienen einander sympathisch zu finden. Sie saßen im entlegensten Winkel des Gartens und waren in ein eifriges Gespräch vertieft. Merles Tierschutzgruppe und ihre Kollegen vom Tierheim waren unserer Einladung geschlossen gefolgt, und auch die Mitarbeiter des St. Marien waren, bis auf diejenigen, die Dienst hatten, vollständig angerückt.

Sogar Frau Stein, die Heimleiterin, war da. Sie hatte mir die Freude gemacht, den Professor und Frau Sternberg mitzubringen. Der Professor war heute klar und aufgeräumt. Er hielt sich trotz seiner Rückenschmerzen sehr gerade und überreichte mir eines seiner geliebten Bücher, den FängerimRoggen von J. D. Salinger.

»Das ist für den Kopf und das Herz. Und die hier«, er zauberte mit galantem Schwung eine langstielige rote Rose hinter seinem Rücken hervor, »die ist für die Sinne. Aber natürlich wissen Sie, dass all das zusammengehört.«

Ich wollte ihm die Hand geben, um mich zu bedanken, doch er zog mich an sich und hielt mich kurz fest. Er roch nach Seife, frisch gewaschenem und gestärktem Hemd und einem Hauch Aftershave, und seine Umarmung ließ mir Tränen in die Augen steigen. Ich mochte ihn sehr, und es rührte mich, dass er für mich die Strapazen des Besuchs auf sich genommen hatte.

Frau Sternberg hatte mir einen Stein mitgebracht, den sie im Park gefunden hatte.

»Schauen Sie, Kindchen«, sagte sie. »Er hat die Form eines Delfins.«

Das stimmte. Ich fuhr mit dem Daumen über die glatte, von ihrer Hand noch warme Oberfläche.

»Ich liebe Delfine«, erklärte Frau Sternberg. »Mehr noch als Lisztäffchen, Erdmännchen und Flamingos. Oder Elefanten. Mein Mann bevorzugt Eisbären. Vielleicht wird er irgendwann Zoodirektor. Das würde mich freuen.«

Herr Sternberg war weit über achtzig und besuchte seine Frau im St. Marien, sooft es ihm möglich war, obwohl sie ihn nicht mehr erkannte. Er unterhielt sich liebevoll mit ihr und ertrug es klaglos, dass sie ihn siezte wie einen Fremden, während sie ihm mit leuchtenden Augen von ihrem jungen, schnittigen Ehemann erzählte.

Ich schlug ihr vor, an einem der nächsten Tage mit ihr in den Zoo zu gehen.

Frau Stein gab mir mit einem leisen Nicken die Erlaubnis dazu. Ich hatte die füllige, energische, oft ziemlich ruppige und abweisende Heimleiterin im Laufe der Zeit schätzen gelernt und begriffen, dass Sensibilität nicht nur ein Wesensmerkmal stiller, verhaltener Menschen ist. Frau Stein mit ihrem nie erlahmenden Engagement und ihrem Verständnis für die Sorgen und Nöte demenzkranker Menschen war für die Bewohner des St. Marien ein wahrer Segen.

»Ich freu mich so, dass Sie hier sind«, sagte ich zu Frau Sternberg.

»Und ich erst, Kindchen.« Sie strahlte mich an. »Ich wollte unbedingt Ihr schönes Haus sehen. Und Ihre Freunde. Vor allem jedoch Ihren Liebsten.« Sie schaute sich mit verschwörerischer Miene um.

»Ist es der da?«

Sie hatte auf Mike gezeigt, der ihr zwinkernd zuwinkte.

»Nein. Das ist Mike. Er wohnt auch hier.«

An Frau Sternbergs Miene konnte ich erkennen, dass sie nicht verstand. Wenn ein Mädchen und ein junger Mann zusammenwohnten, dann waren sie in der Welt, in der Frau Sternberg groß geworden war, ein Paar. Wohngemeinschaften waren die Erfindung einer Zeit, zu der sie mehr und mehr den Zugang verlor.

Mit einem zaghaften Lächeln zog sie sich wieder in sich selbst zurück.

Die Gäste aßen und tranken. Sie nahmen im Nu das gesamte Anwesen in Besitz. Im Garten, im Hof und in sämtlichen Zimmern suchten und fanden sich Grüppchen und verteilten sich neu.

Ab und zu hörte ich Mina lachen. Die Therapie tat ihr gut. Ich hatte sie selten so entspannt erlebt. Sie verstand sich mit Ilka und Mike und fand allmählich sogar Zugang zu den Katzen, vor denen sie anfangs zurückgeschreckt war.

Alles war, wie es sein sollte.

Nur Luke fehlte.

Ich wusste nicht, wann ich ihn wiedersehen würde. Das wusste ich nie. Ich wusste nicht, wo er gerade war und was er tat, wusste nicht, wer seine Freunde waren und kannte seine Gewohnheiten nicht.

Was wusste ich überhaupt über ihn?

Oder über seine Gefühle?

Was wusste ich über meine?

Ich war hin- und hergerissen zwischen Sehnsucht und Enttäuschung, ein Zustand, der mich fertigmachte, mehr, als ich mir eingestehen mochte.

»Hey«, flüsterte Mike mir ins Ohr.

Ich hatte nicht bemerkt, dass er hinter mich getreten war, und zuckte zusammen.

»Ist er das wert?«

Ich fing einen verstohlenen Blick meiner Mutter auf und fragte mich, ob sie sich schon wieder Sorgen um mich machte. Sie war doch mit einem Psychologen zusammen. Wieso gelang es Tilo nicht, ihr die mütterliche Fixierung auf mich auszureden?

Und warum spähte Mina so seltsam zu mir herüber?

Anscheinend sahen mir alle an, wie es um mich stand. Mein Gesicht war ein offenes Buch und jeder blätterte nach Belieben darin.

»Ja. Ist er.«

Ich schnappte mir mein Handy und wandte mich ab.

Lukes Nummer war direkt unter Merles gespeichert. An zweiter Stelle. Vor Ilka, Mike und Mina, vor meiner Mutter, Tilo und meiner Großmutter.

Hi, hier spricht Lukas Tadikken. Ich bin unterwegs. Hinterlassen Sie mir doch eine Nachricht, dann …

Er war unterwegs. Wohin? Mit wem? Warum?

Ich hatte Lust, es unseren Katzen nachzutun, die sich bei dem ungewohnten Lärm und Gedränge verkrochen hatten. Ich sah in lauter lächelnde Gesichter, hörte einzelne Worte, die sich aus dem Stimmengewirr lösten, und fand keinen Zugang dazu. Ich hatte das Gefühl, von allem getrennt zu sein. Als hätten sich zwischen den andern und mir unsichtbare Mauern aufgerichtet.

»Na, mein Mädchen?«

Großmutter saß erschöpft in einem Sessel, den Stock auf den Knien.

»Seit wann benutzt du einen Stock?«, fragte ich.

»Seit ich mich wie hundertdreißig fühle«, gab sie mir zur Antwort.

