Der Spuk von Winslow Manor - Ambrose Ibsen - E-Book

Der Spuk von Winslow Manor E-Book

Ambrose Ibsen

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Beschreibung

Das Haus war schon lange unbewohnt, aber niemals verlassen ... Sadie hat eine besondere Gabe: Sie ist empfänglich für das Übernatürliche. Als sie die Hintergründe einer teuflischen Sekte erforscht, tauchen mehr Fragen als Antworten auf – insbesondere, wenn es um Sadies eigene Vergangenheit geht. Wie viel von dem, was ihr über ihre Herkunft erzählt wurde, ist wahr? Die Spur führt zu einem einsamen Herrenhaus. Schlägt hier das schwarze Herz des Bösen? Sadie macht sich auf den Weg, um das zerbröckelnde Gemäuer zu erkunden. Aber das Haus – und seine albtraumhaften Bewohner – sind nicht, was sie zu sein scheinen. Ambrose Ibsen gehört zur neuen Generation der herausragenden amerikanischen Horrorautoren in der Art von Stephen King oder Dean Koontz.

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Seitenzahl: 310

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Aus dem Amerikanischen von Heiner Eden

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe The Haunting of Winslow Manor

erschien 2020.

Copyright © 2020 by Ambrose Ibsen

Copyright © dieser Ausgabe 2023 by Festa Verlag GmbH, Leipzig

Titelbild: ebooklaunch.com

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-98676-027-4

www.Festa-Verlag.de

1

»Es ist also kein Ersatzreifen da?«, fragte Rachel. Sie wischte sich ein paar blonde Locken aus dem Gesicht und beäugte die verdreckte Radkappe.

Dan verzog das Gesicht und verpasste dem platten Reifen einen Tritt. »Das war der Ersatzreifen.« Mit den Händen in den Hüften lief er ein paar Runden um den Sedan und blickte in die Ferne. Zu ihrer Rechten, jenseits des Entwässerungsgrabens, lag ein kleiner, mit großen Kiefern bewachsener Hügel; zu ihrer Linken erstreckten sich weite, offene Felder, auf denen das Unkraut wucherte. Die Straße, die sie hierhergeführt hatte, war kilometerlang wie leer gefegt gewesen, und wenn seine Augen ihn nicht täuschten, dann würde sie auch die nächsten Kilometer wie leer gefegt sein. Die Mittagssonne war ihnen keine große Hilfe. Das ganze Gebiet hüllte sich immer mehr in einen dünnen, dunstigen Nebel, während das Wetter plötzlich umzuschlagen schien. »Wir sind am Arsch der Welt.«

Seine Freundin, die bis zu diesem Punkt unbekümmert geblieben war, pirschte sich an seine Seite und fragte: »Und was machen wir jetzt? Können wir jemanden anrufen und um Hilfe bitten?«

Er fischte in seiner Tasche nach seinem Handy, fand es aber nicht. Zähneknirschend öffnete er die Fahrertür und suchte den Boden des Wagens ab. »Wen sollten wir denn anrufen? Alle, die wir kennen, sind in Ohio. Sie würden einen Tag oder zwei brauchen, um hierherzufahren und uns zu finden. Und ich bin mir sicher, dass es auch ewig dauern wird, bis hier ein Abschleppwagen oder ein Taxi auftaucht.« Er zerknüllte ein paar Schokoriegelverpackungen in seiner Faust und schlug auf das Armaturenbrett. »Keine Ahnung, wo mein Handy abgeblieben ist. Kann ich deins benutzen?«

Rachel holte ihr Handy hervor, errötete dann aber verlegen. »Äh … Tut mir leid, aber der Akku ist alle«, murmelte sie.

»Er ist alle? Hast du eine Powerbank mitgenommen? Ein Ladekabel?«

Bedrückt schüttelte sie ihren hübschen Kopf.

»Na klar!« Dan warf die Hände in die Luft. »Du musstest ja den ganzen Weg über deine schreckliche Musik hören, nicht wahr? So lange, bis der Akku völlig leer war. Einfach großartig.« Er schubste die Tür mit seinem Fuß zu und stieß flüsternd Flüche aus.

»Ja, aber … was ist denn mit dir?«, protestierte sie. »Du hast dein Handy im Hotel vergessen, stimmt’s?«

Er zog ein finsteres Gesicht und winkte ab. »Tja, vielleicht hätte ich das nicht getan, wenn du nicht bis zum allerletzten Augenblick vor dem Check-out gebraucht hättest. Sie haben uns ja fast aus dem Zimmer jagen müssen, weil du dir noch ein Bad gegönnt hast! Es grenzt an ein Wunder, dass wir nicht all unsere Sachen vergessen haben!«

»Ach, dann ist es wohl meine Schuld, was?« Sie drehte sich von ihm weg. »Ich kann es einfach nicht glauben. Welcher Trottel hat denn keinen Ersatzreifen im Kofferraum?«

Er brodelte leise am Straßenrand und knirschte mit den Zähnen, während sich in der Ferne ein Gewitter zusammenbraute. Aus den blaugrauen Wolken über ihnen fielen ein paar kalte Wassertropfen auf sie herab. »Und jetzt fängt es auch noch an zu regnen! Ganz toll!« Er öffnete den Kofferraum mit einem Ruck und holte einen alten Regenschirm und eine schäbige Tarnjacke, die er immer dabeihatte, daraus hervor. »Hier«, sagte er und warf ihr den Regenschirm zu. »Ich schätze, wir machen uns besser auf den Weg.«

Rachel nahm ihn, ohne sich zu bedanken, und balancierte ihn auf ihrer Schulter. Sie blickte angestrengt zu den Hügeln rechts von ihr hinüber. »Hey«, sagte sie und machte ein paar Schritte den Seitenstreifen hinunter. »Ist das Rauch?« Sie deutete auf einen einsamen dunklen Nebelschleier in der Ferne, der sich wabernd zum Himmel zog.

