Der Spuk im Morris Inn - Ambrose Ibsen - E-Book

Der Spuk im Morris Inn E-Book

Ambrose Ibsen

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Beschreibung

Hast du sie gesehen, die Frau ohne Augen? Sie läuft nachts durch die Gänge. Sadie hat eine besondere Gabe: Sie ist empfänglich für das Übernatürliche. Das führt dazu, dass ihr Leben immer mehr außer Kontrolle gerät. Die Nachforschungen über ihre Herkunft und die schwarze Sekte, der ihre Mutter diente, treiben sie in den Wahnsinn. Währenddessen wird im abgelegenen Morris Inn eine junge Frau von einer unheimlichen Erscheinung heimgesucht. Ein böser Geist wandelt durch die Hallen des Hotels und ernährt sich von den Leiden der geplagten Gäste – bis sie einen grausamen und unerklärlichen Tod sterben.  Sadie muss eine Entscheidung treffen: Wird sie der Vergangenheit den Rücken kehren und ein neues Leben beginnen? Oder wird sie sich in das düstere Hotel wagen und nach dem Faden suchen, der den dortigen Schrecken mit ihrer verfluchten Mutter verbindet? Der Spuk im Morris Inn ist der vierte Roman der erfolgreichen Beckoning Dead-Reihe.

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Seitenzahl: 414

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Aus dem Amerikanischen von Susanne Picard

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe The Haunting of Morris Inn

erschien 2022.

Copyright © 2022 by Ambrose Ibsen

Copyright © dieser Ausgabe 2025 by

Festa Verlag GmbH

Justus-von-Liebig-Straße 10

04451 Borsdorf

Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung:

[email protected]

Titelbild: Festa Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-98676-214-8

www.Festa-Verlag.de

1

Die rote Nadel des Tankanzeigers flirtete heftig mit dem E für leer.

JoJo hatte zuletzt ein paar Meilen hinter Akron getankt. Wie in Trance war sie durch ganz Ohio gefahren, und erst das riesige Billboard »Willkommen in Indiana!« hatte sie wieder so weit in die Wirklichkeit zurückgerissen, dass sie einen genaueren Blick aufs Armaturenbrett riskierte. Doch so eine Digitalanzeige blieb eben immer irgendwie nichtssagend und zeigte nur eine Reihe von blinkenden Strichen an, wo normalerweise der geschätzte Kilometerstand abzulesen war. Erschrocken darüber, dass sie wohl bald auf dem Trockenen saß, würgte JoJo Bob Dylan mit einem energischen Knopfdruck auf das Autoradio ab, als ob die Stille noch Sprit für ein paar Meilen aus dem Tank saugen könnte.

Ihre vor Müdigkeit geröteten Augen blieben an einem blauen Werbeplakat hängen, das am Straßenrand stand und auf dem der verblasste Schriftzug »Willkommen in Montpelier!« prangte. Der Name Montpelier sagte ihr nichts. Die gleichförmige Landschaft, die sich bis an den Horizont erstreckte, unterschied sich durch nichts von jedem anderen Landstrich im Mittleren Westen der USA. Sie begann, mit steifem Nacken nach einer Tankstelle Ausschau zu halten, doch es war keine in Sicht. Wieder fraß der Wagen auf dem Weg nach Westen einige Meilen. Das Asphaltband im Rückspiegel wurde länger, aber vor ihr erstreckten sich nur weitere, größere Maisfelder, ab und an unterbrochen von einem von der Sonne ausgeblichenen Werbeschild.

Aber dann bemerkte sie noch etwas anderes.

Ein Gebäude tauchte ganz plötzlich nach einer sanften Kurve hinter einem Hügel auf und machte den Eindruck eines Wanderers am Ende seiner Kraft. Und damit den – so konnte man wohl sagen – eines verwandten Geists. Ganze zwei Stockwerke aus Holz mit einem Fundament aus Stein, einer Fassade aus hässlichen Schindeln und zierlichen, verschnörkelten Ziergittern vor den Fenstern, die allerdings auch schon bessere Tage gesehen hatten. Ein malerisches Eichenschild schaukelte an zwei rostigen Ketten von einem Holzpfosten herab und verriet, dass es sich um das Morris Inn handelte. Eröffnet 1928.

»Ein Hotel?«, murmelte sie in sich hinein. »Hier draußen im Nirgendwo?«

Verblüfft starrte sie das Haus an, halb überzeugt davon, dass es sich nur um eine Art Fata Morgana handeln konnte. Das Morris Inn blieb allerdings sichtbar, auch als sie näher kam. An der Hinterseite des Hauses erstreckte sich ein kleines Wäldchen; die leeren Wege, die das Grundstück säumten, führten in eine unbekannte Ferne, in der vereinzelte Scheunen und ein paar baufällige Schuppen verstreut waren.

Ein großer, mit schieferfarbenem Kies bestreuter Parkplatz erschien plötzlich im Vorbeifahren zu ihrer Rechten, doch irritierenderweise stand kein Auto darauf. Mittig führte ein breiter, geradezu prächtiger Fußweg mit einem halben Dutzend Stufen zum Haupteingang hinauf. Vor jedem der Fenster hingen weiße Gardinen, doch die Zimmer dahinter wirkten unbewohnt. Aber an der verglasten Haustür hing ein Schild ZIMMER FREI, was jeden Gedanken daran, das Hotel sei aufgegeben oder geschlossen worden, im Keim erstickte.

Ohne lange nachzudenken, zog JoJo das Lenkrad nach rechts. Nach der stundenlangen Fahrt waren ihre Armmuskeln steif, noch immer schmerzten ihre Fingerknochen von den Prügeln, die sie, noch in Pittsburgh, dem Armaturenbrett vor lauter Wut verpasst hatte. Seit dem Streit letzte Nacht hatte sie keinen Krümel mehr gegessen und wegen der Morgenübelkeit auch kaum Flüssigkeit bei sich behalten können. Ihre Beine waren taub und wie gelähmt, fast als wären sie nur Stöcke, mit denen sie die Pedale bediente.

Der Sedan holperte auf den mit Kies bestreuten Parkplatz. Die Reifen wirbelten Staub auf. Sie parkte links vom Haupteingang im Schatten eines hoch aufragenden Baums, dessen Krone sich in irgendwie geschäftiger Manier über den Gehweg beugte. Der Motor erstarb mit einem – so klang es jedenfalls in ihren Ohren – Seufzen der Erleichterung, kaum dass sie den Schlüssel aus dem Zündschloss gerissen hatte und mit der Stirn aufs Lenkrad gefallen war.

JoJo kniff die brennenden Augen zu und atmete tief durch.

Dieses Hotel schien so gut wie jeder andere Ort geeignet, einfach vom Radarschirm der Welt zu verschwinden.

Bernard Lavigne spähte aus dem Fenster hinaus auf den dunkelblauen Sedan mit dem Nummernschild aus Pennsylvania. Dann setzte er die Tasse mit Darjeelingtee wieder auf dem Untertellerchen ab. So war das ja immer, kaum hatte er sich an einem Tag, an dem sonst nichts los war, die Mühe gemacht, einen heißen Tee aufzugießen, erschien ein Gast, bevor er auch nur einen Schluck davon hatte trinken können, und hielt ihn beschäftigt, bis der Tee kalt war. »So ist eben das Leben als Hotelier«, murmelte er ergeben in sich hinein und erhob sich von seinem Schreibtisch, der im Büro hinter dem Empfangstresen stand.

Seine schwarzen Hosen waren nach Stunden des Herumsitzens zerknittert, also glättete er sie vor dem antiken Spiegel in der Ecke des Foyers und rückte sich auch gleich den ohnehin ordentlichen Windsorknoten seiner Krawatte zurecht. Nach einem kurzen Zögern legte er hastig noch einen Tropfen Polo Green auf. Der Duft war unauffällig und kam bei allen angenehm an. Er stellte sich hinter den Rezeptionstresen und setzte ein strahlendes Lächeln auf, noch bevor der neu angekommene Gast durch die gläsernen Doppeltüren hereingekommen war.

