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Die Familie ist ein Hort der Liebe, Geborgenheit und Zärtlichkeit. Wir alle sehnen uns nach diesem Flucht- und Orientierungspunkt, der unsere persönliche Welt zusammenhält und schön macht. Das wichtigste Bindeglied der Familie ist Mami. In diesen herzenswarmen Romanen wird davon mit meisterhafter Einfühlung erzählt. Die Romanreihe Mami setzt einen unerschütterlichen Wert der Liebe, begeistert die Menschen und lässt sie in unruhigen Zeiten Mut und Hoffnung schöpfen. Kinderglück und Elternfreuden sind durch nichts auf der Welt zu ersetzen. Genau davon kündet Mami. Karin wohnte nun schon eine ganze Woche in dem kleinen Friesenhaus am äußersten Ende des Strandes, als sie das Kind zum ersten Mal bemerkte. Sie sah durch die Butzenscheiben der gemütlich warmen Bauernstube und beobachtete gespannt das kleine Figürchen, das am Uferrand spazierenging und offenbar auf Muschel- oder Seesternsuche war.Aus dieser Entfernung ließ sich schwer erkennen, ob es sich um einen Jungen oder ein Mädchen handelte. Das Kind trug blaue Shorts, ein weißes T-Shirt und einen Strohhut. Karin wollte sich vom Fenster zurückziehen, konnte es aber nicht. Sie stand wie zur Salzsäule erstarrt und blickte gebannt auf das unbekannte Kind, während eine Woge von Schmerz ihr Herz überflutete.Endlich gelang es ihr, den blau-weiß gewürfelten Vorhang zuzuziehen. Mit einem schweren Seufzer ließ sie sich in den altmodischen Ohrensessel vor dem runden Kachelofen sinken. Warum mußte sie sich auf diese Weise quälen? Sie war doch nur auf die Insel Föhr gekommen, weil das Ferienhäuschen ihrer Verwandten so abgelegen war, daß sie von niemandem gestört werden konnte.»Ich glaube, es ist genau die richtige Therapie, wenn du einen neuen Anfang starten willst«, hatte ihre zehn Jahre ältere Schwester ihr liebevoll geraten.Damit hatte sie auf Karins Absicht angespielt, ihre Erlebnisse am Theater in Tagebuchform niederzuschreiben. Angefangen vom ersten Tag ihres Vorsprechens bis zu den glanzvollen Premieren, in denen sie als neuer Star am Bühnenhimmel Triumphe feierte.Um ihrer Schwester zu gefallen, hatte sie zwar die kleine Reiseschreibmaschine eingepackt, jedoch bis heute keine einzige Zeile zu Papier gebracht. Sie wollte nur schlicht allein sein, abgeschnitten von der Welt, die bis gestern die ihrige gewesen war. Ein neuer Anfang? Konnte denn niemand verstehen, daß sie weder den Wunsch noch die Motivation für einen Neubeginn verspürte? Sie wollte nur allein sein.Ein gutes Mittel gegen düstere Gedanken waren stundenlange Märsche. In wetterfestem Ölzeug, Gummistiefeln und Südwester erforschte Karin die Insel.
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Seitenzahl: 130
Veröffentlichungsjahr: 2018
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Karin wohnte nun schon eine ganze Woche in dem kleinen Friesenhaus am äußersten Ende des Strandes, als sie das Kind zum ersten Mal bemerkte. Sie sah durch die Butzenscheiben der gemütlich warmen Bauernstube und beobachtete gespannt das kleine Figürchen, das am Uferrand spazierenging und offenbar auf Muschel- oder Seesternsuche war.
Aus dieser Entfernung ließ sich schwer erkennen, ob es sich um einen Jungen oder ein Mädchen handelte. Das Kind trug blaue Shorts, ein weißes T-Shirt und einen Strohhut. Karin wollte sich vom Fenster zurückziehen, konnte es aber nicht. Sie stand wie zur Salzsäule erstarrt und blickte gebannt auf das unbekannte Kind, während eine Woge von Schmerz ihr Herz überflutete.