Er breitete die Jacke aus, legte sie sich über den Kopf und lief zu ihr hinüber an den Entwässerungsgraben. »Könnte sein … Vielleicht zeltet jemand dort draußen in den Hügeln.«

»Sollten wir es uns ansehen?«

Er nickte. »Ist besser als hier herumzustehen. Vielleicht haben sie ein Handy, das wir benutzen können. Womöglich können sie uns sogar mitnehmen.« Sie ließen den Wagen am Straßenrand stehen, hüpften über den Graben und machten sich auf den Weg zu den flachen Hügeln, während die Regentropfen immer dicker und kälter wurden und in einem steten Takt auf sie niederprasselten.

Der Anstieg wurde steiler. Schon gut 50 Meter hinter der Straße stieg das verwucherte Feld an, bis sie sich anstrengen und nach vorn lehnen mussten, um nach oben zu gelangen. Überall standen dicht beisammen wachsende Tannen und wohlriechende Zedern herum, an denen sie sich festhalten konnten, wenn der Weg matschig wurde und ihre Füße auf dem vom Regen durchtränkten Boden auszurutschen drohten. Feiner Nebel klebte büschelweise an den Stämmen und den Ästen der Bäume wie die Seide von Spinnweben. Die Luft, die vor einer Minute noch sommerwarm gewesen war, hatte sich ohne Vorwarnung um ein paar Grad abgekühlt. Die Sonne war fast nicht mehr zu sehen, als die Gewitterfront sich schließlich über ihnen zusammenzog.

Sie näherten sich dem Gipfel, außer Atem und mit roten Gesichtern, die dem unerwartet anstrengenden Aufstieg geschuldet waren. Erst jetzt fiel Dan ein, Rachel seine Hand zu reichen und ihr hinauf zum höchsten Punkt des Hügels zu helfen. Dort entdeckten sie etwas, das sie nicht erwartet hatten. »Na, was sagt man denn dazu?«, sagte er.

Zwischen mehreren Hügeln eingebettet und wegen der lästigen Ausbreitung der Tannen kaum sichtbar stand ein einsames Haus. Es war zwei Stockwerke hoch und beeindruckend breit. Die dünne Rauchschwade, die sie zum Himmel aufsteigen gesehen hatten, kam aus dem Schornstein, der sich aus der Mitte des dunklen Daches erhob – und von ihrem derzeitigen Standpunkt war dies das einzige erkennbare Merkmal des Hauses. Alles andere lag in den Schatten der riesigen Tannen.

»Was glaubst du, wer dort wohnt?«, fragte Rachel und erschrak, als ein Blitz in der Ferne aufzuckte.

»Keine Ahnung. Ich könnte mir nicht vorstellen, so weitab vom Schuss zu leben«, antwortete Dan und machte sich daran, die andere Seite des matschigen Hügels hinunterzugehen. »Ich kann kein Auto sehen. Du vielleicht?« Als er weiterlief, lugte er an den säulenartigen Stämmen der Bäume vorbei und versuchte, die wahre Form des Hauses, das noch immer im Finstern lag, zu erkennen, doch ihm wurde schnell klar, dass das Gebäude seine Geheimnisse nur dem preisgeben würde, der es wagte, sich ihm zu nähern. »Ist auch egal. Ich bin mir sicher, dass es dort ein Telefon geben wird, das wir benutzen können. Komm.«

Rachel folgte ihm. Sie stützte sich an den Baumstämmen ab, um nicht den Hügel hinunterzupurzeln. Aus diesem oder jenem Winkel erhaschte sie uneindeutige Blicke auf das abgelegene Haus, auch wenn der Wuchs an vielen Stellen so dicht war, dass man nichts davon sehen konnte und sie fast bezweifelte, dass das Haus überhaupt da war. »Ist es … Ist es sicher?«, fragte sie und klammerte sich fest an ihren Regenschirm.

»Natürlich ist es sicher«, entgegnete er spöttisch. »Landmenschen sind freundlich. Es ist ja nicht so, dass wir an die Tür von Jack the Ripper klopfen.« Doch dann zeigte er ihr ein wolfsartiges Grinsen. »Andererseits weiß man ja nie. Vielleicht ist es auch so was wie das Gacy-Haus.«

»Glaubst du echt?«, fragte sie und blieb abrupt stehen.

»Nein! Und jetzt beeil dich. Ich bin schon klitschnass.« Als sie den Fuß des Hügels erreicht hatten, machte sich Dan auf den Weg über die sumpfige Ebene, auf der das Haus stand. Der peitschende Regen hatte den Boden in eine Matschsuppe verwandelt. Die Jacke, die er sich über den Kopf hielt, war völlig durchnässt, und das kalte Wasser, das ihm schon längst in den Schuhen stand, kletterte langsam an den Beinen seiner Jeans empor. Er verfluchte das Wetter und stampfte wütend durch das knöcheltiefe Wasser, das mit jedem seiner Schritte in die Höhe schwappte.

Hin und wieder konnte Rachel nun mehr als nur einen flüchtigen Blick auf das Haus werfen, als der Wind um die Hügel fegte und die triefnassen Äste beiseitedrückte. Was sie durch die Lücken sah, die die Brise vorübergehend aufgetan hatte, bereitete ihr ein sonderbar flaues Gefühl im Bauch.

Das Haus schien in einem sehr schlechten Zustand zu sein.