»Willkommen im Morris Inn!«, verkündete er mit einem Nicken seines sorgfältig rasierten Schädels.

Eine einzelne Frau betrat die Lobby, der Schnürsenkel in einem ihrer Sneaker war aufgegangen, ihre Kleidung ausgebeult und ein wenig abgetragen. Sie hatte langes blondes Haar, das wahrscheinlich schon eine lange Zeit keine Bürste mehr gesehen hatte und ihr in unordentlichen Locken bis über die Schultern hing. Man sah kein Gepäck bei ihr und das Einzige, was darauf hindeutete, dass sie wohl einiges an Lasten mit sich herumschleppte, waren die dunklen Ringe unter ihren Augen. Sie verunstalteten das jugendliche Gesicht, dessen dünne Lippen in einem permanenten Schmollen festgefroren zu sein schienen. Als sie mit einer ausgeblichenen, pinkfarbenen Brieftasche vor der Rezeption stehen blieb, erkannte Bernard, dass ihre Augen gerötet waren.

Also mit so einer kriege ich es heute zu tun. Dann wollen wir doch mal schauen.

Die junge Dame war offenbar gerade erst volljährig geworden. So wie sie aussah, hatte sie in letzter Zeit viel Kummer erlitten und nicht annähernd genug Schlaf bekommen. Welche Laus ihr da wohl über die Leber gelaufen ist? Vielleicht ist sie von zu Hause abgehauen?, fragte er sich. Nein, dazu ist sie zu alt. Der Freund hat sich davongemacht. Oder hat sie direkt vor dem Altar stehen lassen, überlegte er. Ja, das könnte sein. Aber andererseits … Auch dazu ist sie wahrscheinlich zu jung.

Bernard glättete noch einmal das dunkle Menjoubärtchen, das seine Oberlippe zierte, und beugte sich freundlich über den Tresen. »Willkommen im Morris Inn, Miss«, wiederholte er. »Mein Name ist Bernard Lavigne und ich bin der Besitzer dieses Hotels. Möchten Sie ein Zimmer?«

Die junge Dame nickte hastig und strich sich ein paar der blonden Locken hinter das Ohr, wobei sie Fingernägel sehen ließ, die bis aufs Fleisch abgekaut waren. »Ja, bitte. Ein Einzelzimmer, wenn Sie eins haben.« Sie hatte eine recht mädchenhafte Stimme, süß und von der Art, die unweigerlich Sympathie weckte, wenn sie zusammen mit feuchten Augen oder zitternden Mundwinkeln auftrat.

»Sicher doch, Miss«, antwortete er tröstend, griff nach dem Gästebuch und rückte die Lesebrille auf dem Rücken seiner langen Nase zurecht. »Ich bräuchte allerdings einen Ausweis irgendeiner Art und eine der gängigen Kreditkarten. Aber Bargeld ist auch in Ordnung, wenn Ihnen das lieber ist. Dann sehen wir mal, was wir für Sie haben.«

Eigentlich war schon ein paar Tage niemand mehr im Morris Inn abgestiegen und Bernard hätte ihr jedes Zimmer in diesem ehrwürdigen Haus überlassen können, ohne auch nur einen Blick ins Gästebuch werfen zu müssen. Doch er behielt diese Tatsache für sich und gab mit beträchtlicher schauspielerischer Begabung vor, das schwarze Buch vor sich genau studieren zu müssen. »Ja«, fuhr er fort und musterte sie über den Messingrahmen seiner Brille hinweg. »Ich glaube, wir haben da noch etwas für Sie, Miss …«

Die junge Frau hatte schon den Ausweis und ein paar Kreditkarten aus ihrer Brieftasche geholt und über den Tresen hinweg zu ihm hingeschoben. Bernard nahm zuerst den Ausweis und studierte ihn eingehend und mit gerunzelten Brauen. Dieses Geburtsdatum macht sie … gerade mal 22. Der Führerschein ist erst vor ein paar Monaten in Pennsylvania ausgestellt worden. Lebt in einer Mietwohnung. Er warf aus den Augenwinkeln einen Blick auf ihre linke Hand und legte den Ausweis dann wieder ab. Kein Ehering.

»Miss … Josephine also?«, fragte der Hotelbesitzer.

»Sie können mich JoJo nennen«, flüsterte die Besucherin mit gesenktem Kopf.

»Ich verstehe. Und was führt Sie her, JoJo?«, wagte Bernard sich weiter vor. Er war neugierig, warum sie einen so offensichtlich aufgelösten Eindruck machte. »Sind Sie auf der Durchreise?«

Menschen, die vor irgendetwas davonliefen, waren keine Seltenheit in diesem Hotel, es war gewissermaßen ein Heim für die, die den Ärger suchten oder eben vor ihm davonliefen. Bernard, der Besitzer, der auch hier lebte, hatte viele Jahre Erfahrung damit, Gäste zu erkennen, die solche Probleme mit sich herumschleppten. Und mit dieser Erfahrung war auch die Erkenntnis gekommen, dass hinter solchen Personen die interessantesten Geschichten steckten. Tatsächlich waren die Gäste mit den größten Problemen auch die, die letztendlich für eine Überraschung und sogar ein ordentliches Drama gut waren – und damit den Vorteil hatten, das Leben des Hotelbesitzers und Managers eines so abgelegenen Hauses erst so richtig spannend zu machen. Man musste nur ein wenig Anteilnahme vorgeben, ein offenes Ohr haben und mit ein paar wohlplatzierten Fragen die Tiefe dieser fremden Sorgen ausloten. Auf diese Art ließ sich die harte Schale, die sich solche Gäste zugelegt hatten, leicht zerbrechen. Wie beim Austernknacken war das – und häufig kam in solchen Fällen prompt eine Perle der Faszination zum Vorschein.

Diese junge Frau hier allerdings gab in ihrer Antwort nichts dergleichen preis, was Bernard als Beweis für die These wertete, sie sei wohl genau die Art Gast, die er in ihr vermutete. »Ich bin nur auf der Durchreise«, murmelte sie hastig in sich hinein, was für ihn nicht sehr überzeugend klang.

Nachdem er ihr den Ausweis und die Kreditkarte zurückgegeben hatte, ließ sie beides wieder in ihre Brieftasche gleiten, welche sie mit ihren kleinen Händen nun umso fester umklammerte.

»Also nur auf der Durchreise. Sehr gut.« Der Hotelbesitzer kramte blindlings im Schlüsselkasten herum, der hinter der Rezeption stand, und zog schließlich einen Schlüssel hervor, an dem ein Pappschild mit der Aufschrift 212 hing.

»Das Morris Inn hat seinen Gästen einiges zu bieten. Klimaanlage, Fernseher, Dusche im Zimmer, frisch bezogene Kingsize-Betten, eine schöne Landschaft draußen, die zum Spazierengehen einlädt … Aber wenn Sie mich fragen, ist unsere Küche das Beste. Francis, unser Koch, ist erfreulicherweise sehr talentiert. Natürlich sind drei Mahlzeiten am Tag im Übernachtungspreis inbegriffen. Wenn Sie irgendetwas bestellen möchten, können Sie mit dem Telefon in Ihrem Zimmer direkt die Küche erreichen. Sie können auch gern die Rezeption kontaktieren. Die Zimmer sind mit allem Nötigen ausgestattet, aber rufen Sie mich einfach an, wenn Sie Handtücher, Hygieneartikel oder sonst etwas brauchen.«

Die Frau ließ diese Litanei ohne sichtbares Interesse über sich ergehen und starrte dabei gedankenverloren auf den Schlüssel hinab, den Bernard bisher hartnäckig in der Hand behalten hatte.

Er schob ihr die Quittung zu und beschloss, noch einen Vorstoß zu wagen. »Ich habe gesehen, dass Sie aus Pittsburgh kommen. Da haben Sie ja eine ordentliche Strecke hinter sich!«

JoJos Nicken hätte eine Bestätigung sein können, doch die Geste war so unauffällig ausgeführt, dass sie so gut wie bedeutungslos war.

