Der Staubleser - Josef Brainin - E-Book

Der Staubleser E-Book

Josef Brainin

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Beschreibung

Wem gehört ein Gemälde, das vor siebzig Jahren - ganz legal - geraubt wurde? Ist Diebstahl von Diebesgut zu rechtfertigen? Sprengt Liebe auch unsichtbare Grenzen? Was gibt es unter den Schichten von Staub zu entdecken, die über der Vergangenheit liegen? Niemand kann die Spuren der Vergangenheit besser lesen als der Wiener Antiquitätenhändler Alfred, der so lange kaum zwischen schönen Frauen und schönen Objekten unterscheidet, bis zwei Ereignisse sein sorgloses Leben durcheinanderbringen. Erstens - er verliebt sich in eine junge Frau aus der sogenannten besseren Gesellschaft und zweitens steht plötzlich eine reizende alte Dame in seinem Geschäft, die ihn bittet, ein Bild wiederzubeschaffen, das ihrer Familie vor siebzig Jahren von den Nazis geraubt wurde. Alfred macht sich auf die Jagd und stürzt unversehens in ein Dickicht aus Raubkunst, einem verschworenen Netzwerk von Kunstsammlern sowie einem immer noch erstaunlich präsenten Antisemitismus. Trotz drohender Gefahren nimmt Alfred den ungleichen Kampf mit Mitteln auf, derer er sich selbst nicht für fähig gehalten hätte ... Eine rasante, einfühlsam erzählte Geschichte über Raubkunst und Liebe, Restitution und Versöhnung und den Mikrokosmos Antiquitätenhandel im heutigen Wien.

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Seitenzahl: 305

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Josef Brainin

Der Staubleser

Roman

JOSEF BRAININ

DER

STAUB

LESER

Roman

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

1. Auflage 2013

© 2013 by Braumüller GmbH

Servitengasse 5, A-1090 Wien

www.braumueller.at

Coverfoto: Dragan Trifunovic/ istockphoto; Archiv

ISBN Printausgabe: ISBN 978-3-99200-081-4

ISBN E-Book: 978-3-99200-082-1

Gewidmet Wilbirg und Anna

UND WIE LANGE HAT HIER NIEMAND MEHR GEwohnt?“ Alfred stellte diese Frage immer. Oft enthob sie seine Kunden des Bemühens, sich für die Unordnung, den Staub und das Durcheinander nach dem Tod des Nahestehenden zu entschuldigen, und gleichzeitig konnte Alfred die Ehrlichkeit seiner Kunden an der Antwort messen. Staub war ein wichtiger Teil seines Geschäfts. Keine Altwaren ohne Staub. Seine ersten Lehrjahre waren voll davon gewesen. „Zuerst einmal alles abwischen“, hatte sein Meister ihm aufgetragen. Dann erst, oft nach zwei, drei Stunden im nächsten Kaffeehaus, war er in die zu räumende Wohnung gekommen, um sich die von Alfred gesäuberte Hinterlassenschaft genauer anzusehen. Alfred bewunderte die Sprache seines Meisters. Andere hätten Kramuri gesagt oder Krempel. Nein, er sagte immer: Hinterlassenschaft. Das respektierte den Wert der Objekte und damit haftete seinen Preisangeboten für die Räumung, die besenreine Totalräumung, die Autorität des Wissenden an, nicht der Geruch eines Leichenfledderers.

Staubschichten in länger leer gestandenen Wohnungen sind für den Erfahrenen genauso zu lesen wie Gesteinsformationen für Geologen. Verschobene Bücherstöße etwa hinterlassen Spuren auf der Tischfläche, die dann jedoch wieder „zugestaubt“ werden. Die Bewegung des Stoßes bleibt sichtbar, auch wenn sich darüber wieder monatelang Schicht um Schicht legt. Die Schleifspur des Bücherstoßes wird so zu einem Sediment, eingepackt in den zarten Flaum späterer Ablagerungen. Auf diese Weise war das oft letzte Leben in so einer Sterbewohnung nachzuvollziehen. Im Umkreis des Bettes fanden sich in der Regel die meisten derartigen Wischer. Die Höhe der Staubschichten wächst mit der Entfernung zum Bett. Einmal hatte Alfred auf Anhieb den berühmten Sparstrumpf einer Verschiedenen – auch so ein Wort des Meisters – durch seine Staubanalysen gefunden. Seine jahrelang trainierte Kunst des Staubspurenlesens hätte mehr verdient. Der Sack war voller alter Schillingscheine gewesen. Nicht genug um die professionelle Integrität Alfreds ernsthaft zu gefährden. Immer und immer wieder fragte sich Alfred, wie weit seine Ehrlichkeit in derartigen Situationen tatsächlich gehen würde – die Schlüsselfrage, die sich wohl jeder seines Fachs täglich stellt.

