4,99 €
Sadie ist 25, arbeitet als Bibliothekarin und hat eine besondere Gabe: Sie ist empfänglich für das Übernatürliche. Seit Jahren berichten Einheimische, dass etwas Abscheuliches in der verlassenen Rainier-Irrenanstalt herumschleicht – etwas mit riesigen Augen und verdrehten Gliedern. Nachdem ein junger Mann in den Gängen des zerfallenden Gemäuers verschwunden ist, beschließen Sadie und ihr Arbeitskollege August nach ihm zu suchen … Als sie in die Tiefen der alten Anstalt hinabsteigen, stolpert Sadie über etwas völlig Unerwartetes – etwas, das mit dem Ursprung ihrer unheimlichen Gabe zusammenhängt. Ambrose Ibsen gehört zur neuen Generation der herausragenden amerikanischen Horrorautoren in der Art von Stephen King oder Dean Koontz.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 311
Veröffentlichungsjahr: 2022
Aus dem Amerikanischen von Heiner Eden
Impressum
Die amerikanische Originalausgabe The Haunting of Rainier Asylum
erschien 2019.
Copyright © 2019 by Ambrose Ibsen
Copyright © dieser Ausgabe 2022 by Festa Verlag GmbH, Leipzig
Titelbild: ebooklaunch.com
Alle Rechte vorbehalten
eISBN 978-3-98676-025-0
www.Festa-Verlag.de
1
Sie hatten in ihrer Wohnung Posten bezogen und waren in eine Totenstille eingetaucht, sodass es schien, als wären sie beide in ihrer Schwermut zu Statuen erstarrt. Sadie und August sahen zu, wie das letzte Licht des Tages am Rande des Wohnzimmerfensters immer mehr verblasste; sie hockte in ihrem klobigen Sessel, er lag auf dem Sofa, halb bedeckt von einer Decke wie ein Mann, der gegen eine Grippe kämpfte, und die kleine Pappschachtel, die im Haus ihrer Großeltern gefunden worden war, stand neben der Tür, wo sie die schon abgestandene Luft mit der Rätselhaftigkeit eines zudringlichen Fremden verpestete.
Der Tag war wie verschwommen gewesen, und sich noch lange mit ihm zu befassen würde seine frühere angenehme Stimmung schnell vergessen machen. Die Aussicht auf ein Barbecue mit Freunden, um die Genesung und Entlassung eines Teenagers aus dem Krankenhaus zu feiern, war innerhalb einer einzigen Unterhaltung zu einer Diaschau aus Gewalt und Trauma verzerrt worden, und Sadie war sich sicher, dass sie nie mehr davon loskommen würde. Sie hatten im Hinterhof darauf gewartet, dass der Krankenwagen eintraf, und er war schnell gekommen, doch Ophelia hatte schon vor seiner kreischenden Ankunft ihren letzten Atemzug getan. Rosie, fast wahnsinnig vor Verzweiflung, war den Sanitätern in den Krankenwagen gefolgt und hatte neben ihrer Tochter geschluchzt. Die Freunde des Mädchens, die kurz nach dem Krankenwagen angekommen waren, hatten sich panisch wieder auf den Weg nach Hause gemacht, bis nur noch Sadie und August in dem Hinterhof übrig waren, wo der Geruch von brennender Holzkohle schwer in der Luft hing.
Als der Krankenwagen fort war, war das Paar wortlos zurück zu Augusts Wagen getaumelt, und eine Stunde oder mehr hatten sie bei geschlossenen Fenstern darin gesessen.
Ein-, zweimal hatte August versucht, ein Gespräch zu beginnen und das Thema anzuschneiden, das ihnen beiden durch den Kopf schwirrte, doch jedes Mal hatte er nur ein Schweigen als Antwort bekommen.
Als der erste Schock endlich verflogen war, hatte Sadie schließlich die Kraft aufgebracht, etwas zu sagen – mit stockender, monotoner Stimme –, doch da hatten sie bereits den Parkplatz vor ihrem Apartmenthaus erreicht. Die Stunden der Stille und der Furcht davor hatten nur diese eine farblose Frucht hervorgebracht: »Ophelia hat sich meinetwegen umgebracht, August.«
Er beantwortete diese zittrige Aussage, was nicht überraschend war, mit einer Flut aus wohlmeinenden Beteuerungen des Gegenteils. »Nein, es ist nicht deine Schuld. Sag doch so was nicht. Es gibt nichts, das du hättest tun können. Niemand konnte ahnen, was geschehen würde. Sie hatte in den letzten Tagen viel durchgemacht. Aber niemand hätte das hier vorhersehen können. Sogar die Ärzte glaubten, es ginge ihr gut genug, um sie entlassen zu können. Mach dir keine Vorwürfe.«
Doch er hatte nicht gesehen, wie sich das Mädchen, von einer Angst besessen, die einem den Verstand in Fetzen riss, ein Stück brennende Holzkohle in den Mund schob. Er hatte ihren zuckenden Körper während ihres Todeskampfes nicht in den Armen gehalten. Das Mädchen hatte nicht ihm ein Geständnis gemacht, und er hatte nicht zugesehen, wie sich dieses breite, wahnwitzige Lächeln über Ophelias Gesicht gezogen hatte, während das Licht aus ihren Augen verschwand.
Sie waren aus dem Wagen ausgestiegen, hatten ihre Wohnung betreten und ihre Posten bezogen. Jeder Wortwechsel, zu dem sie sich in den folgenden Stunden hatten aufraffen können, kam nur sporadisch, und jede Stille dazwischen war von einem niederdrückenden Schweigen erfüllt.
