Der Sonnenstich - Iwan Bunin - E-Book

Der Sonnenstich E-Book

Iwan Bunin

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Beschreibung

Iwan Bunin ist in den 1920er-Jahren der wohl berühmteste russische Emigrationsschriftsteller in Paris. Die meisten der Erzählungen im Band Der Sonnenstich aber spielen in Russland. Bei einem leicht nostalgischen Unterton weisen sie eine meisterhafte epische Tiefe auf. An der ambivalenten Liebe zumeist junger Männer zu souveränen, eigenwilligen Frauen zeigen sich die Grenzen der Beherrschbarkeit des Lebens. Die Erzählung »Mitjas Liebe«, die Rilke und Thomas Mann faszinierte, zeichnet die Psychologie der unglücklichen Verliebtheit eines jungen Mannes nach. Fast noch paradoxer, elementarer zeigt sich die Liebe in der brillanten Geschichte von »Kornett Jelagin«, der vor Gericht steht, weil er eine Frau umgebracht haben soll. »Der Sonnenstich« schließlich erzählt von einer flüchtigen, rätselhaften Liebesaffäre auf einer Wolgareise.

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Seitenzahl: 311

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Iwan Bunin

Der Sonnenstich

Erzählungen 1924–1926

Aus dem Russischen vonDorothea Trottenberg

Herausgegeben vonThomas Grob

DÖRLEMANN

Die Übersetzung der Erzählung »Mitjas Liebe« folgt der Ausgabe: Bunin, Iwan: Mitina ljubow. Paris: 1925. Die Übersetzung der Erzählungen »Eine Last«, »Der mordwinische Sarafan«, »Der Fall Kornett Jelagin«, »Zikaden«, »Notre-Dame de la Garde«, »Ida«, »Der Sonnenstich«, »Eine Schauergeschichte«, »Der geschmähte Erlöser«, »Im Garten« folgt der Ausgabe: Bunin, Iwan: Solnetschny udar. Paris: 1927.   Alle Rechte vorbehalten © 2024 Dörlemann Verlag AG, Zürich Umschlaggestaltung: Mike Bierwolf unter Verwendung des Gemäldes Auf dem Steg. Sommer von Pjotr Nilus Porträt Iwan Bunin: The Estate of Ivan Bunin Satz und eBook-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde ISBN 978-3-03820-894-5www.doerlemann.ch

Inhalt

CoverTitelei und ImpressumPorträtMitjas LiebeEine LastDer mordwinische SarafanDer Fall Kornett JelaginZikadenNotre-Dame de la GardeIdaDer SonnenstichEine SchauergeschichteDer geschmähte ErlöserIm GartenAnmerkungen der ÜbersetzerinEditorische NotizNachwort von Thomas GrobZum Autor, zu seiner Übersetzerin und zum HerausgeberZum Buch

Iwan Bunin

Mitjas Liebe

I

Mitjas letzter glücklicher Tag in Moskau war der neunte März. So zumindest kam es ihm vor.

Katja und er waren um die Mittagsstunde den Twerskoi-Boulevard hinaufspaziert. Der Winter war plötzlich dem Frühling gewichen, und in der Sonne war es beinahe heiß. Als seien wirklich schon die Lerchen gekommen und hätten Wärme und Fröhlichkeit mitgebracht. Alles war naß, alles taute, von den Häusern tropfte es, die Hausmeister hackten das Eis von den Bürgersteigen und schaufelten den pappigen Schnee von den Dächern herunter, überall war viel Volk und herrschte reges Treiben. Die hohen Wolken zerrannen zu feinem, weißem Dunst und verschwammen mit dem feuchten, blau schimmernden Himmel. In der Ferne, weit hinten auf dem Boulevard, war es schwarz vor Menschen, Puschkin ragte in milder Versonnenheit darüber auf, und das Strastnoi-Kloster1 leuchtete. Das Schönste aber war, daß Katja, die an diesem Tag besonders hübsch und voller Herzlichkeit und Vertrautheit war, Mitja mit kindlicher Anhänglichkeit immer wieder unterhakte und von unten herauf ins Gesicht blickte, während er, fast ein wenig überheblich vor Glück, derart ländlich-ausgreifende Schritte machte, daß sie kaum mitkam.

Bei Puschkin sagte sie unverhofft:

»Wie drollig, mit welch rührender, übermütiger Unbeholfenheit du deinen großen Mund aufreißt, wenn du lachst! Sei mir nicht böse, gerade für dieses Lächeln liebe ich dich. Und für deine byzantinischen Augen …«

Mitja unterdrückte ein Lächeln, bezwang sowohl die heimliche Genugtuung als auch die leichte Gekränktheit und antwortete mit Blick auf das nun vor ihnen hoch in den Frühlingshimmel ragende Denkmal freundlich:

»Was den Übermut angeht, scheint mir, daß wir in der Hinsicht nicht allzu weit auseinander liegen, trotz deiner achtzehn Jahre. Und einem Byzantiner gleiche ich so wenig wie du einer chinesischen Kaiserin. Ihr habt doch alle einfach den Verstand verloren mit eurem Byzanz, überhaupt mit eurem Stil, eurer Ästhetik. Ich verstehe deine Mutter nicht!«

»Was denn, würdest du mich an ihrer Stelle etwa im Terem2 einsperren?«, fragte Katja.