Zuerst einmal fiel ihr auf, dass das Gebäude deshalb so schwer zu erkennen gewesen war, weil es mit der Vegetation, die es umgab, beinahe zu verschmelzen schien. Seine Wände waren von Efeu überwuchert, was es in der bewaldeten Umgebung fast wie ein Chamäleon aussehen ließ. Ein wenig Efeu, ordentlich gepflegt, verlieh so gut wie jedem Gebäude ein gewisses Maß an Klasse, doch dieses hier war von dem Grünzeug nahezu eingewickelt worden und trug es wie einen Sweater. Und das wenige, was unter der Anhäufung aus Blättern und Reben zu erkennen war, sah völlig abgenutzt aus – Schalbretter, die größtenteils schon längst keine Farbe mehr trugen und von den Jahreszeiten geschwärzt worden waren. Als sie ein düsteres, zerbrochenes Fenster erblickte, fragte sie sich, ob wirklich jemand in solch einem heruntergekommenen Haus lebte, und sie schauderte bei dem Gedanken daran, was für eine Art Mensch der Besitzer sein würde.

Doch Dan zwängte sich immer weiter durch das trübe Grün und bückte sich, um unter tief hängenden Ästen hindurchzuschlüpfen, bis er den Rand des Wäldchens durchbrochen hatte und bis in den Vorgarten des Hauses vorgedrungen war – wenn man das spärliche, ungezähmt wuchernde Grünzeug denn als Vorgarten bezeichnen wollte. Wildes Gras, dessen zähe Blätter von dem prasselnden Regen in Aufruhr versetzt wurden, umgab das von Efeu bedeckte Haus büschelweise. Rechts von ihnen, gleich hinter einer kleinen Betontreppe, lag ein durchhängender Eingang, der von zwei Säulen gestützt wurde. Früher einmal hatten sie bestimmt ein malerisches Bild abgegeben, doch mittlerweile befanden sie sich im Würgegriff von schwarzen Ranken.

Er ging voran, marschierte die Treppe hinauf und ließ seine triefende Jacke mit einem Platschen auf die verdreckten Stufen fallen. Rachel folgte ihm – wenn auch nicht ohne Vorbehalte – und stieg das halbe Dutzend Stufen zur Eingangstür hinauf. Die Tür war breit und sogar imposant, auch wenn die Farbe auf dem dicken Holz längst verblasst war und die Eisenteile, die zurückgesetzt in dem Türblatt lagen, einen zerbrechlichen Eindruck machten.

Der baufällige Zustand des Hauses hatte schon vor ein paar Minuten ein Unbehagen in ihr ausgelöst, und nun, als sie untätig auf der Veranda stand und darauf wartete, dass Dan anklopfte, brachte sie dieses mulmige Gefühl schließlich zum Ausdruck. »Vielleicht ist das doch keine gute Idee«, sagte sie flüsternd. »Dieser Ort macht mir Angst. Ich glaube nicht, dass hier noch jemand wohnt … Sieh dir das Haus doch mal an! Es fällt schon auseinander.«

Dan hob ungerührt seine Faust. »Ja, es ist ziemlich schäbig, aber es gibt Leute, die auf so etwas stehen.« Er zuckte die Schulter und klopfte ein paarmal fest gegen die Tür, was das alte Holz erzittern ließ.

Ein Geräusch, das ganz anders war als das stete Prasseln des Regens und die Schwingungen der alten Tür in ihrem Rahmen, drang zu ihnen heraus. Es klang wie eine hastige Bewegung auf alten Böden irgendwo im Haus, als würde jemand ungestüm auf ihr Klopfen reagieren. Rachel zuckte zusammen und griff nach dem Arm ihres Freundes.

Doch dann vergingen einige Augenblicke und niemand öffnete ihnen.

Er legte sein Ohr an die Tür und klopfte erneut. »Na komm schon«, murmelte er ungeduldig und wischte sich den Regen von der Stirn. Der Wind frischte noch einmal auf, als der Sturm ihnen wieder zu Leibe rückte. Gedankenverloren griff er mit zitternden Händen nach seinem klammen T-Shirt.

Rachel bewegte sich von ihm weg, zurück an den Fuß der Treppe, und inspizierte die Fassade des Hauses mit so etwas wie Freude auf ihrem Gesicht. Sie war nicht verärgert, dass ihnen niemand geöffnet hatte – ganz im Gegenteil. »Siehst du? Ich glaube nicht, dass hier jemand ist. Wir sollten zurück zum Wagen gehen und …«

Die Worte blieben ihr im Hals stecken und jede Gelassenheit wich ihr aus dem Gesicht, denn in einem der Fenster im ersten Stock erblickte sie eine Gestalt – eine Gestalt, dessen war sie sich sicher, die bei ihrem letzten Blick auf die verkommene Fassade noch nicht da gewesen war.

Die Fensterscheibe war von Regen bedeckt, was die Silhouette, die hinter ihr hockte, fast vollständig verdeckte. Die Gestalt, die sehr dürr und blass zu sein schien, drückte sich fest gegen das Glas – weil sie entweder daran zusammengesackt war oder daran lehnte, wie eine Puppe es tun würde – und war dabei so regungslos, dass Rachel sich fragte, ob es sich vielleicht um eine Schaufensterpuppe handelte. Durch den Regenschleier erkannte sie langes schwarzes Haar, das sich an ein zierliches Gesicht schmiegte. Nur zwei Merkmale ließen sich darin durch den nassen Schleier erkennen: ein breites – nein, ein fast schon betrunken klaffendes – Grinsen und gaffende Augen. Wohin diese Frau starrte und was der Anlass für ihre augenscheinliche Erheiterung war, blieb ein Rätsel.

Dan hämmerte noch einmal gegen die Tür. Das Holz krächzte mit jedem Schlag.

Und dann hörten sie es beide. Die Stimme einer Frau drang aus dem Inneren des Hauses. »Kommen Sie rein, es ist offen!«, erklang die fröhliche Äußerung durch den Regen.

Rachel erstarrte. Ihr Blick blieb auf die blasse Gestalt an dem Fenster oben gerichtet. Es gab zwei Dinge, deren sie sich sicher war, während sie dort stand und nach oben sah: zum einen, dass die Stimme hinter ebendiesem Fenster erklungen war, und zum anderen, dass der Mund der Frau sich keinen Millimeter bewegt hatte, sondern dass ihre Lippen die ganze Zeit in diesem wilden, die Zähne entblößenden Grinsen verharrt hatten.