Ihre Zurückhaltung fachte Bernards Neugier nur weiter an. »Ich habe Ihre Karte jetzt im System«, fuhr er fort. »Wir bringen Sie in Zimmer 212 unter. Wie lange möchten Sie denn bleiben?«

Sie zuckte kurz zusammen, als hätte sie über diese Frage noch gar nicht nachgedacht. »Ähm … Ich weiß nicht genau«, erwiderte sie. »Vielleicht zwei oder drei Nächte?«

»In Ordnung«, antwortete er mit einem Lächeln. »Ich schreibe Sie für drei Tage hier ein. Wenn Sie länger bleiben möchten oder vielleicht doch früher fahren wollen, dann lassen Sie mich das einfach wissen«, meinte er und legte endlich den Schlüssel vor sie hin. »Das Zimmer ist oben im ersten Stock. Sehen Sie dort die Treppe?«, fragte er und wies über die Rezeption hinweg mit dem Finger darauf. »Oben angekommen wenden Sie sich nach rechts, dann ist es die dritte Tür. Können Sie gar nicht verfehlen.«

»Danke«, sagte sie und grapschte geradezu gierig nach dem Schlüssel.

Noch ein letztes Mal, bevor sie oben verschwand, versuchte Bernard, diese harte Nuss zu knacken. »Ach, und Miss? Kann ich Ihnen mit Ihrem Gepäck helfen?« Er wies mit dem Daumen über die Schulter in die Richtung ihres Sedans draußen.

Natürlich wusste er, dass sie kein Gepäck dabeihatte, deshalb überraschte ihn ihre höfliche Ablehnung des Angebots auch nicht.

»Schon … Schon in Ordnung«, meinte sie, drehte sich um und hastete zur Treppe. Im Nu war sie die Stufen hinaufgehuscht und auf der Suche nach ihrem Zimmer verschwunden, bevor Bernard sich noch eine andere Frage hatte ausdenken können.

Der Hotelbesitzer zog eine Grimasse und blieb noch eine ganze Weile hinter der Rezeption stehen.

Vielleicht ist sie ja eine wichtige Zeugin in einem Mordprozess, malte er sich aus. Und die Details des Falls sind so grausig, dass sie nachts unter Albträumen leidet. Sicher muss sie in drei Tagen in den Zeugenstand treten …

Er blätterte noch einmal aufs Geratewohl durch das Gästebuch und schlug es schließlich mit einem leisen Knall zu. Ach, vergiss es. Er legte die Brille ab und schlurfte wieder in sein Büro. Wahrscheinlich hatte sie nur Krach mit ihrem Freund oder irgend so etwas Unwichtiges.

Bernard kehrte an seinen Schreibtisch und zu der frischen Tasse Darjeelingtee zurück, die er darauf hatte stehen lassen. Zu seiner Freude war der Tee noch warm. »Na, was sagt man dazu!« Er nippte daran und genoss das Aroma. »Wirklich der Champagner unter den Teesorten«, seufzte er, legte die Beine auf die Tischkante und warf noch einen Blick aus dem Fenster auf den blauen Sedan.

Doch so köstlich der Tee auch sein mochte, der Hotelbesitzer ließ ihn in der Tasse letztendlich doch unbeachtet kalt werden. Seine Neugier hatte über den Durst gesiegt. Wenn er nicht sowohl den Tee als auch eine ordentliche Portion Drama haben konnte, dann hatte er beides nicht verdient!

Im Flur des ersten Stocks war die dritte Tür zur Rechten von drei nebeneinander am Türblatt angebrachten und aus Eisen geschmiedeten Ziffern geschmückt: 2-1-2. JoJo blieb davor stehen und musterte den Schlüssel in ihrer Hand. Er war dicker und massiver als so ziemlich jeder andere Schlüssel, den sie je in der Hand gehabt hatte. Schließlich schob sie den schartigen Bart des Schlüssels ins Türschloss. Sie erwartete Widerstand, doch der Riegel löste sich mit einem zufriedenstellenden metallischen Klacken. Auch der Messingknauf ließ sich leicht drehen. Mit einem leisen, aber anhaltenden Quietschen öffnete sich die Tür und ließ sie ein.

JoJo schlüpfte hinein und schob sogleich den Riegel wieder vor. Sofort war sie wie die Einrichtungsgegenstände im Muster von Licht und Schatten gefangen, das den Raum erfüllte. Es war helllichter Tag, und doch ließ der winzige Spalt zwischen den zugezogenen Vorhängen kaum Licht ins Zimmer. Die dicken Gardinen, die von außen weiß ausgesehen hatten, machten die Dunkelheit beinahe vollständig. Hinzu kam, dass die Möbel aus dunklem Hartholz hergestellt und die Kissen und Bezüge in altmodischem Braun und den bestenfalls gedämpften, verbrannt wirkenden Orangetönen eines längst vergangenen Jahrzehnts gefärbt waren. Das alles passte sich dem Zwielicht makellos an, ja, es fügte den Schatten noch eine Dimension hinzu.

Obwohl JoJo so vorsichtig auftrat, wie sie konnte, knarrten und knirschten die Bodendielen bei jedem Schritt. Sie machte einen kurzen Rundgang durchs Zimmer und nahm die Einrichtung in sich auf. Dann trat sie aus den Schuhen und ließ sie neben der Tür stehen.

Das Bett und ein Sessel standen in der Ecke rechts vom Eingang und hatten eine Stehlampe in die Mitte genommen. An der gegenüberliegenden Wand stand ein Flachbildfernseher auf einem hölzernen Unterschrank, in dessen drei Schubladen sich zusätzliche Handtücher und Bettlaken fanden. Rechts neben dem Bett befand sich das Fenster und noch weiter rechts eine Kommode mit einem kleineren Spiegel darauf. Direkt neben dieser Kommode öffnete sich eine schmale Tür ins bescheiden eingerichtete Bad: ein Waschbecken, eine Dusche und eine Toilette, alles ein wenig antiquiert, aber liebevoll instand gehalten sowie blitzsauber geputzt. Ein Thermostat befand sich rechts neben dem Pfosten der Eingangstür, direkt über dem Nachttisch. An der Wand hingen drei Fotos. Schwarz-weiße Porträts von vollkommen Fremden, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit schon seit langer Zeit tot waren. Ein altmodisches Kabeltelefon stand auf dem Nachttisch, eine laminierte Liste von Durchwahlen für den Zimmerservice lag daneben. Das sorgte dafür, dass ihr wieder etwas einfiel. Sie kramte in ihren Taschen herum und zog ein Smartphone hervor.

JoJos Daumen blieb über dem Einschaltknopf ihres Handys liegen. Sie hatte es noch in Pennsylvania stumm geschaltet und seither nicht gewagt, einen Blick darauf zu werfen. Jetzt war es viele Stunden später. Kurz gab sie der Vorstellung Raum, dass der Anruf, den sie sich so sehr wünschte und ersehnte, endlich gekommen war, und hoffte, eine neue Voicemail zu finden. Eine ganze Reihe von Nachrichten, eine E-Mail … Und wenn sie sie fand und sie ihr sagte, was sie hören wollte, dann – das wusste sie – würde sie auf der Stelle aufbrechen und das Morris Inn hinter sich lassen. Sie würde sofort auschecken, ins Auto springen und ohne zu überlegen schnurstracks zurückfahren. Mit Freuden.

Aus dem Augenwinkel sah sie ein Stück von sich selbst im trüben Spiegel des dunklen Flachbildschirms, den niedergeschlagenen und enttäuschten Gesichtsausdruck, der über ihr Gesicht huschte, als sie sah, dass keine Nachricht auf ihrem Handy eingegangen war.

