Anders als andere Kinder - Gitta Holm - E-Book

Anders als andere Kinder E-Book

Gitta Holm

5,0

Beschreibung

Große Schriftstellerinnen wie Patricia Vandenberg, Gisela Reutling, Isabell Rohde, Susanne Svanberg und viele mehr erzählen in ergreifenden Romanen von rührenden Kinderschicksalen, von Mutterliebe und der Sehnsucht nach unbeschwertem Kinderglück, von sinnvollen Werten, die das Verhältnis zwischen den Generationen, den Charakter der Familie prägen und gefühlvoll gestalten. Mami ist als Familienroman-Reihe erfolgreich wie keine andere! Seit über 40 Jahren ist Mami die erfolgreichste Mutter-Kind-Reihe auf dem deutschen Markt! Charly Elsner blickte wie gebannt an der Fassade des Instituts für Biophysik empor. Er fühlte sich irgendwie an eine Hochzeitstorte erinnert. Wahrscheinlich hatte dem Baumeister des früheren Sommerschlosses vorgeschwebt, einen steinernen Zuckerguß zu schaffen, sonst hätte er die Fassade nicht mit so vielen Türmchen, Erkern und Stuckrosetten verziert. Er zupfte seinen gelben Rollkragenpullover unter der schwarzen Lederjacke zurecht und zog an dem altmodischen Klingelzug. Es dauerte eine Weile, bis ein alter Mann in einer Art Livree mit verblichenen Silberknöpfen erschien. »Sie wünschen bitte?« fragte der Mann mit einem Organ, das wie eine verstimmte Blechtrompete klang. »Mein Name ist Karl Friedrich Elsner«, stellte sich der Angeredete vor. Er wurde nur von seiner Braut Jessica und befreundeten Kollegen »Charly« genannt. »Ich komme vom ›Wochenkurier‹ und bin bei Herrn Professor Sievering angemeldet.« »Bitte, folgen Sie mir.« Der Pförtner führte ihn in eine Art Warteraum für Besucher, der in schummerigem Halbdunkel lag. In diesem ehemaligen Sommerschloß schien alles vornehm, alt und im Sterben begriffen zu sein. Die dunklen schwachbeinigen Möbel, die Tapeten und die uralten Zeitschriften, die auf einem Tischchen lagen, ja, sogar die Luft hatte etwas von einen Mausoleum an sich. Ich würde ersticken, wenn ich hier Tag für Tag drin leben müßte, ging es Charly Elsner kurz durch den Kopf. Etwa fünf Minuten mochten vergangen sein, als sich die Tür öffnete. Charly hätte sich nicht gewundert, ein Gespenst in einem weißen Schlottergewand hereinwallen zu sehen. Aber der Mann, der den Raum betrat, hatte absolut nichts Geisterhaftes an sich.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 113

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
5,0 (1 Bewertung)
1
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Mami Bestseller – 14–

Anders als andere Kinder

Wann darf Dita endlich wieder unbeschwert fröhlich sein?

Gitta Holm

Charly Elsner blickte wie gebannt an der Fassade des Instituts für Biophysik empor. Er fühlte sich irgendwie an eine Hochzeitstorte erinnert. Wahrscheinlich hatte dem Baumeister des früheren Sommerschlosses vorgeschwebt, einen steinernen Zuckerguß zu schaffen, sonst hätte er die Fassade nicht mit so vielen Türmchen, Erkern und Stuckrosetten verziert.

Er zupfte seinen gelben Rollkragenpullover unter der schwarzen Lederjacke zurecht und zog an dem altmodischen Klingelzug. Es dauerte eine Weile, bis ein alter Mann in einer Art Livree mit verblichenen Silberknöpfen erschien.

»Sie wünschen bitte?« fragte der Mann mit einem Organ, das wie eine verstimmte Blechtrompete klang.

»Mein Name ist Karl Friedrich Elsner«, stellte sich der Angeredete vor. Er wurde nur von seiner Braut Jessica und befreundeten Kollegen »Charly« genannt. »Ich komme vom ›Wochenkurier‹ und bin bei Herrn Professor Sievering angemeldet.«

»Bitte, folgen Sie mir.«

Der Pförtner führte ihn in eine Art Warteraum für Besucher, der in schummerigem Halbdunkel lag. In diesem ehemaligen Sommerschloß schien alles vornehm, alt und im Sterben begriffen zu sein. Die dunklen schwachbeinigen Möbel, die Tapeten und die uralten Zeitschriften, die auf einem Tischchen lagen, ja, sogar die Luft hatte etwas von einen Mausoleum an sich.