»Das nicht, aber ich würde einfach diese ganze angeblich künstlerische Boheme nicht über die Schwelle lassen, all diese künftigen Berühmtheiten aus den Studios, Konservatorien und Schauspielschulen«, erwiderte Mitja, und er bemühte sich, gelassen und freundlich-unbefangen zu bleiben. »Du hast mir doch selbst erzählt, daß Bukowezki dich zum Abendessen ins Strelna3 eingeladen hat, daß Jegorow dich nackt modellieren wollte, als ersterbende Meereswelle, und daß du natürlich furchtbar geschmeichelt bist ob dieser Ehre.«

»Und trotzdem werde ich die Kunst nicht einmal für dich aufgeben«, sagte Katja. »Vielleicht bin ich auch garstig, wie du immer sagst«, fuhr sie fort, obwohl Mitja so etwas nie gesagt hatte, »vielleicht bin ich verdorben, aber du musst mich nehmen, wie ich bin. Laß uns nicht streiten, hör auf mit deiner Eifersucht, wenigstens heute, an so einem wunderbaren Tag! – Wieso verstehst du denn nicht, daß du für mich trotz allem der Beste, der Einzige bist?«, fragte sie leise und eindringlich, blickte ihm gespielt verführerisch in die Augen und begann nachdenklich und getragen zu rezitieren:

Es schlummert4 zwischen uns Geheimes,

Die Seelen gaben sich den Ring …

Diese Zeilen, diese Verse berührten Mitja überaus schmerzlich. Allgemein war selbst an diesem Tag vieles unangenehm und schmerzlich. Unangenehm war der Scherz über seine jungenhafte Unbeholfenheit: Derlei Scherze hatte er von Katja nicht zum ersten Mal vernommen, und sie waren nicht zufällig – Katja gab sich nicht selten in diesem oder jenem erwachsener als er, stellte nicht selten (und unabsichtlich, also vollkommen natürlich) ihre Überlegenheit heraus, und er nahm es schmerzlich hin als Zeichen einer geheimen, sündigen Erfahrung. Unangenehm waren das »trotz allem« (»du bist für mich trotz allem der Beste«) und die Tatsache, daß dies mit plötzlich unerklärlich gesenkter Stimme gesagt wurde, und besonders unangenehm waren die Verse, die manierierte Art, wie sie vorgetragen wurden. Aber selbst die Verse und wie sie vorgetragen wurden, das also, was Mitja am meisten an jenes Milieu erinnerte, das ihm Katja nahm, das seine heftige Abneigung und Eifersucht entfacht hatte, ertrug er vergleichsweise leicht an diesem glücklichen neunten März, dem letzten glücklichen Tag in Moskau, wie es ihm später oft erscheinen sollte.

An diesem Tag, auf dem Rückweg vom Kusnezki Most, wo Katja bei Zimmermann5 einige Noten von Skrjabin gekauft hatte, sprach sie unter anderem von seiner, Mitjas, Mama und sagte lachend:

»Du kannst dir nicht vorstellen, wie ich mich schon im Voraus vor ihr fürchte!«

Sie hatten, warum auch immer, in der ganzen Zeit ihrer Liebe kein einziges Mal über die Zukunft gesprochen, darüber, wo es hinführen würde mit ihrer Liebe. Und jetzt auf einmal sprach Katja von seiner Mama, und zwar nicht einfach so, sondern als stünde es außer Frage, daß seine Mama ihre zukünftige Schwiegermutter sei …

II

Danach ging scheinbar alles weiter wie zuvor. Mitja begleitete Katja ins Studio des Künstlertheaters, zu Konzerten und literarischen Veranstaltungen, oder er blieb bis zwei Uhr nachts bei ihr auf der Kislowka und nutzte die sonderbare Freiheit, die ihre Mutter ihr ließ, eine immerzu rauchende, immerzu rot geschminkte Dame mit himbeerroten Haaren, eine liebenwürdige, gutmütige Frau (die seit langem getrennt von ihrem Mann lebte, der eine zweite Familie hatte). Manchmal besuchte Katja auch Mitja in seinen Räumen auf der Moltschanowka, und ihre Rendezvous verliefen wie zuvor fast durchwegs in einem schwülen Taumel von Küssen. Doch Mitja wurde das Gefühl nicht los, daß wie aus dem Nichts etwas Unheimliches begonnen, sich etwas verändert hatte, daß etwas anders wurde, in Katja, in ihrer Beziehung zu ihm.

Wie im Flug war die unvergeßliche, beschwingte Zeit vergangen, als sie einander gerade erst kennengelernt hatten, als sie, kaum daß sie sich kannten, plötzlich spürten, daß sie am liebsten nur miteinander (und zwar von morgens bis abends) plaudern wollten – als Mitja sich unvermittelt in jener märchenhaften Welt der Liebe fand, die er insgeheim seit seiner Kindheit, seit seiner frühen Jugend ersehnt hatte. Dies war im Dezember gewesen – ein frostkalter, heiterer Monat, der Moskau Tag für Tag mit dichtem Rauhreif und dem mattroten Ball der tiefstehenden Sonne schmückte. Der Januar und der Februar zogen Mitjas Liebe in einen Strudel unaufhaltsamen Glücks, das bereits in Erfüllung gegangen schien oder zumindest jeden Moment in Erfüllung gehen würde. Aber damals schon wurde dieses Glück nach und nach (und immer öfter) getrübt und vergiftet. Damals schon schien es ihm bisweilen so, als gebe es zwei Katjas: Die eine, nach der sich Mitja vom ersten Moment ihrer Bekanntschaft an unentwegt sehnte, die er begehrte, und die andere – die echte, die gewöhnliche Katja, die sich so unerträglich unterschied von der ersten. Aber dennoch war dies nicht zu vergleichen gewesen mit dem, was Mitja jetzt erlebte.

Alles ließ sich erklären. Die Frauen hatten ihre Frühlingsobliegenheiten zu erledigen, Einkäufe, Bestellungen, stetige Änderungen bald von diesem, bald von jenem, und tatsächlich mußte Katja mit ihrer Mutter häufig Schneiderinnen und Hutmacherinnen aufsuchen; außerdem stand sie kurz vor ihrem Examen an der privaten Schauspielschule, die sie besuchte. Ihre Unruhe, ihre Zerstreutheit mochten daher vollkommen natürlich sein. Damit tröstete Mitja sich immer wieder. Doch dieser Trost half nicht – was sein argwöhnisches Herz dagegenhielt, war stärker und bestätigte sich immer deutlicher: Katjas innere Gleichgültigkeit ihm gegenüber wuchs, und mit ihr wuchsen sein Argwohn, seine Eifersucht. Der Direktor der Schauspielschule verdrehte Katja den Kopf mit Lob, und sie konnte nicht an sich halten und erzählte Mitja immer wieder davon. Der Direktor hatte zu ihr gesagt: »Du bist der Stolz meiner Schule« – er sprach alle seine Schülerinnen mit »du« an – und gab ihr zusätzlich zum allgemeinen Unterricht in der Fastenzeit noch Einzelstunden, um in den Examen mit ihr besonders zu glänzen. Es war bekannt, daß er Schülerinnen verführte, daß er Sommer für Sommer eine von ihnen mitnahm in den Kaukasus, nach Finnland, ins Ausland. Und Mitja schwante, daß der Direktor es jetzt auf Katja abgesehen hatte, die zwar keine Schuld daran trug, dies aber vermutlich spürte und begriff und allein deshalb schon in einer schändlichen, sündhaften Beziehung zu ihm stand. Dieser Gedanke war umso quälender, als Katjas nachlassende Aufmerksamkeit allzu offensichtlich war.