Mit zittrigen Fingern legte sie das Handy auf dem Nachttisch ab und nahm ihre ruhelosen Schritte durchs Zimmer wieder auf. Alle Zähne schmerzten, so fest knirschte sie damit, als wollte sie sie zu Pulver zermahlen. Ihre Augen brannten vor Müdigkeit und Enttäuschung. Am liebsten hätte sie losgeheult. Schließlich fand JoJo sich im Bad wieder und ließ sich auf dem Deckel der alten Toilette fallen. Ihre gedämpften Schluchzer warfen in dem klaustrophobisch kleinen Raum dumpfe Echos.

Sie hatte fünf, vielleicht zehn Minuten so dagesessen, als sie ein leises Geräusch wahrnahm, das aus dem Zimmer nebenan zu kommen schien. Ihr war nie der Gedanke gekommen, dass sie vielleicht direkt neben einem anderen Gast wohnen könnte, und als sie die leisen Schritte hörte, tat ihr auf der Stelle leid, dass sie mit den Füßen gegen die alten Fliesen getrampelt war und den an die Wand montierten Handlauf mit den Fäusten bearbeitet hatte, bis die Knöchel schmerzten.

JoJo erwartete, dass ihr Ausbruch mit Entrüstung beantwortet wurde, und legte sich schon eine angemessene Entschuldigung zurecht. Aber noch bevor sie ihr Schluchzen wieder unter Kontrolle hatte und die Worte laut aussprechen konnte, rief die Nachbarin – um die handelte es sich offenbar – sie sanft durch die Wand hinweg an. »Verzeihen Sie bitte … Es geht mich ja eigentlich nichts an, Liebes, aber … Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«

Die Stimme klang sehr feminin, aber ein wenig rau, so als wäre die Frau schon recht alt. Die gutmütige Nachbarin sprach mit einer eindringlichen Sorge, die typisch für hingebungsvolle Großmütter war. Unerwarteterweise fühlte sich JoJo in ihrem fragilen Zustand von diesen freundlichen Worten zutiefst angesprochen.

»Oh …«, begann sie und schluckte die Tränen hinunter. Sie setzte ein falsches Lächeln auf, um besser Fröhlichkeit vortäuschen zu können. »Tut mir leid wegen dem Krach. Mir geht’s gut. Alles in Ordnung.« Ihr Magen drehte sich angesichts der Bitterkeit, mit der sie diese Lüge vorbrachte, um. »Tut mir leid, wenn ich Sie gestört habe. Kommt nicht wieder vor.«

Die Frau nebenan antwortete mit einem liebevollen Gurren. Offenbar empfand sie JoJos Ausbruch weder als Ruhestörung noch fühlte sie sich im Geringsten belästigt. »Kein Grund, sich zu entschuldigen, meine Liebe. Keine Sorge. Es ist nur … Sie klangen so aufgeregt. Es steht mir vielleicht nicht zu, aber wenn Sie irgendetwas brauchen, jemanden, der zuhört zum Beispiel … Dann bitte, zögern Sie nicht. Ich hoffe wirklich, dass alles in Ordnung ist.«

»Jemand, der zuhört …«, murmelte JoJo in sich hinein. Sie richtete das Gesicht auf die Kacheln an der Wand und betrachtete die porösen Mörtelfugen dazwischen. Plötzlich hatte sie das dringende Bedürfnis, sich jemandem anzuvertrauen.

»D-danke, das ist wirklich nett«, begann sie und wischte sich mit dem Handrücken die laufende Nase ab. »Ich … Ich will Sie aber nicht mit unnützen Details belästigen.«

»Mich belästigen?«, erwiderte die alte Frau. »Das dürfen Sie nicht einmal denken. Was brennt Ihnen denn so auf der Seele, Liebes? Manchmal brauchen wir einfach jemanden zum Reden.«

Je länger sie zuhörte, desto mehr hatte JoJo das Gefühl, der Frau alles sagen zu können.

Also tat sie genau das.

Sie erzählte dem Hotelgast nebenan die ganze traurige Geschichte. Von Anfang an.

Bernard war gegen Mittag über seinem Taschenbuch eingenickt. Auf der Ausgabe von Moby Dick, die er gerade las, befand sich nun ein kleiner feuchter Fleck, denn er hatte im Schlaf gesabbert. Aufgeschreckt vom Knirschen der Eingangstür, wischte er sich rasch den Speichel von den Lippen, setzte sich auf und tat so, als wäre er in sein Buch vertieft, als auch schon Francis, der Koch, durch die Lobby geschlendert kam.

»Wie läuft’s denn so?«, fragte der junge Küchenchef, der sich seine sandfarbenen Locken im Versuch, eine Elvistolle zu kreieren, mit viel Gel zurückgekämmt hatte. Sein Gesicht wirkte, als hätte er einen leichten Sonnenbrand, wie immer umwehte ihn der Geruch nach billigem Deo.

»Ach, du bist es, Francis.« Der Hotelbesitzer lachte leise. Demonstrativ klappte er das Taschenbuch zu und schob es auf dem Schreibtisch von sich. »Fängt deine Schicht also auch schon wieder an … Ich habe gerade in diesem Meisterwerk Melvilles gelesen und bin ganz darin aufgegangen. Hab völlig die Zeit vergessen.«

Der Koch grinste spöttisch und zupfte sich den Kragen seines weißen Kittels zurecht. Er lehnte sich lässig an die Rezeption. »Bist wohl wieder eingeschlafen, bevor du überhaupt an Bord der Pequod gekommen bist. Stimmt’s oder hab ich recht?«

Bernard winkte angewidert ab. »Es ist eben ein wirklich tiefgründiger Roman. Aber egal. Wir haben einen Gast, Francis.«

»Ach.« Der Koch sah sich gespannt in der Lobby um und lauschte für einen Augenblick. »Nur einen?«

»Nur einen«, bestätigte Bernard. »Eine junge Frau, in 212. Sie macht einen sehr verstörten Eindruck, irgendetwas macht dem armen Ding sehr zu schaffen. Warum klingelst du nicht mal bei ihr durch, wenn du in der Küche bist? Wenn du noch kein Menü geplant hast, kannst du ihr ja vielleicht etwas nach Wunsch kochen. Irgendetwas, das sie ein bisschen aufmuntert!«

»Klar«, erwiderte Francis. »Ich schau mal nach, was wir noch so in der Speisekammer haben. Wenn sie irgendwas Exotischeres haben will, dann flitz ich noch mal schnell in den Supermarkt.«

»Sehr gut«, nickte der Besitzer und glättete seinen Schnurrbart. »Gib mir kurz Bescheid, wenn du dich für eine Speisefolge entschieden hast … Aber weißt du was? Ich hab vor ein paar Tagen von diesen Lammkoteletts in Pfefferminzsoße geträumt, die du vor einigen Wochen zubereitet hast. Erinnerst du dich? Wenn die junge Dame nichts dagegen hat, dann, schlage ich vor, wird das der Hauptgang.«

Francis löste sich vom Tresen und machte sich auf in Richtung Küche.

»Lammkoteletts. Ja, die könnte ich machen. Allerdings weiß ich nicht, ob die irgendwo im Angebot sind. Wenn nicht, wird das nicht billig!«

Bernard zuckte mit den Schultern. »Das spielt keine Rolle. Uns beide und unsere traurige Besucherin zu verköstigen, kann doch ohnehin nicht die Welt kosten.«

Wieder warf er einen Blick aus dem Fenster. Immer noch war es nur der blaue Sedan, der dort stand, auch wenn jetzt der klapprige schwarze Kombi des Kochs daneben geparkt hatte.

»Ist wohl wieder mal so ein Tag«, sagte er sich, als Francis nicht mehr in Hörweite war. »Aber irgendwann kommen wieder bessere Zeiten. Und dann können wir uns jeden Abend Lammkoteletts leisten!«

2

Die Trauer folgte ihr wie ein Schatten überallhin.