»Sie hat sich das Leben genommen«, sagte Sadie schließlich, während sie beobachtete, wie das Tageslicht wie in einem Abfluss verschwand, »wegen meiner Mutter.«
Er kratzte seinen Bart und starrte mit blutunterlaufenen Augen zur Decke hinauf. »Das ist unmöglich.«
»Das war es, was sie mir sagte, bevor sie starb.«
»Aber das ist unmöglich. Deine Mutter ist kurz nach deiner Geburt gestorben, stimmt’s?« Er hob die Hände über seinen Kopf. »Was soll deine Mutter damit zu tun haben? Ich weiß, du hast diese Träume, aber …«
»Hatte ich nicht«, warf sie mit zusammengebissenen Zähnen dazwischen. »Seit Beacon Hill – seit damals, als wir es mit der Madenmutter zu tun hatten – hatte ich diese Träume nicht mehr. Jedenfalls waren es nicht mehr dieselben.« In Gedanken spulte sie zu dem Traum zurück, den sie in der letzten Nacht gehabt hatte. »Gestern Nacht war mein Traum anders. Ich träumte von dieser Tür – und dem kleinen Zimmer oder dem Wandschrank dahinter –, doch als ich sie öffnete, war da nichts. Meine Mutter war nicht da.«
August blinzelte ein paarmal, bevor er sich mit einem tiefen Seufzen aufsetzte. »Okay, aber was hat das mit dem zu tun, was heute geschehen ist?«
Sie kniff ihre smaragdgrünen Augen zusammen und blickte zu ihm hinüber. »Ophelia sagte mir, sie habe meine Mutter letzte Nacht im Krankenhaus gesehen, an ihrem Bett. Ungefähr zur selben Zeit, in der ich diesen Traum von einem leeren Zimmer hatte, tauchte meine Mutter bei Ophelia auf. Wenigstens sagte sie mir das, bevor sie …« Sadie verstummte und strich sich über den Kloß in ihrer Kehle. Die Tränen, die sie herunterschluckte, waren heiß und scharf und erinnerten sie an ein Stück Holzkohle …
August versuchte, sich ein Lächeln abzuzwingen – das erste seit dem Nachmittag –, und sah dabei aus, als würde die Anstrengung ihm ein flaues Gefühl bereiten. »Ich weiß, wir haben eine Menge durchgemacht, und wir haben in den letzten Tagen ein paar wirklich schräge Dinge gesehen, aber …« Er schüttelte den Kopf. »Sadie, das ist doch verrückt. Was um alles in der Welt könnte deine Mutter mit dieser Sache zu tun haben? Warum sollte sie …« Noch einmal schüttelte er den Kopf und setzte sich aufrecht hin. »Es ergibt überhaupt keinen Sinn, okay? Es war wahnhaftes Geschwätz, nichts weiter. Sie war nicht mehr ganz bei Sinnen.«
Wieder verfielen sie in ein Schweigen. Sadie entgegnete nichts und stellte seinen Einwand nicht infrage. Ophelia war auf dem Wege der Besserung gewesen und von dem verderblichen Einfluss der Madenmutter befreit worden, doch in ihren letzten Stunden im Krankenhaus wurde sie von etwas heimgesucht, das sie gebrochen hatte – etwas, dessen Andenken genügt hatte, um sie in den Selbstmord zu treiben. Keine fremde Macht, von der sie wusste, hatte Besitz von dem Mädchen ergriffen. Sie hatte das Stück Kohle aus freiem Willen verschluckt, als hätte sie irgendetwas den Weg versperren wollen, oder als ob die Erinnerung an diese nächtliche Begegnung einfach zu bedrückend gewesen war. Etwas hatte sich so schwer auf ihren jungen Verstand gelegt, dass er unter der Last zerbrochen war. Aber was genau, fragte sich Sadie, hätte das Mädchen dazu treiben können, so etwas zu machen? Welcher Schock war groß genug gewesen, um einen Selbstmord als die bessere Alternative zum Überleben erscheinen zu lassen?
Ein Mädchen war in seiner Blüte umgekommen, und der Horror, von dem es ihr berichtet hatte, wandelte noch immer umher – und das in der Gestalt von Sadies eigener Mutter. Sadie hätte dies nur allzu gern als eine Unmöglichkeit abgetan, doch die vergangenen Tage hatten sie einen ernüchternden Schluss ziehen lassen: Das Einzige, was sie von dieser weiten, chaotischen Welt wusste, war, dass sie rein gar nichts wusste.
Der Abend schleppte sich dahin, und jeder stille Augenblick, der verging, fügte der von Furcht verhangenen Luft ein weiteres Pfund an Gewicht hinzu. Einmal hatte August gefragt, als wollte er die Stimmung lockern: »Und was willst du nun tun? Wie soll’s denn jetzt weitergehen?«
Sie hatte sich schon eine Antwort auf diese bestimmte Frage überlegt. »Nichts«, entgegnete sie. »Wir lassen es auf sich beruhen. Ein Mädchen ist tot. Wir sind schon viel zu weit gegangen.« Sadies jüngster Vorstoß in die Welt des Übernatürlichen war von besten Absichten angestoßen worden, doch jetzt wurde ihr klar – was sie teuer zu stehen gekommen war –, dass es richtig gewesen war, die letzten neun Jahre vor ihren Fähigkeiten davonzulaufen. Ihre Einmischung hatte nichts Gutes gebracht, und es würde nichts Gutes bringen, wenn sie ihre Verstrickung noch weiter vertiefte. »Letztlich ist sie meinetwegen tot, August. Als meine Großeltern mich anflehten, vor alldem hier wegzurennen, hätte ich auf sie hören sollen. Ich hätte immer weiter wegrennen sollen. Stell dir nur vor, wenn ich mich aus allem herausgehalten hätte. Vielleicht würde Ophelia noch leben. Sie hätte sich woanders Hilfe suchen können – bei jemandem, der wirklich weiß, was er tut.«
August ließ sich zur Seite fallen und vergrub sein Gesicht in einem der Kissen. »Ich schätze, dann habe ich auch Blut an meinen Händen, wie? Ich war’s doch, der dich gedrängt hat, dich einzumischen. Ich war’s, der wollte, dass du dich dieser Gabe stellst, anstatt sie versteckt zu halten.«
Sie winkte ab. »Ich hätte ja nicht auf dich hören müssen. Die Schuld liegt immer noch bei mir. Wenn ich doch nur nie geboren worden wäre, vielleicht wäre dies alles nie geschehen. Vielleicht hätte dies alles vermieden werden können …«
»Sag das nicht«, entgegnete er schnell. »Es war nicht deine Schuld und auch nicht meine oder die von irgendjemand sonst. Was geschehen ist, war eine Tragödie. Dir Vorwürfe zu machen wird das Mädchen nicht zurückbringen, okay?«
Sadie schluckte ein Schluchzen hinunter und wartete, bis es sich in ihrem Bauch aufgelöst hatte, bevor sie wieder sprach. »Ophelia sagte mir, dass es noch nicht vorbei sei – dass es jetzt sogar noch schlimmer werde.« Sie massierte die Stirn mit ihren Fingern. »Schlimmer als die Madenmutter. Wenn es nicht vorbei ist … wie viel schlimmer wird es dann noch werden?«
August wusste keine Antwort. Er rollte sich auf die Seite und stierte zum Boden.