Ich beugte mich zu ihr hinunter und küsste ihre Wange, die weich war und warm, genau so, wie die Wangen einer Großmutter sein mussten. Dann ging ich in die Hocke und schaute ihr ins Gesicht.

»Du bist die schönste und jüngste Großmutter, die ich kenne …«

Ihr Lächeln zauberte Koboldfalten auf ihr Gesicht.

»… und bestimmt die einzige, die Russisch lernt, Tanzkurse besucht, Yoga macht und …«

»Lenk nicht ab, Jette.«

Wie hatte ich glauben können, sie würde mich nicht durchschauen? Wie hatte ich ihren unbestechlichen Adlerblick vergessen können?

»Du bist unglücklich«, stellte sie fest.

Ich schüttelte den Kopf und lachte ein falsches Lachen. Es war zu hoch und zu dünn. Und dann ließen mich meine blöden Augen im Stich. Sie schwammen in Tränen. Ich senkte den Kopf.

»Was hat er getan, um dich zum Weinen zu bringen?«, fragte Großmutter unerbittlich.

»Getan? Wer?«

»Stell dich nicht dumm, Jette! Du weißt genau, von wem ich spreche. Wie heißt er noch gleich, Lu…«

Es war typisch, dass sie seinen Namen vergessen hatte, und es lag nicht an ihr. Von außen betrachtet, war Luke kaum mehr als ein flüchtiger Besucher in meinem Leben. Sein Name konnte sich bei den Menschen, die ich liebte, nicht einprägen. Sie kannten ja nicht mal sein Gesicht genau.

»Er heißt Luke.«

»Ja. Luke. Ich wusste, dass es etwas Amerikanisches war.«

Sie hob mein Kinn an, sodass ich ihr in die Augen blicken musste. Ihr ganzes Leben lag in diesen gewittergrauen Augen verborgen. Sie hatten unendlich viel gesehen.

»Er … er lässt sich nicht ein …«

»Auf dich?«

Ich nickte.

Großmutter nickte ebenfalls. Nachdenklich.

»Dann ist er entweder ein Trottel oder irgendwas stimmt nicht mit ihm.«

In diesem Moment trat meine Mutter zu uns. Ich war froh darüber, denn ich hatte keine Lust, mich weiter von Großmutter ausfragen zu lassen. Ich stand auf und zwang mich zu einem Lächeln. Wir feierten ein Fest. All unsere Freunde waren gekommen. Das würde ich mir von Luke nicht verderben lassen.

Doch der feine Schmerz in meinem Innern ließ sich nicht ignorieren. Der Schmerz, den die Liebe zu Luke mit sich gebracht hatte.

2

Luke saß im Dunkeln an seinem Schreibtisch. Er hatte den Computer heruntergefahren, aber die Luft schien noch aufgeladen von Elektrizität. Seine Wasserflasche war leer, doch er hatte nicht die Energie, sich eine neue aus dem Kühlschrank zu holen. Er war hundemüde. Seine Augen brannten und in seinem Kopf machte sich eine beginnende Migräne breit.

Er litt unter Migräneattacken, seit …

Seit damals.

Seit er sich verboten hatte, über das nachzudenken, was passiert war. Seit er es mit aller Macht verdrängte und nicht für eine Sekunde an sich heranließ.

Das Entsetzliche.

Er legte Zeige- und Mittelfinger an die Schläfen und massierte sie mit leichtem Druck in sanften, kreisenden Bewegungen. Das verschaffte ihm meistens ein wenig Linderung.

Manchmal war die Migräne so heftig, dass er sein Zimmer verdunkeln und mit einem Kühlbeutel auf der Stirn Zuflucht im Bett suchen musste. Mit ein bisschen Glück schlief er ein. Hatte er Pech, wurden die Schmerzen so schlimm, dass sie ihn mit Wellen von Übelkeit überschwemmten und er sich die Seele aus dem Leib kotzte, bis bloß noch Galle kam.

Luke schaute aus seinem Fenster im zweiten Stock auf die Rückseite der übrigen Häuser, die, zusammen mit der Häuserreihe, in der er wohnte, ein ausgedehntes Viereck bildeten. Trotz weit geöffneter Balkontür stand die Hitze im Raum. Eine Mücke sirrte an Lukes rechtem Ohr entlang und er schlug ohne Überzeugung nach ihr.

Seit Langem war er sich selbst fremd und kam nicht mit sich zurecht. Sah sich von außen zu und begriff nicht, was ihn antrieb, was ihn ausmachte.

Endlich gelang es ihm, den Stuhl zurückzuschieben, aufzustehen und mit der leeren Flasche in die winzige Küche zu gehen. Er war barfuß und trug bequeme Bermudashorts und ein T-Shirt, das unter den Armen und im Rücken komplett durchgeschwitzt war.

»Hölle«, stöhnte er, als jeder Schritt in seinem wunden Kopf nachhallte.

Er warf die Kunststoffflasche in den Korb mit Leergut. Der Kühlschrank summte laut und ungesund. Wahrscheinlich würde er bald den Geist aufgeben. Der Vermieter, ein abgetakelter ehemaliger Profiboxer, sträubte sich mit Händen und Füßen gegen Neuanschaffungen. Er war knickrig und streitlustig und wurde, wenn er zu tief ins Glas geguckt hatte, auch schon mal handgreiflich. Seine Mieter vermieden es deshalb tunlichst, sich mit ihm anzulegen.

Während Luke das eiskalte, wunderbar frische Wasser aus der Flasche trank, schaute er sich um. Es gab weitaus schönere Wohnungen als diese hier, die er seit Beginn des Studiums mit seinem Freund und Studienkollegen Albert teilte. Das wusste er von seinem Job als freier Mitarbeiter im Maklerbüro Kerres und Söhne nur zu genau. Da er an der Quelle saß, hätte er auch leicht eine andere beschaffen können. Aber wenn er eines hasste, dann war es Veränderung. Er räumte nicht mal ein Möbelstück um, solange es sich vermeiden ließ.

Es wäre für ihn sogar ein Klacks gewesen, die Probleme mit dem verrückten Vermieter oder Vermietern überhaupt vom Tisch zu wischen, indem er einfach eine Wohnung gekauft hätte. Schließlich hatte er genug Geld zurückgelegt. Allerdings war die Zeit für ihn noch nicht gekommen, sich auf längere Sicht zu binden, weder an Menschen noch an Besitz.

Manchmal befürchtete er, dass diese Zeit nie kommen würde.

Er war froh, dass Jette ihn bisher nicht gefragt hatte, ob er sich vorstellen könnte, in ihre WG zu ziehen. Er war noch nicht so weit, er konnte noch keinen Menschen derart nah an sich heranlassen. Mit Albert war es anders. Albert akzeptierte ganz selbstverständlich einen Rest von Distanz, der für Luke lebenswichtig war.

Nähe bedeutete Tod.

Dennoch war Luke schwach geworden. Er war Jette bedenklich nahegekommen. Noch mehr Nähe durfte er nicht zulassen. Das würde sie beide töten.