Schlaflose Nächte hatten dunkle Ringe unter ihren Augen hinterlassen, und alle näherten sich Sadie Young, die einst bei Stammgästen der Bücherei beliebt gewesen und von ihren Kollegen hoch geachtet worden war, nur noch mit einer gewissen Vorsicht, deutlicher Zurückhaltung und vor allem Mitleid. Sadie hatte zudem festgestellt, dass sogar die kleinen Kinder sie längst nicht mehr so oft um Rat baten, wo sich Bücher finden ließen, wie sie es früher so gern getan hatten. Selbst die echten Nervensägen zogen es mittlerweile vor, sich bei den anderen Mitarbeitern der Bücherei unbeliebt zu machen. Sadie bewegte sich wie in Trance, und wenn sie auch die Bücher durchaus korrekt in die für sie bestimmten Abteilungen und Regale sortierte, wich sie allem aus, was auf direkte Kommunikation zwischen ihr und anderen hinauslief.

Es war nicht so, dass sie wegen dieses Verhaltens nicht eine gewisse Scham empfand. Sie wusste, dass sie kaum den einfachsten Ansprüchen genügte und allen nur eine zusätzliche Last war. Ihre Vorgesetzten hatten in den ersten kritischen Tagen sehr freundlich reagiert und geduldet, dass sie sich nach der Beerdigung hatte krankschreiben lassen. Ein paar hatten sogar einige ihrer bezahlten Urlaubstage für sie geopfert, in der Hoffnung, dass sie am folgenden Montag so fröhlich und pünktlich wie früher zum Dienst erschien.

Aber in den Wochen seit Augusts Tod hatte sie sich selbst verloren. Mitfühlende Cops hatten sie von der brennenden Ruine Winslow Manors zurückgerissen, trotzdem war ein Teil von ihr den lodernden Flammen zum Opfer gefallen. Doch erst jetzt, nach so vielen Tagen, dämmerte ihr endlich, dass nichts mehr wie früher war. Albträume, die sie wieder an den grauenhaften Ort zurückzwangen, der wie ein Nest zwischen den Tannen lag, suchten sie Tag und Nacht heim, rissen sie an diesen Ort zurück, dessen Zerstörung in den Flammen dem Holzschnitt dieses ganz bestimmten Altarbilds so ähnlich sah …

Sie hatte August nach den letzten Augenblicken, die sie zusammen im Auto gesessen hatten, nicht mehr gesehen. Seit Neuestem war sie sicher, dass seine Anwesenheit in diesem Wagen so etwas wie eine Halluzination gewesen war. Er war in dem Haus gestorben, und das auf grauenvollste Weise – der Bericht des Leichenbeschauers hatte all die Details so genau aufgelistet, dass einem beim Lesen übel werden konnte. Jeder Zweifel, den Sadie gehabt haben mochte, löste sich nach dem kurzen Blick auf, den sie in den Sarg geworfen hatte; die zurechtgemachte Leiche darin war wirklich die ihres geliebten Freundes. Man hatte ihm sogar die albernste Fliege, die sich in seiner Garderobe finden ließ, umgebunden, damit er damit begraben werden konnte.

Und der Schuft hatte nicht einmal daran gedacht, sie noch einmal zu besuchen.

Dass die Toten wirklich tot blieben, dass man nicht hoffen konnte, sie brächen mit den Gesetzen der Natur, nur um sie zu trösten – das war für das junge Medium eine bittere Pille. Offenbar erschienen Geister ihr nur dann, wenn sie das am wenigsten gebrauchen konnte. Wenn Augusts Geist sich noch irgendwo auf dieser Erde befunden hätte, dann war er wohl verschwunden, gleich nachdem er dafür gesorgt hatte, dass sie auf diese dramatische Art und Weise aus Winslow Manor hatte entkommen können. Die Tage und Nächte, die sie in Gedanken mit ihm, der Trauer und der Sehnsucht danach, wieder seine Gesellschaft genießen zu können, verbracht hatte, hatten das sehr deutlich werden lassen.

Vielleicht hätte sie das glücklich machen sollen. Glücklich, dass ihr bester Freund nicht wie die anderen Toten, die ihr so regelmäßig erschienen, noch im Diesseits feststeckte. Augusts Geist war nicht als Waffe gegen sie verwendet worden, sondern offenbar wirklich zur Ruhe gekommen. Doch das Glück und der Trost, die dieser Gedanke in sich hätte bergen sollen, stellten sich nicht ein. Wenn es ganz schlimm wurde, erhoben stattdessen Neid und Bedauern ihr hässliches Haupt und suchten Sadie heim. Der Friede, der August offenbar zuteilgeworden war, machte sie neidisch und sie wünschte, sie hätte nie zugelassen, dass er sich in ihr verkorkstes Leben einmischte. Sein Tod war ihre Schuld, da biss die Maus keinen Faden ab. Und sie hasste sich dafür.

Ihre heutige Schicht hatte gefühlt ewig gedauert. Doch jetzt warteten nur eine Fahrt mit dem Taxi und eine leere Wohnung auf sie. Ohne die Rückfragen der Büchereistammkunden blieb nichts anderes als die monotone Arbeit, die zurückgegebenen Bücher wieder in die Regale zu stellen. Dabei wurde Sadie zu einer Art Automat und überließ sich ganz ihren Gedanken.

Manchmal, wenn die Konzentration auf die Arbeit den Schmerz in den Hintergrund geraten ließ, schaffte sie es, sich zumindest für kurze Zeit davon zu überzeugen, dass alles auf der Welt in Ordnung war. Nichts hatte sich geändert. Auch jetzt schob Sadie einen Rollwagen aus Metall auf den Gemeinschaftsraum zu. Ein alter Witz lag ihr auf der Zunge. »Hey«, brach es aus ihr heraus. »Wie nennt man einen …?«

Kaum war sie durch die Tür getreten, stockte sie. Denn da war niemand, dem sie den Witz hätte erzählen können. Das Zimmer war leer.

Sie schloss die Augen und hob eine Hand an die Stirn. Dann schob sie den Wagen mit verzerrtem Gesicht durch den Türrahmen. Prompt krachte er gegen einen Tisch und ließ mit metallischem Knirschen ein paar Hardcover zu Boden gehen.

»Ich sollte mich wirklich zusammenreißen«, murmelte sie in sich hinein.

Am liebsten hätte sie den Taxifahrer zu sich in die Wohnung gebeten.

Sadie hatte den ganzen Heimweg über geredet und ausschweifend lange Monologe zum Besten gegeben, deren Inhalt man auch in ein paar knappen Sätzen hätte berichten können. Als der Fahrer schließlich vor ihrem nichtssagenden kleinen Apartmenthaus anhielt, hatte sie ihm die Namen seiner Kinder samt deren Geburtstagen und Schulnoten aus der Nase gezogen. Sie hatte sich das nach und nach auf ihren Fahrten zur Arbeit und wieder nach Hause angewöhnt: nervöses Gequatsche, Unterhaltungen, die nur dazu dienten, die Stille zu betäuben – und das alles nur, um das Unbehagen, das sie daheim erwartete, weiter hinauszuzögern. Sie würde irgendwann ihren Führerschein neu beantragen und sich ein Auto anschaffen müssen. Die Kosten dieser Mitfahrgelegenheiten und Taxifahrten waren bald nicht mehr zu stemmen.

Sie gab dem Fahrer sein Entgelt und schickte sich an, zu ihrem Wohnhaus zu gehen. Ihre Handtasche hing in der Armbeuge. Die untergehende Sonne warf hier und da noch ein paar blasse Strahlen in das Halbrund der Wohnanlage, also blieb Sadie auf den Stufen zum Haus stehen und genoss noch einen Augenblick lang das Abendlicht. Wie eine Eidechse, die noch ein kurzes Sonnenbad nahm. Die Stunden der nächtlichen Dunkelheit waren immer die schlimmsten, und selbst in den Nächten, in denen wenig passierte – außer dass sie noch tiefer in ihrer Depression versank –, gaukelte ihr Unterbewusstsein ihr die Monster vor, von deren tatsächlicher Existenz in den Schatten sie mittlerweile nur zu überzeugt war.