»Ruh dich etwas aus.«
Ihr Verstand war bis zum Zerreißen angespannt. Erst als sie sich ihrer Müdigkeit ergab, löste sich die Spannung ein wenig. Sie hockte in dem klobigen Sessel, zog sich eine dünne Decke über und legte sich einen Arm über die Augen.
Der Schlaf überkam sie beide mit unerwarteter Leichtigkeit.
Warmes Sonnenlicht fiel über ihren Rücken, als sie in dem frischen Gras kniete. Der Geruch von Erde und brennender Holzkohle erfüllte die Luft. In ihren Armen lag Ophelia. Ihr schwarzes Haar hing über ihren Augen, ihre Lippen zitterten stöhnend. Sogar als das Mädchen sich wand und zuckte und rubinrotes Blut an dessen Kinn herabtropfte, hatte die Situation etwas Unbeschwertes an sich.
Ein Schmetterling glitt durch die sanfte Brise vorüber, nur um auf dem Rost des heißen Grills zu landen. Seine Beine trafen mit einem Zischen auf die glühende Oberfläche und verbrannten augenblicklich zu Staub. Sein Körper fiel auf das Eisen und begann sich zu krümmen, als die Hitze ihn erfasste. Das schwache Flattern seiner Flügel ließ bald nach, als sie mit dem feuerheißen Metall in Berührung kamen. Sie kräuselten sich und zerfielen wie Blätter, die auf ein Lagerfeuer geworfen wurden und keine Spuren hinterließen.
Und so verstarb auch das Mädchen fast geräuschlos. Blut quoll aus ihrer Nase und ihrem Mund. Ihr Körper verkrampfte sich um das glühend heiße Stück Kohle, das in ihrem Magen steckte. Dann rührte sie sich nicht mehr. Das Lächeln auf ihren Lippen wurde in diesem letzten Augenblick noch ein wenig breiter und verzerrter, als es in ihrem Leben je gewesen war.
Sadie blickte auf den Leichnam mit einer sonderbaren Distanziertheit, wie sie typisch für Träume ist, und betrachtete die wachsbleichen Gesichtszüge des Mädchens. Ophelia fühlte sich so leicht in ihren Armen an, als wäre sie hohl. In den Momenten seit ihrem Tod hatte sich ihre Haut unglaublich abgekühlt, und Sadie konnte nicht anders als zu erschaudern, während sie sie hielt.
Eine Zeit lang erstarrte die idyllische Traumwelt zu einem Gemälde.
Und dann, wie von ganz weit weg, erklang ein Geräusch.
Sadie blickte auf und betrachtete die helle Umgebung. Wohin sie in Rosies Hinterhof auch blickte, sie konnte die Quelle dieses neuen Geräusches nicht ausfindig machen.
Es dauerte eine Weile, bis sie erkannte, was sie hörte. Es war ein tiefes, trockenes Lachen.
Und es kam aus dem Inneren des Leichnams.
Ophelias Körper bewegte sich in ihren Armen nicht. Nicht einmal eine Haarsträhne schob sich über das leblose Gesicht des Mädchens, und ihr Bauch hob und senkte sich nicht vor Lachen, doch das Geräusch kam trotzdem aus ihrem Mund, als würde es jemand ausstoßen, der darin verweilte.
Nach und nach trat etwas aus dem starren Leichnam hervor ins Sonnenlicht. Zwischen den breit grinsenden Lippen schob sich langsam ein fetter Wurm hervor. Er war blutrot. Er plumpste aus ihrem Mund, landete mit einem kaum hörbaren Klatschen auf ihrem blutverschmierten Kinn und hob sein kleines Gesicht hinauf zu Sadie. Das Gesicht des Dinges war von einem gelblichen Weiß wie beim Kopf einer Eiterbeule, und es hatte zwei schmale Augen und einen Mund. Es waren diese Gesichtszüge, die sich in dem höhnischen Lachen ergingen, das sie gehört hatte.
Der lachende Wurm streckte sich in die Höhe und sprach zu ihr.
»Sie kommt zurück, um dich zu sehen. Sie kommt zurück, um dich zu sehen. Wir haben so lang auf deine Rückkehr gewartet. Wir warten schon seit einer Ewigkeit. Und jetzt kommt sie zurück, um dich zu sehen.« Wie eine entfesselte Kobra schwankte der vergnügte Wurm durch die Luft, während sich seine eiterfarbene Miene vor Lachen knautschte.
Sadie betrachtete den grässlichen Boten schweigend. Ihr Magen drehte sich um, Speichel sammelte sich in ihrem Mund, doch sie sagte nichts.