Endlich gelang es ihr, den blau-weiß gewürfelten Vorhang zuzuziehen. Mit einem schweren Seufzer ließ sie sich in den altmodischen Ohrensessel vor dem runden Kachelofen sinken. Warum mußte sie sich auf diese Weise quälen? Sie war doch nur auf die Insel Föhr gekommen, weil das Ferienhäuschen ihrer Verwandten so abgelegen war, daß sie von niemandem gestört werden konnte.
»Ich glaube, es ist genau die richtige Therapie, wenn du einen neuen Anfang starten willst«, hatte ihre zehn Jahre ältere Schwester ihr liebevoll geraten.
Damit hatte sie auf Karins Absicht angespielt, ihre Erlebnisse am Theater in Tagebuchform niederzuschreiben. Angefangen vom ersten Tag ihres Vorsprechens bis zu den glanzvollen Premieren, in denen sie als neuer Star am Bühnenhimmel Triumphe feierte.
Um ihrer Schwester zu gefallen, hatte sie zwar die kleine Reiseschreibmaschine eingepackt, jedoch bis heute keine einzige Zeile zu Papier gebracht. Sie wollte nur schlicht allein sein, abgeschnitten von der Welt, die bis gestern die ihrige gewesen war. Ein neuer Anfang? Konnte denn niemand verstehen, daß sie weder den Wunsch noch die Motivation für einen Neubeginn verspürte? Sie wollte nur allein sein.
Ein gutes Mittel gegen düstere Gedanken waren stundenlange Märsche. In wetterfestem Ölzeug, Gummistiefeln und Südwester erforschte Karin die Insel. Es war Anfang März, und die Touristensaison hatte noch nicht begonnen.
Aus gepflegten Gärten leuchteten weiße Schneeglöckchen, lila Krokusse und gelbe Stiefmütterchen. Hin und wieder begegnete sie Einheimischen in friesischer Tracht: Frauen in schwarzen Kleidern mit weißer Schürze, Haube und Leibchen mit prächtigem Silberschmuck. Junge Männer als Reetdachdecker in schwarzer Kluft und mit hohem Zylinder.
Sie ließ sich von der Vogelwelt verzaubern: Lachmöwen, Graugänse und Feldlerchen glitten durch den wildbewegten Himmel. Auf einem Acker hatten sich Schwärme von Wildtauben niedergelassen. Nach einem Regenguß stiegen Regenbögen auf und verschwanden im Meereslicht. Verzückt von der Landschaft, kehrte sie in ihr behagliches Refugium zurück. In der Küche entnahm sie ihrem Wanderrucksack einige Lebensmittel, die sie in einem Dorfladen eingekauft hatte, und bereitete sich einen kleinen Imbiß zu.
Hinter ihr lag ein rundherum gelungener Tag. Außer einigen Einheimischen war sie keinem bekannten Gesicht begegnet. Hoffentlich bleibt es dabei, dachte sie. Sollte sie allerdings das Kind wiedersehen, das sie neulich am Strand beobachtet hatte, war es mit ihrer inneren Ruhe sicher vorbei. Dann würde sie wohl abreisen und sich eine andere Bleibe suchen müssen. Aber wo?
*
Drei Tage später fand Karin sich am Strand wieder. Was sie aus dem Hause getrieben hatte, wußte sie nicht zu sagen. Vielleicht der Sonnenschein? Es war ein ungewöhnlich warmer Vorfrühlingstag.
Sie fand es höchst genußvoll, mit nackten Füßen durch den weichen, warmen Sand zu stapfen, ohne sich recht bewußt zu sein, wo sie sich eigentlich befand. Je länger sie ging, desto stärker durchwärmte die Sonne die feinen Sandkörner unter ihren Füßen. Sie hatte den Abschnitt des Badestrandes kaum erreicht, da brannte der Sand so heiß, daß man sich kaum auf den Beinen halten konnte.