Mitternacht war vorbei. Die ersten Lichter in den Fenstern erloschen. Die Stimmen auf den Balkonen und unten im Hof wurden leiser. Windlichter schimmerten in der Dunkelheit. Luke trat auf den kleinen, schmalen Balkon hinaus und setzte sich auf den Klappstuhl, den er dort aufgestellt hatte.

Ein leichter Wind kühlte ihm die Stirn und erfrischte ihn ein wenig. Dankbar hob er das Gesicht und schloss die Augen. Er hatte Sehnsucht nach Menschen, nach einem Gespräch. Er hätte sich gern treiben lassen. Irgendwohin. Hauptsache weg von sich selbst und den Erinnerungen, gegen die er Tag und Nacht kämpfte.

Er wäre gern ein anderer gewesen.

Luke lachte auf und spürte einen bitteren Beigeschmack.

Ein anderer.

War er das nicht längst?

Die Nacht war sternenklar. Ein undefinierbarer, beinah schwülstiger Blütenduft wehte ihm in die Nase und verschlimmerte seine Kopfschmerzen. Er zog sich wieder in sein Zimmer zurück, streckte sich vorsichtig auf dem Bett aus und bedeckte die Augen mit dem Unterarm. Vielleicht gelang es ihm ja, einzuschlafen. Vielleicht hatte er das Glück, nicht die ganze Nacht mit diesen Schmerzen durchstehen zu müssen.

Ihm war elend zumute wie schon lange nicht mehr.

*

Imke Thalheim hatte ihre Mutter ins Haus begleitet, winkte ihr jetzt noch einmal zu, stieg wieder in ihren Wagen und fuhr los. Die alte Dame hatte lange ausgeharrt. Sie war vernarrt in ihre Enkelin und die gesamte Wohngemeinschaft und besaß außerdem eine erstaunliche Konstitution.

»Hattest du nicht auch den Eindruck, dass meine Mutter ein bisschen beschwipst war?«, fragte Imke.

»Ein bisschen?« Neben ihr auf dem Beifahrersitz gähnte Tilo zum Steinerweichen. »Deine Mutter trinkt jeden Mann unter den Tisch.«

»Klingt da etwa eine Spur Chauvinismus mit?«

»Männer vertragen tatsächlich mehr als Frauen«, verteidigte sich Tilo ohne großen Elan. Dann konnte er nicht widerstehen, eins draufzusetzen: »Man nennt sie nicht umsonst das starke Geschlecht.«

Imke konzentrierte sich auf die Straße und riskierte nur einen kurzen Seitenblick. In der Dunkelheit spürte sie Tilos Grinsen mehr, als sie es sah. Er berührte ihre Hand, und sie umfasste für einen Moment seine Finger und drückte sie.

»Hat es dir gefallen?«, fragte er.

»Endlich ist ein bisschen Ruhe bei den jungen Leuten eingekehrt.« Darüber hatte sie den ganzen Abend nachgedacht. »Auf gewisse Weise werden sie allmählich sesshaft. Das beruhigt mich wirklich sehr.«

»Bist du sicher?«

Der Zweifel in seiner Stimme ließ sie schmunzeln. Er kannte sie zu gut und wusste, wann sie sich etwas vormachte.

»Natürlich bleibt immer ein Rest … Besorgnis. Jette und Merle haben in der Vergangenheit schließlich nichts ausgelassen, um sich in Gefahr zu bringen. Irgendwie habe ich die Hoffnung, dass jetzt, wo sie zu fünft sind, einer auf den andern aufpassen wird.«

»Zu fünft?« Tilo hob die Hände, um an den Fingern abzuzählen. »Du vergisst Cleo, Marius, Clarissa, Soraya, Carlos …«

»Ich weiß«, unterbrach Imke ihn. Sie verdrängte gern, dass Mina als Multiple in viele unterschiedliche Persönlichkeiten gespalten war. In Gegenwart des Mädchens empfand sie oft ein Unbehagen, das sie nicht zu unterdrücken vermochte.

»Gib ihr eine Chance, Ike.«

Nur Tilo benutzte diesen Kosenamen, und wenn Imke ihn hörte, war sie Wachs in seinen Händen.

»Es ist ja nicht so, dass ich Mina nicht mag«, sagte sie. »Aber ich kriege Gänsehaut, wenn mich plötzlich eine andere Persönlichkeit aus ihren Augen anschaut.«

»Mina ist nicht gefährlich. Ich lege meine Hand für sie ins Feuer.«

Und wenn du dich verbrennst?, dachte Imke.

Sie hütete sich, den Gedanken auszusprechen. Mina war Tilos Patientin. Er besuchte sie einmal in der Woche in der Klinik, um mit ihr zu arbeiten. Nie zuvor hatte er einen Menschen mit multipler Persönlichkeitsstörung (oder dissoziativer Identitätsstörung, wie es korrekt hieß) therapiert. Der Fall begeisterte ihn.

Auch Imke spürte die Faszination, die von Mina ausging, aber es war eine dunkle Faszination, die einen bedrohlichen Schatten auf Jette und die andern warf.

Der Anblick ihres Hauses ließ Imke vor Glück seufzen. Als sie am Nachmittag aufgebrochen waren, hatte sie nicht bemerkt, dass einer von ihnen aus Versehen die Außenlampe angeknipst hatte, die die schöne alte Mühle jetzt, im Dunkeln, in ein geheimnisvolles Licht tauchte.

Imke lenkte den Wagen über den unter den Rädern leise knirschenden Kies der Auffahrt und stellte ihn in der Scheune ab, die sie als Garage nutzten. Als sie ausstiegen, wurden sie von Edgar und Molly empfangen, die maunzend um ihre Beine strichen und nach Futter verlangten.

In der Haustür drehte Imke sich noch einmal um. Es war zu dunkel, um den Bussard zu erkennen, aber sie fühlte, dass er in der Nähe war. Das beruhigte sie.

Tilo hatte ihr erzählt, der Raubvogel, der ihr in all den Jahren hier draußen so viel bedeutet hatte, sei getötet worden. Er hielt den Bussard, der das Revier rund um die Mühle seither für sich beanspruchte, für einen Nachfolger des ermordeten Tiers.

Doch das stimmte nicht. Imke hätte den Unterschied bemerkt.

»Gute Nacht«, flüsterte sie in die Nacht hinaus.

Dann schloss sie leise die Tür. Tilo musste nicht unbedingt erfahren, dass sie seinen Wahrnehmungen nicht traute. Er sollte auch nicht hören, dass sie zu dem Bussard sprach.

Es gab Dinge in ihrem Zusammenleben, die gingen nur sie selbst etwas an.

*

Endlich konnte er etwas tun. Die innere Starre abstreifen und wieder lebendig sein.

Planen.

Handeln.

Es war herrlich, den lauen Nachtwind auf dem Gesicht zu spüren. Der Laptop lief beinah lautlos. Er gab nur ein feines, kaum wahrnehmbares Geräusch von sich, ein Wispern wie von einer inneren Stimme. Der Monitor schimmerte bläulich in der Finsternis.

