Und du wirst lächelnd sterben - Monika Feth - E-Book

Und du wirst lächelnd sterben E-Book

Monika Feth

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Beschreibung

meine hände werden deine haut erglühen lassen, meine zunge wird deine lippen verbrennen, meine liebe wird dich töten, Und du wirst lächelnd sterben

Ivy ist auf der Flucht. Vor wem oder warum, daran erinnert sie sich nicht. Sie kennt nur ihren Vornamen. Ohne Geld, Handy und Papiere, ausgehungert und mit fremdem Blut an den Kleidern findet sie Unterschlupf in der Pension eines kleinen Orts. Als sie allmählich anfängt, sich zu erinnern, weiß sie, dass sie auch hier nicht sicher ist. Sie taucht in einem Ferienort am Meer unter und findet Arbeit im Bistro eines Strandhotels. Doch in den Nächten wird sie immer wieder von Albträumen heimgesucht – was hat sie gesehen? Und wieso will sie auf gar keinen Fall zur Polizei gehen?

Ein unter die Haut gehender fulminanter Thriller mit einer starken Heldin – von der SPIEGEL-Bestsellerautorin der »Erdbeerpflücker«-Reihe

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Seitenzahl: 470

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Monika Feth

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Deshalb findet ihr auf der letzten Seite eine Triggerwarnung.

Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch.

Euer cbj-Verlag

© 2023 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten

Covergestaltung: buxdesign | München

unter Verwendung eines Motivs von Daniela Hofner

he · Herstellung: UK

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-20758-8V002

www.cbj-verlag.de

Alles, was man vergessen hat, schreit im Traum um Hilfe.

Elias Canetti, »Die Provinz des Menschen«

TEIL EINS

1.

Sie wusste nicht, wie lange sie schon unterwegs war. Sie wusste erst recht nicht, wohin. Etwas trieb sie voran, immer und immer weiter.

Straßen. Häuser. Felder. Wiesen. Ab und zu ein Wald.

Längst befand sich ihr Körper im Ausnahmezustand. Jeder einzelne Muskel schmerzte, kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn. Der Hunger war kaum noch spürbar, aber der Durst brachte sie fast um.

In einem kleinen Ort, dessen Häuser still im gleißenden Sonnenlicht standen, stieß sie auf einen Brunnen. Mitten auf dem leeren Marktplatz warf sie sich über seinen Rand und trank wie eine Verdurstende. Sie benetzte ihr Gesicht mit dem erfrischenden Wasser und kühlte sich die Handgelenke. Wie gut das tat …

Kein Mensch war zu sehen. Verlassen lagen die Geschäfte da. Sie drehte sich um sich selbst, um sich zu orientieren, doch nichts von dem, was sie erblickte, schien ihr vertraut. Dünn schlug die Uhr im Rathausturm.

Eins. Zwei. Drei.

Ein Sommernachmittag. Das war die einzige Gewissheit, die sie besaß. Es war drei Uhr an einem heißen Sommernachmittag, und sie befand sich auf dem Marktplatz eines Ortes, in dem sie offenbar noch nie gewesen war. Sicherlich stand der Name auf einem Ortsschild, an dem sie vorbeigekommen sein musste, doch sie hatte ihn entweder nicht wahrgenommen oder wieder vergessen.

Sie hätte sich gern auf dem Brunnenrand niedergelassen, eine Hand ins Wasser getaucht und sich ausgeruht. Doch da traten plötzlich Menschen ins Bild, vier Mädchen, die schwatzend und lachend mit ihren Handys beschäftigt waren.

Sofort setzte sie sich wieder in Bewegung. Sie wich den Mädchen aus, um jede Berührung mit ihnen zu vermeiden, nahm aus den Augenwinkeln einen Mann wahr, dessen Gestalt so dunkel war wie sein Schatten. Schmeckte die Panik, die schon seit einer geraumen Weile in ihr gelauert hatte, auf der Zunge.

Geduckt verließ sie den Marktplatz und floh.

Vor was?

Vor wem?

Warum?

Wie konnte man eine solche Angst haben, ohne ihre Ursache zu kennen?

Sie hatte den kleinen Ort längst wieder verlassen, als ihr einfiel, dass sie ein weiteres Mal nicht auf seinen Namen geachtet hatte.

*

hab dir meine liebe gezeigt

und es vergeigt

hast meine gefühle ignoriert

mich kaltlächelnd abserviert

grausamer engel

Verärgert klappte Marvin Rauschenbach den Laptop zu, als er Schritte hörte, die sich auf dem Flur näherten. Doch dann entfernten sie sich in Richtung Fahrstuhl und er klappte den Laptop wieder auf.

Man durfte ihm jederzeit über die Schulter sehen, jedoch nicht bei dem hier.

im schatten deiner flügel so kalt

eis im herzen

überall schmerzen

lieben oder hassen

nichts dazwischen

ist es so schwer

sich lieben zu lassen

hab mich verlorn auf dem weg zu dir

bin nicht angekommen und nicht mehr hier

schweb irgendwo

im gottverfluchten nirgendwo

Rap-Songs zu schreiben half ihm, seine Emotionen zu drosseln. Nicht auszurasten. Auf dem Boden zu bleiben. Es war auf eine seltsame Art wie Boxen. Innerliches Auspowern nannte er es für sich.

Nach dem Boxtraining war er schweißgebadet und fühlte sich topfit. Nach der Arbeit an einem Songtext war es ähnlich, nur dass die in seinem Kopf stattfand und ihm nicht die Nase brechen konnte.

Das Texten und das Boxen, beides brauchte er so nötig wie die Luft zum Atmen.

dreh dich nicht um

renn um dein leben

ich schwör

ich werd dir nie vergeben

Im wahren Leben hatte er es nicht immer so mit Reden. Häufig fehlte ihm die Lust, überhaupt den Mund aufzumachen. Lieber ließ er Taten sprechen. Es wurde zu viel geredet auf dieser Welt. Das vergeudete bloß Energie, ohne irgendwohin zu führen.

Bei der Arbeit an seinen Songs dagegen badete, schwelgte er geradezu in Worten. Stülpte sein Innerstes nach außen, ohne Vorsicht, ohne Reue. Ohne auf irgendwen oder irgendwas Rücksicht zu nehmen. Nicht mal auf sich selbst.

Das war ungeheuer wohltuend. Befreiend. Klärend.

bin dein verdammter GOTT

verfall mir

keinem sonst

Dieser Text trieb ihn an den Rand des Wahnsinns. Und doch war es nötig, ihn zu schreiben. Er musste sich beruhigen, denn ihm war danach, auf die Straße zu stürmen und die Windschutzscheiben sämtlicher Fahrzeuge zu zertrümmern, die ihm in die Quere kamen.

Das Bedürfnis, wild um sich zu schlagen und mit seiner Dienstwaffe loszuballern, überfiel ihn nicht zum ersten Mal. Und nicht zum ersten Mal machte er sich klar, dass ihm das nichts bringen würde. Es würde ihn lediglich seinen Job kosten.

meine hände werden

deine haut erglühen lassen

meine zunge wird

deine lippen verbrennen

meine liebe wird

dich töten

und du

wirst

lächelnd

sterben

Seinen Job brauchte er so dringend wie das Boxen und das Schreiben.

Und die Jungs. Denen er alles anvertrauen konnte.

Fast alles.

Mit denen er eine verschworene Gemeinschaft bildete, seit sie in diesem Präsidium gelandet waren. Sie hatten das gleiche Alter, was ihm, als sie ihren Dienst angetreten hatten, wie ein Zeichen erschienen war.

Seite an Seite sorgten sie dafür, dass die Welt von den größten Arschlöchern befreit wurde. Und halbwegs sauber blieb. Halbwegs, denn die Schweine, die sie hinter Gitter gebracht hatten, wuchsen so schnell wieder nach, wie sie aus dem Verkehr gezogen wurden.

Für Ordnung zu sorgen, war eine Sisyphusarbeit, selbst in einer überschaubaren Stadt wie dieser. Sie konnten nur ihr Bestes geben, Tag für Tag. Und hoffen, dass es nicht schlimmer wurde.

Mit Mitte zwanzig waren sie zu jung für Anpassung und Kompromisse. Sie hatten nicht vor, sich jemals verbiegen zu lassen, das hatten sie sich geschworen.

Wieder näherten sich Schritte. Diesmal wurde die Tür aufgestoßen. Es war Alan, der mit dem Smartphone am Ohr zu seinem Schreibtisch ging und hektisch in irgendwelchen Unterlagen blätterte.

»Hey, Alter.« Marvin zwang sich zu einem Grinsen. »Hummeln im Hintern?«

Doch Alan antwortete nicht. Er schnappte sich seine Tasche, deutete auf seine Armbanduhr und eilte, weiter telefonierend, wieder hinaus.

*

Erst nachdem sie den Wald betreten hatte, atmete sie auf. Hier fühlte sie sich geschützt und vor neugierigen Blicken verborgen. Der weiche Boden gab sanft unter ihren Schritten nach. Sonnenlicht träufelte durch das Blätterdach der Laubbäume. Das Grün der Tannennadeln glitzerte wie Smaragd.