Der Wurm lachte und lachte. »Sie kommt. Sie kommt. Schon bald wird sie hier sein. Wir warten schon so lang …«
Plötzlich bemerkte sie eine weitere Gegenwart. Jemand, der von hinten an sie herantrat, unterbrach das Sonnenlicht und warf einen langen Schatten auf ihren knienden Körper. Sadie starrte auf die Silhouette auf dem Gras. Dann drehte sie sich um …
Sie erwachte mit einem Keuchen und stürzte mit einem dumpfen Knall auf den Boden. Das Geräusch schreckte August aus dem Schlaf, und fast wäre auch er vom Sofa gerollt. Er packte die Lehne und klammerte sich daran. Dann blinzelte er sich die Schwere aus den Augen und fragte: »W-Was ist los? Geht’s dir gut?«
Sadie blieb noch eine Weile auf dem Boden und zog die Decke um sich herum. Am Wohnzimmerfenster zeichnete sich ein Lichthauch ab. Das Licht hatte dieselbe Färbung wie das, das dort gewesen war, bevor sie ihre Augen geschlossen hatte. Doch ob es das Licht eines neuen Morgens oder das letzte Leuchten der Abenddämmerung war, konnte sie nicht sagen.
2
Es war Morgen, und so etwas wie eine Katerstimmung hatte sie beide fest im Griff. Zu viel Stress, zu viel Angst und eine Nacht voll ungewohnt schlechtem Schlaf hatten sie sichtlich mitgenommen.
August humpelte aus der Küche, wo er etwas Frühstücksgebäck zu sich genommen hatte, als würde er an einer Arthritis leiden. Sein Körper war ganz steif nach der Nacht auf dem Sofa, und er stöhnte mit jedem Schritt, den er machte. »Ist es okay, wenn ich den Fernseher einschalte?«, fragte er, als er sich wieder auf seinem Platz niederließ und nach der Fernbedienung griff.
»Ja, meinetwegen.« Sie selbst hatte kein Interesse, sich irgendetwas anzusehen, doch das Gemurmel des Fernsehapparats schien die unbehagliche Stille so gut wie alles andere auszufüllen.
Er streckte sich, und seine Lendengegend knackte wie eine Tüte Mikrowellenpopcorn. »Ich glaube zwar nicht, dass etwas Gutes läuft, aber schauen wir mal …« Der Fernseher schaltete sich ein, und er zappte sofort von einem Kanal zum nächsten. Die Vormittagstalkshows schafften es genauso wenig wie die langweiligen Dauerwerbesendungen und Naturdokumentationen, die zu dieser frühen Stunde liefen, seine Aufmerksamkeit zu fesseln. Nach zehn Minuten, in denen er grunzend auf die Knöpfe der Fernbedienung gedrückt hatte, blieb er an einem lokalen Nachrichtensender hängen. Der Wetterbericht ging gerade zu Ende, und er drehte sich stirnrunzelnd zu ihr um. »Na großartig. Sieht aus, als würde es fast die ganze Woche lang regnen.«
Sadie lehnte sich gegen die Küchenzeile und knabberte an einem Stück Gebäck. Es schmeckte ihr nicht, doch ihr Körper war ganz schwach geworden. Wenn sie nicht vorhatte, den Rest des Tages in ihrem Sessel zu verbringen, ohne sich auch nur einen Millimeter zu rühren – eine Vorstellung, die ihr nicht gerade unangenehm erschien –, brauchte sie etwas Nahrung.
Sie sah, wie die Nachrichtensendung zu einem geschniegelten jungen Reporter schaltete, der vor Ort in irgendeiner ländlichen Gegend stand. Er erwiderte den Gruß der Nachrichtensprecher im Studio und deutete dann auf das weite Feld hinter sich. »Ich befinde mich hier in Tiffin, Indiana, wo seit Freitagnacht ein junger Farmarbeiter vermisst wird. John Ford von der Berkshire-Gust-Schweinefarm, der von seinen Kollegen zuletzt am Freitag kurz vor Einbruch der Dunkelheit gesehen worden war, gilt nun offiziell als vermisste Person – und sein Wagen, der in einem Entwässerungsgraben gefunden wurde, deutet laut der Polizei auf ein mögliches Verbrechen hin. Die Behörden haben eine Suchaktion nach ihm in Gang gesetzt und bitten die Bewohner der Gegend, sich der Suche anzuschließen. Eine gründliche Durchsuchung der Schweinefarm und der umliegenden Felder sowie des längst geschlossenen Rainier Asylum haben bislang keine Hinweise ergeben.«
Eine Ansicht des vermissten Farmarbeiters füllte den Bildschirm, als Sadie aus der Küche wankte. »M-Mach lauter!«, sagte sie und spuckte dabei Krümel auf den Boden. »H-Hat er gerade Rainier gesagt?«
3
Das Licht geriet ins Stocken. Der wolkenverhangene Himmel wurde nun von einem kräftigen orangefarbenen Schimmer erleuchtet, und dem warmen Orange folgten bereits noch kräftigere Rottöne. Schon bald würde sich die Nacht niederlassen und den ganzen Scheunenhof in samtweiche Schatten tauchen.
John wollte, wenn möglich, seine Arbeit fertig haben, bevor das geschah.
Er schob die Schubkarre über das Feld hinüber zum Lagerraum, wo er sie neben der Tür abstellte, bevor er das düstere Gebäude betrat, um ein paar Futtersäcke zu holen. Er hievte sich zwei Stück gleichzeitig auf die Schulter, trug sie hinaus und warf sie mit einem dumpfen Knall auf die krächzende Schubkarre. Nachdem er sechs Säcke aufgeladen hatte, hielt er inne, um zu verschnaufen und seine schmerzenden Arme zu strecken. Sein Knie machte ihm auch zu schaffen. Er lehnte sich an die Wand des Lagerraums, massierte es durch seine Jeans und zuckte zusammen, weil es sich so wund anfühlte.