Sie ließ die Finger durch ihr dunkles Haar gleiten und erwischte dabei ein paar Knoten. Es wurde länger, aber sie hatte sich bisher nicht aufraffen können, es nachschneiden zu lassen. Darüber hinaus hatte sie das schwarze Kleid, das sie trug, diese Woche schon dreimal angezogen. Ihren Kollegen war mit großer Wahrscheinlichkeit aufgefallen, dass sie ihre Kleidung kaum noch wechselte, und sie waren offenbar nur höflich genug, sich das nicht anmerken zu lassen.

Sadie krempelte die Ärmel auf, um ihre Arme den letzten Sonnenstrahlen auszusetzen. Doch jetzt fiel ihr Blick auf den schwärzlichen Handabdruck knapp oberhalb ihres Handgelenks. Dieser widerliche, schimmelartige Fleck hatte sich in den letzten Wochen nicht wirklich verändert, ebenso wenig wie sein Gegenstück an ihrem Fußknöchel. Sie hielt den Arm hoch und entblößte auch ihren Knöchel, als wollte sie die Sonne anflehen, ihr die Flecke aus dem Fleisch zu brennen.

Schließlich griff Sadie nach der Werbung, die in ihrem Briefkasten steckte, und trottete die Stufen zu ihrer Wohnung hinauf, die sich anfühlte wie ein Isolationstank. Kaum war die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen und die Geräusche der Welt jenseits davon erloschen, stand sie blinzelnd im dämmrigen Flur. Langsam gewöhnten ihre Augen sich an das Halbdunkel und sie stellte fest, dass alles so war, wie sie es verlassen hatte. Die Post von gestern lag immer noch neben der Spüle, gleich neben dem Haufen Prospekte, die sich in den letzten Wochen schon angesammelt hatten; die eine Gabel, die sie vor der Benutzung immer wieder abspülte, blinkte ihr auf dem Abtropfgestell entgegen, während schmutziges Geschirr im vollen Spülbecken vor sich hin schimmelte. Ihr runder Papasansessel stand mitten im Wohnzimmer, auf dem Polster waren ein paar Karotten- und Zwiebelstücke getrocknet, die sie wie ein Kleinkind aus dem letzten Becher Instantnudeln herausgepickt hatte.

Es hatte sich nichts geändert. Das tat es nie.

Sie schaltete das Licht an, zog auf der Matte vor der Tür ihre Schuhe aus und trat dabei unabsichtlich gegen eine Mülltüte, die sie noch nicht entsorgt hatte. Sie hatte einfach nicht den Nerv dazu aufgebracht. Der Tritt brachte einen Stapel zerknitterter Laken zu Fall, der auf der Tüte gelegen hatte. Sie runzelte die Stirn, als könnten die Laken etwas dafür, knüllte sie hastig wieder zusammen und häufte sie wieder auf den Abfall, als wollte sie das Malheur verstecken.

Sie begab sich tiefer in ihr vollgestopftes Apartment, ließ die Tasche einfach neben dem Kühlschrank liegen und entdeckte hinter einem Stapel ungespülter Cornflakesschüsseln Augusts Camcorder. Wie oft sie das Ding seit seinem Tod schon in die Hand genommen und damit herumgespielt hatte, wusste sie schon gar nicht mehr; aber sosehr sie sich das auch wünschte, in dem verstaubten Sucher hatte sich natürlich kein Flaschengeist gezeigt. Das Ding gehörte genau wie die zahlreichen Unterlagen ihrer Nachforschungen, die sie so verbittert in die Abfalltüte neben der Wohnungstür gestopft hatte, in den Müll.

Sadie vergewisserte sich noch einmal, dass die Wohnungstür verschlossen war, und schaltete dann alle Lichter in der Wohnung an. Sie bahnte sich einen Weg durch das Wohnzimmer, in dem sich überall Bücherberge von der Höhe kleiner Kilimandscharos erhoben. Schließlich erreichte sie ihren runden, breiten Sessel und sank mit einem Seufzer auf die abgeschabten Kissen. Dann starrte sie aus dem winzigen Spalt, den die beinahe geschlossenen Vorhänge vor dem Fenster noch frei ließen, hinaus in das letzte Glühen des erlöschenden Tageslichts.

Die Nacht brach herein.

3

JoJo erwachte mit einem Ruck, als das Telefon klingelte.

Es war ein altes Festnetztelefon mit einem Kabel und einem besonders ekelhaften Klingelton. Das schrille Lärmen hatte sie sehr plötzlich aus tiefem Schlummer gerissen – dabei konnte sie sich nicht daran erinnern, dass sie überhaupt eingeschlafen war. Daher war ihr der Schreck nun auch ordentlich in die Glieder gefahren. Sie saß immer noch auf der Toilette, mit der Wange an der Wand.

JoJo fuhr sich unwillkürlich mit der Hand über ihr Gesicht. Die körnigen Kachelfugen hatten einen deutlichen Abdruck auf ihrer Haut hinterlassen. Auf den glänzenden Fliesen waren Speichelspuren zu erkennen, ihr blondes Haar klebte matt und schweißfeucht an ihrer Stirn. Ihre Beine waren eingeschlafen, sodass sie den harten Kachelboden unter ihren Fußsohlen kaum spürte, als sie zur Tür stolperte.

Das Telefon schrillte und kreischte weiter, neben dem verwitterten Plastikhörer blinkte ein rotes Lämpchen. Seit sie – offenbar vor Stunden – eingenickt war, hatte der Tag seine Siebensachen genommen und sich bis auf einen Schimmer von blassem Gold über dem Horizont zurückgezogen. Das Blinken des roten, ovalen Lichts auf dem Telefon leuchtete im Zwielicht umso stärker und wirkte wie eine immer wieder aufschimmernde und Galaxien entfernte Supernova.

JoJo tastete nach dem Hörer, hob ab und brachte ein mehr oder weniger erschöpftes »Hallo?« zustande.

Sie hatte die Stimme am anderen Ende der Leitung noch nie gehört.

»Guten Abend«, erklang es. »Hier ist Francis, aus der Küche unten. Ich wollte Ihnen nur kurz mitteilen, dass wir bald das Abendessen servieren. Auf der Speisekarte stehen Lammkoteletts mit einer Soße aus frischer Minze. Außerdem servieren wir dazu Gemüse à la Normandie, Pastinakenpüree und frisches Brot. Darüber hinaus können Sie zwischen verschiedenen Getränken und Desserts wählen.«

JoJo ordnete mit einiger Mühe das schweißfeuchte Haar. Ihr Kopf tat weh, ihr Mund war so trocken, als hätte sie Baumwolle gekaut. Die Worte, die ihr aus dem Hörer entgegenpurzelten, ergaben kaum Sinn.

Sie musste sich räuspern. »Abendessen?«, brachte sie schließlich hervor.

»Ja«, bestätigte der Koch, offenbar ein junger Mann, der sich darin gefiel, ihr weiter die Menüoptionen aufzuzählen. Als ob sie irgendein Interesse daran gehabt hätte!

»Ich schlage einen unserer Cabernet Sauvignons dazu vor. Allerdings haben wir einen sehr guten Chianti, der ebenfalls hervorragend zum Lamm passen würde. Wenn Sie nur ein leichtes Dessert haben möchten, hätten wir Obstsalat anzubieten. Oder wenn Sie etwas Feineres haben wollen, haben wir auch einen deutschen Schokoladenkuchen auf der Karte stehen. Und nicht zu vergessen …«

Sie war zu erschöpft, um aufrecht zu stehen, und ließ sich auf die Bettkante fallen. Sie umklammerte den Telefonhörer noch etwas fester, um ihn nicht aus Versehen fallen zu lassen. »Ähm …« Sie suchte nach Worten. »Eigentlich habe ich …«

»Tut mir leid, dass ich Sie so überfalle«, erwiderte der junge Kerl mit einem leisen Lachen. »Haben Sie irgendwelche besonderen Wünsche? Allergien, Diäten? Finden Sie das Menü ansprechend? Wenn nicht, bereite ich Ihnen gern etwas anderes zu.«

»Ist schon in Ordnung«, sagte sie nach einer langen Pause und presste eine Hand auf ihren knurrenden Magen. »Ich nehme das Lamm.« Sie strich sich über die Kehle. »Kann ich vielleicht etwas Wasser dazu haben?«

»Sicher«, antwortete der Koch. »Wollen Sie die Mahlzeit unten im Speisesaal einnehmen oder würden Sie lieber allein in Ihrem Zimmer essen?«

JoJo blinzelte, um den Druck hinter den Augen, der immer stärker wurde, zu lindern. »Kann ich … Können Sie mir alles aufs Zimmer bringen, bitte?«

»Natürlich. Ich stelle Ihnen etwas zusammen, Lammkotelett mit ein paar Beilagen und einer Flasche mit frisch abgefülltem Mineralwasser. Wie klingt das, Miss …?«

Sie murmelte ein kurzes »Danke« und unterbrach die Verbindung.