Es schien, als lenke sie irgendetwas allmählich von ihm ab. Der Gedanke an den Direktor ließ ihm keine Ruhe. Doch es war nicht nur der Direktor! Es schien, als würde Katjas Liebe allmählich verdrängt durch andere Interessen. Für wen, für was? Mitja wußte es nicht, er war eifersüchtig auf alle, auf alles, und insbesondere auf jenes heimliche Leben, das sie in seiner Vorstellung bereits begonnen hatte zu führen. Ihm schien, sie werde unaufhaltsam weggezogen von ihm, vielleicht hin zu etwas, an das allein zu denken schrecklich war.

Einmal sagte Katja in Anwesenheit ihrer Mutter halb scherzhaft zu ihm:

»Sie, Mitja, urteilen über Frauen noch immer nach dem Domostroi6. Aus Ihnen wird einmal ein richtiger Othello. Ich würde mich nie in Sie verlieben und Sie niemals heiraten!«

Die Mutter widersprach ihr:

»Ich kann mir Liebe ohne Eifersucht nicht vorstellen. Wer nicht eifersüchtig ist, liebt meiner Meinung nach nicht.«

»Nein, Mama«, sagte Katja mit ihrer ständigen Neigung, die Worte anderer zu wiederholen, »Eifersucht ist eine Geringschätzung desjenigen, den man liebt. Es bedeutet, daß ich nicht geliebt werde, wenn man mir nicht glaubt«, sagte sie und sah dabei Mitja absichtlich nicht an.

»Meiner Meinung nach«, widersprach die Mutter, »ist Eifersucht Liebe. Das habe ich sogar irgendwo gelesen. Es wurde dort sehr gut bewiesen und sogar mit Beispielen aus der Bibel belegt, in denen Gott selbst sich als Eiferer und Rächer bezeichnet …«

Was Mitjas Liebe anging, so fand diese ihren Ausdruck nun beinahe gänzlich und ausschließlich in Eifersucht. Es war dies keine gewöhnliche Eifersucht, sondern eine, wie ihm schien, ganz besondere. Katja und er hatten die letzte Grenze der Intimität noch nicht überschritten, obgleich sie sich in den Stunden, in denen sie allein waren, allzu Vieles erlaubten. Jetzt war Katja in diesen Stunden noch leidenschaftlicher als zuvor. Doch jetzt schien auch das verdächtig und rief bisweilen ein furchtbares Gefühl hervor. Alle Gefühle, aus denen seine Eifersucht bestand, waren furchtbar, aber darunter gab es eines, das furchtbarer war als alle anderen und das Mitja einfach nicht zu bestimmen, ja nicht einmal zu begreifen vermochte. Es äußerte sich darin, daß jene Bekundungen von Leidenschaft, die so selig und wonnevoll waren, erhabener und schöner als alles andere auf der Welt, wenn es um sie beide, um Mitja und Katja ging, sogleich unsagbar abstoßend und sogar irgendwie widernatürlich wurden, wenn Mitja an Katja mit einem anderen Mann dachte. Dann weckte Katja in ihm brennende Abneigung und sogar körperlichen Widerwillen. Alles, was er selbst mit ihr tat, wenn sie beide allein waren, war für ihn voll paradiesischer Anmut und Keuschheit. Doch kaum stellte er sich an seiner Stelle jemand anderen vor, war augenblicklich alles anders, verwandelte sich alles in etwas Schamloses, Abstoßendes, das den Wunsch weckte, Katja zu erwürgen, und namentlich gerade sie, und nicht den imaginären Rivalen.

III

Am Tag des Examens, das endlich stattfand (in der sechsten Fastenwoche), schien sich in besonderem Maße zu bestätigen, wie berechtigt Mitjas Qualen waren.

Katja sah ihn überhaupt nicht mehr, nahm ihn gar nicht wahr, sie war ganz fremd, ganz öffentlich.

Sie hatte großen Erfolg. Sie war ganz in Weiß, wie eine Braut, und die Aufregung ließ sie entzückend aussehen. Sie erhielt einhelligen, begeisterten Applaus, und der Direktor, ein selbstgefälliger Schauspieler mit teilnahmslosen, schwermütigen Augen, der in der ersten Reihe saß, ließ aus reiner Überheblichkeit hier und da Bemerkungen fallen, zwar nur leise, aber so, daß es im ganzen Saal zu vernehmen war und sich für Mitja unerträglich anhörte.

»Nicht vorlesen«, sagte er gewichtig, ruhig und so gebieterisch, als sei Katja vollständig sein Eigentum. »Nicht spielen, sondern erleben«, sagte er deutlich artikuliert.