Er machte diesen Job erst eine Woche, und doch fühlte es sich schon an, als würde er in seine Einzelteile zerfallen. Mit seinen 22 Jahren hätte er in der Blüte seines Lebens stehen sollen, doch ein behütetes Dasein als College-Student und ein paar Mindestlohnjobs in der Stadt hatten ihn verweichlicht. Aber bevor er den Arbeitsvertrag bei der Gust-Berkshire-Schweinefarm unterzeichnete, hatte er keinen Schimmer gehabt, wie verweichlicht er wirklich war. Das Gehalt war verlockend gewesen – jedenfalls verlockender als der mickrige Lohn, den er bekam, wenn er Kaffee im Campus-Café verkaufte –, doch auf das unerbittliche Arbeitstempo und die körperlichen Strapazen war er völlig unvorbereitet gewesen.
An seinem ersten Tag hatte er einen Eimer voll Schweinefutter auf seinen rechten Fuß fallen lassen, wovon einer seiner Fußnägel schwarz geworden war. Seine Hände wurden schwielig und trocken, und sein Gesicht und sein Nacken fühlten sich an, als wären sie für immer sonnenverbrannt. Wenn er es schaffte, seine Arbeit fertig zu bekommen, und endlich Feierabend machen durfte, kam er jeden Abend völlig verschmutzt nach Hause, nach Tieren und ihren Ausscheidungen stinkend, und nicht einmal eine ausgiebige Dusche konnte ihn von dem beißenden Geruch der Felder befreien. Er verbrachte so viel Zeit mit den Tieren, dass er das Grunzen und Quieken der Schweine noch in seinem Schlaf hörte.
Und dann waren da die anderen, die auf der Farm arbeiteten. Der alte Gust, der Besitzer, hatte in der letzten Woche ein paarmal vorbeigeschaut, um sicherzustellen, dass die Schweinezüchterei, die schon sein Großvater betrieben hatte, nicht vor die Hunde ging, und jedes Mal hatte er etwas an Johns Arbeit zu bemängeln gehabt.
Die anderen Farmarbeiter, George und Tyrone, hatten schon viele Jahre Berufserfahrung und verbrachten ihre Zeit lieber damit, den Neuling zu piesacken, anstatt ihm zu helfen, seine Arbeit fertigzukriegen. Das führte dazu, dass John jeden Tag später Feierabend machen musste.
Und wie es aussah, würde er heute Abend erst nach Einbruch der Dunkelheit fertig werden.
Er ließ sich gegen die Wand des Lagerraums sacken und fischte eine Zigarette aus seiner Tasche. Nachdem er ein paar Züge genommen hatte, fuhr er sich mit einer schmutzigen Hand durch sein verschwitztes braunes Haar und setzte sich auf einen der leeren Futtereimer. Die Welt jenseits der Farm, hinter dem brusthohen Zaun, war still und leer. Hinter dem Lagerraum lag ein Kleefeld, und hin und wieder zeigte sich ein Baum, doch sonst gab es nicht viel zu sehen.
Er nahm noch einen Zug, blickte in die Ferne und verfluchte die Arbeit, die er noch zu tun hatte. Er fragte sich, ob er nicht einfach kündigen sollte. Die Vorstellung, auf einer Farm zu arbeiten und sein Geld draußen und mit den Händen zu verdienen, war ihm auf eine gewisse Weise romantisch erschienen, doch darüber machte er sich keine Illusionen mehr. Die Arbeit war hart, unappetitlich und – von dem Gehaltsscheck, den er noch nicht einmal bekommen hatte, abgesehen – kein bisschen lohnenswert.
Vielleicht würde er, wenn er jetzt kündigte, seinen alten Job im Café zurückbekommen können. Sein Chef dort hatte ihn immer gemocht. Die Bezahlung war zwar nicht so gut, aber …
In diesem Moment erhaschte er einen Blick auf etwas Unerwartetes und wurde plötzlich aus seinen Gedanken gerissen. Seine umherschweifenden Augen streiften die Ränder von etwas Großem, das in den Feldern jenseits des Zauns eingebettet lag. Es schien ein riesiges altes Gebäude zu sein.
Vielleicht lag es nur an dem schwindenden Licht oder an der Art, wie seine Ecken und Kanten hinter einigen gewaltigen Eichen verschwammen, doch die steinige Beschaffenheit und das Schattenspiel des Gebäudes in der Ferne machten einen fast schon mittelalterlichen Eindruck. John stand auf, schnippte die Asche von seiner Zigarette in das Gras und ging ein paar Schritte näher an den Zaun heran. Er folgte der Breite des Gebäudes, schätzte dessen Höhe anhand der imposanten Bäume, die daneben wuchsen, und kam zu dem Schluss, dass es ein gutes Stück größer war, als er zuerst angenommen hatte. Eigentlich war es ein richtiges Anwesen, eine Festung.
John schritt den Zaun entlang, während er zu Ende rauchte, starrte auf den entfernt liegenden Koloss und fragte sich, was es wohl für ein Gebäude war. In der Woche, die er nun hier war, hatte niemand es auch nur erwähnt. Gehörte es vielleicht zur Schweinefarm? Nach ein paar Minuten drückte er seine Zigarette an einem Absatz seiner mit Matsch bedeckten Stiefel aus und lief zurück zu seiner Schubkarre, wo er auf George traf. Der andere diensthabende Farmarbeiter näherte sich gerade dem Lagerraum.
»Machst schon wieder schlapp, wie?« George wischte sich mit dem Saum seines T-Shirts den Schweiß von der Stirn und grinste. »So wirst du’s niemals schaffen, Junge. Nicht wenn du so herumtrödelst.«
»Ich weiß, ich weiß.« John zog seine Jeans ein wenig hoch und machte sich zurecht, um das Futter zurück zum Schweinestall zu schaffen.