Ausruhen. Nur für einen kostbaren Moment. Kurz die Augen schließen, die vor Erschöpfung brannten.

Sie ließ sich auf einem der üppigen Mooskissen nieder, die überall dazu aufzufordern schienen, lehnte sich mit dem Rücken an den Stamm einer mächtigen Tanne und legte den Kopf zurück.

Auch hier war sie nicht sicher, doch sie konnte nicht mehr.

Nur ausruhen, dachte sie. Nicht einschlafen. Nur ausruhen.

Das bunte Licht flirrte ihr vor den Augen. Sie betrachtete die Blätter, die sich im Windhauch bewegten. Wenn ich ein Vogel wär, dachte sie, würd ich ihn spüren da oben, den Wind.

Wenn sie ein Vogel wär, könnte sie mehr als das. Sie könnte einfach wegfliegen und alles hinter sich lassen. Alles.

Was immer das sein mochte.

Als sie aufwachte, hatte sie Mühe, sich zurechtzufinden. Ihr Kopf war leer. Da war keine Information, die sie abrufen konnte, kein einziger noch so winziger Hinweis auf ihre Lage. Als hätte jemand oder etwas die Festplatte ihres Gehirns gelöscht.

Am liebsten hätte sie sich auf dem angenehm kühlen Moos ausgestreckt und wär wieder eingeschlafen. Aber vielleicht schlief sie ja noch. Steckte in einem Traum fest, der so realistisch war, dass sie ihn für die Wirklichkeit hielt.

War das möglich?

Konnte man in einem Traum darüber nachdenken, ob man träumte?

Ihr Magen schmerzte. Sie legte die Hände darauf, um ihn zu besänftigen. Doch das half nicht. Schwankend vor Müdigkeit kam sie auf die Füße und klopfte sich ein paar trockene Blätter vom Rock. Sie musste weiter, durfte keine Zeit verlieren, wenn sie auch den Grund dafür nicht kannte.

Sie wusste nur eines: Sie musste weg. Bloß weg von hier.

Am Rand einer Lichtung entdeckte sie Walderdbeeren und lachte vor Freude. Es war ein Lachen, das sie nicht kannte, hoch, schrill, laut. Es scheuchte ein paar Vögel auf, die schimpfend davonflogen. Erschrocken hielt sie sich den Mund zu und sah sich um.

Das einzige Lebewesen, das sie erblickte, war ein rotbraunes Eichhörnchen, das sie mit großen Augen anstarrte, bevor es davonflitzte und den Stamm eines Baums hinaufhuschte.

Die Erdbeeren waren klein und unscheinbar, aber sie schmeckten herrlich süß, und es gab unzählige davon. Sie verschlang sie gierig.

Bis ihr Blick auf ihre Finger fiel, rot vom Saft der Früchte.

ROT …

Alles drehte sich vor ihren Augen. Lautlos sank sie zu Boden. Dorthin, wo nichts mehr sie erreichte.

Als sie wieder zu sich kam, hatte sie den Eindruck, es seien Stunden vergangen, doch das konnte nicht sein – das Licht hatte sich nicht verändert. Sie rappelte sich auf und taumelte weiter.

Über Stock und über Steine …

Irgendwo in ihrem Kopf hörte sie Fetzen einer leisen Melodie, die etwas in ihr anklingen ließen.

… aber brich dir nicht die Beine …

Jemand sang diese Melodie. Sie selbst? Wie lange war das her? Wo war das gewesen?

Hopp, hopp, hopp, Pferdchen, lauf Galopp.

Tränen traten ihr in die Augen. Energisch wischte sie sie fort. Sie war nicht der weinerliche Typ.

Oder doch?

Ihr fiel auf, dass sie tatsächlich NICHTS über sich selbst wusste. Rein GARNICHTS. Sie hatte nicht einmal eine Vorstellung davon, wie sie aussah.

Verstört blieb sie stehen. Sie betrachtete ihre Hände. Zart und schmal mit kurz geschnittenen Nägeln. Sie fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Schulterlang, weich und voll. Es war kupferrot. Auch das hatte sie nicht gewusst.

Um nicht zu verzweifeln, setzte sie sich wieder in Bewegung. Doch ihre Unsicherheit begleitete sie und quälte sie mit weiteren Fragen. Wie alt war sie? Ihre Hände, die Haut der Arme und Beine gaben keinen Aufschluss darüber.

»Hallohallohallo«, sagte sie leise.

Ihre Stimme hörte sich jung an und klar. Eine angenehme Stimme, fand sie und freute sich darüber. Eine Stimme, zu der sie gern gehörte. Mit der sie sich weniger allein fühlte.

Und sonst? Sie musste doch Eltern haben. Freundinnen. Freunde. Eine Familie, in der sie aufgehoben war. Eine Wohnung. Jeder Mensch wohnte irgendwo. In einer Stadt. Einem Dorf. Einem Haus.

Hatte sie einen Beruf? War sie noch in der Ausbildung? Studierte sie?

WIESOWUSSTESIEDASALLESNICHT?

Und wovor fürchtete sie sich dermaßen, dass sie ihre Schritte beschleunigte, bis sie schließlich rannte?

Über Stock und über Steine … hopp, hopp, hopp …

Zumindest daran konnte sie sich festhalten, an diesen wenigen Worten und der kleinen, vertrauten Melodie in ihrem Kopf.

Gut möglich, dass sie im Kreis lief. Sie hatte nicht auf die Umgebung geachtet. Lediglich Kleinigkeiten waren ihr aufgefallen. Das leuchtende Weiß winziger sternförmiger Blüten am Rand eines Waldwegs. Auf einem Stein ein hellbrauner Frosch, der nicht größer war als eine Zwei-Euro-Münze. Oder war es eine Kröte gewesen? Ein Mückenschwarm über einem versandenden Tümpel.

Kaum Menschen in den Dörfern. Die Rollläden waren heruntergelassen, um die Hitze auszusperren, die schwer auf den Dächern lastete. Sie hatte halb verfallene Holzscheunen gesehen und abgehalfterte Traktoren, die auf noch nicht gemähten Wiesen vor sich hin rosteten. Ab und zu Musik aus einem der Häuser gehört und Kinderstimmen.

Kein einziger Ortsname war in ihr Bewusstsein gedrungen. Kein einziger … Wie elektrisiert blieb sie stehen … Name …

Mit einem Mal tauchte aus den Tiefen ihres Gehirns eine Erinnerung auf. Zunächst blass und undeutlich, nahm sie schmerzhaft und unendlich langsam Gestalt an.

I… V… Y…

IVY!

In der schrecklichen Unsicherheit, in der sie sich wie in einem Albtraum bewegte, wusste sie plötzlich mit absoluter Sicherheit, dass sie Ivy hieß.

Ein Schluchzen stieg in ihrer Kehle auf, gefolgt von Tränen der Erleichterung. Sie hatte etwas gefunden. Etwas, das ihr Halt gab.

Ihren Namen.

Den konnte ihr niemand mehr nehmen.

Unmerklich veränderte sich das weiße Licht der Hitze. Es sog sich mit Schwere voll, bis es schließlich goldgelb auf den Dingen lag. Es wurde wohl allmählich Abend.

Sie fragte sich, wie spät es sein mochte.

Wieso trug sie keine Uhr am Handgelenk? Jeder Mensch besaß doch eine Uhr. Zeit war zu kostbar, um sie leichtfertig zu verschwenden.

Stimmte das? Dachte sie so?

Oder war sie im Gegenteil jemand, der mit leichter Hand über die Stunden verfügte?

Eigentlich nämlich war Verschwendung ein Wort, das ihr ein gutes Gefühl vermittelte. Sie musste dabei an Frauen mit üppigen, leidenschaftlichen Formen denken. An festliche Tische, die sich unter den köstlichsten Speisen bogen. An Lippen, die von Rotwein glänzten. An Schalen voller Früchte. Erdbeeren. Weintrauben. Kirschen …

Vor ihr lagen die ersten Häuser eines weiteren Orts.

Des wievielten? Sie hatte sie nicht gezählt.

Die Spatzen rotteten sich bereits in den hohen Bäumen zusammen. Die Schatten waren lang geworden. Auf einem Bauernhof jaulte verlassen ein Hund. Aus dem Stall drang das blecherne Scheppern eines Eimers. Kaffeeduft stieg Ivy in die Nase und vor ihren Augen erschien die Fata Morgana einer riesigen Sahnetorte.

Ich heiße Ivy, dachte sie und klammerte sich an dieser Gewissheit fest, als sie sich mit müden Schritten in den Ort schleppte.

2.

Die Jungs warteten bereits auf ihn, wie meistens. Marvin hörte ihre Stimmen auf dem Flur und auch die fieberhafte Rastlosigkeit darin. So ein Tag heizte die Gemüter auf. Da kamen Emotionen hoch, die ein Ventil brauchten. Deshalb gingen sie nach Dienstschluss oft noch auf ein paar Bier ins Suzie.