Ich würde ersticken, wenn ich hier Tag für Tag drin leben müßte, ging es Charly Elsner kurz durch den Kopf.

Etwa fünf Minuten mochten vergangen sein, als sich die Tür öffnete. Charly hätte sich nicht gewundert, ein Gespenst in einem weißen Schlottergewand hereinwallen zu sehen. Aber der Mann, der den Raum betrat, hatte absolut nichts Geisterhaftes an sich. Er wirkte trotz seines vorgeschrittenen Alters quicklebendig.

Er trug einen weißen Kittel. Auf seiner Nase thronte ein altmodischer Zwicker, und er rieb sich fortgesetzt die Hände.

»Sievering«, stellte er sich formlos vor. »Sie sind der Mann von der Zeitung, der Quellenmaterial für eine wissenschaftliche Artikelserie sucht, nicht wahr? Über tierische Reaktionsfähigkeit, vornehmlich bei Atomversuchen, wie? Dann kommen Sie am besten mit mir in die Bibliothek.«

Er hatte alle diese Sätze mit einer Behendigkeit heruntergespult, die Charly in Erstaunen versetzte. Jetzt eilte er mit wehenden weißen Kittelschößen voraus, unaufhörlich redend. Vorbei an schwarzen Spitzbogentüren, grünverglasten Oberlichtern, die kaum Licht hereinließen, über hallende Mamorfliesen, die den Eindruck eines Mausoleums verstärkten.

»Hier.« Professor Sievering wies auf die neunte oder zehnte Spitzbogentür, die sie passierten. »Unsere Bibliothek.« Sie traten ein.

Alle vier Wände des großen Raums hatten Regale bis zur Decke. Der Geruch von altem Papier, von Staub und Tabak hing in der Luft.

»Sie werden eine Unmenge Material vorfinden«, sagte Professor Sievering. »Gewiß alles, was Sie für Ihre Wissenschaftsserie benötigen. Bitte, nehmen Sie doch Platz. Sie dürfen auch gern rauchen. Mich müssen Sie leider entschuldigen. Ich habe noch eine Unmenge zu tun. Ich schicke Ihnen jemand, der Ihnen beim Suchen Ihrer Unterlagen hilft. Guten Tag.«

Fort war er.

Kopfschüttelnd sah Charly ihm nach. Eigentlich hatte er sich Biologen ganz anders vorgestellt. Auch seine Vorstellung von einem Institut für Biophysik wich sehr von diesem Gebäude ab. Er hatte sich alles heller, hygienischer, laborartiger gedacht. Nun, ihm war es gleich. Hauptsache, er bekam ausreichendes Material für seine Artikelserie.

Im nächsten Moment ging die Tür um einen Spaltbreit auf, und ein Mädchenkopf wurde sichtbar. Mit allem hatte Charly gerechnet, nur damit nicht, daß sich in dieser ehemaligen Fürstenresidenz ein Kind befand.

Die Kleine, sie mochte noch im Vorschulalter sein, war hereingekommen und hatte die Tür hinter sich geschlossen. Charly musterte erstaunt den altmodischen Aufzug, mit dem sie hier erschien. Er erinnerte ihn an die Kinderbilder seiner Großmutter auf vergilbten Fotografien: ein hochgeschlossenes dunkelblaues Kleid, darüber eine gestärkte weiße Schürze, graue Kniestrümpfe und schwarze Stiefelletten, die bis zur Wade reichten.

Ihr blondes Haar war in zwei dünne, winzig kleine Zöpfe geflochten.

Sie kam auf ihn zu, sah ihn mit ihren großen blauen Augen an und sagte artig:

»Guten Tag.« Dabei lächelte sie nicht, und der Blick, mit dem sie dem fremden Mann vor sich studierte, war so kritisch, daß Charly zu seiner eigenen Bestürzung verlegen wurde.