Es war nicht auszuhalten. Nicht auszuhalten war aber auch der Vortrag selbst, der mit Applaus bedacht wurde. Katja glühte und hatte hochrote Wangen vor Befangenheit, gelegentlich brach ihre zarte Stimme und sie rang nach Luft, und das war rührend und bezaubernd. Aber sie rezitierte in diesem banalen Singsang, mit diesem Mißton und diesem Stumpfsinn in jedem Laut, die in dem Mitja so verhaßten Milieu, in dem Katja bereits in all ihren geheimen Gedanken lebte, als höchste Vortragskunst galten: Sie sprach nicht, sie deklamierte fortwährend mit aufdringlich-schmachtender Leidenschaftlichkeit, mit übertriebenem, in seiner Inständigkeit völlig unmotiviertem Flehen, und Mitja wußte vor Scham nicht, wo er hinschauen sollte. Am schlimmsten war diese Mischung aus engelhafter Reinheit und Verderbtheit in ihr, in ihrem erhitzten schmalen Gesicht, in ihrem weißen Kleid, das auf der Bühne kürzer wirkte, da die im Saal Sitzenden von unten her zu Katja hoch blickten, in ihren weißen Schuhen und den von weißen Seidenstrümpfen umhüllten Beinen. »Ein Mädchen sang im Kirchenchor«, rezitierte (vielmehr: sang) Katja mit gezierter, überzogener Naivität über ein anscheinend engelhaft unschuldiges Mädchen. Mitja empfand eine intensive Nähe zu Katja – wie man sie in einer Menschenmenge zu einem geliebten Menschen immer empfindet –, aber auch eine an Haß grenzende Feindseligkeit, er empfand Stolz auf sie, in dem Bewußtsein, daß sie trotz allem ihm gehörte, und gleichzeitig empfand er einen herzzerreißenden Schmerz: Nein, es war alles vorbei, nein, sie gehörte ihm nicht mehr!

Nach dem Examen kamen wieder glückliche Tage. Doch Mitja traute ihnen nicht mehr mit derselben Unbeschwertheit wie früher. Über den Tag des Examens sagte Katja:

»Was bist du dumm! Hast du nicht gespürt, daß ich nur für dich allein so gut vorgetragen habe?«

Er hielt sie auf seinem Schoß, beugte sich über ihr nacktes, perlmuttfarbenes Knie und küßte es, küßte ihre entblößte Brust und schwieg. Er konnte nicht vergessen, was er während des Examens empfunden hatte, er konnte sich nicht eingestehen, daß diese Gefühle ihn auch jetzt nicht losließen, sondern immer wieder in der einen oder anderen Form aufkamen. Auch Katja spürte seine geheimen Gefühle und rief während eines Streits einmal aus:

»Ich verstehe nicht, warum du mich liebst, wenn doch deiner Meinung nach alles an mir so schlecht ist! Was willst du denn eigentlich von mir?«

Doch er verstand selbst nicht, warum er sie liebte, obgleich er spürte, daß seine Liebe nicht etwa im Schwinden begriffen war, sondern im Gegenteil immer stärker wurde in diesem eifersüchtigen Kampf, den er mit wem auch immer (vielleicht doch in erster Linie mit Katja selbst?) um ihretwillen führte, um dieser Liebe willen, ihrer zunehmenden Kraft, ihrer immer größeren Ansprüche.

»Du liebst nur meinen Körper, nicht meine Seele!«, bemerkte Katja einmal bitter.

Wieder waren es fremde, theatralische Worte, aber so albern und abgedroschen sie waren, rührten sie auch an etwas Schmerzhaftes, Auswegloses. Er wußte nicht, warum er sie liebte, er konnte nicht genau sagen, was er wollte … Was bedeutete das überhaupt – zu lieben? Dies war umso unmöglicher zu beantworten, als es weder in dem, was Mitja über die Liebe gehört, noch in dem, was er über sie gelesen hatte, ein einziges Wort gab, das sie definiert hätte. In den Büchern wie im Leben schien man sich ein für allemal darauf verständigt zu haben, entweder nur von einer fast ätherischen Liebe zu sprechen oder aber nur davon, was man Leidenschaft und Sinnlichkeit nennt. Seine Liebe indes glich keinem von beiden, so wenig wie Katja Charlotte oder Gretchen glich, Puschkins Tatjana, Turgenjews Heldinnen oder denen von Zola und Maupassant, so wenig wie seine Gefühle denen von Werther glichen, von Romeo, Onegin oder denen zahlloser anderer Helden, die nichts als Verführer waren. Was empfand er für sie? War es Liebe, oder war es Leidenschaft? War es Katjas Seele oder ihr Körper, das ihm fast die Sinne schwinden, in einer Art Todesseligkeit versinken ließ, wenn er ihr die Bluse aufknöpfte und ihre Brust küßte, so himmlisch schön und jungfräulich, entblößt in einer Art herzergreifender Ergebenheit, in der Schamlosigkeit reinster Unschuld?

IV

Im April veränderte Katja sich noch stärker, sie war schlicht nicht wiederzuerkennen.

Der Erfolg beim Examen spielte eine Rolle. Er war jedoch nicht der einzige Auslöser für ihre Veränderung. Zweifellos gab es noch andere Gründe, die Mitja indes nicht verstand, nicht kannte, so daß er sich nur wunderte. So verwandelte Katja sich mit Frühlingsbeginn gewissermaßen in eine modische junge Dame von Welt, die nahezu täglich in diskreten, aber teuren Kleidern glänzte, die lebhaft und stets in Eile war. Mitja schämte sich jetzt für seinen dunklen Flur, wenn sie ihn besuchte – sie kam nicht mehr zu Fuß, sondern immer vorgefahren – und seidenraschelnd und mit einem hauchzarten Schleier vor dem Gesicht ebendiesen Flur entlang eilte. Sie war jetzt gleichbleibend zärtlich zu ihm, kam aber auch gleichbleibend zu spät, um dann ihre Rendezvous abzukürzen mit der Behauptung, sie müsse wieder mit ihrer Mutter zur Schneiderin fahren.

»Verstehst du, wir müssen schließlich mit der neuesten Mode gehen!«, erklärte sie mit kugelrunden, amüsiert und verwundert blitzenden Augen, wohl wissend, daß Mitja ihr nicht glaubte, daß ihre Worte gekünstelt und verlogen klangen, und dennoch sagte sie es, weil es inzwischen sonst nichts mehr zu sagen gab.