Keiner wusste, woher der Name der Kneipe kam und was er bedeutete. Mit Eli, der Wirtin, konnte er nichts zu tun haben. Eli hieß eigentlich Elisabeth, hasste ihren Vornamen jedoch mindestens so sehr, wie sie ihre Großmutter gehasst hatte, nach der sie getauft worden war.

Die attraktive Mittvierzigerin war die geborene Kneipenwirtin. Mit ihrer barschen, unerschrockenen Art konnte sie selbst gestandene Männer zusammenfalten, wenn es sein musste, und das war oft genug der Fall.

Uns aber nicht, dachte Marvin.

Sollte ihr jemals einfallen, es zu versuchen, würde sie schon sehen, was sie davon hatte. Sie schien das zu spüren, denn sie behandelte die Freunde mit so viel Höflichkeit, wie sie zustande brachte, wahrte stets eine gewisse Distanz.

Draußen lachte Alan lauthals auf und Niklas fiel in das Lachen ein. Marvin seufzte. Er wurde nicht gern gedrängt. Das machte ihn nervös. Die Stimmen der Jungs entfernten sich den Flur hinunter. Das bedeutete, dass sie schon mal rausgingen, um sich das Warten mit einer Zigarette zu vertreiben.

Gut. Noch Zeit für die letzten Zeilen.

du bist’s nicht wert

bloß kapiert mein herz nicht

was mein gehirn längst weiß

ziehst meine liebe

in den dreck

verdienst meinen

H A S S …

Er sicherte den Text, klappte den Laptop zu und packte ihn in seine Umhängetasche. Seine privaten Sachen vertraute er ausschließlich seinen eigenen Geräten an. Er wusste selbst am besten, wie leicht man Daten ausspionieren konnte.

Das Wort Hass klang noch in ihm nach, als er in den Toilettenraum ging.

Hass.

Ein überwältigendes Gefühl. Ehrlich, kraftvoll und unverfälscht.

Er kühlte sich das Gesicht unter fließendem kaltem Wasser, löste das Gummiband, mit dem er sein schwarzes Haar im Nacken zusammenhielt, kämmte es mit nassen Fingern und musterte sich im Spiegel.

Ihm gefiel, was er sah. Ein gutes, gebräuntes Gesicht mit hohen Wangenknochen. Eine nur leicht schiefe Nase, die kaum verriet, dass sie schon mehrfach gebrochen worden war. Kräftige, gerade gewachsene Zähne.

Und dann die Augen.

Eisblau.

Er hatte einen so intensiven Blick, dass er Menschen allein damit einschüchtern konnte. Damit und mit seinem durchtrainierten Körper, in den er Stunde um Stunde seiner Zeit investierte.

Zufrieden kehrte er in das Büro zurück, das er sich mit Alan teilte, hängte sich seine Tasche über die Schulter und trat auf den Flur.

Er verzichtete auf den Fahrstuhl und nahm die Treppe. Nachdem er den Nachmittag mit ödem Schreibkram verbracht hatte, lechzte er nach Bewegung. Er wünschte den Kollegen am Empfang einen ruhigen Dienst und verließ das Gebäude.

Niklas hatte sich umgezogen. Im Suzie waren sie privat. Da hatten Uniformen nichts verloren. Es war wichtig, irgendwo man selbst sein zu können.

Marvin und Alan arbeiteten in ziviler Kleidung. Von Anfang an hatten sie zur Kripo gewollt, anders als Niklas, der bei der Schutzpolizei ganz zufrieden war. Das erwies sich immer wieder als Glücksfall für sie.

Es war nicht übel, einen Fuß in beiden Türen zu haben.

Auf dem Parkplatz wurde Marvin voller Ungeduld empfangen. Sein Grinsen vertiefte sich. Egal, wie lange er brauchte, um zu ihnen zu stoßen: Alan und Niklas würden immer und jederzeit auf ihn warten. Sie taten das, seit sie einander kannten.

Eine gemeinsame Weltanschauung mit gemeinsamen Visionen war ein zuverlässiges Fundament, und die Rangordnung zwischen den Freunden wurde nie infrage gestellt – Marvin war der Leitwolf. Und ohne den Leitwolf lief nichts.

*

Das Haus hatte in seinem langen Leben etliche Wunden davongetragen. Die Mauern, ehemals weiß, hatten einen grauen Farbton angenommen. Hier und da zeigten sich die grünlichen Flecken ständiger Feuchtigkeit.

Das rot gedeckte Dach war mehrfach geflickt. Man hatte dazu offenbar Restbestände alter Ziegel verwendet, die gerade zur Verfügung gestanden hatten. Jetzt war es rot, schwarz und braun gescheckt und von Flechten und Moos überzogen.

Der Vorgarten war ein einziges Chaos. Alles wuchs und blühte durcheinander. Die Pflanzen lieferten sich einen erbarmungslosen Kampf ums Überleben. Inmitten dieser Wildnis stand ein verrosteter, vorsintflutlicher Herd mit elfenbeinfarbener, an etlichen Stellen abgeplatzter Emaille, auf dem ein von blauer Clematis umranktes weißes Schild stand.

Marleen Husmann.

Pension.

Der Gedanke an etwas Essbares und ruhigen, ungestörten Schlaf in einem frisch bezogenen Bett zog Ivy magisch an. Ein sauberes kleines Zimmer erschien vor ihren Augen. Alter Holzfußboden. Wenige Möbel. Ein Blumenstrauß auf einem einfachen Eichentisch.

Sie hatte die Hand bereits auf die Klinke des niedrigen Gartentors gelegt, als sie noch einmal zögerte. Sie hob den Kopf. Lauschte. Ihre Nasenflügel blähten sich.

Sie witterte eine Gefahr. Fern. Undeutlich.

Die Sehnsucht nach einem Ort, an dem sie ausruhen konnte, überwog. Sie drückte die Klinke hinunter und machte das Törchen auf.

Das rostige Quietschen ließ sie erstarren. Ihr Blick huschte über die Front des Hauses. Da! Hatte sich hinter einem der Fenster nicht die Gardine bewegt? Sie kniff die Augen zusammen und starrte angestrengt auf die Gardine, die leicht zu schaukeln schien.

Jemand beobachtete sie.

Sie trat einen Schritt zurück und zog das Tor rasch wieder zu. Es schloss sich mit einem neuerlichen Quietschen. Erst jetzt wurde ihr die Stille bewusst, die hier herrschte. Müsste man nicht irgendwas hören? Das Kläffen eines Hundes? Das Maunzen einer Katze? Das Geräusch eines fahrenden Autos?

Bloß weg!

Der Gedanke war kaum in ihrem Kopf, als sie sich auch schon umgedreht hatte, um die Flucht zu ergreifen. Sie prallte beinah mit einer Frau zusammen, die unbemerkt so nah herangekommen war, dass sie einander mit ausgestreckter Hand hätten berühren können.

»Wollen Sie zu mir?«

Die Stimme der fremden Frau war voller Wärme, auch wenn ihre Augen nicht lächelten, eher vorsichtig wirkten und genau zu beobachten schienen. Ein Widerspruch, der Ivy Kopfzerbrechen bereitete. Sie dachte noch darüber nach, als die Frau sich an ihr vorbeischob, das Törchen öffnete und den kopfsteingepflasterten Weg zum Haus betrat.

»Kommen Sie«, sagte sie und ging voran, ohne sich noch einmal nach Ivy umzudrehen.

Ivy folgte ihr. Es gelang ihr kaum noch, sich auf den Beinen zu halten. Sie hatte keine Wahl.

Ob die Frau Marleen Husmann war? Gehörte ihr die Pension? Arbeitete sie bloß hier?

Das ruhige Selbstbewusstsein, mit dem sie ihre Handtasche öffnete, um einen Schlüsselbund herauszuziehen, an dem mindestens zehn Schlüssel befestigt waren, entsprach nicht der Art und Weise, wie eine Angestellte dies tun würde. Sie benahm sich wie jemand, der ganz selbstverständlich die Tür zu seinem Zuhause aufschließt und dies schon unzählige Male getan hat.

Sie betraten eine geräumige Diele, in der es schummrig und angenehm kühl war. Die Frau ließ ihre Tasche auf einen antiken Tisch fallen, der neben der Tür stand. Sie strubbelte sich mit beiden Händen durch das dunkel gelockte Haar, das ihr bis auf die Schultern reichte.

Abschätzend musterte sie Ivy und griff dann zu einem von zwanzig altmodischen großen Schlüsseln, die über dem Tisch an einem nummerierten Brett an der Wand hingen.

»Zimmer sieben«, sagte sie und reichte ihn Ivy.

Der Schlüssel war an einer walnussgroßen Metallkugel befestigt, wie man sie in alten Hotels fand. Unter der abgegriffenen Goldfarbe kam ein silberner Ton zum Vorschein.

»Ich denke, das Zimmer passt zu Ihnen. Möchten Sie sich frisch machen? Und dann eine Tasse Tee mit mir trinken?«

»Ich …«

»Und falls Sie hungrig sind – es gibt auch ein leckeres Stück Erdbeertorte.«

Mit diesen Worten verschwand sie in einem Raum, in dem offenbar die Küche untergebracht war. Ivy konnte einen Geschirrschrank erkennen, durch dessen Glastüren gehäkelte Spitze schimmerte.