Mit einem kleinen Spurt erreichte sie das Ufer, wo der Boden angenehm durchkühlt war. Sie bewegte sich bis zum Wasserrand, blieb auf dem dunkelbraunen Grund stehen, bis das feuchte Gerinnsel an ihren Zehenspitzen leckte.
Einmal mußte sie rasch vor einer hohen Welle zurückspringen, und ein mattes Lächeln stahl sich in ihre Mundwinkel. Sie holte ganz tief Atem. Ihre Lungen füllten sich mit der reinen, salzhaltigen Luft, und sie lächelte erneut. Irgendwo in ihrem Körper spürte sie ein leises Aufflackern – seit achtzehn Monaten das erste Zeichen bewußten Lebendigseins.
»Warum paddelst du mit deinen Zehen nicht im Wasser?« hörte sie ein helles Stimmchen fragen.
Karin wandte den Kopf in die Richtung, aus der die Stimme kam, instinktiv wissend, wem sie gehörte. Ihre Bauchmuskeln krampften sich so stark zusammen, bis ihr fast übel wurde.
»Es ist wirklich ganz warm. Kein bißchen kalt.«
Das Kind hatte eins der unscheinbarsten Gesichter, das sie je gesehen hatte. Von Horror erfaßt, starrte sie auf das Kind herab und verglich es unwillkürlich mit ihrem Söhnchen Tim. Rasender Zorn stieg in ihr hoch, zerbrach die Barriere, die sie so verzweifelt um ihr Herz errichtet hatte. Warum mußte dieses unscheinbare Kind leben, während ihr bezauberndes Baby tot war?
»Komm! Ich halte deine Hand!« Ahnungslos, welche Gedanken die junge Frau bewegten, ergriff das Kind Karins Hand und leitete sie behutsam zum Uferrand, bis das seichte Wasser ihre Zehen umspülte.
Das Kind kicherte fröhlich. Ein unschuldig-naiver Klang, der in Karin denselben verwundbaren Nerv wie Sekunden früher traf. Sie spürte, wie sie erblaßte. Sie bekam auf einmal einen trockenen Mund.
»Macht das nicht Spaß?«
Große blaue Augen schauten zu ihr hoch. Das strahlende Lächeln verlieh dem kleinen Gesicht einen gewissen Reiz. Zwischen den weißen Vorderzähnen bemerkte man eine Lücke. Unter dem Strohhut stahl sich eine hellbraune Haarsträhne hervor.
Karin fuhr fort, das kleine Persönchen zu betrachten. Jedes winzige Detail nahmen ihre Sinne wahr – die langen Wimpern über den dunkelblauen Augen, das feste kleine Kinn, die Art, wie die Sonne die feinen Härchen auf den dünnen Ärmchen gebleicht hatte, der weiße Verband um ein Knie, das sie sich vermutlich bei einem Sturz aufgeschlagen hatte.
»Das macht doch Spaß, nicht?« fragte die Kleine vergnügt. Ihr Lächeln verflüchtigte sich ein wenig, als sie Karin zögern sah.
»Ja.« Letztere hatte ihre Sprache wiedergefunden. »Ja, es macht Spaß.«
Mit der Antwort zufrieden, lächelte das Kind erneut. »Mein Name ist Ulrike. Und wie heißt du?«
»Karin.«
»Karin«, wiederholte das kleine Mädchen. »Das ist ein hübscher Name.« Die blauen Augen richteten sich nach oben. »Du bist auch
hübsch«, stellte sie sachlich fest. »Trägst du diese schwarze Brille, weil die Sonne deinen Augen weh tut?«
»Ich… äh… ja. Manchmal.« Karin griff an ihr Kopftuch, vergewisserte sich, daß es richtig saß. Dann trat sie einen Schritt zurück, und das Kind ließ ihre Hand los. Karin spürte eine Woge der Erleichterung, die Kleine nicht länger berühren zu müssen. Gefolgt von einem schlechten Gewissen. Wie konnte sie so unvernünftig sein, ein unschuldiges Kind für die Grausamkeit des Schicksals verantwortlich zu machen?