Alfred schätzte die Verlassenheit der Verlassenschaft auf etwa zwei Jahre und war erstaunt, als er von Frau Muthmayer „sieben Monate“ hörte.

Frau Muthmayer führte ihn vom Wohnzimmer ins Schlafzimmer, zeigte ihm ein kleines Arbeitszimmer und die Küche. Ein sehr voller Abstellraum ließ Unangenehmes für die Räumung erwarten.

ALS SIE MIT EINEM VERNEHMLICHEN „GRÜSS Gott!“ in der Tür stand, erkannte Alfred sie nicht gleich. Eine große, elegante Dame, so wie viele, die aus der näheren Umgebung, eigentlich aus fast ganz Hietzing, in sein Geschäft kamen. Manchmal tat es ihm leid, dass er mit der Entscheidung für seinen jetzigen Standort auf andere einträgliche Nachbarschaften verzichten musste. Auf Döbling, auf Gersthof, auf Grinzing und den ganzen Kahlenberger Geldadel, ja sogar Neuwaldegg sollte mittlerweile eine Goldgrube sein. Hietzing war irgendwie im Wandel. Hatte noch vor einigen Jahren sogar der Schah von Persien seine Villa hier gehabt, so hatte sich der gesamte Bezirk nach und nach geöffnet und schien mit seinen Gemeindebauten und Genossenschaftsapartments mittlerweile eine ganz andere Gesellschaftsschicht – und damit Klientel für sein Antiquitätengeschäft – zu beherbergen als früher. Die Aura der Nachbarschaft zum kaiserlichen Schönbrunn, einst Verpflichtung zur Hoffähigkeit der Bürgerlichen, bröckelte zusehends ab. Touristenbusse erbrachen ihre fotosüchtige Last aus aller Herren Länder am Hietzinger Platzl und entließen sie und ihre begeisterten Kinder in Richtung Tiergarten, dem die U-Bahnstation Hietzing mittlerweile den Beinamen „Zoo“ verdankte. Das Parkhotel Schönbrunn vermietete seine Räume für Firmenfeiern, statt für Hietzinger Debütanten Gesellschaftsbälle zu veranstalten, und das Dommayer war zu einer Kurkonditorei geworden, was immer das jenseits von Süßstoff statt Zucker bedeuten mochte. Alfred war kein sentimentaler Monarchist, kein Spiel-, Jagd- oder Schulgefährte namhafter Aristos, kein übrig gebliebener Bildungsbürger, kein Retro-Alt-Wiener. Alfred konnte allerdings dank seiner beruflichen Kontakte, seiner sozialen Kompetenz und seines unwiderstehlichen Charmes in allen genannten Kategorien blendend reüssieren, und zwar so begeisternd, dass es Mütter von heiratsfähigen Töchtern immer wieder bedauerten, dass er „keiner von uns ist“.

Alfred haftete das Stigma an, nirgends dazuzugehören. Ein Stigma, das im gesellschaftlichen Eismeer Österreichs nur zu einem Bruchteil oberhalb der Wasseroberfläche sichtbar ist. Auch ohne irgendwelche Schuld auf sich geladen zu haben, die mehr war als die Gnade der späten Geburt, trug er das Urteil des ewig geleugneten, aber augenzwinkernd allgegenwärtigen Femegerichts mit sich herum.