Sie schaute sich um. An keiner der Türen hier unten war eine Zahl angebracht. Daraus schloss Ivy, dass sich die Gästezimmer oben befinden mussten. Langsam stieg sie die mit blauem Teppichboden ausgelegten Stufen der knarrenden Holztreppe hinauf.

Was tat sie hier?

Sie besaß kein Geld, um das Zimmer zu bezahlen. Sie hatte keine Papiere bei sich, keine Tasche. Besaß nichts als die Kleidung, die sie auf dem Leib trug, und die schien reichlich ramponiert.

Schlafen, dachte sie. Nur ein paar Stunden.

Die Sehnsucht danach war so übermächtig, dass sie alle anderen Gedanken überwog.

Das Zimmer war aufgeladen von der Hitze des Tages, obwohl die schweren Vorhänge zugezogen waren. Sie waren so ausgeblichen, dass sie keine Farbe mehr besaßen, falls sie jemals eine gehabt hatten. Bett, Schrank, Tisch, zwei Stühle und ein Waschbecken, das durch einen fadenscheinigen Wandschirm vom übrigen Zimmer abgetrennt war.

Das Bettzeug hatte ein Streublumenmuster in Rosa und Blau. Es wirkte frisch und sauber, und Ivy konnte der Versuchung nicht widerstehen, sich für einen Augenblick hineinzulegen.

Nur kurz die Augen schließen. Dann würde sie sich waschen und danach runtergehen, um die versprochene Tasse Tee zu trinken.

Nur kurz die Augen schließen, ohne einzuschlafen.

Nur ganz kurz.

Nur …

Im Traum stand sie vor einem Koffer, in dem sich lauter fremde Kleidungsstücke befanden. Eine Fotografin wartete im Nebenzimmer auf sie, um Fotos zu schießen, die aus irgendeinem Grund sehr wichtig waren. Dazu musste Ivy sich umziehen.

Doch nichts in dem Koffer passte oder entsprach auch nur annähernd ihrem Geschmack. Die Fotografin, die allmählich die Geduld verlor, pochte gegen die Tür …

Ivy riss die Augen auf.

Ein leises Klopfen. Zunächst fand sie sich nicht zurecht, doch dann erkannte sie die Umgebung wieder.

»Alles in Ordnung?«

Die Stimme von Marleen Husmann klang beunruhigt. Wahrscheinlich stand sie da, das Ohr an der Tür, und lauschte.

»Alles okay …«

»Dann ist’s gut.«

Ivy stand auf und schaute prüfend an sich hinunter. Ein kurzer, ehemals weißer Sommerrock und ein himbeerfarbenes T-Shirt. Vor dem Bett hatte sie die Schuhe abgestreift, weiße Sandalen, so zart, dass sie sich fragte, wie dieser Hauch von Leder den Gewaltmarsch der vergangenen Stunden (oder Tage?) überstanden haben mochte.

Sie betrachtete ihre Füße. Sie waren voller Staub. Die Fersen fühlten sich rau an. Unter den Nägeln zeigten sich schwarze Schmutzstreifen.

Auch ihre Klamotten waren schmutzig. Zwischen den Brüsten zeigte die Bluse einen handtellergroßen dunklen Fleck.

Ivy betastete ihn. Er fühlte sich anders an als das übrige Gewebe. Verhärtet. Kratzig. Als sei irgendeine Flüssigkeit dort eingesickert und getrocknet.

Über dem Waschbecken hing ein Spiegel. Ivy hatte Angst, hineinzuschauen, und doch trat sie mit zögernden Schritten auf ihn zu. Was, wenn sie das Gesicht darin nicht erkannte? Wenn sie einer Fremden in die Augen blickte?

Was, wenn dieses Gesicht sie angrinste?

Sie sich vor ihm fürchtete?

Mit geschlossenen Augen stand sie vor dem Waschbecken und sammelte Mut. Dann traute sie sich endlich, die Augen zu öffnen.

In banger Erwartung schaute das Mädchen im Spiegel sie an. Musterte ihr Gesicht, ihr Haar und das wenige, das man vom restlichen Körper erkennen konnte. Ivy ihrerseits musterte das Mädchen und versuchte, sich einzuprägen, was sie da erblickte.

Schulterlanges, kupferrotes Haar, in dem sich ein paar kleine trockene Blätter verfangen hatten. Dunkelblaue, beinah violette Augen in einem erschöpftem Gesicht. Rissige Lippen. Eine leichte Verletzung am Kinn, ein wenig getrocknetes Blut. Gesicht und Hals verdreckt, als hätte sie Tage im Wald und auf der Straße verbracht.

Hatte sie das?

Wie lange war sie schon unterwegs?

Kein Wiedererkennen. Nichts, das etwas in ihrem Kopf auslöste.

Die Augen des Mädchens im Spiegel füllten sich mit Tränen. Ivy spürte, wie sie ihr kitzelnd über die Wangen rollten.

»Wer bist du?«, flüsterte sie.

Sie nahm einen der beiden Waschlappen, die auf dem Beckenrand bereitlagen, und begann, ihr Gesicht zu säubern. Als sie die verletzte Stelle am Kinn berührte, zuckte sie zusammen, doch sie machte weiter, spülte den Waschlappen aus und betrachtete das schmutzige Wasser, das in den Abfluss lief.

Die Haut an ihren Beinen war von Kratzern bedeckt und die Berührung mit Wasser und Seife tat weh. Ivy biss die Zähne zusammen und arbeitete sich bis zu den Zehen vor.

Schließlich wagte sie es, die Bluse abzustreifen.

Und sog entsetzt die Luft ein.

Die Haut zwischen ihren Brüsten war dunkel von geronnenem Blut.

Behutsam tastete sie ihren Oberkörper ab, ohne eine Wunde zu finden. Sie griff nach dem zweiten Waschlappen und führte ihn vorsichtig über die Brüste. In das Schmutzwasser mischte sich das Rot des Bluts. Ein leicht metallischer Geruch stieg ihr in die Nase.

Bevor die erneut aufflammende Panik sie überwältigen konnte, zog sie Rock und Slip aus und reinigte sich weiter, so gut es möglich war.

Nachdem sie sich abgetrocknet hatte, hielt sie den Kopf unter den Wasserstrahl und schäumte sich die Haare mit Shampoo aus einer kleinen Probepackung ein. Es duftete nach grünen Äpfeln, und sie erkannte den Duft, ohne ihn jedoch mit etwas Bestimmtem in Verbindung bringen zu können.

Erst als sie sich halbwegs sauber und ein bisschen erfrischt fühlte, sah sie wieder in den Spiegel.

»Ich heiße Ivy«, flüsterte sie.

Der Name war mehr, als das Mädchen im Spiegel vorzuweisen hatte. Er war ein Stück ihrer Vergangenheit. Ein Teil ihrer selbst. Ein Puzzleteilchen unter Hunderten unbekannter anderer Puzzleteile.

Bevor sie wieder ins Grübeln verfallen konnte, schlüpfte sie mit einigem Widerwillen in die abgelegten Sachen, ging zur Tür und verließ das Zimmer. Sie wandte sich der Treppe zu, als ihr ein grässlicher Gedanke kam: Wenn sie, bis auf die harmlosen Kratzer am Kinn und an den Beinen, unverletzt war – wessen Blut hatte sie dann gerade abgewaschen?

3.

Das Übliche?«

Niklas Herzog nickte. Der Form halber, ebenso wie die andern. Es war keine Frage, sondern eine Feststellung, denn sie tranken immer zuerst ein, zwei richtige Bier und stiegen danach auf alkoholfreies um.

Hatten sie mal Lust, sich volllaufen zu lassen, taten sie das nicht hier in ihrer Stammkneipe, sondern an den Wochenenden im BlackAngel, wo die heißesten Mädchen zu finden waren, weit genug weg, um nicht ständig über Bekannte zu stolpern.

Irgendwann in den frühen Morgenstunden bestellten sie sich ein Taxi, das sie nach Hause brachte. Oder sie folgten einem der Mädchen in ihre Wohnung. Und schliefen dort ihren Rausch aus.

»Gut, dass dieser beknackte Tag zu Ende ist«, murmelte Alan und fläzte sich mit ausgestreckten Beinen auf seinen Stuhl.

Alan Chandler. Sein Name ging auf schottische Vorfahren zurück, von denen jedoch nur noch wenig Blut durch seine Adern rann. Dennoch trug er den Namen mit nahezu lachhaftem Stolz.

Endlich bekam Niklas wieder Luft. Den ganzen Tag über hatte er gegrübelt, doch noch immer war ihm schleierhaft, wie sie aus dieser vertrackten Sache rauskommen sollten. Sein Blick begegnete dem von Marvin, und er war froh, ihm ausweichen zu können, weil Eli an den Tisch kam, um ihnen das Bier zu bringen.

Dankbar für die Ablenkung, griff er nach seinem Glas, an dem kalt das Schwitzwasser runterlief. Mit dem Daumen wischte er darüber und hätte am liebsten seine glühenden Wangen damit gekühlt.