»Onkel Hans trägt auch eine dunkle Brille am Tag. Seine Augen sehen sehr müde aus. Das kommt, weil er nachts so lange aufbleibt, um seine Bücher zu schreiben. Du wohnst dort hinten, nicht wahr?« Ein kleiner Finger zeigte zu dem Friesenhäuschen am äußersten Strandende.
Karin nickte. Am liebsten wäre sie losgerannt, um Zuflucht in ihrem freiwilligen Exil zu suchen und jeglicher Qual beim Anblick des fremden Kindes so rasch wie möglich zu entkommen.
»Ich hab dich schon mal gesehen. Wohnst du da hinten ganz allein?«
Karin nickte erneut.
»Es sieht wie ein Puppenhaus aus«, fuhr die Kleine fort. »Onkel Hans fand das auch. Wir haben mal einen Abendspaziergang am Strand gemacht. Du hattest alle Lichter angezündet. Die leuchteten wie Weihnachtssterne am Christbaum. Das sah sehr hübsch aus.« Und, nach einer kleinen Pause: »Warum wohnst du da ganz allein?«
»Ich… äh… ich mache hier nur Urlaub.«
»Ach so. Wir wohnen in dem großen Haus, das hinter dem Leuchtturm liegt – Onkel Hans, Rosalie und ich. Wir haben auch keine Nachbarn. Genau wie du. Onkel Hans sagt, er will keine Leute sehen, wenn er auf Föhr ist.« Sie blickte taxierend zu Karin hoch. »Aber du kannst kommen. Ich mag dich leiden. Und ich glaube, Onkel Hans würde dich auch gut leiden mögen.«
Karin spürte plötzlich den unwiderstehlichen Drang, ihre Arme um die schmalen Schultern des Kindes zu legen und es ganz fest an sich zu ziehen. Natürlich tat sie es nicht. Sie stand nur ganz still da und versuchte, ihre Gefühle zu analysieren. Gefühle, die sie nach dem Tod ihres kleinen Sohnes für immer gestorben geglaubt hatte.
Was war mit ihr geschehen? Eine Minute lang empfand sie dies, die nächste Minute das genaue Gegenteil. Es ging alles viel zu schnell.
Pfade taten sich vor ihr auf, die sie niemals wieder zu betreten gedachte.
»Jetzt muß ich aber wirklich gehen«, sagte sie, um ihrer Verwirrung Herr zu werden. Ich… ich habe heute noch eine Menge zu tun.«
Das kleine Mädchen seufzte enttäuscht, um gleich darauf zu fragen: »Oder kommst du an einem anderen Tag zum Strand hinunter? Was meinst du?«
»Ich weiß nicht. Kann sein.« Karin wägte ihre Worte sorgfältig. »Vielleicht«, sagte sie schließlich. Das traurige kleine Gesicht tat ihr leid, wenngleich sie ihre halbe Zusage schon fast bereute.
»Prima!« strahlte Ulrike. »Dann können wir uns wieder unterhalten. Es macht Spaß, wenn man jemand kennt, mit dem man reden kann. Rosalie hat meistens im Haus zu tun, und Onkel Hans arbeitet stundenlang an seinen Büchern. Meinst du, du könntest morgen zum Strand runterkommen?«
»Schon möglich. Falls ich Zeit habe.« Karin zwang sich zum Gehen. »Tschüß!«
»Tschüß, Karin!« Eine kleine Hand hob sich zum Winken.
Als Karin den Vorgarten erreichte und rückwärts schaute, sah sie das Kind noch immer am gleichen Fleck stehen, ihr mit erhobenen Händchen nachwinkend.
*
Es war an einem Sonntag. Karin hatte beschlossen, den westlichen Teil von Föhr zu erforschen. Nahezu das gesamte offene Weideland wurde von einem riesigen alten Deich geschützt. Er war etwa acht Meter hoch und von einer dichten, weichen Grasnarbe überwachsen. Auf der schmalen Deichkrone führte ein Fußweg um die Insel herum.