»Na, wer bist du denn?« fragte er, um überhaupt etwas zu sagen.

»Prendita«, antwortete das Kind und nahm ihm gegenüber auf einem der hochlehnigen schwarzen Stühle Platz.

»Ist das dein Vorname?«

»Ja«, erwiderte das Kind und setzte schweigend seine Musterung fort. Langsam hellte sich das kleine Gesicht auf. Anscheinend fiel die Prüfung zu Charlys Gunsten aus.

»Das ist aber ein seltsamer Name«, fuhr er fort.

»Ja«, antwortete sie wieder. Und fügte nach einer kleinen Pause hinzu: »Ich wollte nur nachschauen, ob Professor Wiedemann wohl in der Bibliothek ist.«

»Nein, dein Professor Wiedemann ist nicht hier. Ist das dein Vater?« fragte er.

Das Kind lachte. Es sah jetzt plötzlich sehr hübsch und sehr kindlich aus. »Professor Wiedemann ist eine Frau.«

»Ach so.« Charly lächelte ihr zu. »Und du gehörst hier ins Haus, oder bist du auch nur zu Besuch?«

»Nein, ich wohne hier.«

»Dann ist dein Vater sicher ein Mitarbeiter des Instituts?«

Prendita sah ihn aus ihren großen ernsthaften Augen an. »Nein.« Das war die einzige Auskunft.

»Wer sind deine Eltern? Haben sie sonst was mit dem Institut zu tun?«

»Ich habe keine Eltern.« Wieder dieser bestürzende Blick aus den blauen, viel zu ernsten Kinderaugen. »Ich bin ein Findelkind. Professor Wiedemann hat mir oft erzählt, wie ich hergekommen bin. Eines Morgens lag ich vor der Eingangstür, ich war noch ganz klein. Erst ein paar Tage alt, glaube ich. Und weil meine Eltern nicht gefunden wurden, haben mich Professor Wiedemann und die anderen Herren hierbehalten. Sie haben mich Prendita genannt. Prendita heißt ›Die Aufgenommene‹. Und seitdem bin ich hier.«

Mein Gott, dachte Charly, mein Gott, wie barbarisch! Ein Baby anderen Leuten vor die Tür zu legen und dann wegzulaufen! Armes kleines Ding! Was gibt es bloß für Menschen auf der Welt!

Das Herz quoll ihm vor Mitleid über. Am liebsten hätte er die Kleine in die Arme genommen und an sich gedrückt. Er liebte Kinder über alles.

Er und Jessica waren fest entschlossen, eine richtige Familie zu gründen und dazu gehörten nun mal Kinder. Darüber waren sie sich von Anfang an einig gewesen.

»Und du bist gern hier?« wollte er von Prendita wissen.

»Oh, ja, sehr. Ich kann hier viel lernen. Ich will auch einmal eine berühmte Wissenschaftlerin werden. Professor Wiedemann sagt, ich schaffe es bestimmt. Und Professor Sievering will mir bald Physik beibringen.«

Charly unterdrückte ein Lachen. »Soso, du bekommst also demnächst Physikunterricht. Aber du bist doch höchstens erst sieben, wie? Gehst du denn überhaupt schon zur Schule?«

»Ich bin erst sechs, und Professor Wiedemann ist meine Schule. Ich kann schon rechnen, lesen, schreiben und etwas Latein!«

»Donnerwetter, das ist ja allerhand!« rief Charly ehrlich überrascht. Sollte er es mit einem Wunderkind zu tun haben? Das wäre ja eine echte Entdeckung.

»Und Sie?« fragte die Kleine plötzlich. »Ich meine, wollen Sie hier arbeiten?«

»Nein. Ich bin Journalist. Das ist jemand, der…«

»Ich weiß, was das ist. Sie sind ein Mann von der Zeitung. Professor Wiedemann hat mir erzählt, wie man Zeitungen macht.«

»So, das weißt du also auch schon.« Charly begann, sich ein wenig hilflos zu fühlen. Er liebte Kinder und konnte gut mit ihnen umgehen. Prendita aber war ein Sonderfall. Sie war so unendlich ernst, klug und unkindlich. Wenn sie nicht gerade lachte – und das schien sie äußerst selten zu tun – wirkte sie wie eine Erwachsene in einem zu kleinen Körper. Gleichzeitig aber ging von ihrer kleinen Person, von ihrem blassen, mageren Stubenhockergesicht eine Anziehungskraft aus, die ihn wünschen ließ, sie möge nicht gleich wieder verschwinden.