Passte er nicht auf, konnte man ihm sämtliche Emotionen am Gesicht ablesen. Das war schon immer so gewesen. Er war ein grauenhafter Pokerspieler (weshalb Marvin und Alan ihn regelmäßig abzockten) und benahm sich häufig wie die Axt im Wald, weil er die Kunst des Small-Talks nicht beherrschte und gern mit der Tür ins Haus fiel.

Bei Frauen schadete ihm seine Direktheit nicht. Im Gegenteil. Sie verwechselten sie mit Männlichkeit und fuhren geradezu darauf ab.

Fast hätte er gegrinst. Er konnte sich eben noch bremsen. Marvin lauerte ja geradezu darauf, dass er ihm ins Messer lief.

Sie prosteten einander zu, setzten die Gläser auf den ramponierten Bierdeckeln ab und wischten sich den Schaum von den Lippen. Erwartungsvoll blickten die Freunde Niklas an.

Er hob die Schultern.

»Sie hat sich scheinbar in Luft aufgelöst.«

»Scheinbar?«, fragte Alan.

»In Luft aufgelöst?«, hakte Marvin nach.

Niklas hasste es, wenn die beiden sich zusammentaten und ihn ins Kreuzfeuer nahmen. Als hätten sie die Weisheit gepachtet und deshalb das Recht, sein Verhalten zu beurteilen.

»Was soll das heißen: in Luft aufgelöst?«, polterte Marvin urplötzlich los und stieß beinah sein Bier um. »Menschen lösen sich nicht in Luft auf, Nik! Verdammt!«

Niklas nahm noch einen Schluck. Vielleicht gelang es dem Alkohol ja, Ruhe in seinen Kopf zu bringen. Doch dazu müsste er mehr als ein Glas trinken. Viel mehr.

Hilflosigkeit rotierte in ihm. Sehnsucht. Entsetzen. Angst. Die Kombination lähmte ihn.

Marvin beugte sich über den Tisch und starrte ihn aus zusammengekniffenen Augen an.

»Wir haben ein Problem«, sagte er so leise, dass es Niklas kalt über den Rücken lief. »Daran muss ich dich doch wohl nicht erinnern?«

Wie könnte Niklas das auch nur für eine einzige Sekunde vergessen?

»Ich krieg das hin«, sagte er und wiederholte es in Gedanken wie ein Mantra. »Keine Sorge.«

»Hey, Eli!« Marvin streckte drei Finger in die Luft.

Ein Scheißtag lag hinter Niklas, sterbenslangweilige Routine und nicht das kleinste Erfolgserlebnis. Und keine freie Minute, um sich um das Problem zu kümmern. Dabei konnte sich die Schlinge um ihren Hals jeden Moment zuziehen.

Zwei türkische Männer betraten das Suzie.Sie setzten sich an den Tisch bei der Eingangstür, bestellten Tee und packten einen Backgammonkoffer aus. Wenig später waren sie in ihr Spiel vertieft.

Sie waren oft hier, saßen immer am selben Tisch, unterhielten sich kaum miteinander, ganz auf ihr Spiel konzentriert.

»Irgendwann hau ich die weg«, fluchte Marvin.

Wenn er unter Druck stand, schlug er gern auf Nebenschauplätzen auf, da störte ihn die Fliege an der Wand. Und wenn er dann noch trank, konnte die Situation von jetzt auf gleich eskalieren.

Niklas kannte das von sich selbst. Dazu war kein Tropfen Alkohol nötig. Deshalb arbeitete er hart daran, sich zu kontrollieren.

Ohne Erfolg, wie sich gezeigt hatte.

Allerdings war nicht nur er allein ausgerastet. Sie alle hatten die Kontrolle verloren.

Die beiden Spieler spürten Marvins Ablehnung. Sie gaben sich Mühe, die Freunde zu ignorieren, und vermieden Blickkontakt, um jede Konfrontation zu vermeiden. Aber sie suchten sich keine andere Kneipe und kamen Abend für Abend hierher. Ihre Halsstarrigkeit und ihr Mut waren fast schon bewundernswert.

»Jeder Mensch hat seine Gewohnheiten«, nahm Alan das Thema wieder auf. Er wandte sich an Niklas. »Denk nach, Alter. Wo ist sie hin? Wer könnte ihr Unterschlupf gewährt haben?«

»Meinst du, darüber würd ich mir nicht permanent den Kopf zerbrechen?«

»Dann mach das gefälligst weiter«, zischte Marvin. »Wir sind erledigt, wenn wir sie nicht finden.«

Niklas wäre am liebsten abgehauen. Er hatte absolut keine Lust, Rede und Antwort zu stehen. War es denn seine Schuld, dass Ivy eventuell gesehen hatte, was sie niemals hätte sehen dürfen?

»Halt’s Maul«, murmelte er und wollte sein Glas an die Lippen heben.

Marvins Faust erwischte ihn am Brustbein. Die Luft blieb ihm weg und sein Bier schwappte über. Er knallte das Glas auf den Tisch und fing an zu husten.

»Spinnst du?« Alan fiel Marvin, der noch mal nachsetzen wollte, in den Arm. »Komm wieder runter, ja?«

Marvins Augen hatten sich verdunkelt.

Niklas hustete immer noch. Aber Marvin hatte ja recht. Sie mussten Ivy finden, und das möglichst schnell.

*

»Ich bin Marleen.«

Wie einfach das klang: Ich bin.

Ivy nickte. Sie kam sich wie ein Eindringling vor in dieser großen behaglichen Küche. Getrocknete Kräuterbündel hingen von der Decke. Lavendelblüten warteten in einer großen Schale darauf, in bereitliegende Säckchen aus einem zarten, beinah durchsichtigen Stoff gefüllt zu werden. Ihr betörender Duft erfüllte den Raum.

»Im Sommer gibt’s immer viel zu tun«, erklärte Marleen, die ihrem Blick gefolgt war. »Da hätt ich gern zwanzig Hände und Füße.«

Ivy stellte sich das vor: zwanzig Hände und zwanzig Füße. Sie lächelte. Das fühlte sich ungewohnt an und sonderbar. Als hätte sie es schon ewig nicht mehr getan.

Ihr Lächeln spiegelte sich auf Marleens Gesicht. Ein sympathisches Gesicht mit ersten kleinen Fältchen um die Augen, die nicht braun, nicht blau und nicht grün waren, sondern von einem unbestimmten, aber strahlenden Grau.

Ivy dachte an das Gesicht des Mädchens im Spiegel. An das Zusammenspiel ihrer roten Haare mit dem intensiven, fast violetten Blau ihrer Augen.

»Mein Name ist Ivy«, sagte sie und war sich auf einmal gar nicht mehr sicher, ob das stimmte.

Sie saß mit einer Fremden, die Marleen hieß, in der gemütlichen Küche einer Pension und hatte nicht das geringste Recht, hier zu sein.

»Ich habe kein Geld bei mir.«

Marleen tat ihre Worte mit einer gleichgültigen Handbewegung ab. Sie hob die bauchige Kanne vom Stövchen.

»Ich hoffe, du magst grünen Tee.«

Ivy hatte keine Ahnung, ob sie grünen Tee mochte und ob sie überhaupt Teetrinkerin war. Dennoch nickte sie und hielt Marleen die Tasse hin. Ihr war, als habe ihr irgendein Gott ein Rätsel aufgegeben, das sie lösen sollte. Sie hatte keinen Schimmer, wie das Rätsel lautete und wie sie der Lösung auf die Spur kommen sollte.

Sie wusste nur, dass ihr Leben davon abhing.

*

du …

du …

DU …

Nicht jetzt. Marvin stöhnte auf. Nicht so an Ivy denken, wie er es gerade tat. An ihren Körper, der ihn vom ersten Moment an rasend gemacht hatte. Die festen kleinen Brüste. Die langen, glatten Beine. Ihre Augen. Den Blick, mit dem sie ihn hochmütig auf Abstand hielt.

Niks kleine Schlampe, dachte er wütend.

Ausgerechnet in Niklas hatte sie sich verliebt.

leg dir mein herz zu füßen

seh dir zu

wie du’s zertrittst

ohne mit der wimper zu zucken

So hingeschrieben wirkten die Worte harmlos. Doch das waren sie nicht. Dieses Mädchen hatte ihm die Luft aus den Lungen gepresst. Sie hatte ihm jede Kraft genommen, ihn zu einem Waschlappen gemacht.

Tagsüber hatte er sich im Griff. Doch an den Abenden ging es mit ihm durch. Er litt wie ein Tier. Ein Mädchen nach dem andern holte er in sein Bett und setzte sie am nächsten Morgen ohne Frühstück wieder auf die Straße.

Das waren nicht die Mädchen, die er wollte. Sie bedeuteten ihm nichts. Er hatte noch nie das begehrt, was leicht zu haben war.

Ivy …

Schon ihr Name verursachte ihm Gänsehaut. Alles an ihr erregte ihn. Sogar, dass sie weggelaufen war.

Erst recht aber der Gedanke daran, sie zu finden.