Als er die einladenden Worte gehört hatte, griff Dan nach dem Türknauf und war drauf und dran einzutreten.

»Warte!«, rief Rachel, machte einen Satz zu ihm hinauf und packte ihn am Arm. »Tu’s nicht! D-Da ist eine Frau … oben am Fenster, und sie …« Ihr fiel es schwer, die richtigen Worte zu finden. Warum nur hatte die Frau am Fenster sie so nervös gemacht – die Frau, die sie gerade in ihr Haus eingeladen und ihnen Zuflucht vor dem Regen angeboten hatte? In der Hoffnung, dass es Dan gelingen würde, den unheilvollen Anblick der Frau besser in Worte zu fassen – und seinen Entschluss aufzugeben, dieses zwielichtige Gebäude zu betreten –, zerrte sie ihn ein paar Schritte zurück und deutete auf das Fenster im ersten Stock. »Da!«

Er hob seine Hand, um sein Gesicht vor dem Regen zu schützen, und lugte nach oben. Dann grunzte er stirnrunzelnd. »Wovon redest du?«

Das Fenster war leer. Von der blassen, grinsenden Gestalt, die dort noch vor einem Augenblick zusammengekauert gehockt hatte, war nichts mehr zu sehen.

Von innen meldete sich die fröhliche Stimme noch einmal. »Die Tür ist offen! Kommen Sie herein!«

Ihr seltsames Verhalten verärgerte Dan mehr als alles, was er bisher auf diesem Grundstück gesehen hatte, und so löste er sich aus ihrem Griff, ging zur Tür und stieß sie auf.

Das leise, tiefe Ächzen der Tür fiel mit einem Donnerschlag zusammen, und dieses Zusammenwirken ließ ihre Knie weich werden. Das uralte Glas in den Fenstern und die Einzelteile des nicht eingeschalteten Kronleuchters, der wie ein toter Mann schief an der düsteren Decke der Diele hing, klapperten laut. Der Leuchter, der aus einer ganzen Reihe von sorgsam zugeschnittenen Glaskristallen bestand, war so mit Spinnweben überzogen, dass er fast zu einer einzigen versteinerten Masse verkommen war, und er schwang an seinem abgewetzten schwarzen Kabel hin und her wie ein widerwärtiger Kokon im Wind.

Dan trat ein, ohne dass ihn das, was er sah, sonderlich zu stören schien, und lugte in das Halbdunkel. »Danke schön!«, rief er, und seine Stimme strömte ohne Widerstand in jeden der angrenzenden Räume und drängte sich in eine eindrückliche Stille. Als er hörte, wie seine Worte in einem immer schwächer werdenden Echo in den Tiefen des Hauses verschwanden, verkrampfte er ein wenig und blickte nach rechts und nach links. »Wir, äh, haben einen Platten«, erklärte er in einem leiseren Tonfall. »Können wir Ihr Telefon benutzen?«

Da sie nicht allein sein wollte, schlich sich Rachel ins Haus und nahm die Hand ihres Freundes. Obwohl fast eine Minute seit seiner Begrüßung vergangen war, hatten sie noch keine Antwort von ihrer bisher unsichtbaren Gastgeberin bekommen. Eigentlich vernahmen sie – von dem Knarzen des alten Hauses, das immer und immer wieder vom Wind heimgesucht wurde, und dem Dröhnen des Regens einmal abgesehen – überhaupt keine Geräusche. Zwischen den Wogen des Sturms richteten sie ihre Aufmerksamkeit auf diese Stille und lauschten nach Schritten oder herzlichen Entgegnungen, doch nichts davon kam.

Die beiden standen triefnass in der Diele und blickten einander verwirrt an.

»Du … Du hast die Stimme vorhin doch auch gehört, oder?«, fragte Dan mit einem leicht verlegenen Lächeln. »Das war nicht nur ich, stimmt’s? Jemand hat uns hereingebeten, habe ich recht?«

Sie nickte ernst. »Ja, ich hab’s auch gehört.«

Er zuckte mit den Schultern. »Vielleicht ist sie beschäftigt …« Er machte ein paar Schritte nach rechts. Etwas in einem der Räume auf dieser Seite fiel ihm ins Auge. Er nickte Rachel zu und lief etwas tiefer in das Haus, bis er in einem staubbedeckten Esszimmer war. Sechs Stühle standen um einen massiven Holztisch, und jeder Winkel dieses Ensembles war mit Spinnweben überzogen. Die Wände waren feucht und schimmelig und an einigen Stellen von denselben schwarzen Reben durchstoßen worden, die die Außenwände bedeckten. Mehrere blattlose Ranken schoben sich bereits wie Venen über den Putz.

Doch es war der von dem orangegelben Flackern eines kleinen Feuers erleuchtete Raum dahinter – eine Art Wohnzimmer –, der ihn wie eine Motte anlockte. Er schritt über die Türschwelle, ließ seinen Blick schnell umherschweifen und lief zu dem einfachen Kamin hinüber. Auch dieser Raum befand sich in keinem guten Zustand und beherbergte ein von Schimmel befallenes Sofa, einen umgestürzten Sessel und ein paar alte Bücher, die in den Wandregalen vergessen vor sich hin moderten. Auf dem Kaminsims standen mehrere mit Staub überzogene Nippsachen der eigentümlichsten Sorte – geschnitzte Holzkästchen, handgefertigte Statuetten –, und darüber hing ein gerahmtes, von Ruß verschmutztes Gemälde. Das Motiv, eine europäische Hügellandschaft, war banal und machte auf sie auch wegen des Drecks, der sich darauf angesammelt hatte, einen höchst reizlosen Eindruck.