Der Wein in dem dickbauchigen Glas sah aus wie Blut, purpurn und schwer. Er rann warm durch die Kehle und breitete sich wohlig im Magen aus. Der Rauch der Zigarette kräuselte sich im gespenstischen Schein des Monitors und zerfächerte im nächsten Moment zu dünnen Schleiern.

Fasziniert betrachtete er einen Nachtfalter, der das Windlicht umflatterte. Der dunkle, Unheil verkündende Bruder des Schmetterlings. Er trug den Tod in sich, längst bevor er der Kerzenflamme zu nahe kam und im heißen Wachs versank.

Jeder andere hätte sein Sterben als böses Omen betrachtet.

»Jeder andere«, flüsterte er. »Aber nicht ich.«

Hinter sich spürte er das große, schweigsame Haus. Er spürte jeden einzelnen der nachtgefüllten Räume, jedes einzelne Möbelstück.

Dies hier war sein Zuhause. Hierhin kehrte er immer wieder zurück. Und so sollte es auch bleiben. Immer wieder würde er den Schlüssel ins Schloss stecken, die Haustür aufstoßen und diesen tröstenden Teil seines Lebens betreten.

Das Haus war seine Höhle. Es gewährte ihm Schutz und Sicherheit. Hinter diesen Mauern konnte er sich geben, wie er war, ohne dass die Meute sich auf ihn stürzte, sobald er ein Zeichen von Schwäche zeigte.

Der betörende Duft des Oleanders stieg ihm in die Nase und erzeugte etwas, das einem Glücksgefühl ähnlich war.

Keinem würde er erlauben, ihm das hier zu nehmen. Sein Heim. Seine Macht. Sein Leben. Er hatte viel zu lange vergeblich gekämpft, weil der wahre Gegner sich entzogen hatte. Das würde sich ändern.

Er war im Begriff, sich zu verwandeln. Vom Gejagten in den Jäger.

Irgendwo heulte ein Hund.

Das passte.

Er spürte das Lächeln auf seinem Gesicht wie eine zärtliche Berührung.

*

Merle trug den letzten Karton mit Dekokrimskrams über den Hof und stellte ihn im trüben Licht der Scheunenlampe zu den andern, die sich dort bereits stapelten. Die Scheune wurde als Garage und Abstellraum genutzt. Sie bewahrten hier ihre Fahrräder auf und alles, für das sich im Augenblick keine Verwendung fand.

Die ganze Welt schlief, nur Merle war wach. Sie hatte Claudio nach Hause geschickt, obwohl er sich darauf eingestellt hatte, bei ihr zu übernachten. Wütend war er abgerauscht. Er verstand nicht, dass sie das manchmal brauchte. Allein zu sein und von niemandem gestört zu werden. Dann konnte sie die Gedanken treiben lassen und das Leben betrachten. Mit offenen Augen träumen.

Verrückte Dinge tun. Oder sie bleiben lassen.

Wo sie nun schon mal wach war, hatte sie überlegt, konnte sie auch gleich aufräumen. Es fiel ihr nicht schwer, Kopf und Hände mit unterschiedlichen Dingen zu beschäftigen, im Gegenteil. Das eine war gut für das andere.

Heute Nacht waren ihre Gedanken mit Jette besetzt. Merle machte sich Sorgen. Sie hatte sich so sehr darüber gefreut, dass Luke im Leben ihrer Freundin aufgetaucht war wie das Licht am Ende eines Tunnels, doch mittlerweile verfluchte sie den Tag, an dem die beiden einander begegnet waren.

Obwohl sie diesem denkwürdigen Tag den Bauernhof verdankten, denn Luke mit seinem Job bei Kerres und Söhne war nicht ganz unschuldig daran, dass sie schließlich unter den zahlreichen Mitbewerbern den Zuschlag bekommen hatten.

Von Anfang an hatte Luke sein eigenes Süppchen gekocht und keinen in die Töpfe gucken lassen. Er hatte Jette verzaubert, hatte ihr Vertrauen gewonnen und sich selbst nur höchst bruchstückhaft offenbart. Merles Gefühle ihm gegenüber hatten eine Achterbahnfahrt zurückgelegt. Zuerst hatte sie ihn sympathisch gefunden, ihm dann misstraut, ihn schließlich abgelehnt und ihm vor kurzem die Hand zur Versöhnung gereicht.

Und jetzt?

Häufig verspürte sie den Impuls, einen Raum zu verlassen, nachdem Luke ihn betreten hatte. Das passierte ihr sonst nur bei den aalglatten Labortypen, die, angeblich im Dienst der Forschung, skrupellos Versuchstiere quälten. Gegen die jedoch konnte sie sich als Mitglied einer starken Tierschutzgruppe wehren.

Aber gegen Luke?

Sie löschte das Licht in der Scheune und kehrte über den Innenhof zur Küche zurück, wobei sie ihre Schritte unmerklich beschleunigte. Dabei fürchtete sie sich normalerweise nicht im Dunkeln.

Fang nicht an, Gespenster zu sehen, dachte sie und zwang sich, langsam zu gehen. Die Solarlampen erhellten die Umgebung nur spärlich mit ihrem kühlen, blassen Licht. Merle mochte sie nicht, aber sie waren ein Geschenk von Jettes Mutter gewesen, also hatte sie sich mit ihnen abgefunden.

Irgendwo raschelte es.

Wahrscheinlich eine Maus. Oder eine fremde Katze. Den ganzen Tag über standen sämtliche Türen offen, da gelangte alles mögliche Viehzeug hier herein. Donna, Julchen oder Smoky konnten es nicht sein. Denen war die ungewohnte Freiheit immer noch unheimlich und sie bevorzugten in den Nächten die Geborgenheit im Haus.

Merles Gedanken kehrten zu Luke zurück. Er war wie eine ungelöste Matheaufgabe, eine Formel, die ihr nichts sagte. Sie hatte keine Lust, sich mit ihm auseinanderzusetzen, doch sie konnte ihn nicht einfach aus ihrem Leben werfen, denn Jettes Liebe zu diesem Kerl machte ihn zu einem wesentlichen Teil davon. Merle musste sich mit ihm arrangieren, ob sie wollte oder nicht.

Sie räumte die Spülmaschine aus, verbrannte sich die Finger an dem noch viel zu heißen Porzellan und fluchte. Die Küche sah aus wie ein Schlachtfeld. Nachdem der letzte Gast gegangen war, hatten die andern sich gerade noch dazu aufraffen können, das schmutzige Geschirr zusammenzustellen und die erste Maschine anzuwerfen. Dann waren sie gähnend in ihre Betten gefallen.

»Und wenn sie nicht gestorben sind«, murmelte Merle, »ratzen sie immer noch wie die Murmeltiere.«

Allmählich wurde sie doch müde. Sie befüllte die Spülmaschine ein zweites Mal, drückte auf Start, löschte das Licht und ging in ihr Zimmer.