Er versteckte sich hinter seinem Pokerface, zauberte ein Grinsen auf sein Gesicht und prostete den Freunden zu. Wie beschissen das Leben manchmal war.

*

Ivy hatte das Gefühl, noch nie etwas so Köstliches gegessen zu haben wie diese Erdbeertorte. Vernachlässigt, wie er war, reagierte ihr Magen gereizt auf die unverhoffte Nahrung. Vor allem die Sahne schien ihm zu schaffen zu machen. Dabei war gerade sie es, die Ivy vor Seligkeit die Augen schließen ließ.

Marleen bugsierte ihr ein zweites Stück auf den Teller und beobachtete lächelnd, wie Ivy auch dieses in Windeseile verputzte. Sie selbst hatte ihr erstes noch nicht ganz verzehrt, da war Ivys Teller schon wieder leer.

»Schmeckt es dir?«

Was für eine Frage! Ivy nickte. Sie bemühte sich, nicht auf die verlockende Torte zu starren.

»Magst du noch ein Stück?«

Statt einer Antwort hielt Ivy Marleen den Teller hin.

»Die Erdbeeren stammen von einem Bauern im Dorf«, verriet Marleen ihr. »Ich bin regelrecht süchtig danach.«

Ivy bemühte sich, das dritte Stück langsam zu verspeisen. Sie war Marleen dankbar dafür, dass sie keine Fragen stellte. Sie nicht in Erklärungsnot brachte. Gleichzeitig wunderte sie sich darüber, dass ihre Gastgeberin nicht misstrauisch oder zumindest neugierig war.

»Ich mag Erdbeeren auch sehr gerne«, sagte sie.

Sie konnte das mit einer gewissen Sicherheit behaupten, denn sie merkte ja gerade, wie gut sie ihr schmeckten. Was aß sie außerdem gern? Was waren ihre Lieblingsgerichte? Konnte man selbst das vergessen?

Die Welt war in Schieflage geraten. Ivy konnte fast spüren, wie verzweifelt ihr Gehirn sich abmühte, wieder Ordnung in das Chaos zu bringen.

»Lass dir Zeit«, sagte Marleen und schenkte Tee nach.

Ivy musterte ihr Gesicht, das freundlich und unbefangen wirkte. Als hätte sie nicht eben einen bedeutungsvollen Satz ausgesprochen.

Marleen legte ihr ein weiteres Stück Torte auf den Teller. Das vierte? Wirklich? Das vierte? Hatte Marleen ihr mit ihrem Lass dir Zeit bloß signalisiert, sie brauche sich mit dem Essen nicht zu beeilen?

Oder hatte sie bemerkt, dass Ivy sich in einer Notlage befand?

Während sie noch darüber nachgrübelte, war Marleen mit ihren Gedanken längst woanders.

»Welche Kleidergröße hast du?«, erkundigte sie sich und maß Ivy mit einem abschätzenden Blick von Kopf bis Fuß.

Ivy erinnerte sich nicht an ihre Konfektionsgröße. Sie wusste nicht einmal, welche Art von Kleidung sie bevorzugte.

»Ich habe da ein paar Sachen, die mir zu eng geworden sind«, sagte Marleen. »Magst du sie mal durchsehen? Ich würde mich freuen, wenn du noch Verwendung dafür hättest.«

Sie wartete nicht auf Ivys Antwort.

»Du siehst müde aus«, sagte sie. »Möchtest du dich ein bisschen ausruhen?«

Ivy war ihr dankbar für diesen Vorschlag. Sie half Marleen, das Geschirr zur Spülmaschine zu tragen, dann stieg sie unendlich langsam die Treppe hinauf. Wie eine alte Frau klammerte sie sich dabei am Geländer fest.

Der Weg zu ihrem Zimmer erschien ihr endlos. Aus einem der Räume hörte sie Geräusche, die sie jedoch nicht einordnen konnte. Sie nahm den schwachen Hauch eines Aftershaves wahr.

Wie viele Gäste mochten hier wohnen?

Das Zimmer empfing sie wie eine alte Vertraute. Es erwartete nichts, verlangte nichts, bereitete ihr kein Unbehagen. Bot ihr ein bequemes Bett und sah ihr schweigend dabei zu, wie sie sich auszog, nackt unter das angenehm kühle Bettzeug kroch, sich wie ein Fötus zusammenrollte und augenblicklich einschlief.

Als sie mitten in der Nacht schweißgebadet aufwachte, umklammerte Panik ihr Herz. Ivy hielt die Bettdecke ans Kinn gepresst und schaute sich ängstlich um.

Schwacher Lichtschein erhellte das Zimmer, vielleicht von einer Laterne draußen, die es heimkehrenden Gästen erleichterte, bei Dunkelheit den Weg durch den Vorgarten zu finden. Alles wirkte wie von Geisterhand hingestellt. Die Möbel schienen sacht über dem Boden zu schweben.

Es gibt keine Geister.

Wer hatte das zu ihr gesagt? Es sollte sie beruhigen, das wusste Ivy noch. Doch es hatte sie nicht beruhigt. Nichts hatte ihre Furcht vertreiben können, denn sie hatte gewusst, dass es Geister gab.

Bilder einer altmodischen Jugendherberge tauchten in ihrem Kopf auf. Bilder von einem Waschraum, in dem die Mädchen an langen Waschbecken standen wie an Futtertrögen. Wie in einem Kühlhaus war es dort gewesen und aus der Leitung war mit schwachem Druck eiskaltes bräunliches Wasser gekommen. Gänsehaut war Ivy über den Körper gekrochen und sie hatte mit den Zähnen geklappert.

Über den Becken hingen große, fleckige Spiegel, und Ivy hatte nach dem Waschen und Zähneputzen immer schreckliche Angst gehabt, sich wieder aufzurichten und hineinzugucken. Jedes Mal hatte sie befürchtet, ein Schatten würde ihr über die Schulter sehen.

Sie anstarren. Ihre Gedanken lesen.

Sie hatte sich mit vier Buchstaben geschützt: NEIN!

Hatte die Augen geschlossen und so lange NEIN! gedacht, bis sie den Mut gefunden hatte, sich dem Anblick im Spiegel zu stellen. Die Erleichterung, die sie durchströmt hatte, wenn sie sich ihrem normalen Spiegelbild gegenüberfand, konnte sie jetzt noch spüren.

Es gibt keine Geister.

Eine Frau hatte das gesagt. Ivy horchte in sich hinein und konnte die Stimme wieder hören, eine Stimme, die ihr vertraut war, die sie mochte.

Jemand, den sie geliebt hatte?

Ivy hatte nicht ergründen können, ob die Frau ihr die Unwahrheit gesagt hatte, um ihr die Angst zu nehmen. Oder ob sie wirklich nicht an Geister glaubte.

Ein nagender Schmerz überfiel sie. Dieser Schmerz schien sie schon eine ganze Weile zu begleiten. Auch wenn sie sich nicht an ihn erinnerte.

Gegen die Tränen, die ihr über das Gesicht liefen, wehrte sie sich nicht. Obwohl die Qual sie beinah zerriss. Sie weinte, bis keine Tränen mehr kamen. Dann legte sie sich wieder hin. Ihre Augen brannten, ihre Nasenschleimhaut war so geschwollen, dass sie durch den Mund atmen musste.

Schließlich ließ der Schmerz ein wenig nach. Als hätte jemand ihre Seele betäubt, um ihr die Möglichkeit zu geben, sich zu erholen.

Irgendwie schien dieser Schmerz mit ihrer Flucht zu tun zu haben. Denn daran, dass sie auf der Flucht war, zweifelte sie keinen Moment lang.

Nach einer Weile fiel sie in einen Dämmerzustand, der sie einlullte und dennoch hellwach bleiben ließ. Sie lauschte dem alten Haus, das flüsternd von seinen Geheimnissen erzählte. Holzdielen knarrten. Fenster quietschten in ihren Angeln. Türen fielen ins Schloss. Irgendwo lief leise ein Radio oder ein Fernsehgerät.

Auch das Draußen war voller Stimmen. Ein Nachtvogel rief. Hin und wieder fuhr ein Auto vorbei. Irgendwo stritten ein Mann und eine Frau.

Und dann hörte Ivy ein rhythmisches Geräusch, das den Schmerz in ihrem Innern augenblicklich wieder entfachte. Sie brauchte nicht erst die leisen Schreie der Frau und das dunkle Stöhnen des Mannes zu hören, um zu wissen, dass sie unfreiwillig einen Liebesakt belauschte.

Ihre Fingernägel gruben sich in ihre Handballen. Ihr Atem beschleunigte sich. Kalter Schweiß trat ihr auf die Stirn. Im nächsten Augenblick war sie aus dem Bett gesprungen und hatte ihre Sachen angezogen. Sie riss die Tür auf und stürzte die Treppe runter.

Raus! Raus! Raus!

Die verschlossene Haustür bremste sie. Wo war der Schlüssel? Gab es eine Hintertür? Aber die war sicherlich ebenfalls abgeschlossen.

In der Nacht sind alle Katzen grau, da kommen die Diebe, geräuschlos und schlau …

»Kann ich dir helfen?«

Ivy fuhr herum. Sie hatte Marleens Schritte nicht gehört.