Alfreds Familie – kurz nach der Jahrhundertwende aus einem jüdischen Schtetl von Russland nach Wien eingewandert – war heute in alle Welt zerstreut. Sein Großvater war 1938 mit seiner Familie mit knapper Not und viel Reichsfluchtsteuer nach England entkommen, aber in einem rebellischen, spätpubertären Aufbegehren gegen das Familienoberhaupt war Alfreds Vater gleich nach dem Krieg wieder nach Wien zurückgekehrt, freilich zu spät, um die verlorenen Jahre je wieder wettzumachen. Ein Großteil der Familie und Freunde war vertrieben oder ermordet worden, kriegsheimgekehrte oder verbliebene Wiener Bekannte waren ihm fremd geworden. Das einzige Glück, das ihm eine kurze Ehe brachte, waren zwei kleine Kinder, die ihm nach der Scheidung zugesprochen wurden. Alfred und seine jüngere Schwester Hanna wuchsen bei ihrem Vater auf. Hanna verliebte sich während eines Auslandsstudienjahrs in einen Amerikaner und blieb in einem der Vororte San Diegos, die immer so aussehen, als hätten alle Menschen dort ein Leben lang Urlaub. Alfred inskribierte diverse Studienfächer, niemals ohne Interesse, brach sie aber allesamt ab und begann – wie aus Trotz gegen alle Erwartungen, die seine Familie in ihn und nach und nach kapitulierend auch er selbst in sich gesetzt hatte – eine Lehre als Restaurateur alter Möbel.

Alfred bedauerte den Niedergang des Bürgertums in Hietzing aus rein geschäftlichen Gründen. Zumindest behauptete er das immer wieder, wenn er in den Geruch kam, der guten alten Zeit nachzuhängen. In Wirklichkeit ertappte er sich mit zunehmendem Alter immer mehr im Zwiespalt mit einer so polarisierten Ansicht. Er liebte es, seinen Urlaub in alten herrschaftlichen Hotels zuzubringen, er war eingeschworener Slowfood-Fan und hasste jede Art des Massenkonsums. Sehr gelegen kam ihm bei derartigen Diskussionen der Ausspruch eines lieben, ähnlich denkenden Freunds, der seinen eigenen Hedonismus gegen die Ungerechtigkeit des verlorenen Klassenkampfes mit „das Proletariat ist keine Gesellschaftsschicht, sondern eine Geisteshaltung“ verteidigte.

Jetzt erkannte Alfred die Dame in der Tür. Sie war eine der zahllosen „Nachbarinnen“, die er ein-, zweimal die Woche bei seinem Geschäft vorbeigehen sah. Sie musste in der Nähe wohnen. Das kontinuierliche Beobachten einer Gasse durch eine große Auslage ist eine Kunst, die man erst nach vielen Jahren beherrschen lernt. Man muss, um nicht völlig verrückt zu werden, mit den natürlichen Abstufungen seiner eigenen Aufmerksamkeit leben lernen. Es werden vom Gehirn Prioritäten gesetzt, denen unterschiedliche Wahrnehmungsbereitschaften zugrunde liegen. Dies geschieht durch langjähriges Training. Wenn es schöne Frauen sind, denen man sich als Beobachter zuwenden möchte, dann kann man sich getrost darauf verlassen, dass das eigene Gehirn die Filterfunktionen richtig setzt. Kinder mit Fußbällen, Männer mit Aktentaschen, Feibra-Werber werden verlässlich ausgeblendet. Es muss dies schon in der Urgeschichte der Menschheit gegeben haben, räsonierte Alfred immer wieder erstaunt über das Funktionieren dieser bewussten Themenwahl, die offenbar durch unbewusste Lernfähigkeit gesteuert werden kann. Vielleicht haben die Jäger am steinzeitlichen Hochstand ihren Gehirnen nur „Mammut“ signalisiert und bei Flugechsen haben sie ruhig weitergeschlafen.

Alfred konnte sich darauf verlassen, dass er alle „Nachbarinnen“ zumindest vom Sehen kannte. Niemand ging unbemerkt durch seine Gasse. Selbst während schwieriger Verkaufsverhandlungen in seinem Geschäft hatte Alfred die Fertigkeit entwickelt, mitten im Satz abzubrechen, wie sinnierend aus der Auslage zu sehen, das dort Dargebotene gründlich zu mustern, um sich dann zu seinem Gesprächspartner umzudrehen und scheinbar nahtlos und mit Nachdruck dort anzuknüpfen, wo er unterbrochen hatte. Keinen Moment fühlte sich der Gesprächspartner dabei verlassen. Im Gegenteil: Stimmwechsel und Nachdruck verliehen dem Gegenüber Alfreds den Eindruck erhöhter Aufmerksamkeit.