»Andererseits kann’s nicht schaden, hin und wieder eine Zigarettenpause einzulegen, oder?« George nickte John zu. Sein Blick schien an Johns Tasche zu kleben. »Wie sieht’s aus? Kann ich eine Zigarette von dir schnorren?«
»Oh«, sagte John. »Klar doch.« Er reichte dem anderen Farmarbeiter eine Zigarette und zündete sie an.
»Vielen Dank auch«, murmelte George zwischen zwei tiefen Zügen. Er legte sich ein vergilbtes Taschentuch wie einen Schleier auf den Scheitel seines kahl werdenden Kopfes und lehnte sich an einen der Zaunpfosten.
Anstatt das Futter wegzuschaffen, blieb John zögernd am Zaun stehen und blickte hinaus zu der steinernen Festung auf dem Feld. »Sag mal«, begann er und deutete zu dem Gebäude, »weißt du, was das ist? Sieht wie eine Burg aus.«
George reckte den Hals und hob, als er es erblickte, seine buschigen Augenbrauen. »Ach, das?« Er stieß eine Rauchwolke durch ein breites Grinsen aus. »Das willst du gar nicht wissen, Frischling.« Noch einmal zog er an seiner Zigarette. Der schlaksige Farmarbeiter schnupperte an der Luft und kicherte ein wenig. »Aber eine Burg ist das nicht, das kann ich dir sagen.«
»Nein?« John zuckte die Schultern. »Was ist es dann?«
George nahm die Zigarette aus seinem Mund und betrachtete ihre Spitze. Mit einem Schnipser entfernte er die Asche und benutzte sie als verlängerten Zeigefinger, als er auf das Gebäude deutete. »Ich schätze, da du schon eine Woche hier bist, wär’s gemein, dir nicht davon zu erzählen – zumal du heute Abend wohl hier sein wirst, bis es dunkel ist.« Er lächelte schief. »Lange vor deiner Zeit – und sogar vor meiner, um genau zu sein – war das eine Irrenanstalt.«
»Hä?« John fingerte an dem Feuerzeug in seiner Tasche und stützte sich mit einem Ellbogen auf einen der Zaunpfähle. »Eine Irrenanstalt? Also so was wie … eine psychiatrische Klinik oder …?«
George nickte barsch. »Na, das hab ich doch gesagt, oder etwa nicht?« Er deutete mit einer kurzen Handbewegung auf das Gebäude. »Ist schon seit einer Ewigkeit geschlossen. Unbeaufsichtigt. Von den Leuten damals sind keine mehr da, klar, aber der alte Gust selbst hat mir ein bisschen was erzählt. Er weiß so einiges über das Haus, weil schon sein Vater und sein Großvater diese Schweinefarm betrieben haben – nichts davon ist besonders angenehm, klar.«
»Kein Scheiß?«
George fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, nahm das Taschentuch von seinem Kopf und steckte es zurück in die Tasche. »Hab gehört, dass es voller Teufelsanbeter war. So etwas in der Art. Die Behörden haben’s dichtgemacht. Und obendrein, so sagt man, haben sie ein paar Leute aufgeknüpft. Furchtbare, übernatürliche Dinge sollen dort passiert sein. Aber wenn man den alten Gust davon erzählen hört, ist das nicht alles nur Gerede. Man munkelt, dass sich in diesen Mauern noch immer irgendetwas herumtreibt.«
»Was soll das heißen?«
George schüttelte den Kopf und lachte. »Was glaubst du wohl, was das heißen soll? Die Leute, die dort gearbeitet haben, haben Dämonen beschworen, und einer von denen soll noch immer dort drüben sein Unwesen treiben. Genau genommen hab ich es selbst schon einmal gesehen. Ganz recht. Hab’s eines Nachts mit meinen eigenen Augen gesehen. Es hält sich nicht nur in dem Gebäude auf. Ich schätze, es mag die Umgebung, denn hin und wieder wagt es sich bis an diese Farm heran.« Wieder lachte er und zeigte seine schiefen Zähne. »Es hat schon seinen Grund, dass Gust ein- oder zweimal im Jahr den Priester kommen lässt, um die Farm segnen zu lassen. Er will nicht, dass dieses Ding – dieser Teufel – hier aufkreuzt.«
Jetzt war es John, der lachte. »Was für ein Schwachsinn.«
George rauchte zu Ende, schnipste seine Zigarette über den Zaun und machte, während er es tat, ein nachdenkliches Gesicht. Er rieb sich über die Stoppeln an seinem Kinn und sagte: »Ich weiß, es klingt wie Seemannsgarn, aber das ist es nicht. Ich hab’s gesehen – und Tyrone kannst du auch fragen. Ich bin mir sicher, dass der alte Mann es in all seinen Jahren auch wenigstens ein paar Mal gesehen hat. Sie haben sogar einen Namen dafür. Sie nennen es den ›Wachsamen Tom‹. So hat’s Gust gesagt … ›Geht zeitig nach Hause, wenn ihr nicht dem Wachsamen Tom begegnen wollt.‹ Ehrlich, ich verarsche dich nicht. Aber ich könnte dir auch nicht sagen, was zum Teufel es wirklich ist. Soweit ich weiß, könnt’s wirklich ein Teufel sein.«
Ungläubig blickte John wieder zu dem Gebäude hinaus. »Wie sieht es denn aus?«
George legte einen Arm oben auf dem Zaun ab und rollte die Spitze eines hochgewachsenen Unkrauts zwischen seinen Fingern. »Wie ein verdammter Albtraum«, sagte er nüchtern. »Es hat den Körper eines Mannes, auch wenn es ein ganzes Stück größer ist als du oder ich. Zwei Meter zehn, würde ich schätzen, aber vielleicht liegt das nur an seinem Kopf.«
»Seinem Kopf?« John gluckste. »Warum? Hat es einen richtig großen Kopf oder so?«
George ließ sich mit seiner Antwort Zeit. Er brütete eine ganze Weile über der Frage und verzog dabei sein sonnengebräuntes Gesicht fast angewidert. »Ich sagte, es sieht aus wie ein Mann«, antwortete er schließlich. »Aber ich hätt’s genauer beschreiben sollen … Alles an ihm sieht aus wie ein Mann – bis auf den Kopf.« Er zupfte eine flaumige Blüte von dem Unkraut und betrachtete sie einen Moment lang, bevor er sie über den Zaun schnipste. »Etwas an dem Kopf passt nicht so richtig zusammen. Ich sollte mich wohl glücklich schätzen, dass ich es nie von Nahem gesehen habe, aber der Kopf ist seltsam. Er sieht … so düster aus. Eigentlich schwarz. Und darin stecken Augen, und man hat den Eindruck, selbst aus der Ferne, dass diesen Augen nichts entgeht. Sie sind starr wie die einer Schleiereule, und wenn es seinen Kopf nur ein wenig herumdreht, sieht man, wie sich das Perlmuttlicht des Mondes darin spiegelt. Und dann ist da noch etwas …« Er klopfte sich mit beiden Händen auf die Schädeldecke. »Es hat Hörner … eine Art Geweih.«
Jetzt konnte John nicht anders als die Augen zu verdrehen. »Ein Geweih? Wovon redest du, George?«
»Es ist die Wahrheit«, sagte der ältere Mann mit einem festen Nicken.