Dan kniete sich vor den Kamin, hielt seine Hände an das kleine Feuer, das darin knisterte, und genoss seufzend dessen Wärme. Rachel jedoch blieb stehen. Das Feuer hatte seinen Wohlgeruch verloren, und als sie die gedrungenen Holzscheite brennen sah, überkam sie ein Gefühl der Übelkeit. Ein wärmendes Feuer in solch einem grässlichen Haus schien ihr kaum mehr als eine Falle zu sein. Sie hatten den Köder geschluckt und sich der Wärme und der Zuflucht vor dem Regen hingegeben – aber zu welchem Preis? Sie wendete den Kopf umher und durchkämmte die Stille nach Anzeichen auf einen Bewohner lauschend, doch die Türen blieben leer und das Haus hüllte sich in tiefes Schweigen.

»Sie wird mit irgendwas beschäftigt sein.« Dan stand auf, wischte sich die staubigen Hände an seiner Jeans ab und machte sich auf den Rückweg in das andere Zimmer. »Ich werde sie finden. Wahrscheinlich hat sie uns nicht gehört, als wir hereingekommen sind.«

Rachel blickte ihn ungläubig an. »Du willst w-was?«

Er zuckte mit den Schultern und schob sich an ihr vorbei. »Ich will versuchen, sie zu finden. Ich möchte mich bei ihr bedanken und sie fragen, ob wir ihr Telefon benutzen dürfen. Ich habe nicht vor, den ganzen Tag hier zu verbringen, okay?« Er wollte zurück ins andere Wohnzimmer laufen, doch sie griff nach seinem Arm.

»Bitte nicht«, sagte sie flehend. »Lass uns … Lass uns einfach von hier verschwinden.«

Er grunzte spöttisch. »Ja? Wohin denn? Willst du etwa zurück zum Wagen gehen? Glaubst du, der Reifen hat sich selbst repariert, während wir weg waren?«

»Dan, ich möchte gehen«, sagte sie beharrlich und blickte sich mit einem Schaudern im Esszimmer um.

»Sicher doch, sobald ich uns ein Taxi oder so etwas gerufen habe, okay?« Er runzelte die Stirn und blickte sie mit schmalen, besorgten Augen an. »Entspann dich einfach, ja? Dort drüben beim Feuer.« Sie wollte gerade den Kopf schütteln, doch er deutete nur auf den Kamin. »Ich meine es ernst. Wärm dich ein wenig auf. Ich bin mir sicher, dass sie in der Küche steckt. Ich frage nur nach dem Telefon und dann gehen wir wieder.« Er verließ den Raum. Seine Schritte hallten durch das Esszimmer.

Rachel machte kehrt und ging zurück an den Kamin. Sie überlegte, mit ihm zu gehen oder vielleicht sogar draußen auf der Veranda zu warten, aber ihre Beine waren weich wie Pudding und sie zitterte am ganzen Körper. Sie stand vor dem Feuer, die Hände schlaff ausgestreckt, doch die Flammen schafften es nicht, das Frösteln aus ihren Knochen zu vertreiben.

Nichts an diesem Haus schien richtig zu sein. Es war offensichtlich verlassen und eigentlich auch unbewohnbar – und doch hatten sie beide diese freundliche Stimme gehört, die sie aus dem Regen hereingebeten hatte. Aber obwohl sie schon etliche Minuten im Haus waren und mehrfach nach der Besitzerin gerufen hatten, waren sie bisher niemandem begegnet. Irgendwer hatte dieses Feuer entfacht – vor Kurzem erst, wie es schien –, doch sie und Dan hatten niemanden gesehen. Und dann war da diese unheimliche Gestalt oben am Fenster, die von einem Moment auf den anderen verschwunden war.

Sie wurde plötzlich aus ihren Gedanken gerissen – nicht etwa von einem Geräusch oder einer Gefahr, sondern weil ihr in diesem Augenblick die unglaubliche Stille auffiel, die sich wieder über das ganze Haus gelegt hatte. Dans Schritte waren verhallt, womit nur die Grabesruhe, die schon vorher geherrscht hatte, übrig blieb. Sie drehte ihren Kopf zum Esszimmer um und hoffte, seine Stimme zu hören, seine Schritte, doch alles, was an ihr Ohr drang, waren das Heulen des Windes und das Knistern der Zweige in dem Feuer.

»D-Dan?«, rief sie, wobei ihre Stimme schrecklich zitterte.

Zehn Sekunden vergingen, dann 20. Keine Antwort.

Sie strich sich zwanghaft das Haar glatt und biss sich auf die Unterlippe. »Dan?« Dieses Mal erklang ihre Stimme fester und ein wenig lauter.

Wieder erhielt sie keine Antwort.

Nun bekam sie es mit der Angst zu tun. Sie schritt unsicher durch den Raum und warf einen verstohlenen Blick in den Essbereich.

Er war leer.

Wahrscheinlich hat er sich nur ein wenig verlaufen, sagte sie sich, auch wenn sie kein bisschen daran glaubte. Er ist falsch abgebogen, darum braucht er so lange. Er sucht noch immer nach der Frau. Oder vielleicht hat er sie gefunden und telefoniert gerade! Dieser Gedanke erleichterte ihr Herz. Das wird es sein, jede Wette! Er ruft gerade einen Abschleppwagen herbei. Es dauert nicht mehr lange, dann verschwinden wir von hier …

Und so beruhigte sich ihr angespanntes Nervenkostüm, und sie ging wieder durch das Wohnzimmer zurück an den Kamin und sog so viel von der Wärme des Feuers in sich auf, wie es nur ging. Während sie so dastand, blickte sie auf das Gemälde, das über dem Kaminsims hing, und betrachtete die sorgsamen Pinselstriche, mit denen die Bäume und die Hügel gemalt worden waren. Die Initialen des Künstlers zierten die untere rechte Ecke. Der Ruß vieler Jahre hatte sie ein wenig verdeckt, doch mit ein bisschen Mühe erkannte sie sie als ›A. S.‹.

KNARZ.