Er legte den Auktionskatalog, in dem er eben geblättert hatte, zur Seite, ging der Besucherin entgegen und lächelte sein Schön-dass-Sie-da-sind-Lächeln, das erfahrungsgemäß erstes Eis nicht nur brach, sondern zum Schmelzen und gleichzeitigen Verdunsten bringen konnte.

„Was kann ich für Sie tun?“ Diesen, zugegeben, eindeutigen Anglizismus, nach Europa herübergeschwappt durch nachlässige Synchronisierungen von Filmen und Fernsehsendungen, hatte Alfred lange abgelehnt. Aber die Flut erwies sich als zu stark für private Dämme. Alfred gewann mittlerweile sogar Gefallen an der Phrase, insbesondere da er sich von dem suggestiven Inhalt dieses Satzes längst emanzipiert hatte. Aber es machte ihm nach wie vor Freude, manchmal zu bemerken, dass sein Gegenüber noch nicht so viel Erfahrung mit diesen Worten zu haben schien wie er selbst. Auch war diese Ouvertüre immer wieder ein erstes Klimamessgerät. Er bemerkte, dass seine Besucherin, die jetzt vor ihm stand, nicht mit Worten spielen wollte. Gut. Auch darauf war Alfred seit Jahren vorbereitet.

„Mein Name ist Muthmayer“, stellte sich die Dame vor. „Ich möchte, dass Sie mir helfen, die Wohnung meines verstorbenen Vaters aufzulösen“, sagte sie, als ob „Nein, ich kann nicht“ oder „Nein, ich will nicht“ keine Kategorie im Wirtschaftsleben des Neoliberalismus wäre. Alfred nickte. Es war ja sein Beruf. „Wo ist die Wohnung?“, begann er die notwendige Datenerhebung. „Im dritten Bezirk, in der Reisnerstraße.“ Alfred kannte die Straße, so wie er die meisten innerstädtischen Gegenden Wiens ganz gut kannte. Dort gab es interessante Jahrhundertwendehäuser, ein paar Biedermeierhäuser, aber auch Neubauten, die zwar den Nassraum-Komfort der Bewohner erhöhen, dafür aber seinen Anspruch an Ästhetik nicht erfüllen konnten.

Bei Wohnungsauflösungen stellte sich immer die Frage, wie sich der Aufwand der Räumungsarbeiten zum Wert der wiederverkaufbaren Dinge verhielt. Lange Wohndauer erhöhte naturgemäß die Aufräum- und Sichtungsarbeiten. In vielen Lebensjahren sammelte sich einfach viel an, Kleider, Bücher, Papiere, Dokumente, Fotos, Fotos, Fotos. Alfred konnte diese Fotos nicht mehr sehen. Die Gesichter verfolgten ihn manchmal bis in seine Träume. Sie waren in jeder Verlassenschaft zu finden, diese austauschbaren Zeugen des Glücks, das jetzt die natürlichste und endgültigste Zäsur erlebt hatte.

Bei großen Wohnungen waren die Chancen erfahrungsgemäß höher, das eine oder andere interessante Objekt zu finden: Bilder, Teppiche, Möbel. Wohnungen, die sehr klein waren, boten per se nicht genügend Platz, um solche Funde in ausreichendem Maße zu beherbergen. Die Adresse einer Wohnung war in der Regel ein Hinweis auf die wirtschaftliche Situation der Bewohner und damit auf die Ausstattung, aber mit Sicherheit kein Garant für den tatsächlichen Wert des Inhalts. Alfred hatte da schon sehr Widersprüchliches erlebt. An einer eleganten Innenstadtadresse fand er einmal fast nur IKEA-Möbel und Kunstdrucke vor, während er vor Kurzem in Hernals wahre Kleinode an Biedermeierhandwerkskunst gefunden hatte und zwei echte Weiler an der Wand. Eine Vorabbesichtigung war daher zur unumstößlichen Geschäftspolitik Alfreds geworden.