»Ich dachte, du würdest von etwas sprechen, das es wirklich gibt. Aber das hört sich nur nach einem Haufen Schwachsinn an. Soll das so was wie Bigfoot oder der Jersey Devil sein?« Er blickte noch einmal über das Feld hinaus, hin zu dem steinernen Koloss in der Ferne, und streckte sich. »Ich muss all dieses Futter zum Stall schaffen. Wir sehen uns später, George.«
John glaubte, dass seine bisherigen Schichten ihm einen guten Eindruck von George verschafft hatten. Wenn es nicht gerade um die Aufteilung der Arbeit auf der Farm ging oder er von jemandem eine Zigarette schnorren wollte, hatte George nicht viel für Geplauder übrig. Doch augenscheinlich hatte sich etwas verändert, denn als John sich von dem Zaun wegbewegte, um mit seiner Arbeit fortzufahren, folgte George ihm nicht. Stattdessen vertiefte sich seine ernste Miene, die er vorhin aufgesetzt hatte, noch ein wenig mehr. Er schüttelte den Kopf und fuhr in einem tiefen Tonfall fort, den man nur als untypisch authentisch beschreiben konnte. »Kennst du den Wildapfelbaum auf der anderen Seite vom Stall? Vorne beim Hof?«
John hielt auf halbem Weg zur Schubkarre inne und drehte sich um. »Äh, ja. Was ist damit?«
George löste sich vom Zaun und lief zu dem jungen Farmarbeiter am Lagerraum hinüber. »Dort hab ich’s gesehen. Den Wachsamen Tom meine ich. Ich musste eines Abends länger arbeiten. Keine Ahnung, wieso. Es war neun, vielleicht sogar schon zehn Uhr, als ich endlich fertig war. Es war eine kühle Nacht und man konnte fast seinen eigenen Atem sehen. Jedenfalls bin ich zum Vorhof hinaus, hab mich in meinen Truck gesetzt und das Radio eingeschaltet. Dann hab ich mir eine Zigarette angezündet.
Ich schätze, ich muss völlig geschafft gewesen sein, denn ich hab meine Zigarette aus dem Fenster geschmissen und mir an Ort und Stelle eine kleine Siesta genehmigt. Können nicht mehr als 15 bis 20 Minuten vergangen sein, bis ich mich wieder aufsetzte und bemerkte, dass ich eingedöst war.
Doch gleich als ich meine Augen öffnete, wusste ich, dass etwas nicht stimmte. Auf der ganzen Farm war’s düster. Nur die Lampe oben auf der Scheune und ein paar Laternen an der Straße brannten. Doch der Mond schien, und er war hell.
Ich sitz also aufrecht da und mache mich daran, nach Hause zu fahren. Doch bevor ich den Motor anschmeiße, werfe ich noch einen Blick über den Hof. Und da sehe ich doch etwas – etwas Großes, um genau zu sein –, das zu dem Wildapfelbaum hinübertrampelt. Zuerst sah’s aus wie ein Mann, doch ich wusste ja, dass ich der Letzte auf der Farm war. Und außerdem war der Kerl viel zu groß und hatte diese langen weißen Arme und Beine, die wie Baumstämme aussahen. Ich sollte erwähnen, dass er keinen einzigen Fetzen Stoff zu tragen schien. Der Kerl war nackt wie an dem Tag seiner Geburt.
Zuerst dachte ich, dass er vielleicht einen Unfall oben an der Straße gehabt hatte – oder betrunken war. Fast wäre ich aus meinem Truck gestiegen und zu ihm hinübergelaufen, aber dann bemerkte ich, wie die Äste des Baumes zu wackeln begannen – als würde etwas in ihnen herumklettern. Plötzlich fielen Wildäpfel zu Boden. Doch da war nichts in dem Baum – keine Eichhörnchen oder so was. Und dann sehe ich, dass diese Gestalt diese riesigen Hörner, dieses gewundene Geweih auf seinem Kopf hat und dass er damit gegen die oberen Äste vom Baum stieß und die ganzen Äpfel herabschüttelte. So verdammt noch mal groß war er. Und dann – ich schätze, weil der Mond richtig stand, denn sein Licht streifte seine Augen ein kleines bisschen – sehe ich, wie er mich mit diesen perlmuttweißen Augen, so groß wie Scheinwerfer, geradewegs anblickt. Du kannst dir nicht vorstellen, wie schnell ich davongebraust bin. Fast wäre ich im Abflussgraben neben der Straße gelandet, weil ich so aufs Gaspedal getreten habe. Verdammt, ich hab nicht mal in den Rückspiegel geschaut, bis ich zu Hause war. Hab fast die ganze Nacht nicht schlafen können.«
Nach diesem sonderbaren Redeschwall verfiel George ganz plötzlich in ein entspanntes Schweigen – es war das Schweigen eines Mannes, der sich endlich etwas von der Seele geredet hatte. Es war offensichtlich, dass er schon lange jemandem von dieser eigentümlichen Begegnung hatte erzählen wollen, bis jetzt aber noch nicht die Gelegenheit dazu gefunden hatte. Und anders als die anderen Arbeiter auf der Farm war John noch neu genug und still genug, um ihn aussprechen zu lassen.