Sie nahm kaum noch den Hut ab, legte den Schirm nicht mehr aus der Hand, war stets in Eile, saß auf Mitjas Bettkante und machte ihn mit ihren seidenbestrumpften Waden verrückt. Und bevor sie aufbrach und ihm sagte, daß sie heute Abend wieder nicht zu Hause sein werde – wieder mußte sie mit ihrer Mama jemanden besuchen! –, tat sie jedes Mal das Gleiche, in der offenkundigen Absicht, ihn zum Narren zu halten, ihn für all seine, wie sie sich ausdrückte, »albernen« Qualen zu belohnen: Mit einem scheinheilig-verschwörerischen Blick zur Tür glitt sie vom Bett und sprach mit übertriebener Leidenschaftlichkeit in einem hastigen Flüsterton:

»Na, küß mich schon!«

Sie umklammerte seinen Hals, wand sich wie eine Schlange mit ihrem ganzen Körper um ihn herum, machte sogar einmal, bei einem besonders langen Kuß, plötzlich etwas mit der Zunge, glitt mit ihren Schenkeln über seine Beine, sprang dann auf und und flüsterte schnell:

»Nein, du bringst mich um den Verstand!«

Dieser Kuß erschütterte Mitja zutiefst. Wie und wo hatte sie gelernt, so zu küssen?! Mitja hatte keinerlei Erfahrung im Küssen – sein erster Winter in Moskau fiel mit seiner ersten Liebe zusammen –, aber er konnte nicht umhin zu erkennen, daß Katja etwas ganz Ungewöhnliches, ganz Besonderes getan hatte, als sie ihn küsste.

V

Ende April beschloß Mitja endlich, sich Erholung zu gönnen und aufs Land zu fahren.

Er hatte sowohl Katja als auch sich selbst in einen Zustand völliger Erschöpfung gebracht, der umso unerträglicher war, als es keinerlei Gründe dafür zu geben schien: Was war denn eigentlich geschehen, was hatte Katja sich zuschulden kommen lassen? Eines Tages sagte Katja mit der Entschlossenheit der Verzweiflung zu ihm:

»Ja, fahr weg, fahr weg, ich halte es nicht mehr aus! Wir müssen uns eine Zeitlang trennen, unsere Beziehung überdenken! Du bist so dünn geworden, daß Mama überzeugt ist, du hättest die Schwindsucht. Ich kann nicht mehr!«

Mitjas Abreise war beschlossene Sache. Zu seinem eigenen Erstaunen war Mitja, obwohl er sich vor Kummer kaum zu lassen wußte, beinahe glücklich darüber. Kaum daß die Abreise entschieden war, war mit einem Mal alles wieder wie früher. Denn Mitja wollte all das Schreckliche, das ihm Tag und Nacht keine Ruhe ließ, um keinen Preis wahrhaben. Die geringste Veränderung in Katja war ausreichend, um in seinen Augen alles wieder anders werden zu lassen. Katja wurde wieder zärtlich und leidenschaftlich, ganz ohne sich zu verstellen – das spürte er mit dem untrüglichen Feingefühl der eifersüchtigen Natur –, er saß wieder bis zwei Uhr morgens bei ihr, sie hatten wieder etwas zu bereden, und je näher die Abreise rückte, umso lächerlicher schien die Trennung, die Notwendigkeit, »die Beziehung zu überdenken«. Einmal brach Katja sogar in Tränen aus – sie weinte sonst nie –, und diese Tränen ließen Katja plötzlich furchtbar vertraut werden, durchströmten ihn mit brennendem Mitleid und einer Art Schuldgefühl ihr gegenüber.

Katjas Mutter wollte Anfang Juni für den Sommer auf die Krim fahren und Katja mitnehmen. Sie wollten sich in Mischor treffen. Mitja mußte zunächst Geld auftreiben und würde dann nachkommen.

Er richtete sich ein, traf Vorkehrungen für die Reise und lief merkwürdig benommen durch Moskau, wie jemand, der sich noch tapfer auf den Beinen hält, obwohl er schon schwer krank ist. Er war krankhaft, rauschhaft unglücklich und zugleich krankhaft glücklich, gerührt von der Nähe, die Katja nun wieder zuließ, von ihrer Fürsorglichkeit – sie ging sogar mit ihm Gepäckriemen kaufen, gerade so, als sei sie seine Braut oder seine Ehefrau – und überhaupt von der Wiederkehr all dessen, was ihn an die erste Zeit ihrer Liebe erinnerte. Ebenso nahm er auch seine ganze Umgebung wahr – die Häuser, die Straßen, die Menschen, die über diese Straßen flanierten oder fuhren, das Wetter, das die ganze Zeit über frühlingshaft trüb war, den Geruch von Staub und Regen, den Kirchenduft der Pappeln, die hinter den Zäunen in allen Gassen zu knospen begannen: Alles kündete von bitterer Trennung und von süßer Hoffnung auf den Sommer, auf das Rendezvous auf der Krim, wo ihnen nichts im Wege stehen und sich alles erfüllen würde (obwohl er noch immer nicht wußte, was genau).

Am Tag der Abreise kam Protassow, um sich zu verabschieden. Unter den Gymnasiasten der höheren Klassen und unter Studenten gibt es nicht selten Jünglinge, die sich eine gutmütig-mürrische, süffisante Haltung zugelegt haben und sich dadurch den Anschein geben, älter und erfahrener zu sein als alle anderen auf der Welt. So jemand war auch Protassow, einer von Mitjas engsten Freunden, sein einziger wahrer Freund, der trotz Mitjas Verschlossenheit und Wortkargheit alle Geheimnisse seiner Liebe kannte. Er beobachtete, wie Mitja den Koffer verschnürte, sah, wie seine Hände zitterten, und sagte mit einem traurigen, abgeklärten Schmunzeln:

»Die reinsten Kinder seid ihr, Gott verzeih mir! Aber bei all dem, mein teurer Werther aus Tambow, solltest du langsam begreifen, daß Katja vor allem ein typisches weibliches Wesen ist und selbst ein Polizeihautpmann daran nichts ändern könnte! Du, ein männliches Wesen, gehst die Wände hoch, stellst ihr gegenüber die höchsten Ansprüche des Fortpflanzungstriebs, die natürlich durchaus rechtmäßig und in gewissem Sinne sogar heilig sind. Dein Leib ist die höchste Vernunft, wie Herr Nietzsche ganz richtig bemerkte. Aber es ist auch rechtmäßig, daß du dir auf diesem heiligen Weg das Genick brechen kannst. Es gibt schließlich in der Tierwelt Exemplare, bei denen es sogar von der Natur so vorgesehen ist, daß sie ihren ersten und letzten Liebesakt mit dem Leben bezahlen müssen. Aber da das für dich wohl nicht unbedingt gilt, halt die Augen offen und paß auf dich auf. Laß dir Zeit. ›Junker Schmidt7, mein Ehrenwort,/Es kommt ein neuer Sommer!‹ Es gibt noch andere Frauen, Katja ist nicht so einzigartig, wie du glaubst. Aber ich sehe schon – so, wie du dich bemühst, den Koffer zu strangulieren, bist du damit gar nicht einverstanden. Verzeih den ungebetenen Rat – und mögen der heilige Nikolai und seine Mitstreiter dich beschützen!«