Den Hörer ließ sie einfach fallen, sodass er zwischen ihren Knien wie ein Pendel hin- und herschwang und einen langen Schatten auf dem Teppichboden hinterließ. Das Ding wieder ordentlich auf die Gabel zu legen, erwies sich in ihrem desorientierten Zustand als eine schwierige Aufgabe.

Kaum hatte sie diese Herausforderung bewältigt, tastete sie die Wände, auf denen sich in der Dämmerung kaum etwas erkennen ließ, nach einem Lichtschalter ab. Schließlich schaffte sie es, das Licht anzuschalten: Eine einfache senfgelbe Lampe schimmerte über ihr auf.

Beinahe zweieinhalb Stunden waren vergangen, seit sie hier hereingekommen war, und die meiste Zeit hatte sie damit verbracht, im Bad herumzuhängen und zu schlafen. Im ersten Augenblick schämte sie sich für das Nickerchen auf dem Klo. Aber andererseits war sie ja auch nach der langen Fahrt erschöpft, lieferte sie sich gleich die Erklärung dafür. Da war es ja wohl nur natürlich, dass sie eingeschlafen war. Sie kramte in ihrem Gedächtnis nach Erinnerungen, die die Geschehnisse vor diesem unfreiwilligen Schläfchen wiedergaben. Unbehagen schlich sich in ihre Gedanken.

Diese alte Frau …, dachte sie und ließ den Blick ihrer blutunterlaufenen Augen durchs Zimmer und durch die immer noch weit offen stehende Badezimmertür wandern.

Bis zu diesem Augenblick hatte sie ihre Unterhaltung mit der alten Frau nebenan völlig vergessen. In der einen Sekunde hatte sie dieser vollkommen Fremden durch die Wand des Badezimmers hindurch ihr Herz ausgeschüttet, in der nächsten war sie in einen geradezu komatösen Erschöpfungsschlaf gefallen. Jetzt war sie wieder wach, konnte sich aber an die Einzelheiten des Gesprächs nicht wirklich erinnern.

Wann genau war sie eigentlich eingenickt? War sie vielleicht mitten im Satz eingeschlafen? Hatte sie die Unterhaltung überhaupt zu Ende gebracht?

Sie begriff, dass sie die alte Frau aufsuchen und sich bei ihr entschuldigen musste, falls sie sich wirklich so unhöflich benommen hatte. JoJo schlurfte wieder ins Bad, wusch sich gründlich das Gesicht und versuchte dabei, so gut es ging, die Abdrücke der Fliesen aus der Wange zu massieren. Dann fasste sie nach einigem Kampf ihre Haare in einen etwas zerrauften Pferdeschwanz zusammen.

Das Endergebnis war einigermaßen zufriedenstellend, also begab sie sich zur Eingangstür und schlüpfte so leise wie möglich in den Flur hinaus.

Vor der Tür zu Zimmer 211 blieb JoJo stehen, klopfte behutsam an die mit Holz vertäfelte Tür und wartete ab.

Eine lange Minute, in der sie nervös von einem Fuß auf den anderen trat und immer wieder Blicke den Korridor entlangwarf, antwortete niemand. Sie versuchte es noch einmal und klopfte diesmal etwas kräftiger. Während sie wartete, nahm sie den Hotelflur des ersten Stocks mit dem ausgeblichenen Teppich und seinem Blumenmuster sowie die gerahmten Drucke von Bauernhäusern und anderen alltäglichen Szenerien, die an den Wänden hingen, etwas genauer in Augenschein. Nachdem eine weitere Minute ohne einen Laut vergangen war, war sie mit den Rowdys, die ihren Namen und anderes in den Türstock geritzt hatten, auf Du und Du.

Dann erklangen nicht in 211, aber auf der Treppe herannahende Schritte. Kurz darauf tauchte ein junger Mann auf, der wirkte, als wäre er etwa so alt wie sie. Er trug den weißen Kittel eines Küchenchefs und hatte ein Tablett samt einer Mahlzeit mit einer silbernen Haube darüber in den Händen. Er schenkte ihr ein kleines Lächeln, als er näher kam. Das war wohl dieser Francis, mit dem sie vorhin telefoniert hatte.

»Guten Abend«, sagte er, als er auf sie zukam, und wies mit dem Kinn auf das Tablett. »Hier kommt Ihr Abendessen, Miss.«

JoJo erwiderte das Lächeln und schob sich eine Haarlocke hinters Ohr, die sich aus dem Pferdeschwanz gelöst hatte. Sie wies ihrerseits mit einer knappen Geste auf ihr Zimmer. Dann nahm sie ihm das Tablett und ein Wasserglas, das er einfach in seine Kitteltasche gesteckt hatte, ab, murmelte einen hastigen Dank und brachte alles in ihr Zimmer.

»Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«, fragte er in dem Moment, in dem sie die Tür mit der Ferse zuschlagen wollte.

»Nein danke«, antwortete sie – nur um es sich gleich wieder anders zu überlegen. »Obwohl …« JoJo kicherte etwas verlegen und kam wieder zur Tür. »Wissen Sie, ob die Besucherin nebenan vielleicht zum Essen nach unten gegangen ist?«

Francis runzelte die Stirn. »Verzeihung?«

»Da wohnt doch eine ältere Dame nebenan«, erklärte JoJo und wies mit dem Finger auf die Tür zu 211. »Nimmt sie ihr Abendessen unten im Speisesaal ein?«

Der junge Koch beschäftigte sich beiläufig mit einem seiner Hemdknöpfe. Er sah verlegen zur Seite, als müsste er sich ihre Worte erst in eine fremde Sprache übersetzen. »Nein, ich …« Er grinste. »Meines Wissens wohnt niemand in diesem Zimmer, Miss. Genau genommen sind Sie im Augenblick unser einziger Gast.«

Jetzt starrte sie ihn verständnislos an. »Was?«

Mit großen Augen ließ sie den Blick zu ihrer Badezimmertür wandern. »Sind … Sind Sie sicher? Ich meine, ich habe doch … Vorhin, da … da habe ich …« Ihr Unbehagen wuchs, je länger sie versuchte, sich zu rechtfertigen.

Schließlich erwiderte sie sein Grinsen, als amüsierten sie sich beide über einen geheimen Witz, aber in Wahrheit bildete sich gerade ein Knoten in ihrem Magen. Hatte ich vielleicht nur einen Traum?, fragte sie sich. Nein, das kann doch gar nicht sein. Ich bin sicher, dass da jemand durch die Wand mit mir gesprochen hat. Eine alte Frau. Die war doch wirklich da. Oder nicht?

»Ja, ich bin mir ziemlich sicher«, erwiderte der Koch. Er wandte sich zum Gehen, die Belustigung auf seinem Gesicht verschwand. »Ähm … Wenn Sie noch etwas brauchen, zögern Sie bitte nicht, Bescheid zu geben. Ich bin noch ein paar Stunden in der Küche, um das Frühstück vorzubereiten. Und wenn Sie fertig sind, lassen Sie das Tablett einfach vor der Tür stehen. Ich werde dann kommen und es abholen.«

»Ja … Ja, klar. Danke.« So verabschiedet huschte JoJo zurück in ihr Zimmer und schloss hastig die Tür hinter sich.