Auf ihrem Schreibtisch saß Smoky, unbewegt und rätselhaft, und blickte sie aus schmalen Augen an.

Merle streifte die Kleider ab und kroch unter die Bettdecke. Sie hatte sich noch nicht ganz ausgestreckt, da schmiegte Smoky sich bereits schnurrend an ihre Füße.

»Du weißt doch, dass du nicht …«

Doch da schnarchte er schon und hörte ihr nicht mehr zu.

*

Zuerst dachte ich, ein Geräusch hätte mich geweckt, doch als ich lauschte, rührte sich nichts. Ich schlüpfte in meine Jogginghose und drehte eine Runde durchs Haus, um zu sehen, ob alles in Ordnung war.

Sämtliche Fenster waren zu, ebenso wie die Türen. Nur die von Merle stand einen Spaltbreit offen. Wahrscheinlich hatte Smoky sich wieder bei ihr eingeschlichen. Der alte Charmeur mit dem grau verwitterten Fell kannte seine Macht über sie und wusste, dass sie ihm nichts abschlagen konnte.

Die Haustür war abgeschlossen, draußen war alles ruhig.

Mein Magen knurrte, und ich hatte große Lust, ihn mit den Resten vom Festessen zu besänftigen. Stattdessen holte ich mein Handy, schüttete mir ein Glas Wasser ein und schrieb Luke eine SMS.

Vermisse dich schrecklich. Hast was verpasst. Würd dich gern küssen. J.

Wo immer du auch sein magst, dachte ich und fragte mich wieder, warum er sich nicht meldete. Welchen Grund konnte es geben, mir nicht mal eine kurze Nachricht zu schicken?

Ich malte mir die schrecklichsten Horrorszenarien aus. Luke nach einem Unfall in seinem Volvo eingeklemmt. Luke mit einem Messer im Bauch verblutend in einem Straßengraben. Luke im Koma auf einer Intensivstation. Luke tot in seiner Wohnung …

Mühsam befreite ich mich von den düsteren Bildern und blickte mich um. Das Tohuwabohu von unserem Fest war verschwunden. Alles war blitzblank und aufgeräumt. Offenbar hatte irgendjemand nicht schlafen können und die Zeit sinnvoll genutzt.

Ich hatte gerade das Glas an die Lippen gesetzt, als mein Handy mir eine SMS meldete.

Vermisse dich auch. Holen Kuss nach. Tut mir leid. L.

Also war er wach!

Ich drückte seine Nummer.

Hi, hier spricht Lukas Tadikken …

Am liebsten hätte ich mein Handy gegen die Wand geschmettert, doch ich erinnerte mich rechtzeitig daran, dass ich es noch brauchte. Ich trank das Wasser, zog mich in mein Zimmer zurück, legte mich ins Bett und verschränkte die Arme unterm Kopf.

Meine Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit, und ich erkannte die Umrisse des Fensters und die Schatten der Möbel. Ich liebte mein Zimmer. Luke und ich hatten schon so oft hier gelegen, eng aneinandergekuschelt, und miteinander geflüstert.

Obwohl …

Meistens war ich es, die redete. Luke hörte lieber zu.

Der feine Schmerz in meinem Innern machte sich wieder bemerkbar. Ich rollte mich auf die Seite und zog die Knie ans Kinn.

Herzweh.

Das Wort kam von irgendwo angeflogen und landete in meinem Kopf.

Herzweh.

War Liebe so?

Ich nahm mir vor, mit Luke zu reden, doch bevor ich mir überlegen konnte, was ich ihm sagen wollte, schlief ich ein.

3

Sie war sauer auf ihn, das spürte er an der Art, wie sie sprach, wie sie schwieg, an der Art, wie sie ihn ansah und wie sie seinem Blick auswich. Sie war der geradlinigste Mensch, dem er je begegnet war, und sie hatte nicht die Spur Talent, ihre Gefühle zu verbergen.

Schon Merle hatte ihn mit einer äußerst knappen Begrüßung abblitzen lassen, als er Jette abholen wollte. Die andern waren nicht zu Hause gewesen, zum Glück, denn Luke fühlte sich in ihrer Anwesenheit nicht wohl. Sie ließen ihn spüren, dass er nur Jettes wegen willkommen war, und er wusste, dass sie ihn fallen lassen würden wie eine heiße Kartoffel, falls Jette sich jemals von ihm abwenden sollte.

Das ganze Wochenende und den kompletten Montag hatte Luke mit seiner Migräne gekämpft. Albert, der am Sonntagabend von einem Wochenendtrip nach Amsterdam zurückgekehrt war, hatte sich nur auf Zehenspitzen in der Wohnung bewegt. Er hatte Luke mit Vitaminen vollgestopft und sich aufgeführt wie ein Übervater.

»Willst du reden?«, hatte er gefragt, weil er vor Kurzem in einem Artikel gelesen hatte, Migräne sei häufig eine Reaktion auf ungelöste Probleme.

»Zieh Leine«, hatte Luke gemurmelt und sich die Bettdecke über den Kopf gezogen.

Doch Albert war geblieben. Er hatte die Kühlbeutel ausgetauscht, Tee gekocht und kleine Mahlzeiten zubereitet, die Luke dann doch nicht hatte anrühren können, weil sich ihm allein beim Gedanken daran der Magen umgedreht hatte.

Sie kannten sich, seit Luke zum ersten Mal die Uni betreten hatte. Was als reine Zweckgemeinschaft begonnen hatte, war zu einer echten Freundschaft geworden. Nicht dass sie je darüber gesprochen hätten. Es war, wie es war. Sie hielten es nicht für nötig, deswegen Worte zu verlieren.

Mit Rücksicht auf Lukes Zustand hatte Albert sogar seine geliebte Gitarre nicht angerührt, was Luke ihm besonders hoch anrechnete. Vielleicht, hatte er gedacht, war es endlich an der Zeit, seinen Freund mit Jette bekannt zu machen.

Während Luke jetzt wieder darüber nachdachte, erzählte Jette ihm von dem Fest, das er versäumt hatte.

»Alle waren da. Merles Tierschutzgruppe und die gesamte Crew aus dem Tierheim …«

Luke wäre dem Fest wohl auch ohne seine Migräneattacke ferngeblieben, doch das brauchte Jette nicht zu wissen. Es hätte sie bloß verletzt.

»… und stell dir vor: Frau Stein hat sogar Frau Sternberg und den Professor mitgebracht …«

Luke kannte die Namen der meisten Menschen aus Jettes Umfeld, nicht jedoch jedes der dazugehörigen Gesichter. Vor Kurzem hatte er sie zum Sommerfest im St. Marien begleitet, sich dort aber so fehl am Platz gefühlt, dass er sich vorgenommen hatte, solche Events künftig wieder zu meiden. Doch auch das musste Jette nicht unbedingt erfahren.