Erschrocken drehte sie sich wieder zum Esszimmer um, als der Fußboden irgendwo tiefer im Haus ein scharfes Ächzen von sich gab. Ihr blieb fast das Herz stehen, doch sie konnte sich gerade noch genug beherrschen, um nicht in Panik zu verfallen. Es muss Dan sein, dachte sie und bewegte sich noch einmal schleichend durch das Zimmer und schaute auf den Tisch und die Stühle hinter der Türschwelle.

Doch der Raum war noch immer leer. Das Knarzen war von weiter weg gekommen. Sie stand vor dem Esszimmer, die Hand an die verdreckte Wand gelehnt, und fragte sich, ob sie vielleicht bloß gehört hatte, wie der Boden sich setzte. Sie nahm sich einen Moment, um sich zu sammeln, und setzte ihren Weg durch das Zimmer fort. Sie lugte um die Ecke und blickte in die Diele.

Dort war es düsterer als zuvor und sie erkannte sofort den Grund dafür: Die Haustür war zu. Dies erschien ihr seltsam, denn sie hatte nicht gehört, wie die Tür zugefallen war, und sie wusste, dass sie, als sie das Haus betreten hatten, um die Besitzerin zu suchen, die Tür nicht geschlossen hatten. Aber das war bei Weitem nicht die beunruhigendste Entdeckung, die sie machte. Diese zweifelhafte Ehre wurde etwas zuteil, das sie ein wenig weiter weg erblickte.

Genauer gesagt war es ein Jemand.

In dem Raum jenseits der Diele – ein kleines, düsteres Kabuff – sah Rachel eine extrem blasse Frau in der Finsternis stehen. Dies schien buchstäblich alles zu sein, was sie tat. Die dürre Frau, die Rachel den Rücken zugekehrt hatte und deren langes schwarzes Haar an ihrem weißen Gewand hinunterhing, tat nichts weiter als in diesem dunklen Zimmer zu existieren. Sie stand völlig regungslos da. Ihre feingliedrigen Hände hingen schlaff an ihren Seiten hinab. Sie stand so still da, dass sie nicht einmal zu atmen schien.

Auch wenn die Frau ihr den Rücken zugekehrt hatte und tief in den Schatten dieses Raumes stand, so wurde Rachel doch das Gefühl nicht los, dass ihre Augen auf sie gerichtet waren. Obwohl das Verhalten dieser blassen Gestalt sie ängstigte, räusperte Rachel sich, um sich der Frau anzukündigen und ein wenig Normalität herzustellen. Doch die Frau rührte sich keinen Millimeter. Sie blieb im Dunkeln versteckt und nicht einmal ein Haar auf ihrem Kopf bewegte sich in dem Luftzug.

»Äh … Danke, dass Sie uns bei dem Regen in Ihr Haus gelassen haben«, versuchte es Rachel. Ihre Stimme wagte es kaum, ihre Kehle zu verlassen. »Hat … Hat mein Freund Sie gefunden?«

Sie erhielt keine Antwort. Und sah keine Bewegung. Die Frau blieb wie eine in Schatten gehüllte Schaufensterpuppe stehen.

Rachel, die nun völlig aus der Fassung geriet, zog sich in das Esszimmer zurück und stieß ein zittriges Seufzen aus. Was ist denn mit der los? Warum steht sie nur so da?

Kaum hatte sie ihren Blick von der Frau gelöst, ertönte ein weiteres schreckliches Ächzen des Fußbodens.

KNARZ.

Mit einem dumpfen Pochen in der Brust lugte Rachel noch einmal langsam um die Ecke – und sah, dass die Frau nun in der Diele stand. Bis auf das einmalige Ächzen des Fußbodens hatte sie sich völlig lautlos bewegt – und mit einer unglaublichen Raschheit. Doch was Rachel wirklich verwirrte, war die Tatsache, dass die Frau in der Diele dasselbe machte wie in dem Raum davor. Sie stand in der Dunkelheit und hatte Rachel den Rücken zugekehrt. Es war kaum noch Licht zu sehen. Das Tageslicht zwängte sich hier und dort durch eine Ritze und das trübe glimmende Feuer in ihrem Rücken sorgte für genug Helligkeit, dass sie wenigstens ihre unmittelbare Umgebung erkennen konnte.

So nahe, wie die Frau ihr nun war, konnte Rachel trotz der Dunkelheit etwas mehr von ihr erkennen. Sie trug ein schlichtes Kleid, ein altmodisches Stück, das trotz des Verfalls, der sonst alles, was zu sehen war, erfasst hatte, schneeweiß geblieben war. Sie stand steif und unbeholfen da wie eine eingelagerte Marionette. Ja, dachte Rachel, genau so ist diese Frau: wie eine lebende Puppe.

Der Weg nach draußen war ihr versperrt – außer wenn sie den Weg dieser Frau kreuzen wollte. Die fahle Gestalt hatte nichts getan, das sie bedrohen würde, und hatte sich ihr gegenüber in keiner Weise feindlich gezeigt, und doch verströmte diese eigenartige Frau in ihrer Stille eine fast schon unermessliche Bösartigkeit. Ihr Anblick genügte, um Rachels Herz zum Rasen zu bringen und ihr den Magen umzudrehen. Sie schaffte es nicht, auch nur einen einzigen Schritt in ihre Richtung zu machen, und schon gar nicht, an ihr vorbei zur Tür zu gehen. Ihre Beine wollten ihr einfach nicht gehorchen.

Stattdessen eilte Rachel zurück in das Wohnzimmer, wo das Feuer unerklärlicherweise gerade erlosch. Verdutzt sah sie zu, wie die letzten Stücke Holz ihre Glut verloren und der ganze Kamin erkaltete, als hätte nie ein Feuer in ihm gebrannt. Dieser Anblick fiel mit einem weiteren Ächzen des Bodens zusammen, und Rachel wusste, ohne sie zu sehen, dass die Frau nun im Esszimmer stand.