Als Protassow nach einem kräftigen Händedruck gegangen war, hörte Mitja, während er Kissen und Decke mit dem Riemen verzurrte, durch das zum Hof hin offene Fenster, wie der Student von gegenüber, der Gesang studierte und von morgens bis abends übte, seine Stimme ausprobierte und Der Asra8 zu schmettern begann. Daraufhin beeilte Mitja sich mit seinen Gepäckriemen, er knöpfte sie zusammen, wie es gerade kam, nahm seine Mütze und ging auf die Kislowka, um sich von Katjas Mutter zu verabschieden. Das Motiv und die Worte des Liedes, das der Student angestimmt hatte, erklangen so eindringlich in ihm, hallten derart stark nach, daß er weder Straßen noch Passanten wahrnahm und noch benommener war als in den letzten Tagen. Es kam ihm wirklich vor, als gebe es keine andere außer ihr, al9s wolle Junker Schmidt sich mit der Pistole erschießen. Nun, dann ist es eben so, dachte er, und wieder kehrte er zu dem Lied zurück, in welchem »die wunderschöne« Sultanstochter bei ihrem Spaziergang im Garten am Springbrunnen einem schwarzen Sklaven begegnet, »täglich ward er bleich und bleicher«, und als sie ihn eines Tages fragt, wer und woher er sei, beginnt er unheilverkündend und doch ergeben, düster und schlicht:

»Ich heiße Mohamet …«,

um dann mit einem ekstatisch-tragischen Klageschrei zu enden:

»Und mein Stamm sind jene Asra,

Welche sterben, wenn sie lieben.«

Katja kleidete sich gerade an, weil sie zum Bahnhof fahren und sich von ihm verabschieden wollte, und rief ihm aus ihrem Zimmer – aus dem Zimmer, in dem er so viele unvergessliche Stunden verbracht hatte! – zärtlich zu, sie komme beim ersten Abfahrtssignal. Die liebenswürdige, gutmütige Frau mit den himbeerroten Haaren saß allein, rauchte und blickte ihn bekümmert an – sie hatte wohl längst alles begriffen, ahnte alles. Hochrot und innerlich zitternd, neigte er wie ein Sohn seinen Kopf und küßte ihre weiche, welke Hand, woraufhin sie ihn mit mütterlicher Zärtlichkeit mehrmals auf die Schläfe küßte und das Kreuz über ihm schlug:

»Ach, mein Lieber«, sagte sie zögerlich lächelnd und zitierte Gribojedow: »Lachen und leben Sie!10 Gott sei mit Ihnen, fahren Sie, fahren Sie …«

Er hatte keine Erinnerung daran, wie er hinausgegangen, vielmehr hinausgerannt war, im Flur über den Teppich stolperte und beinahe hingefallen wäre, dafür aber mit besonders grimmiger Entschlossenheit die Treppe hinunterpolterte.

VI

Nachdem er in seinen Räumen alles erledigt hatte, was noch zu erledigen war, und seine Sachen mit Hilfe eines Hausdieners im Russenhemd in der klapprigen Mietdroschke verstaut hatte, setzte er sich schließlich unbeholfen zu seinem Gepäck und fuhr los. Augenblicklich empfand er dieses besondere Gefühl, das einen stets bei einer Abreise erfaßt – ein bestimmter Lebensabschnitt ist vorbei (und zwar endgültig)! –, und verbunden damit eine überraschende Leichtigkeit, die Verheißung von etwas Neuem. Er beruhigte sich allmählich und blickte munterer um sich, wie mit neuen Augen. Vorbei, leb wohl, Moskau und alles, was ich dort erlebt habe! Es nieselte, der Himmel war trüb, die Gassen waren leer, das Kopfsteinpflaster war dunkel und glänzte wie Eisen, die Häuser standen verdrossen und schmutzig da. Der Kutscher fuhr quälend langsam, und Mitja musste sich immer wieder zur Seite drehen und den Atem anhalten. Sie passierten den Kreml, dann die Pokrowka, und bogen anschließend wieder in kleine Gassen ein, wo die Krähen in den Gärten zum Regen und zum Abend heiser krächzten, und doch war es Frühling – sogar in dem Lärm und den Pfeifsignalen, die schon vom Kursker Bahnhof herüberschrillten. Schließlich war auch das vorbei, und Mitja folgte dem Gepäckträger im Laufschritt durch den hallenden, überfüllten Bahnhof zum Bahnsteig, zum dritten Gleis, wo schon der lange, schwere Zug nach Kursk bereitstand. Und inmitten der ganzen gewaltigen, gestaltlosen Menge, die den Zug belagerte, zwischen all den Gepäckträgern, die mit Gepolter und warnenden Rufen die Gepäckkarren voranschoben, erkannte, erblickte er sekundenschnell jenes »vor Schönheit strahlende« Geschöpf, allein und abseits stehend, das nicht nur in dieser Menge, sondern in der ganzen Welt einzigartig schien. Schon war das erste Abfahrtssignal erklungen – dieses Mal war er zu spät, nicht Katja. Sie war rührenderweise früher gekommen, hatte auf ihn gewartet und stürzte ihm wiederum mit der Fürsorglichkeit einer Ehefrau oder Braut entgegen:

»Liebling, beeil dich, steig ein! Gleich kommt das zweite Signal!«

Nach dem zweiten Abfahrtssignal stand sie noch rührender auf dem Bahnsteig und blickte zu ihm hinauf, wie er in der Tür des Wagens dritter Klasse stand, der bereits zum Bersten voll war und einen üblen Geruch verströmte. Alles an ihr war entzückend – ihr liebes, hübsches Gesichtchen, ihre grazile Figur, ihre Frische, ihre Jugend, in der sich Weiblichkeit noch mit Kindlichkeit mischte, ihre zu ihm erhobenen, strahlenden Augen, ihr schlichtes hellblaues Hütchen, in dessen Schwung eine gewisse anmutige Verspieltheit lag, und selbst ihr dunkelgraues Kostüm, in dem Mitja bewundernd sogar den Stoff und die Seide des Futters zu fühlen glaubte. Er selbst stand hoch aufgeschossen, linkisch und mager da, trug für die Reise hohe, derbe Stiefel und seine alte Gymnasiastenjacke, deren weiße Knöpfe abgeschabt waren und das rötliche Kupfer durchschimmern ließen. Und dennoch sah Katja ihn mit einem aufrichtig liebevollen, traurigen Blick an. Das dritte Signal schnitt Mitja so unerwartet und schrill ins Herz, daß er von der Plattform des Wagens heruntersprang wie ein Besessener und Katja, ebenso besessen, ihm entsetzt entgegenstürzte. Er neigte sich über ihren Handschuh und küßte ihn, sprang zurück in den Wagen und winkte ihr unter Tränen und in ungestümer Begeisterung mit seiner Schirmmütze zu, während sie mit der Hand ihren Rock gerafft hielt und zusammen mit dem Bahnsteig langsam zurückglitt, ohne die noch immer zu ihm erhobenen Augen abzuwenden. Sie entfernte sich immer schneller, während der Wind Mitja, der den Kopf aus dem Fenster streckte, immer stärker an den Haaren zerrte und die Lokomotive sich immer schneller, immer erbarmungsloser entfernte und mit dreistem, drohendem Dröhnen freie Fahrt forderte – und plötzlich war sie, war das Ende des Bahnsteigs wie verschluckt …

VII

Längst war die nicht enden wollende, von Regenwolken verdunkelte Frühlingsdämmerung eingetreten, der schwere Eisenbahnwagen rumpelte durch kahle, kalte Felder – dort war der Frühling noch kaum zu erkennen –, die Schaffner gingen durch den Korridor des Abteilwagens, verlangten die Fahrkarten und stellten Kerzen in die Laternen, aber Mitja stand noch immer am klappernden Fenster, spürte den Duft von Katjas Handschuh auf seinen Lippen, war noch immer durchglüht von der brennenden Flamme des letzten Abschiedsmoments. Der lange Moskauer Winter, glücklich und qualvoll, der sein Leben verwandelt hatte, stand ihm vor Augen, in seiner Gänze und bereits in einem anderen, neuen Licht. In einem neuen Licht, einem wiederum neuen Licht, erstand nun auch Katja vor ihm … Ja, ja, wer vermochte auszudrücken, wer sie war, was sie war? Und die Liebe, die Leidenschaft, die Seele, der Körper? Was war das? All das war es nicht – es war etwas anderes, etwas vollkommen anderes! Der Duft des Handschuhs – war auch das etwa nicht Katja, nicht Liebe, nicht Seele, nicht Körper? Und die Bauern, die Arbeiter im Eisenbahnwagen, die Frau, die ihr unansehnliches Kind zum Abort führte, die trüben Kerzen in den klirrenden Laternen, die Dämmerung auf den kahlen Frühlingsfeldern – all das war Liebe, war Seele, und all das war Qual und war unaussprechliche Freude!

Am Morgen dann Orjol11, Umsteigen, ein Provinzzug an einem weit entfernt gelegenen Bahnsteig. Und Mitja spürte, was für eine schlichte, ruhige, vertraute Welt dies war im Vergleich zu derjenigen in Moskau, die bereits irgendwo hinter den sieben Bergen lag und deren Zentrum Katja war, die nun vermeintlich einsam und bedauernswert war, doch zärtlich geliebt! Selbst der Himmel, hier und da vom blassen Dunkelblau der Regenwolken durchzogen, selbst der frische Wind auf den Feldern war hier schlichter und ruhiger … Der Zug verließ Orjol langsam und bedächtig, Mitja saß allein in einem leeren Wagen und aß in aller Ruhe verzierte Tulaer 12Lebkuchen. Später, als auch Orjol hinter ihnen lag, nahm der Zug an Fahrt auf, ließ ihn müde werden und einschlafen.

Er erwachte erst wieder in Werchowje. Der Zug stand, die Bahnstation war ziemlich belebt und betriebsam, aber auch irgendwie provinziell. Es roch gut nach Küchendünsten aus der Bahnhofsküche, und Mitja verspürte Hunger. Genüßlich verzehrte er einen Teller Kohlsuppe und trank eine Flasche Bier, dann schlummerte er wieder ein – eine bleierne Müdigkeit hatte ihn überfallen. Als er wieder erwachte, brauste der Zug durch den ihm schon vertrauten, frühlingshaften Birkenwald vor der letzten Bahnstation. Wieder wurde es frühlingshaft dämmrig und dunkel, durch das offene Fenster roch es nach Regen und wie nach Pilzen. Der Wald war noch völlig kahl, aber dennoch hallte das Rattern des Zuges darin deutlicher wieder als auf dem freien Feld, und in der Ferne flackerten bereits die frühlingshaft traurigen Lichter der Bahnstation. Da war auch schon das grüne Licht hoch oben am Signalmast – besonders schön anzusehen in der Dämmerung in einem kahlen Birkenwald –, und der Zug wechselte rumpelnd auf ein anderes Geleise … Mein Gott, wie dörflich ärmlich und gutmütig der Knecht war, der den jungen Herrn auf dem Bahnsteig erwartete! Und Katjas ferne, hauptstädtische Schönheit flammte in seiner Vorstellung noch heller auf …