»… und wusstest du, dass ein paar von Mikes Freunden eine Rockband gegründet haben?«

Nein. Das wusste er nicht, und es tat ihm leid, dass er es nicht wusste. Es tat ihm leid, dass er all diese Leute nicht kannte und wahrscheinlich niemals kennenlernen würde. Er bedauerte, dass er Jette seine Zurückhaltung nicht erklären konnte, und es machte ihn fertig, dass sie seinetwegen unglücklich war.

»Haben sie schon einen Gitarristen?«, fragte er.

»Wieso? Kennst du einen?«

Im selben Moment beschloss er, Albert nicht zu erwähnen. Und wenn es ihn noch so reizen mochte, es konnte fatale Folgen haben, seine verschiedenen Lebensbereiche miteinander zu verbinden. Er winkte ab.

»Nee. War ’ne Schnapsidee.«

Sie waren nach Köln gefahren und schlenderten nun über den Roncalliplatz. Die halbe Stadt schien unterwegs zu sein. Lebende Statuen in Silber und Gold standen unbeweglich in der Gluthitze des Nachmittags. Ein Pflastermaler kauerte vor dem dreidimensionalen Bild einer Schlucht, die so täuschend echt wirkte, dass man bei ihrem Anblick fürchtete zu fallen. Am Dom fand ein Gothic-Treffen statt. Es wimmelte von schrill geschminkten Gesichtern, kunstvollen Frisuren und prächtigen Outfits.

Luke entspannte sich. Inmitten von Menschenmengen atmete er auf. Man konnte sich darin bewegen, ohne Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Schon hundertmal hatte er dem Himmel gedankt, dass es ihn ausgerechnet nach Köln verschlagen hatte, wo das Leben in den Straßen pulsierte und Toleranz kein Fremdwort war.

Er legte den Arm um Jette und drückte sie an sich. Sie ließ den Kopf an seine Schulter sinken und ihm stockte der Atem. Etwas in ihm löste sich, fiel nieder, schmerzlich und sanft, und er blieb stehen und drehte Jette zu sich herum. Auf den riesigen Gläsern ihrer Sonnenbrille spiegelten sich die Häuser, die Leute und er selbst.

Behutsam nahm er ihr die Brille ab.

Jette blinzelte. Ihre grauen Augen leuchteten. Ihr Ärger schien verflogen.

Luke küsste sie, und alle Geräusche verblassten, als hätte jemand am Ton gedreht. Die Hitze und der leise Wind, der über den Platz wehte, waren kaum noch zu spüren. Für den Moment gab es für Luke nur diesen Kuss und Jettes Körper, der sich an ihn drängte.

Als sie sich voneinander lösten, Jahrhunderte später, lächelte Jette ihn an. Er konnte sich in ihren Pupillen erkennen, ein bisschen verzerrt, wie mit einem Weitwinkelobjektiv aufgenommen.

Dann setzte Jette die Brille wieder auf, legte den Arm um seine Hüften und zog ihn weiter.

Sie schlenderten über die Hohe Straße. Jette blieb an jedem Schaufenster stehen, betrat jedoch kein Geschäft.

»Ich will nicht eine einzige Sekunde mit dir verpassen«, sagte sie.

Luke hörte den stillen Vorwurf, ohne dass sie ihn aussprechen musste.

Für jeden Schnorrer hatte sie ein paar Cent übrig, warf jedem Straßenmusikanten ein, zwei Münzen hin, sie kaufte ein Exemplar der Obdachlosenzeitung und ging an keinem vorbei, der die Hand aufhielt. Beschämt kramte Luke in seiner Hosentasche. Er konnte sich nicht erinnern, wann er zuletzt irgendwem irgendwas gegeben hatte.

Er hatte dieses Mädchen nicht verdient.

Er durfte sie nicht in Gefahr bringen.

Aber wie sollte er das vermeiden?

Eine bange Ahnung hielt sein Herz umklammert, wie schon seit Tagen. Er wurde und wurde sie nicht los.

*

Obwohl ich seit meiner Geburt im Dunstkreis von Köln gelebt hatte, war mir die Stadt nie richtig vertraut geworden. Merle und ich gingen ab und zu in Köln shoppen, kamen dabei jedoch, wie die meisten Touristen auch, selten über die Altstadt hinaus. Klassenausflüge hatten mich in den Dom und ins Schokoladenmuseum geführt und meine Mutter hatte mich in eine Reihe von Museen und Theatern geschleppt.

Und nun war ich mit Luke hier.

Wenn wir wollten, konnten wir den Rest gemeinsam kennenlernen.

Wir hatten alle Zeit der Welt.

Unser Kuss, der all meinen Ärger binnen einer Sekunde beiseitegewischt hatte, steckte mir noch unter der Haut. Ich legte den Kopf in den Nacken und sah die Sonne am Himmel flirren. Die paar kleinen Wolken, die das kräftige Sommerblau betupften, waren strahlend weiß und makellos.

»Wie diese wolligen Schafe in Bilderbüchern«, sagte Luke, der meinem Blick gefolgt war.

Genau daran hatte ich auch gerade gedacht. Plötzlich fühlte ich mich ihm so nah, dass es mir das Herz zerriss, doch das wollte ich ihm nicht zeigen.

»Zwei Menschen, ein Gehirn«, spottete ich.

»Und wenn es so wäre?«

»Ja. Was wäre dann?«

Luke blieb stehen, den Arm um meine Schultern. Er betrachtete einen alten Mann, der mitten in der Fußgängerzone ein kleines Straßentheater aufgebaut hatte. Verschiedene Puppen und Gegenstände, an einer waagerecht verlaufenden Schnur befestigt, tanzten zur Musik seiner Mundharmonika. Mit den Füßen bediente er die Schnur, eine kleine Trommel und einen Schellenbaum.

»Warte mal …«

Luke kramte in seiner Hosentasche und zog einen Geldschein hervor. Er faltete ihn zu einem Päckchen zusammen und warf ihn dem Puppenspieler in seine aufgeklappte Piratenschatzkiste.

»Zehn Euro! Wow!«

Aber Luke hörte mich nicht. Er war ganz in den Anblick der Kinder versunken, die den Puppenspieler umringten und seinem Spiel mit großen Augen folgten. Ich tippte Luke auf die Schulter, und es war, als würde er sich plötzlich wieder an mich erinnern. Der träumerische Ausdruck, der auf seinem Gesicht gelegen hatte, verschwand. Verwirrt und ein wenig verlegen wich er meinem Blick aus.

»Hast du einen Geist gesehen?«

»Ich … die Mundharmonika hat mich … ach, vergiss es.«

»Nein. Erzähl’s mir.«

»Da gibt es nichts zu erzählen. Willst du ein Eis?«

»Erst möchte ich hören, was es mit der Mundharmonika auf sich hat.«

Er seufzte. Öffnete zögernd den Mund.

»Mein … Vater hat früher Mundharmonika gespielt.«

Seine Worte kamen langsam. Als kostete jedes ihn allergrößte Mühe. Er hatte seine Eltern noch nie erwähnt. Es war ein kostbarer Augenblick.