»D-Dan!«, rief sie und zog sich immer weiter in den Raum zurück, vorbei am Kamin. »Dan!«

Ihre Rufe blieben unbeantwortet und sie stieß mit den Schultern gegen eines der schiefen Holzregale an der Wand hinter ihr. Sie hatte sich selbst in eine Ecke gedrängt.

»Dan! Komm bitte zurück!«

Ihre tränenerfüllten Augen konzentrierten sich auf die Tür, die zum Esszimmer führte. Nun, da das Feuer nicht mehr brannte, war der Raum, in dem sie sich befand, mit einer samtigen Finsternis erfüllt, sodass sie kaum seine Wände sehen konnte. Sie kauerte sich gegen das von Spinnweben überzogene Regal und wartete darauf, dass die Frau eintrat. »Bitte lassen Sie mich in Ruhe!«, flehte sie verängstigt. »Ich will einfach nur weg von hier. B-bitte, tun Sie mir nicht weh!«

Gleich zu ihrer Linken erklang – so nahe, dass sie einen sauren Atem schmecken konnte – eine kichernde Stimme. »Weißt du … so langsam glaube ich, dass mit dem Haus etwas nicht stimmt …«

Die Stimme gehörte Dan.

2

Ein Blitzschlag zuckte über den sturmschwarzen Himmel und die Lichter in Sadies Wohnung verdunkelten sich einen Augenblick lang. Der Blitz war so grell und der Donnerschlag, der ihm folgte, so intensiv, dass August aus dem Schlaf schreckte und sich mit trüben Augen im Zimmer umsah.

Das Trommelfeuer aus Regentropfen, das auf die Fensterscheiben niederging, klang wie ein Kugellager, und die heftigen Windstöße, die an dem Gebäude entlangfegten, schienen stark genug zu sein, um es aus seinem Fundament zu heben. Es war schon ziemlich lange her, dass Montpelier einen Sturm von solch einer Hemmungslosigkeit erlebt hatte.

»Was ist los?«, stöhnte er und sah gähnend zum Fenster hinüber. Dann, als er die Schachtel erblickte, setzte er sich langsam auf. »Ist das …?«

»Die Schachtel aus dem alten Haus meiner Großeltern«, antwortete sie.

»Was ist drin?« Er wischte sich über die Augen und schob sich an das andere Ende des Sofas, um hineinschauen zu können.

Die knappen Abmessungen der Schachtel wurden nicht zur Gänze von ihrem Inhalt ausgefüllt. Darin befand sich weniger, als Sadie angesichts des Gewichts vermutet hatte. Dieser Widerspruch hätte einen leicht glauben machen können, dass das Gewicht nicht von den Sachen in der Schachtel herrührte, sondern von einer tiefgreifenden psychischen Schwere, die sie durchdrang.

Sadie machte sich daran, die Schachtel zu entleeren und ihren Inhalt auf dem Beistelltisch auszubreiten. Alles in allem befanden sich nur drei Sachen darin: ein vergilbtes ledergebundenes Tagebuch, dessen Seiten mit, so schien es, Fotografien und Zeitungsausschnitten vollgestopft waren, eine Aktenmappe und eine einzelne Floppy Disk. Eine genaue Betrachtung der drei Gegenstände verriet wenigstens von außen nichts über ihre Herkunft und sie gaben auch keinen Hinweis auf ihren Besitzer.

Sie trug die Sachen hinüber zum Sofa, setzte sich zu ihm und kämmte sich eine Locke ihres Haars hinter das Ohr. »Sieht aus, als wäre das alles«, sagte sie.

August beäugte die Floppy Disk, nahm sie von dem Stapel und spielte an der Metallabdeckung herum. »So eine hab ich seit Jahren nicht mehr gesehen«, sagte er. »Ich frage mich, was drauf ist.«

Sadie legte die Aktenmappe fürs Erste beiseite und konzentrierte sich auf das ledergebundene Tagebuch. Es wurde von einem eng anliegenden Gummiband zusammengehalten, das über die Jahre der Lagerung brüchig geworden war. Vorsichtig schob sie einen Finger darunter, und als sie versuchte, es behutsam abzuziehen, zerbröckelte es plötzlich in ihrer Hand. Als sie die Gummireste von ihrem Schoß gewischt hatte, schlug sie den Umschlag auf und suchte nach irgendeinem Hinweis auf den Besitzer des Buches.

Davon gab es aber keinen – die Innenseite des Umschlags war leer, wenn man einmal von der Vergilbung absah, die dafür bekannt war, altes Papier heimzusuchen. Als sie das kleine Buch öffnete, wirbelte ein Hauch von Staub von seinen Seiten, und dieses Erdige weckte in ihr Erinnerungen an die Gerüche von lange verlassenen Orten, deren Aromen sie nur allzu gut kannte. Mit großer Sorgfalt begann sie, sich durch das dünne Büchlein zu blättern, doch schon als sie die ersten Seiten umschlug, rutschten Sachen zwischen ihnen heraus.

Fotografien und Zeitungsartikel, die alle viel älter aussahen als das Buch, das sie beherbergte, glitten hinunter in ihren Schoß. Sie schüttelte das Tagebuch ein wenig, damit auch die restlichen Sachen herausfielen, und begann, das Durcheinander zu einem ordentlichen Haufen zusammenzuschieben. »Was ist das alles?«, murmelte sie, legte das Tagebuch beiseite und entschied sich, zuerst einmal seinen verschütteten Inhalt zu betrachten.

August zog den Couchtisch etwas näher heran, damit sie die Sachen darauf ausbreiten konnte. »Schwarz-Weiß-Bilder … und ein paar alte Zeitungsschnipsel. Ich schätze, dabei handelt es sich nicht um Rezepte, die aus den Ratgeber-Rubriken ausgeschnitten wurden, oder?«

Sadie breitete sie in ordentlichen Reihen aus: die Zeitungsartikel links, die Fotos rechts – und als sie die Fotos auf dem Tisch verteilte, erkannte sie einige ihrer Motive und erschrak.