Es hätte eine angenehme Mahlzeit werden können, wenn sie nur in der Lage gewesen wäre, sie bei sich zu behalten.

Egal wie gut die Minzsoße schmeckte, die so appetitlich angerichteten Lammkoteletts bekamen ihr nicht. Übrigens auch die Pastinaken nicht. JoJo hatte noch nie Pastinaken gegessen und der erdige Geschmack sagte ihr gar nicht zu. Nachdem sie eine Weile die Kloschüssel umarmt hatte, begnügte sie sich mit dem trockenen Brot und dem Mineralwasser. Beides genoss sie, denn es ließ den Geschmack der bitteren Galle aus ihrem Mund verschwinden. Damit sie sich nicht ganz so allein fühlte, hatte sie sich den Fernseher angemacht und zappte nun durch die Programme, um eines zu finden, das sie halbwegs interessierte. Doch da fand sich nichts, also schaltete sie das Gerät wieder ab und widmete sich stattdessen ihrem Smartphone.

Das Ding war mittlerweile wieder voll aufgeladen, aber abgesehen von einem vollkommen ausgefüllten Batterie-Icon gab es, seit sie das letzte Mal einen Blick darauf geworfen hatte, keine signifikanten Änderungen in den Anzeigen. Ein paar E-Mails waren eingetrudelt und versuchten, ihr Kleidung und Vitamine anzudrehen, aber als sie diese in den virtuellen Papierkorb verschoben hatte, war das Handy nicht einmal mehr so viel wert wie ein Briefbeschwerer. Voller Abscheu ließ sie es in die Schublade des Nachttischs fallen und schickte sich an, ihr Tablett auf den Gang hinauszustellen, direkt neben ihre Tür.

Jetzt, da die Nacht diesen fremdartigen Ort voll und ganz erfüllte und die Überreste des Essens in ihrem Magen herumrumorten, begann sie, die Hotelgänge auszukundschaften.

Was machte sie hier überhaupt? Was hatte sie eigentlich als Nächstes vor? Wenn sie auf die Geschehnisse zurückblickte, war sie nicht sicher, ob es richtig gewesen war, hier zu übernachten. Einfach ein paar Hundert Meilen die Straße entlangzufahren und dann in irgendeinem abgelegenen Hotel an der Straße abzusteigen, hatte doch an ihrer Situation eigentlich gar nichts geändert. Außer vielleicht die Höhe ihres Bankkontos, und die war schon vorher nicht gerade überragend gewesen.

Vielleicht sollte ich Mom anrufen, dachte sie und knabberte zum Nachtisch an ihrem Daumennagel herum. Sie wird mir natürlich sofort eine Gardinenpredigt halten. So wie immer. Aber … sie würde dich nicht im Stich lassen, oder? Sie hat es doch bestimmt nicht so gemeint. Sie war eben wütend. Und mal ehrlich, vorwerfen kann man ihr das nicht.

Ihre Nägel wuchsen offenbar nicht schnell genug, um mit ihren neurotischen Angewohnheiten Schritt zu halten. Wenn es so weiterging, biss sie demnächst noch an ihren Fußnägeln herum.

Was wäre denn, wenn ich ihn anrufe? Ein Brocken der Brioche, die sie gegessen hatte, kämpfte sich den Weg die Speiseröhre hinauf. Technisch gesehen ist das jetzt schon mehr als einen Tag her. Er muss doch gemerkt haben, dass ich nicht zu Hause bin. Dass ich weg bin. JoJo glaubte schon, dass sich da eine Träne aus ihren müden Augen stahl, aber selbst in dieser Sache irrte sie sich. Ein ganzer Tränenstrom drang plötzlich heiß aus ihren Augenwinkeln und nahm ihr die Sicht. Warum hat er mich bloß nicht angerufen? Mal ehrlich, nicht einmal eine SMS? Ich kapier’s einfach nicht.

JoJo legte sich ins Bett und verzichtete darauf, sich ihr Smartphone noch einmal vorzunehmen. Morgen früh wird sich schon irgendjemand gemeldet haben. Mir doch egal. Mich selbst zu melden, würde es nur aussehen lassen, als wäre ich verzweifelt. Die werden mich schon früh genug anrufen. Da bin ich sicher.

Überschlafen der Probleme hat noch nie jemandem etwas gebracht. Im Gegenteil, damit lädt man die Probleme geradezu ein, mit einem unter die Decke zu schlüpfen – man gestattet den Sorgen und Ängsten nur, sich in den Laken zu verheddern. Mit genau solchen Bettgenossen hatte JoJo es zu tun. Sie stießen ihr mit den Ellbogen in die Rippen und hinderten sie hartnäckig daran, einzuschlafen.

Wann genau es passierte, wusste sie nicht, immerhin hatte sie die einzige Uhr, die sie bei sich hatte, in der Nachttischschublade versteckt. Die Schwärze jenseits der Fensterrahmen war undurchdringlich, aber irgendwann in der Nacht hörte sie ein seltsames Geräusch draußen im Flur. Das war nicht der junge Koch, da war sie ganz sicher. Francis’ ausgreifende, feste Schritte hatte sie ja schon gehört, als er gekommen war, um ihr Tablett abzuholen. Nein, den Schritt desjenigen, der da gerade draußen im Korridor herumschlich, kannte sie nicht. Der Besitzer? Ein neu angekommener Gast?

Die Neugier siegte. JoJo schlüpfte aus dem Bett, um herauszufinden, wer da draußen so heimlich herumschlich.

Sie blinzelte durch den Türspion und blickte direkt auf das gelborangene Licht einer Wandlampe. Eine dunkle Masse bewegte sich am linken Rand des Fischauges. Es handelte sich, das erkannte sie schnell, um eine Gestalt – und zwar die, deren Wanderung von einem Ende des Flurs zum anderen sie ganz offenbar geweckt hatte. Aber je länger sie hier stand und in den Korridor starrte, desto mehr Fragen kamen ihr in den Sinn, was diesen nächtlichen Spaziergänger anging.

Zunächst waren die Schritte dieser Person nicht nur einfach langsam. Sie schlurften. Es waren die Schritte eines Menschen, der zerbrechlich und nicht gut zu Fuß war. Noch seltsamer war die Art dieser Person, sich zu kleiden. Es schien beinahe, als hätte sie sich eine Art schwarzes Laken über Gesicht und Kopf gezogen, damit sie niemand erkannte. Diese in ein Laken gehüllte Person schlurfte tief gebeugt durch den Gang und war insgesamt – soweit man das im Zwielicht überhaupt erkennen konnte – von eher zierlicher Gestalt. Zu dem Zeitpunkt, an dem dieser Jemand an JoJos Tür vorbeihumpelte, war ihr bereits klar, dass es sich um niemand anderen als die alte Frau handeln konnte, mit der sie heute Nachmittag durch die Badezimmerwand gesprochen hatte. Der Verdacht verstärkte sich noch, als ein paar Augenblicke später zu hören war, wie sich die Tür zu Zimmer 211 öffnete und langsam wieder ins Schloss fiel.

Dass die alte Frau im Zimmer nebenan verschwunden war, wurde mit einem Mal zum Problem. Der Koch hatte ihr erzählt, dass niemand in diesem Zimmer wohnte … Allein schon die Erwähnung eines weiteren Hotelgasts hatte ihm bestenfalls höflichen Unglauben entlockt.

Bisher war es so still gewesen, dass JoJo ohne Schwierigkeiten hatte glauben können, dass sie die einzige Besucherin war. Aber als sie sich nun an den Moment erinnerte, in dem sie eingecheckt hatte … Der Besitzer hatte das Gästebuch sehr eingehend studiert, bevor er ihr ein Zimmer zugewiesen hatte. Sie war also alles andere als der einzige Gast hier! Francis hatte sich irgendwie vertan, das war ihr jetzt klar. Da wohnte wirklich eine alte Frau im Zimmer neben ihr.