Sie schüttelte den Kopf.

»Ich würde es gern versuchen«, sagte Marleen.

Sie trug einen alten Morgenmantel aus verblichenem Frottee, der einmal himmelblau gewesen sein musste.

Ivy merkte, wie die schmerzhafte Anspannung wich und einer tiefen Erschöpfung Platz machte.

In der Lage, in der sie sich befand, durfte sie nicht wählerisch sein. Was immer sie eben erschreckt hatte, wovor auch immer sie weglief, sie musste sich daran erinnern. Und dazu brauchte sie einen Ort, an dem sie sicher war, an dem sie sich ausruhen und nachdenken konnte.

Kannst du ihr trauen?, fragte eine skeptische Stimme, die sich in ihrem Innern versteckte und dort auf sie aufpasste.

Konnte sie das? Marleen vertrauen?

Was hatte diese fremde Frau dazu bewogen, sie in ihrer Pension aufzunehmen, obwohl sie in schmutziger, blutbefleckter Kleidung vor ihr gestanden hatte? An ihrem Gartentor. Ohne Gepäck, ohne Handtasche. Obwohl sie keine Uhr trug, nicht mal ein Handy bei sich hatte.

Ivy ging ganz selbstverständlich davon aus, dass sie Uhr, Handy und Handtasche oder einen Rucksack besaß wie die meisten jungen Frauen. Es musste Papiere geben, einen Personalausweis, einen Reisepass. Vielleicht einen Studentenausweis, falls sie eine Studentin war. Oder etwas, das sie als Mitarbeiterin irgendeines Unternehmens oder einer Institution auswies.

Sie brauchte diese Dinge nicht, um sie vorzuzeigen. Sie brauchte sie in erster Linie, um sich selbst ihrer Identität zu versichern.

Aus der Welt gefallen, dachte sie. Das bin ich, aus der Welt gefallen.

Genau aus diesem Grund solltest du Marleen vertrauen, sagte eine andere Stimme in ihrem Innern. Es gibt keine Alternative.

Sie hatte recht. Ivy hatte gar keine andere Möglichkeit. Sie brachte ein mühsames Lächeln zustande.

»Zuerst mal musst du schlafen«, entschied Marleen. »Du kannst dich ja kaum noch auf den Beinen halten.«

Sie begleitete Ivy zu ihrem Zimmer und berührte sanft ihren Arm. Ivys Blick fiel auf einen Korb, der neben ihrer Tür stand. Sie hatte ihn nicht bemerkt, als sie aus dem Zimmer gestürzt war.

»Ich habe dir ein paar Sachen zurechtgelegt«, sagte Marleen. »Schau mal, ob du sie gebrauchen kannst.«

Dann wandte sie sich um, stieg lautlos die Treppe hinunter und ließ Ivy allein.

4.

nirgends bist du sicher

in keinem versteck

meine augen überall

jag dich

bis ans ende der welt

*

Irgendwie brachte Ivy die Nacht hinter sich. Als sie aufwachte, hörte sie den Gesang der Vögel, die sich da draußen förmlich verausgabten. Sie tirilierten in der Morgensonne, als gäbe es einen Preis zu gewinnen.

Ivy reckte und streckte sich und zuckte jäh zusammen, als ihr wieder einfiel, wo sie war und was sie hierhergebracht hatte. Sie zog sich die Decke über den Kopf und machte die Augen zu. Vielleicht gelang es ihr ja, wieder einzuschlafen, und vielleicht war der ganze Spuk vorbei, wenn sie ein zweites Mal aufwachte.

Hoffentlich.

»Ich träume«, flüsterte sie. »Das alles ist nur ein einziger schrecklicher Albtraum.«

Es gelang ihr nicht, erneut einzuschlafen. Sie war so wach wie lange nicht mehr. Vorsichtig setzte sie sich auf.

Und wenn sie sich wieder erinnerte? Wenn über Nacht alles zurückgekommen war? Ihre Sicherheit, ihr Vertrauen in die Welt und sich selbst. Ihre Arglosigkeit.

Ihr Glück.

Dabei hatte sie keine Ahnung, ob sie überhaupt so war.

Gewesen war.

Arglos. Voller Vertrauen.

Glücklich.

Nach wenigen Minuten wurde ihr klar, dass sie vergeblich wartete. Da war nichts in ihrem Kopf. Oder doch so gut wie nichts. Zumindest an ihre Ankunft hier in der Pension erinnerte sie sich nämlich genau. An Marleen. Ihre Freundlichkeit. Und daran, dass sie zusammen Tee getrunken hatten.

Sie erinnerte sich auch an die Erdbeertorte und spürte, wie ihr Magen rumorte. Die Hoffnung auf ein Frühstück trieb sie aus dem Bett. Sie wusch sich am Waschbecken und untersuchte den Korb mit den Kleidungsstücken, den Marleen ihr am Abend zuvor hingestellt hatte.

Zehn Minuten später verließ sie das Zimmer und ging nach unten. Sie hatte Jeans, ein dunkelblaues T-Shirt und eine lockere weiße Leinenbluse gewählt. Alles war wie für sie gemacht. Selbst die schwarzen Slipper passten wie angegossen und waren noch dazu herrlich bequem.

»Guten Morgen«, begrüßte Marleen sie voller Wärme. »Such dir einen Platz und bedien dich!«

Sie wies auf ein großzügig bestücktes Buffet und zog sich wieder in die Küche zurück.

Im Frühstückszimmer waren vier Tische eingedeckt. Auf zwei weiteren stand verlassen benutztes Geschirr. Am siebten saß vor einem aufgeklappten Laptop ein Mann, der gerade ein Croissant verspeiste. Er nickte Ivy zu, ohne sich stören zu lassen, was ihr ganz recht war.

Sie wählte einen Tisch am Fenster und setzte sich, um erst einmal alles auf sich wirken zu lassen. Meditationsmusik erklang leise aus einer kleinen Anlage. Ivy lehnte sich zurück und entspannte sich.

Als sie auf ihre Hände sah, die auf ihren Oberschenkeln lagen, erkannte sie, dass ihre Finger die Gyan Mudra formten. Daumen und Zeigefinger berührten einander an den Spitzen, die restlichen Finger waren gerade ausgestreckt.

Yoga, fuhr es Ivy durch den Kopf. Ich kenne mich mit Yoga aus.

Bedeutete das, dass ihre Erinnerungen zurückkehrten? Zumindest, sagte sie sich, war es ein erster Schritt.

Sie formte weitere Mudras mit den Fingern und sah sich dabei aufmerksam im Frühstückszimmer um, ohne etwas zu entdecken, das einen Fluchtimpuls in ihr ausgelöst hätte. Hier war nichts Bedrohliches. Marleen hatte einen fröhlichen, offenen Raum gestaltet, wie geschaffen dafür, dass Menschen sich in ihm zusammenfanden, um den Tag zu beginnen.

Sie stand auf und trat an das Buffet.

Brötchen, Brot, Käse, Aufschnitt, geräucherter Lachs und gekochte Eier, Haferflocken, Cornflakes, Rosinen, Nüsse und jede Menge frisches Obst. Ivy musste sich zusammenreißen, um nicht völlig unkontrolliert über die Köstlichkeiten herzufallen.

»Kaffee oder Tee?«, hörte sie Marleens Stimme hinter sich.

Ohne nachzudenken, entschied Ivy sich für Tee und war damit wahrscheinlich einer weiteren ihrer Gewohnheiten auf der Spur.

»In der Teebox findest du die einzelnen Sorten«, erklärte Marleen und zeigte auf einen kleinen Holzkasten mit Glasdeckel, der Ähnlichkeit mit einem dieser Minigewächshäuser hatte, die man auf die Fensterbank stellen kann. »Wasser bringe ich dir sofort.«

Als Ivy an ihren Tisch zurückkam, stellte Marleen ihr gerade ein silbernes Kännchen mit heißem Wasser hin.

»Earl Grey«, bemerkte sie nach einem Blick auf Ivys Teewahl lächelnd. »Den mag ich auch am liebsten.«

Sie räumte das benutzte Geschirr ab und verschwand mit dem Tablett wieder in der Küche.

Ivy verschlang das erste Brötchen. Danach machte sie sich über eine Schale Müsli her. Ihr Magen füllte sich viel zu schnell. Dennoch verputzte sie zwei weitere Brötchen, langsamer als das erste und mit mehr Genuss. Dabei betrachtete sie den Mann, der während der ganzen Zeit mit seinem Laptop beschäftigt war.

Er war etwa vierzig und hatte ein freundliches, volles Gesicht mit Dreitagebart. Sein mächtiger Bauch sprengte fast die Knöpfe seines Hemds, doch seine Bewegungen waren überraschend flink und geschmeidig, beinah sogar elegant.

Als sein Handy klingelte, schaute er auf das Display und drückte den Anruf weg. Er warf Ivy einen entschuldigenden Blick zu.