Bevor John eine Bemerkung zu dieser Geschichte machen oder auch nur seine Fassungslosigkeit oder seinen Zweifel zum Ausdruck bringen konnte, schlurfte George los in Richtung Vorhof. »Ich hau jetzt ab, Kleiner. Sieh zu, dass du dich beeilst und sicher nach Hause kommst. Warte nicht auf den Wachsamen Tom.« Er schob seine Hände in seine Taschen, lief über das Feld und war weg.
Die Nacht kam mit der Plötzlichkeit eines Stromausfalls.
John verbrachte mehr als eine halbe Stunde damit, die Futtersäcke aufzuschneiden und ihren Inhalt in die Tröge im Schweinestall zu verteilen. Nachdem er die ersten sechs Säcke geleert hatte, holte er mit der Schubkarre noch einmal vier Stück aus dem Lagerraum. Als er zum zweiten Mal aus dem Stall trat und nur noch ein wenig aufräumen musste, war der Himmel schon dunkel.
Es war eine beeindruckende und verwirrende Dunkelheit, so schnell, wie sie gekommen war, und sie trug einen Panzer aus dichten Wolken vor sich her, die den größten Teil des Mondlichts verdeckten, außer an den Stellen, wo der Schleier sich ein wenig lichtete. Die Tiere waren zur Ruhe gekommen, als ihre Fressorgie vorüber war, und ließen sich nun in ihren Ställen für die Nacht nieder. John dimmte die Lampen, schloss ab und schob die Schubkarre langsam zurück zum Schuppen. Dabei pfiff er die ganze Zeit ein Lied – halb fröhlich und halb beunruhigt.
Die Felder um ihn herum waren von den Geräuschen der Insekten erfüllt. Während er ihrem Treiben zuhörte und liegen gelassene Werkzeuge einsammelte und Vorräte an ihren eigentlichen Platz zurückschaffte, überkam ihn eine unangenehme Paranoia. Er ließ seinen Blick über das weitläufige Grundstück schweifen, betrachtete das ausgedehnte finstere Kleefeld zu seiner Rechten und fragte sich, ob diese geräuschvollen Insekten nicht vielleicht über ihn tratschten und ihn womöglich an einen nächtlichen Herumtreiber verrieten. Etwas weiter, dort, wo die Bäume in großer Vielfalt wuchsen, zirpten die Heuschrecken wie Autohupen, und als er diese weit entlegene Baumreihe betrachtete, musste er unweigerlich an das alte, düstere Gebäude, das jenseits der Grenzen der Farm lag, und an seinen angeblichen Bewohner denken.
»Der Wachsame Tom«, murmelte er. Der Name kam ihm über die Lippen wie das Zischen einer frisch geöffneten Flasche Limonade. Er schüttelte seinen Kopf, um den Gedanken zu verwerfen, doch als er seine Arbeit fortsetzte, merkte er, dass seine Lippen zu trocken waren, um wieder sein Lied zu pfeifen.
Als er auf die weiten Felder und auf die finstere Farm blickte, deren Wahrzeichen hinter dem schwarzen Vorhang der Nacht von schwachen, surrenden Beleuchtungskörpern hervorgehoben wurden, verspürte er ein Gefühl der Fremdheit. Es stimmte zwar, dass er hier erst eine Woche lang gearbeitet hatte, aber mitanzusehen, wie die Farben der Nacht die Farm verwandelten, gab ihm das Gefühl, allein in einer fremdartigen Landschaft zu sein. Die einzige Orientierung, die er hatte, waren diese vereinzelten flackernden Signallichter. Sie aus den Augen zu verlieren würde bedeuten, völlig von der Außenwelt abgeschnitten zu sein.
Hastig verrichtete er seine Arbeit – und zwar so schlampig, dass er sich bei seiner nächsten Schicht bestimmt eine Standpauke anhören musste – und machte sich so schnell wie möglich auf den Weg zu seinem Auto.
Er schlug sich durch die finstere Strecke bis zu seinem kleinen Zweitürer, den er nur sah, wenn der Mond durch eines der wenigen Gucklöcher am pechschwarzen Himmel lugte.
Er sprintete über den Schotterplatz, sprang hinter das Lenkrad und schloss die Tür ab, bevor er den Schlüssel in das Zündschloss steckte. Jeder Muskel tat ihm von der harten Arbeit des Tages weh, doch es war die nackte Angst und nicht die Schufterei, die seinen Puls schneller schlagen ließ. Er lehnte sich in seinen Sitz zurück, kurbelte das Fenster eine Handbreit herunter, um die frische Nachtluft einzuatmen, und gab sich alle Mühe, sich zu entspannen.
George wollte dich nur auf die Schippe nehmen, dachte er, während seine starren Augen den äußersten Rand des Rückspiegels streiften. Er wagte einen kurzen Blick durch das Seitenfenster und sah nur Bruchstücke der weit entfernten Straße und der raschelnden Äste des Wildapfelbaums, der zur Farm gehörte. Sein Blick blieb an dem Baum hängen, und er betrachtete ihn durch die schmale Öffnung des Fensters und sah zu, wie die Blätter im Wind zitterten.