Ihr Spaziergang in Sonne und Wind, bei ständig wechselndem Wetter, wurde begleitet vom Geschrei der emporschwebenden und herabstürzenden Möwen. Auf der Seeseite sah sie in Steinmauern eingefaßte Rechtecke. Jenseits der Steinmauern erstreckte sich das weite Watt mit seiner Vogelwelt. Fasziniert beobachtete Karin neben einheimischen Arten bunt gefiederte Zugvögel, die im hohen Norden ihre Nistplätze eingenommen hatten.
Endlich, die Sonne stand schon tief im Westen, hatte sie ihren Ausgangspunkt wieder erreicht. Sie verließ den Deich, um das letzte Stück des Weges am Strand entlangzugehen. Sie hatte die grasige Böschung kaum verlassen, als das Kind sie sah.
Das kleine Mädchen verließ die Sandburg, deren Wall sie mit weißen Muscheln verziert hatte, und kam auf sie zugesprungen.
»Hallo, Karin!« Das Gesichtchen strahlte. »Ich dachte, du würdest niemals wieder zum Strand runterkommen. Ich glaubte schon, ich hätte alles bloß geträumt.«
Karin versuchte, das Lächeln zu erwidern, was der Kleinen zu gefallen schien. Dann gingen sie gemeinsam zum Wasser herunter.
»Gestern kam Onkel Hans zurück«, plapperte das Kind munter. »Er war in Hamburg und hat mir eine Überraschung mitgebracht. Rat mal, was es ist.«
»Ich habe nicht die leiseste Ahnung.«
»Ich geb dir einen Tip. Es ist was, was man essen kann.« Ulrike steckte einen Finger in den Mund.
»Eine Tafel Schokolade.«
»Nein. Aber du bist ganz nah dran. Soll ich’s dir verraten?«
Karin nickte.
»Eine Zuckerstange. Sie sieht aus wie ein Spazierstock mit roten und weißen Streifen. Onkel Hans hat sie auf dem Dom gekauft. In Hamburg ist jetzt Frühlingsdom, weißt du? Ich hab noch etwas von der Zuckerstange nachbehalten. Soll ich dir morgen ein Stück davon abgeben?«
»O nein, die behältst du ganz für dich allein. Es war nett von deinem Onkel, sie dir mitzubringen.«
Ulrike nickte. »Onkel Hans ist unheimlich nett. Weißt du, wenn ich alt genug bin, heirate ich Onkel Hans.« Letzteres sagte sie mit todernstem Gesicht. »Das tu’ ich wirklich!«
Wider Willen mußte Karin lächeln.
»Das mußt du ihm unbedingt erzählen.«
»Hab ich schon.«
»Und was hat er gesagt?«
»Er hat gesagt: ich fühle mich geschmeichelt.« Ulrike runzelte die glatte Kinderstirn. »Iris hat mich ausgelacht. Sie sagte: da mußt du aber noch eine ganze Weile warten. Du bist ja erst fünf.« Sie blickte zu Karin hoch. »Ich mag Iris nicht. Ich verstehe niemals, was sie meint. Und außerdem… mag sie mich auch nicht.«
Karin wußte nicht recht, wie sie auf dieses vertrauliche Geständnis reagieren sollte. Da fuhr die Kleine auch schon fort:
»Ich hab gehört, wie sie zu Onkel Hans gesagt hat, ich wäre die unscheinbarste graue Maus, die sie je gesehen hat.« Sie stieß ein Häufchen Sand mit dem nackten Fuß in die Luft. »Ich wünschte, sie würde für immer verschwinden.«
»Vielleicht hast du sie mißverstanden«, bemerkte Karin. Dabei erinnerte sie sich ihres ersten Eindrucks von dem Kind und verspürte ein leises Schuldgefühl.
Ulrike zuckte die dünnen Schultern. »Komm, setzen wir uns einen Augenblick hin«, bat sie und zog ihre neue Strandbekanntschaft neben sich in den Sand.