»Business«, sagte er mit einer überraschend hellen Stimme und hob die Schultern. »Man kommt einfach nicht zur Ruhe.«

Ivy antwortete mit einem Lächeln. Sie war für eine Unterhaltung nicht gewappnet, fühlte sich leer. Als habe sich mit dem, was ihr zugestoßen war, auch ihr Vorrat an Worten erschöpft.

Aber was? Was, um Himmels willen, war ihr zugestoßen?

Augenblicklich kehrte die Verzweiflung zurück, und sie erstarrte, den Rücken gegen die Lehne gepresst, das Gesicht wie aus Stein.

Der Mann wandte sich wieder seinem Frühstück zu. Er schien noch lange nicht damit fertig zu sein, anders als Ivy, in deren Magen eine Welle von Übelkeit aufstieg. Um sich davon abzulenken, richtete sie ihre ganze Aufmerksamkeit auf den Mann.

Als hätte er ihren Blick gespürt, sah er auf.

»Was führt Sie hierher?«, fragte er.

Wie, um alles in der Welt, sollte sie darauf antworten?

»Ich …«

»Sie ist für eine Weile mein Gast«, erklang da hinter ihr Marleens Stimme.

Der Mann nickte, als hätte er sich das gleich gedacht. »Dann werden wir uns ja demnächst wohl öfter begegnen«, sagte er und widmete sich mit einem Lächeln wieder seinem Laptop.

Ivy blickte Marleen dankbar an. Diese Frau hatte sie schon wieder gerettet. Sie stand auf und räumte ihr Geschirr zusammen.

»Das ist nicht nötig«, sagte Marleen.

»Bitte!« Ivy spürte selbst, wie flehend ihr Blick war. »Ich bin froh, wenn ich ein bisschen helfen darf.«

Ohne Marleens Antwort abzuwarten, trug sie ihr Geschirr in die Küche. Hauptsache, sie war beschäftigt und hatte keine Gelegenheit, sich ihren Gedanken auszuliefern. Sie brauchte Ablenkung. Vielleicht kam dann von allein alles wieder zurück.

Marleen stellte keine Fragen. Geschäftig lief sie zwischen Küche und Frühstücksraum hin und her und kümmerte sich darum, dass es den Gästen an nichts mangelte.

Es waren neue hinzugekommen, ein junges Paar, das die Hände nicht voneinander lassen konnte, und eine alte Dame, die einen schneeweißen West Highland Terrier unter dem Tisch verstohlen mit kleinen Häppchen fütterte.

Mit verschränkten Armen stand Ivy in der Küche an die Wand gelehnt und fühlte sich entsetzlich fehl am Platz. Marleen schien das zu bemerken.

»Wenn du mir wirklich helfen möchtest, kannst du das gern tun«, sagte sie mit ihrer warmherzigen Stimme. »Magst du die Spülmaschine einräumen?«

Ivy nickte und machte sich augenblicklich an die Arbeit, die ihr rasch von der Hand ging. Offenbar war sie daran gewöhnt, eine Spülmaschine zu benutzen.

Sie nahm das Tuch, das zusammengefaltet auf dem Rand des Spülbeckens lag, hielt es unter den Wasserhahn und drückte es aus. Die Arbeitsfläche war voller Brotkrümel. Ivy machte sauber, so gut es möglich war, ohne all die Utensilien wegzuräumen, die noch gebraucht werden würden.

Den Abfall – Eierschalen, benutzte Teebeutel, Brötchenreste, Obstschalen, zerknüllte Servietten – sortierte sie in die drei kleinen Plastikeimer in der Nische beim Fenster, braun für den Bioabfall, gelb für Verpackungsmaterial, schwarz für Restmüll.

Sie überlegte gerade, was sie als Nächstes tun sollte, als sie eine Berührung an der Kniekehle spürte. Erschrocken fuhr sie herum und blickte einem mittelgroßen Hund in die Augen, der sie abwartend musterte.

»Wer bist du denn?«

Sie hielt ihm die Hand hin, die er zutraulich beschnüffelte. Ein Mischling, in dem die Anteile eines Irish Terriers deutlich überwogen. Ivy hatte keine Angst vor ihm.

Kannte sie sich mit Hunden aus?

Gab es vielleicht einen Hund in ihrem Leben?

Wenn ja, was machte er jetzt?

Kümmerte sich jemand um ihn?

»Das ist Jojo«, erklärte Marleen, die zu ihr getreten war. Ihre Stimme hatte einen strengen Unterton angenommen. »Er weiß genau, dass er in der Küche nichts zu suchen hat. Stimmt’s, mein Lieber?«

Jojo legte sich hin, die Vorderpfoten über der Nase, und versuchte, sich unsichtbar zu machen.

»Er ist mir vor einem Jahr zugelaufen«, erzählte Marleen. »Saß eines Morgens plötzlich im Garten und hat mir unmissverständlich klargemacht, dass mein Haus nun auch sein Haus war.« Liebevoll kraulte sie Jojo hinter den Ohren. »Natürlich hab ich mich umgehört und nach den Leuten geforscht, bei denen er vorher gelebt hat, aber da war niemand zu finden. Keiner hat ihn als vermisst gemeldet, keiner nach ihm gesucht.«

»Und jetzt gehörst du hierher«, sagte Ivy leise und ging neben dem Hund in die Hocke.

Jojo setzte sich auf. Seine schönen Augen waren von einem sanften Braun und wie mit Kajal umrandet. Marleen verschwand wieder im Frühstücksraum und ließ sie allein.

Das weizengelbe, leicht struppige Fell des Hundes fühlte sich warm an. Er schloss die Augen, als Ivy seinen Hals berührte.

»Vielleicht«, flüsterte sie, »weiß ja auch ich irgendwann wieder, wohin ich gehöre.«

Vielleicht, dachte sie. Das war ein äußerst ungefährer Begriff.

*

Die Ermittlungen in einem Fall von Brandstiftung hatten Marvin und Alan in die Wohnung eines Mannes geführt, von dem sie sich brisante Informationen erhofften. Sie hatten gerade damit angefangen, ihn zu befragen, als sie plötzlich Schreien und Poltern aus einer der oberen Wohnungen hörten.

»Das geht andauernd so«, beklagte sich der Mann. »Ich war schon ein paarmal kurz davor, die anzuzeigen. Aber am nächsten Tag stehen sie regelmäßig mit einer Flasche Wein auf der Matte und entschuldigen sich.«

Der Lärm verstummte so rasch, wie er entstanden war, doch Marvin und Alan stiegen die Treppe hoch, um der Sache auf den Grund zu gehen.

Die Wohnungstür war nur angelehnt. Alan stieß sie ein Stück auf.

»Hallo?«

Die Frau lag auf dem Sofa, vollkommen weggetreten, wie Marvin auf den ersten Blick erkannte. Auf den zweiten entdeckte er, dass unzählige Blutergüsse unterschiedlichster Reifegrade ihre mageren Arme wie traurige Tattoos bedeckten. Sie war halb nackt, trug lediglich ein seidiges schwarzes Unterkleid, dessen Träger verrutscht waren und einen Teil ihrer bemerkenswerten Brüste freigaben.

Mitte zwanzig schätzte Marvin, älter auf keinen Fall. Sie war hübsch, hatte langes dunkles Haar, einen schlanken Körper und Wahnsinnsbeine. Die reine Verschwendung, denn anscheinend verstand sie nicht, pfleglich mit alldem umzugehen.

Das Wohnzimmer stank nach Zigaretten, Joints und Alkohol, obwohl ein Fenster gekippt war. Der Fernseher lief, ein Plasmamonster von der Größe einer Tür. Er war an der Wand befestigt und beherrschte den Raum, in dem sich ein Chaos aus Zeitschriften und verstreuten Spielsachen auf dem Boden ausbreitete.

Neben einer hölzernen Kugelbahn lag ein aufgeklapptes Lexikon mit stark abgegriffenem Einband, die Seiten nach unten. Jemand hatte aus Butterkeksen einen wackligen Turm gebaut, der von Krümeln umgeben war. Einige der Kekse waren angeknabbert, andere mit etwas Rotem beschmiert, das Marmelade sein konnte, aber ebenso gut Blut.

Der helle Teppichboden hatte eine ungesunde Färbung angenommen. Man konnte das Ungeziefer förmlich zwischen all dem Zeug, das sich hier angesammelt hatte, herumkrabbeln sehen.

Marvin verachtete Menschen, die ihr Leben nicht im Griff hatten. Die Bewohner dieser Wohnung gehörten offenbar zu ihnen. Er hörte ein leises Geräusch und wandte den Kopf. In einer Ecke stand ein Käfig, durch dessen Gitterstäbe ein Hamster sie mit glänzenden Knopfaugen beobachtete.

Der Einrichtung nach zu urteilen, waren die Bewohner dieser Wohnung nicht arm. Das massive weiße Bücherregal mit den elegant gerundeten Kanten schien eine Spezialanfertigung zu sein. Sofa und Sessel stammten garantiert aus keinem der überall aus dem Boden schießenden Möbeldiscounter. Doch zwischen Stapeln von Zeitschriften standen nur Reiseführer im Regal und an den Wänden hing kein einziges Bild.

Seltsam.

Widersprüche.

Überall.