Unter den alten und verknickten Fotos befand sich ein Schwarz-Weiß-Abzug vom Rainier Asylum. Sadie drückte das Foto mit tauben Fingern auf dem Tisch flach und beugte sich darüber, um es eingehend zu betrachten. Jede Hoffnung, dass der Inhalt der Schachtel nichts mit ihren Erkundungen zu tun hatte, wurde mit dem Fund dieses Fotos jäh zerstört – ganz besonders als sie weiter hinten in dem Stapel einen ähnlichen Abzug fand, der nichts Geringeres als das Haus auf Beacon Hill zeigte.

Ein Blitz teilte den Himmel in zwei Hälften und noch einmal verdunkelten sich die Lampen. Die Glühbirnen flackerten in ihren Fassungen, als stünden sie kurz davor durchzubrennen, nur um dann wieder aufzuleuchten, als ein Donnerschlag das Gebäude erzittern ließ. Sie spürte das Sturmgepolter bis tief in ihre Knochen, und auch als das Gewitter wieder nachließ, zitterte sie am ganzen Körper und bekam eine Gänsehaut.

August blickte aufmerksam von einer Aufnahme zur anderen.

»Wir haben also Beacon Hill und das Rainier Asylum?« Er deutete auf die anderen Fotos in ihrer Hand. »Sieht aus, als hätte jemand eine Sammlung angelegt … als hätte jemand dieselben Nachforschungen angestellt wie wir. Soll das etwa ein Sammelalbum für Geisterhäuser oder so was in der Art sein? Was ist auf den anderen Bildern zu sehen?«

»Ich habe fast Angst davor nachzuschauen«, gab sie zu. Eines nach dem anderen legte sie die verbleibenden Fotos auf den Tisch.

Bevor sie auch nur die Gelegenheit hatte, die ausgebreiteten Fotos und Zeitungsausschnitte in Ruhe zu betrachten, kehrte der Blitz noch einmal krachend zurück. Und dieses Mal schlug er so nahe und mit solch einer Wucht zu, dass er schließlich doch die überlasteten Lampen in die Knie zwang und die Glühbirnen zum Erlöschen brachte.

Der ganze Apartmentblock fiel mit einem leisen, mechanischen Röcheln in einen tiefen Schatten.

3

Ihre Begutachtung dieser neuen Beweisstücke wäre bei Kerzenlicht geschehen, wenn Sadie sich auf einen Stromausfall vorbereitet hätte, doch da sie keine Kerzen hatte, mussten sie sich mit dem Schein von Augusts Handy und der Taschenlampe begnügen, die er für ihren Ausflug zum Rainier eingepackt hatte.

Während sie in fast vollständiger Dunkelheit lasen und die Fotos betrachteten und der Sturm draußen weiterhin wütete, betrat etwas ihr Wohnzimmer, das Sadie verstörte. Sie kannte jede Ecke dieses Raumes so gut wie in- und auswendig und hatte keinen Grund, sich hier während einer Finsternis zu fürchten. Außerdem war sie niemand, der sich von einem Gewittersturm aus der Fassung bringen ließ. Doch sie spürte, dass sie mit dem Öffnen der Schachtel etwas befreit hatte – dass allein das Anheben des Deckels genügt hatte, um etwas loszulassen, das lange und aus gutem Grund eingesperrt gewesen war. Sie glaubte, dass ihre Sinne für die Dinge, die in der Sphäre des Übernatürlichen vor sich gingen, gut geschärft waren, und doch entzog sich das, was gerade durch dieses dunkle Zimmer kroch, jedem Versuch einer Beschreibung. Es war, so sagte ihr Bauchgefühl, nichts weiter als Paranoia. Doch nicht einmal das genügte, um das nagende Unbehagen zu besänftigen, das sie verspürte, als sie mit dem Inhalt der Schachtel hantierte. Ihre Unruhe war größer, als es die Umstände rechtfertigten, und August, der nervös die Fotos und Zeitungsausschnitte durchsah, schien ihr mulmiges Gefühl zu teilen, während er mit gerunzelter Stirn versuchte, die gefundenen Unterlagen richtig einzuordnen.

Das Zimmer schien in der Dunkelheit tatsächlich immer kleiner zu werden. Der Raum um sie herum schrumpfte und hüllte sie ein, bis nur gerade genug Platz blieb für ihre gekrümmten, in ihre Studien vertieften Körper und die abscheulichen Wahrheiten, die sie dabei entdeckten. Draußen wirbelten die Wolken am Himmel mit solch einer Intensität, dass sich in ihnen immer wieder eine Lücke auftat, durch die der Mond und grell leuchtende Blitze abwechselnd herunterlugten. Der unaufhörliche Regen brachte die Luft zum Erzittern und erfüllte die Atmosphäre mit einer herbstlichen Frische und Nässe.

Die Zeitungsausschnitte, fünf Stück waren es, bildeten eine traurige Sammlung und behandelten, obwohl sie Jahrzehnte auseinanderlagen, ein und dieselbe Sache, nämlich unglückselige Vorfälle derselben Art. Die Berichte, die aus verschiedenen Zeitschriften aus dem Bundesstaat Indiana stammten und mehr als 40 Jahre umspannten, beschrieben fast schon unheimlich ähnliche Fälle von verschwundenen Personen.

Im Fall von Evelyn Renfield aus dem Jahre 1947 sowie in den Fällen von Nora Tellier aus dem Jahre 1962 und Stephanie Marsh aus dem Jahre 1977 wurden junge Mütter kurz nach der Entbindung zusammen mit ihren Säuglingen vermisst. Zu den genannten drei Frauen, die völlig unerwartet mit ihren Neugeborenen verschwanden, kam 1986 noch Candice Kellermeyer hinzu, die genauso wie ihr fünf Tage alter Sohn Jack plötzlich wie vom Erdboden verschluckt war.