»Früher? Spielt er nicht mehr?«

War seine Hand plötzlich kälter geworden oder kam es mir bloß so vor? Ich rieb seine Finger. Als Luke den Blick hob, erschrak ich. In seinen Augen lag etwas, das ich lieber nicht darin gesehen hätte.

Es war reine, unverhüllte Wut.

Ich versuche, mich zu wappnen, ohne zu wissen, wogegen.

»Er ist tot.«

Ich starrte ihn an.

Er ist tot … ist tot … isttototot …

Die Worte passten nicht in diesen Nachmittag. Sie passten nicht zu meinen Gefühlen und nicht zu Lukes Zorn.

Ich hasste den Tod.

Luke zog mich zum Stand eines Eisverkäufers.

»Drei Kugeln, bitte. Schoko, Zitrone, Nuss. Und du?«

Er fingerte ein paar Münzen aus seiner Tasche, unbefangen, fast heiter. Als hätte es die drei Worte gar nicht gegeben.

»Dasselbe.«

Luke lutschte voller Hingabe sein Eis und war mir schon wieder entglitten. Doch das wollte ich diesmal nicht hinnehmen.

»Erzähl mir von deinem Vater«, bat ich ihn nach einer Weile.

Luke runzelte die Stirn.

»Ich hab schon viel mehr gesagt, als ich wollte.«

Das Eis hatte plötzlich seinen Geschmack verloren. Ich warf es in den nächsten Abfallkorb. Luke nahm es zur Kenntnis, verkniff sich jedoch eine Bemerkung dazu. Ich spürte, wie er sich Schritt für Schritt von mir entfernte, dabei gingen wir so dicht nebeneinander, dass unsere Schatten auf dem Pflaster ineinander verschmolzen.

Diese Schatten.

Ich konnte den Blick nicht von ihnen abwenden.

Wünschte, wir wären uns so nah wie sie.

Anfangs hatte ich die leise Hoffnung gehabt, Luke würde mich heute in seine Wohnung einladen und mir endlich zeigen, wo, wie und mit wem er lebte, doch das konnte ich nun vergessen.

Ich sehnte mich nach seiner Berührung, wünschte, er würde mich noch einmal so küssen wie eben, und wahrte doch stocksteif Abstand. Innerlich fluchend trottete ich neben ihm her und überlegte, wie ich den Graben zwischen uns überwinden könnte.

Gerade tastete ich zögernd nach Lukes Hand, als ich beinah mit einem Typen zusammenprallte. Im letzten Moment wichen wir beide aus und sahen uns lachend nacheinander um.

Überrascht blieb er stehen.

»Alex?«

Ich fühlte, wie Luke neben mir erstarrte.

»Alexej!«

Luke beschleunigte das Tempo und starrte finster zu Boden.

»Hey! Warte doch mal!«

Der Typ war uns gefolgt und hielt Luke am Arm fest. Forschend sah er ihm ins Gesicht. Dann strahlte er und schlug ihm auf die Schulter.

»Mensch, Alex! Was für ein Zufall!«

Luke schüttelte seine Hand ab.

»Du verwechselst mich.«

Der Typ grinste bis zu den Ohren.

»Red keinen Scheiß, Mann! Wie lange haben wir uns nicht mehr …«

Lukes Stimme wurde eisig.

»Ich kenne dich nicht, kapiert?«

Er fasste mich am Arm und ging so schnell davon, dass ich Mühe hatte mitzukommen.

»Die lassen sich auch immer neue Maschen einfallen, um sich den nächsten Joint zu erschnorren«, stieß er verächtlich hervor.

»Auf mich hat er nicht den Eindruck eines Kiffers gemacht.«

»Nicht?« Luke warf einen Blick über die Schulter und entspannte sich ein wenig. Endlich wurde er langsamer. »Wie hat er mich genannt? Alexej? Ist das nicht Russisch?«

»Warum regst du dich so auf?« Ich hakte mich bei ihm unter. »Er hat sich eben geirrt.«

Wieder sah Luke verstohlen zurück. Dann blickte er nach unten und entdeckte, dass ihm Eis auf die Hose getropft war. Ärgerlich wischte er es weg.

»Weißt du, dass jeder Mensch mindestens vier Doppelgänger auf der Welt hat?«, fragte er, nachdem er den Rest Eis vertilgt und sich die klebrigen Finger abgeleckt hatte.

Davon hatte ich noch nie gehört, und ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass es Luke in mehreren Ausführungen geben sollte.

Oder mich.

Ein beunruhigendes Bild.

»Ob sich vielleicht irgendwo einer deiner Doppelgänger in eine meiner Doppelgängerinnen verliebt hat?«, witzelte ich.

Aber Luke war nicht bei der Sache. Ständig schaute er sich um, als erwartete er, der Typ würde im nächsten Moment über ihn herfallen.

»Lass uns von hier verschwinden«, schlug er schließlich vor. »Mir gehen der Lärm und das Gedränge hier furchtbar auf den Keks.«

Alex, dachte ich. Alexej.

Die Theorie vom Doppelgänger klang einleuchtend. Aber warum hatte Luke diesen Typen dann so abfahren lassen? Und wieso wirkte er immer noch dermaßen nervös?

»Wir könnten ins Kino gehen«, sagte ich.

Luke wirkte alles andere als begeistert.

»Oder wir …«

»Ich hab tierische Kopfschmerzen, Jette.«

Erst jetzt fiel mir auf, wie blass er war.

»Okay.« Ich versuchte, mir die Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. »Möchtest du allein sein?«

»Wenn du mir nicht böse bist.« Er nickte. »Ich fahr dich natürlich nach Birkenweiler zurück.«

»Du, ich kann ganz gut allein auf mich aufpassen.«

Ich lächelte ihn an, um ihm zu zeigen, dass es mir nichts ausmachte, unseren Bummel zu beenden, kaum dass wir in Köln angekommen waren.

Luke gab mir einen Abschiedskuss auf die Wange und verschwand zwischen all den Menschen. Ich stand da und sah ihm nach, bis ich ihn nicht mehr erkennen konnte.

Alex, dachte ich. Alexej.

Eine Wolke zog über die Sonne, und ihr Schatten glitt über mich hinweg. Fröstelnd machte ich mich auf den Weg.

*

Merle öffnete die Tür zur Krankenstation des Katzenhauses einen Spaltbreit, schlüpfte hinein und schloss sorgfältig hinter sich ab.

Die Handgriffe waren ihr in Fleisch und Blut übergegangen. Zu Anfang ihrer Arbeit im Tierheim war ihr einmal eine Katze entwischt. Sie hatten sie nie wiedergefunden, und Merle hatte sich lange mit Schuldgefühlen gequält.

Vielleicht war sie überfahren worden. Vielleicht hatten Tierfänger sie eingefangen und an ein Versuchslabor verscherbelt. Vielleicht war ihr sonst was Schreckliches zugestoßen.