»Sie warten auf jemanden?« erkundigte sich Prendita.

»Ja. Ich brauche Material für eine Artikelserie. Jemand sollte mir beim Heraussuchen helfen.«

»Dann muß Professor Wiedemann gleich kommen. Sie verwaltet die Bibliothek. Dann kann ich hier ja auf sie warten, wenn Sie erlauben. Gleich fängt nämlich meine Lateinstunde bei Professor Wiedemann an.«

Professor Wiedemann, immer wieder Professor Wiedemann. Charly wurde neugierig auf die Frau, die für Prendita so eine Art von Bezugsperson zu sein schien. Und dauernd redete sie vom Lernen. Lernte sie wirklich so gern? Oder hatte sie in diesem alten Schloß nichts anderes kennengelernt?

»Sag mal«, begann er, »bist du jemals in einem Zoo gewesen? Oder in einem Theater?«

»Im Zoo? O ja, schon oft. Und auch im naturhistorischen Museum. Aber im Theater war ich noch nie. Professor Wiedemann sagt, Theater ist langweilig und dumm.«

»Ach, das würde ich nicht sagen. Ich glaube, ein Märchenspiel würde dir sehr gut gefallen.«

»Was ist das, ein Märchenspiel?«

Guter Gott, das Kind wußte nicht einmal, was ein Märchen war! Man hat sie mit Lateinvokabeln vollgestopft und wollte sie demnächst mit physikalischen Formeln füttern! Ein Mädchen von knapp sechs Jahren! Aber man hatte sie nie das sein lassen, was sie war: ein Kind! Sie ahnte nicht, wieviel Schönes, wie viele Wunder ihre kleine, kindliche Welt für sie bereithielt.

»Ein Märchen, meine Kleine«, sagte er sehr herzlich, »ist eine besonders schöne und spannende Geschichte. Sie handelt von Prinzen und Prinzessinnen, von guten und bösen Feen, von Riesen, Zwergen, Hexen und Zauberern.«

Prendita runzelte die Brauen und sah Charly skeptisch an. »Feen? Hexen? Zauberer? Ach, ich weiß nicht…«, meinte sie unbestimmt. Er merkte, daß sie mit Märchenfiguren nichts anzufangen wußte.

»Wenn du möchtest, erzähle ich dir ein Märchen«, schlug er vor. »Vielleicht das vom Dornröschen, das ist sehr hübsch. Es wird dir sicher gefallen.«

»Ja, bitte.« Sie hatte das zögernd gesagt und aus reiner Höflichkeit. Es war deutlich zu merken, daß sie nicht besonders gespannt auf Charlys Erzählung war.

»Es war einmal ein Königspaar, dem eine hübsche kleine Tochter geschenkt wurde«, begann er. Er erzählte von der Tauffeier, von den guten Feen und von der bösen Fee, die ihren Fluch aussprach. Und je länger er erzählte, desto nachdenklicher und ablehnender wurde Prenditas Gesicht. Sie hörte zwar noch zu, doch mit oberflächlichem Interesse. Als er zu der entscheidenden Stelle kam, an der die Prinzessin sich in den Finger sticht und der Fluch der bösen Fee sich erfüllt, veränderte sich schlagartig Prenditas Gesichtsausdruck. Offensichtlich war jetzt ihr Interesse geweckt.

Charly sprach weiter, schilderte, wie die Schloßbewohner alle in tiefen Schlaf verfielen und wie dieser Schlaf hundert Jahre dauerte.

»Hundert Jahre?« schrie Prendita mit einem Mal entrüstet. »Hundert?« Dann lachte sie verächtlich. »Alles Lügen! Kein Mensch könnte hundert Jahre schlafen. Das gibt es nicht!«

»Aber Prendita! Es ist doch ein Märchen!«

»Nein, ganz dumme Lügen sind das. Und Rosen wachsen auch nicht so hoch wie Häuser, und kein Prinz würde in ihnen hängenbleiben wie in dem dummen Märchen.«

Charly hob bedauernd die Schultern. Armes kleines Ding, dachte er.