Die Dämmerung und die Wolken wurden immer dichter, als sie von der Bahnstation durch das große Dorf fuhren, das gleichfalls noch frühlingshaft schlammig war. Alles versank in dieser besonderen, weichen Dämmerung, in der tiefen Stille der Erde, der lauen Nacht, die mit der Dunkelheit der schemenhaften, tiefhängenden Regenwolken verschmolz, und wieder staunte Mitja und freute sich: Wie ruhig, wie karg, wie armselig das Dorf war, die stark riechenden, rauchfanglosen Katen, die längst schliefen – nach Mariä Verkündigung entfachen brave Menschen kein Feuer mehr –, und wie schön es in dieser dunklen, lauen Steppenwelt war! Der T13arantas versank in Schlaglöchern und Schlamm, die Eichen hinter dem Hof eines reichen Bauern, noch völlig kahl, unwirtlich und dunkel vor Krähennestern, ragten hoch in den Himmel. Vor einer Kate stand ein merkwürdiger Bauer, wie aus uralter Zeit, und starrte in die Dämmerung: bloße Füße, ein zerschlissener Bauernmantel, eine Schaffellmütze auf den langen, geraden Haaren … Ein milder, lieblicher, duftender Regen begann zu fallen. Mitja dachte an die Mädchen und die jungen Frauen, die in diesen Katen schliefen, an all das Weibliche, dem er über den Winter mit Katja nähergekommen war, und alles floß märchenhaft ineins – Katja, die Mädchen, die Nacht, der Frühling, der Duft des Regens, der Duft der gepflügten Erde, bereit, die Saat aufzunehmen, der Duft von Pferdeschweiß und die Erinnerung an den Duft des Handschuhs aus Glacéleder … Mitja lehnte sich in den Rücksitz des Wagens und begann unter Tränen und mit zitternden Händen zu rauchen …

VIII

Im Dorf begann sein Leben mit friedlichen, zauberhaften Tagen.

Nachts auf dem Weg von der Bahnstation war Katja gleichsam verblaßt, aufgegangen in allem, was ihn umgab. Aber nein, das schien nur so und hielt noch einige Tage an, während Mitja sich ausschlief, zu sich kam, sich allmählich an die Neuartigkeit der von Kindheit an vertrauten Eindrücke des Elternhauses gewöhnte, des Dorfes, des Frühlings auf dem Lande, der frühlingshaften Kahlheit und Leere der Welt, die wieder rein und jung war, bereit zu neuer Blüte. Und selbst in diesen Tagen war Katja in allem und überall, so wie einst (neun Jahre zuvor, auch im Frühling, als der Vater gestorben war) über lange Zeit der Tod in allem und überall gewesen war.

Das Gut war klein, das Haus alt und schlicht, der Haushalt war einfach und erforderte keine große Dienerschaft – für Mitja begann ein ruhiges Leben. Seine Schwester Anja, die die zweite Klasse des Gymnasiums besuchte, und sein halbwüchsiger Bruder Kostja, Zögling der Kadettenanstalt, waren beide noch zum Lernen in Orjol und sollten erst Anfang Juni eintreffen. Seine Mutter, Olga Petrowna, kümmerte sich wie immer um die Wirtschaft, wobei ihr nur der Verwalter zur Hand ging – der Starost, wie man ihn beim Gesinde nannte; sie war oft auf dem Feld, fuhr zum Vorwerk oder in die Stadt und ging schlafen, sobald es dunkel wurde.

Als Mitja am Tag nach seiner Ankunft, nachdem er zwölf Stunden geschlafen, sich gewaschen und frisch angekleidet hatte, sein sonniges Zimmer verließ – es lag mit den Fenstern zum Garten hin, nach Osten – und die anderen Räume durchstreifte, empfand er ein lebhaftes Gefühl von Vertrautheit und friedlicher, Seele und Körper gleichermaßen beruhigender Schlichtheit. Überall stand alles an seinem angestammten Platz, wie vor vielen Jahren, alles roch noch genauso vertraut und angenehm; überall hatte man zu seiner Ankunft alles besonders sorgsam aufgeräumt – kam er doch jetzt nicht mehr als Knabe, sondern quasi als junger Herr nach Hause –, und in allen Zimmern hatte man die Böden gewischt. Nur im Saal, der an das Vorzimmer – das Dienerzimmer, wie es bis heute genannt wurde – grenzte, wurde noch geputzt. Ein sommersprossiges Mädchen, eine Tagelöhnerin aus dem Dorf, stand am Fenster neben der Tür zum Balkon, reckte sich zur oberen Fensterscheibe hinauf und rieb sie mit quietschendem Geräusch blank, wobei sie sich in den unteren Scheiben mit einem bläulichen Reflex wie von ferne spiegelte. Das Zimmermädchen Parascha zog einen großen Putzlappen aus einem Eimer mit heißem Wasser, tappte auf bloßen weißen Füßchen über den überschwemmten Boden und stieß, während sie sich mit dem hochgekrempelten Ärmel den Schweiß aus ihrem erhitzten Gesicht wischte, mit freundlich-vorlauter Stimme hastig hervor:

»Gehen Sie nur Tee trinken, Ihre Mama ist noch vor Morgengrauen mit dem Starost zum Bahnhof gefahren, Sie haben das wohl nicht gehört …«

Und sogleich brachte Katja sich machtvoll in Erinnerung: Mitja ertappte sich dabei, daß ihn nach diesem Frauenarm mit dem hochgekrempelten Ärmel verlangte, nach der weiblichen Rundung des hoch aufgereckten Mädchens am Fenster, nach ihrem Rock, unter dem ihre nackten Beine wie zwei kräftige Säulen verschwanden, und voller Freude spürte er Katjas Macht, seine Zugehörigkeit zu ihr, ihre geheime Gegenwart in allen Eindrücken dieses Morgens.

Diese Gegenwart wurde mit jedem neuen Tag immer lebhafter spürbar, wurde immer schöner, je mehr Mitja zu sich kam und ruhiger wurde, sich befreite von der schmerzhaften Intensität der Empfindungen, deretwegen ihn in Moskau alles verletzt hatte – und das vielleicht wirklich ohne hinreichenden Grund –, je mehr er sich des Frühlings, des Dorfes gewahr wurde und jene gewöhnliche Katja vergaß, die sich in Moskau so oft und so qualvoll nicht vereinbaren ließ mit der von seinem Verlangen geschaffenen Katja.

IX