Natürlich konnte sie auch einer freundlichen Familie zugelaufen sein, aber die schlimmen Ahnungen überwogen, und aus diesem Grund war Merle seither fast schon übervorsichtig.

In der erst kürzlich eingerichteten Quarantäneabteilung (ein großes Wort für die beiden lausig kleinen Räume am Ende des Gangs) waren fünf Katzenwelpen untergebracht, die auf einem verlassenen Fabrikgelände neben ihrer erschlagenen Mutter gefunden worden waren. Sie alle litten an Katzenseuche, einer lebensgefährlichen, hochgradig ansteckenden Viruserkrankung.

Jede von ihnen lag in einem eigenen Gitterkorb am Tropf, über den sie eine Salzlösung mit Traubenzucker zugeführt bekamen. Sie hatten Durchfall und hohes Fieber und ihre Augen waren entzündet und verklebt.

Merle beugte sich über ihren Liebling und kraulte ihn vorsichtig hinter den winzigen Ohren. Er fiepte kurz, dann ließ er das Köpfchen wieder sinken. Behutsam streichelte sie mit dem Zeigefinger den ausgemergelten kleinen Körper. Das schwarze Fell war glanzlos und struppig, aber Merle wusste, wie seidenweich es sich anfühlen würde, wenn der kleine Kerl es schaffte.

Sie kontrollierte die Infusionsflaschen und die Wärme der Rotlichtlampen. Gegen Abend würde die Ärztin noch einmal nach den Kleinen sehen und dann kam es darauf an. Überlebten sie die kommende Nacht, waren sie über den Berg.

Merle nahm sich Zeit, um jedem Tier ein paar ausgiebige Liebkosungen zu geben. Sie wusste, dass Zärtlichkeit einer der besten Gesundmacher war.

Als sie das Katzenhaus wieder verließ, lief sie Jette in die Arme, die auf der Suche nach ihr war. Das kam selten vor, und obwohl Merle nicht der Typ war, der in ständiger Furcht vor Katastrophen lebte, zuckte sie zusammen. Sie überspielte das mit einem Lächeln, während sie sich fragte, wo Luke abgeblieben sein mochte. Jette hatte sich doch für diesen Nachmittag mit ihm extra freigenommen.

»Ich dachte, ihr macht Köln unsicher«, sagte sie.

»Hatten wir auch vor.«

Jette grinste wenig überzeugend, und Merle konnte erkennen, dass ihre Freundin den Tränen nahe war. Sie gab ihr einen kumpelhaften Klaps auf den Rücken und legte jede Menge Ungezwungenheit in ihre Stimme.

»Katzen gucken oder quatschen?«, fragte sie.

»Quatschen.«

Wenn Jette darauf verzichtete, die Neuzugänge zu begutachten, besonders bei so vielen hinreißenden Jungtieren wie in diesem Jahr, dann war sie wirklich mies drauf. Merle hakte sich bei ihr ein und sie spazierten schweigend zum Büro.

Das Türschloss klemmte seit einigen Wochen. Als hätte sich jemand daran zu schaffen gemacht, der dort nichts zu suchen hatte. Aber es waren keine Kratzer zu erkennen, deshalb hatten sie darauf verzichtet, die Polizei zu rufen.

Merle ließ Jette den Vortritt. Die Unordnung im Büro spiegelte den chaotischen Alltag im Tierheim wider. Sie hatten selten das Glück, eine Arbeit in Ruhe zu Ende führen zu können. Immer kam etwas dazwischen. Kein Tag verlief ohne Notfall. Immer ging irgendwas schief. Und das Telefon nervte von morgens bis abends.

Überall lagen Sachen herum. Prospekte, Zeitungen, Hundeleinen, Handschuhe, Post. Dann und wann platzte einem der Mitarbeiter der Kragen und er schaffte eine begrenzte Ordnung, doch sofort müllte alles wieder zu.

»Du hast dir den richtigen Zeitpunkt ausgesucht«, sagte Merle. »Im Moment ist es ruhig. Möchtest du was trinken?«

»Am liebsten Saft. Wenn welcher da ist.«

»Machst du Witze? Der Kühlschrank geht kaum noch zu, so voll ist er. Du kannst wählen zwischen Orangensaft, Orangensaft und … äh … Orangensaft.«

»Dann bitte Orangensaft.«

Merle schmunzelte. Das war immerhin ein Anfang.

»Der Kollege, der heute mit mir Dienst hat, ist gerade mit zwei Hunden bei der Tierärztin, und Frau Donkas hat einen Außentermin. Sie kommt erst spät zurück.«

Das war günstig, denn die Leiterin des Tierheims sah Privatbesuche während der Arbeitszeit nicht gern.

Jette räumte sich einen Stuhl frei und setzte sich an den Tisch, auf dem drei benutzte Tassen neben drei Tellern mit Kuchenkrümeln vor sich hingammelten. Merle stellte die Gläser dazu und rollte sich ihren Schreibtischsessel heran.

»Schieß los.«

Jette klammerte sich förmlich an ihr Glas. Sie hielt es mit beiden Händen umfasst, nippte daran und starrte in den Orangensaft, als versuchte sie, das erste Wort darin zu finden.

»Irgendwas stimmt nicht mit Luke.«

»Ach? Bist du auch schon darauf gekommen?«

Merle hätte sich die Zunge abbeißen können. Sie hatte nicht vorgehabt, Jette zu provozieren. Ihre Freundin brauchte jetzt ihre volle Unterstützung und keine dummen Sprüche.

»Entschuldige. Was stimmt nicht mit ihm?«

Aber Jette hatte gar nicht hingehört. Grübelnd verrieb sie das Schwitzwasser auf ihrem Glas mit den Fingerkuppen.

»Jemand hat ihn Alex genannt.«

»Wer?«

»Ein Typ, der uns in der Innenstadt entgegengekommen ist. Er hat sich irre gefreut, Luke zu sehen, und nannte ihn zuerst Alex, dann Alexej.«

»Ja. Und?«

»Findest du das nicht sonderbar?«

»Nö. Verwechslungen passieren doch dauernd, vor allem in einer Großstadt wie Köln.«

»Der Typ schien ganz sicher.«

»Vielleicht hat Luke einen Doppelgänger. Ich hab mal gelesen, dass jeder Mensch sogar vier davon …«

»Ich weiß.«

Jette trank ihr Glas leer und stellte es auf den Tisch. Ihre Augen hatten sich verdunkelt. Sie schien gar nicht richtig hier zu sein.

»Was genau beschäftigt dich dann so?«, fragte Merle.

Es dauerte lange, bis die Freundin antwortete, und ihre Stimme war so leise, dass Merle sie kaum verstehen konnte.

»Ich frage mich, wer Luke ist. Kannst du mir das sagen, Merle? In wen habe ich mich da verliebt?«

Merle war nicht auf den Mund gefallen, doch darauf wusste sie keine Antwort. Sie fragte sich ja selbst, wer dieser Lukas Tadikken war, der vor vier Monaten Jettes Weg gekreuzt und alles durcheinandergewirbelt hatte.