Er fühlte plötzlich eine fürchterliche Wut auf die Leute vom Institut. Was hatten sie aus dem Kind gemacht? Ein frühreifes, altkluges Ding mit dem Verstand eines

Teenagers.

Ein Mädchen, das man systemathisch von früh bis spät mit Wissen vollstopfte, damit eines Tages eine tüchtige Wissenschaftlerin aus ihm wurde. Man mißbrauchte das bedauernswerte kleine Mädchen als Experiment für ehrgeizige Forschungszwecke. Wahrscheinlich glaubten die klugen Herrschaften, mit der Bildung könne man nicht früh genug anfangen. Dummes Zeug! Verbildet hatten sie das ihnen anvertraute Kind.

Was fing man mit einer Sechsjährigen an, die Märchen als unwirklich abtat?

Charly wußte es nicht. Niemals war ihm ein Kind wie Prendita begegnet. Er sah sie an, wie sie dasaß und ihn vorwurfsvoll anschaute. Er sah das altmodische Kleid mit der gestärkten Schürze. Es sollte wohl eine Art Schuluniform sein, und ihr rührender Anblick traf ihn ins Herz.

*

Da öffnete sich die Tür. Eine Frau unbestimmbaren Alters, flach wie ein Reißbrett, mit wirrem graumeliertem Haar, zwinkerte durch dicke Brillengläser in den Raum. Als sie Prendita gewahrte, hellte sich ihr Gesicht auf.

»Ah, da bist du ja«, rief sie. »Hast du unseren Gast inzwischen ein wenig unterhalten?« Sie stellte sich Charly vor und bat um Entschuldigung, daß sie ihn so lange hatte warten lassen. »Prendita, du kannst jetzt gehen. Unsere Lateinlektion beginnt eine halbe Stunde später. Gib dem Herrn die Hand.«

Prendita gehorchte. Dann fragte sie schüchtern: »Frau Professor, darf ich den Herrn etwas fragen?«

»Aber sicher.« Professor Wiedemann entblößte ihre langen gelben Zähne. Vielleicht war das ihre Art, zu lächeln.

»Bitte, könnte ich wohl mal zusehen, wie Ihre Zeitung gemacht wird? Ich möchte es nämlich gern wissen. Oder… oder macht es zuviel Umstände?«

Charly schüttelte lächelnd den Kopf. »Das läßt sich einrichten. Ich würde dich gern abholen. Aber natürlich müssen wir zuvor die Erlaubnis von Professor Wiedemann einholen.«

»Bevor ich das genehmige, müßte ich erst die anderen Herren des Kollegiums befragen. Prendita war noch nie allein vom Institut fort.«

»Oh, ja, bitte«, bat die Kleine flehentlich.

Professor Wiedemann versprach, gleich morgen mit ihren Kollegen deswegen zu reden und schickte Prendita nach draußen.

»Ein ungewöhnliches Kind«, bemerkte Charly, als sie fort war.

»Oh, ja, das ist sie«, stimmte die hochqualifizierte Wissenschaftlerin ihm bei. »Sie ist das Produkt unserer gemeinschaftlichen Erziehung. Nichts als Erziehung!« betonte sie.

»Wie sie mir sagte, hat man sie als Findelkind vor der Tür Ihres Instituts ausgesetzt.«

»Ja. Eines Morgens lag ein schmuddeliges Bündel mit einem winzigen Baby auf der obersten Stufe des Portals. Nach Gemeinschaftsbeschluß übernahm das Forschungsteam die Pflegschaft für den Säugling. Mir als einziger Frau wurde eine besondere Betreuung des Kindes übertragen.«

»Es scheint über einen ungewöhnlichen Verstand zu verfügen.«

»In erster Linie verfügt es über eine hervorragende Auffassungsgabe, ist eifrig und an allem interessiert. Erstaunlich für ein Findelkind. Von seinen Eltern kann es nicht die allerbesten Erbanlagen mitbekommen haben. Deshalb meinten die Herren auch zuerst, man sollte es in ein Waisenhaus geben. Aber ich habe nein gesagt.«