Nachdem Karin ihrer Bitte nachgekommen war, schlang sie die dünnen Ärmchen um beide Knie und stützte ihr Kinn darauf.
»Ich wünschte, du würdest Iris kennen. Vielleicht könntest du mir dann sagen, ob du sie hübsch findest. Onkel Hans findet sie anscheinend hübsch. Sie ist seine… Ver… Ver… Wie sagt man von Leuten, die gerne heiraten wollen?«
»Sie sind Verlobte«, half Karin aus, und Ulrike nickte.
»Wenn Onkel Hans in der Nähe ist, ist sie richtig nett zu mir«, fuhr sie fort, »aber wenn er nicht da ist, ist sie echt gemein.«
Das kleine Mädchen starrte in den Sand, dann blickte sie zu Karin hoch. »Sie will, daß ich das Licht ausdrehe, bevor ich einschlafe«, stieß sie stürmisch heraus, und die nackte Angst stand in ihren großen blauen Augen. »Ich fürchte mich im Dunkeln, wenn Onkel Hans nicht da ist«, flüsterte sie.
»Ich fürchte mich auch vor der Dunkelheit«, sagte Karin mehr zu sich selbst, und eine Weile saßen sie schweigend im stillen Einverständnis da.
»Rosalie kocht heute abend das Lieblingsessen von Onkel Hans«, begann das Kind erneut in völlig verändertem Tonfall. »Er ißt am liebsten Hammelfleisch mit grünen Bohnen. Und zum Nachttisch gibt es Eis mit Früchten.«
»Das klingt lecker.«
»Sag, würdest du zum Abendessen zu uns kommen, Karin?« fragte die Kleine, und ihre Augen blitzten freudig erregt.
»O nein, Ulrike, das geht nicht. Und ich denke, dein Onkel Hans wäre nicht sonderlich erbaut, wenn du eine fremde Frau zum Abendessen einladen würdest.«
»Ich lauf zu ihm hin und fragte ihn. Er sitzt auf der Mole und hält seine Angel ins Wasser, obgleich er nie was fängt.«
»Nein, nein, Ulrike, laß nur. Ich hätte sowieso keine Zeit. Ich muß heute abend noch eine Menge erledigen.«
»Was hast du denn zu tun?«
Bevor Karin antworten konnte, rief eine Männerstimme laut Ulrikes Namen. Sie unterbrach die friedliche Szene am Meeresstrand. Beide erhoben sich abrupt und blickten in die Richtung, aus der der Ruf gekommen war.
Karin bemerkte in der Ferne eine Gestalt, die sich ihnen rasch näherte. Es war ein hochgewachsener, athletisch gebauter Mann mit sonnengebräunter Haut und einem leicht gekräuselten kohlrabenschwarzen Haarschopf. Seine Gesichtszüge erinnerten sie an Sean Connery, den Helden so vieler James-Bond-Filme. Seine wohlgeformten Beine steckten in gestreiften Boxer-Shorts. Ein gelbes Polohemd straffte sich über seiner muskulösen breiten Brust.
Sein für gewöhnlich freundliches Männergesicht mit den scharf gekerbten Wangenfalten und dem markanten Kinn trug den Ausdruck kaum verhüllten Zorns. Die Augen, hinter einer riesigen Sonnenbrille verborgen, schienen Karin wütend anzufunkeln.
»Ulrike, es wird Zeit, daß du nach Hause kommst…«, sagte er mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete. »Hol deine Spielsachen aus unserem Strandkorb und geh schon voraus. Ich komme gleich nach. Wir treffen uns an der Mole.«
»Wir haben uns doch nur unterhalten, Onkel Hans…«, fing Ulrike an.
»Schon gut«, schnitt der Mann dem Kind kurzerhand das Wort ab. »Mach, daß du vorankommst. Ich hol dich rasch ein.«
»Ja, Onkel Hans. Tschüß, Karin. Bis bald.«