„Wie groß ist die Wohnung?“ „Ich weiß nicht, so ungefähr hundert Quadratmeter werden es schon sein.“ „Wie lange hat Ihr Vater dort gewohnt?“ „Die letzten vierzig Jahre seines Lebens“, sagte Frau Muthmayer und ließ mit dieser Relativierung zu seinem Tod so etwas wie einen winzigen Blick auf ihr Gefühlsleben zu. Alfred registrierte diese unerwartete Entblößung überrascht, war sich aber nicht ganz sicher, ob sie als Verstärkung zu seiner Auftragsannahme eingesetzt wurde oder ob sie unfreiwilliges Zeichen noch nicht bewältigter Trauer war. Manchmal ärgerte er sich über sein Misstrauen, das er Menschen insgeheim entgegenbrachte, die er kaum kannte. Wie zum Trotz und zur eigenen Disziplinierung hörte er sich sagen: „Ja, gerne werde ich mir die Wohnung ansehen. Wann ist es Ihnen recht?“ Nach beidseitiger Kalenderkonsultation einigten sie sich auf den nächsten Montagnachmittag, Treffpunkt vor dem Haus Reisnerstraße 12, um 14 Uhr. Alfred hatte auf dem frühen Nachmittag bestanden, weil in der Regel in leer stehenden Wohnungen der Strom bereits abgemeldet und Licht, vor allem Tageslicht, bei jeder Besichtigung sehr hilfreich war.

Frau Muthmayer dankte ihm und schüttelte seine Hand. Alfred wusste nie, ob Frauen die Blicke spüren, die sie verfolgen. In diesem Fall hielt er es für unwahrscheinlich, dass Frau Muthmayer nicht wusste, dass er ihr hinterhersah. Wo hätte er auch hinsehen sollen, während sie sich umdrehte und zur Tür ging? Er blickte ihrer schlanken, großen Figur in dem taillierten Kostüm nach und es gefiel ihm, was er da sah.

IN SEINEM LANGJÄHRIGEN UMGANG MIT MÖBELN und Gegenständen hatte er sich eine eigene Wertschätzungsskala zurechtgelegt. Zum einen war es natürlich der erzielbare Marktwert bei Verkauf, ein unleugbar wichtiges wirtschaftliches Faktum, das seine Existenz begründete – und manchmal auch gefährdete. Zum anderen war es die Authentizität des Objekts – die über die Zeit erhalten gebliebene oder zumindest nachvollziehbare Bedeutung des Gegenstands für den Besitzer, der Alfred während der zeitlichen Spanne zwischen Einkauf und Verkauf in sehr bewusster Weise ja war. Und dieser Bedeutung konnte und wollte sich Alfred in den wenigsten Fällen entziehen. Das ging sogar so weit, dass er oft schrullige oder absonderlich wirkende Beziehungskonstrukte zwischen sich selbst und dem erworbenen Gegenstand entwickelte, um möglichst viel von dieser Authentizität des erworbenen Objekts für sich selbst in Anspruch nehmen zu können.

Als er eines Tages mit einem wunderschönen Finde-Siècle-Spazierstock, den ein geschnitzter Elfenbeinkopf zierte, durch die Straßen ging, hatten manche Beobachter, die es besser wissen sollten, den Eindruck, dass er beim Gehen das linke Bein gerade so wenig nachzog, dass es unziemlich schien, ihn nach der Ursache seines Hinkens zu fragen. Niemals – außer in Notsituationen – sah man Alfred mit anderem als einer seiner Füllfedern schreiben, einem täglich gewechselten Prachtexemplar aus seiner mehrere Hundert umfassenden Sammlung erlesener Pelikane und Mont Blancs. Seine physische Präsenz in seinem Geschäft war trotz scheinbar uneingeschränkter Aufmerksamkeit für einen Kunden oder den Besuch eines Freundes eine ununterbrochene Interaktion mit den hier versammelten Objekten. Seien es seine verstohlenen Blicke, die er mitten im Gespräch zärtlich über die zumeist glänzenden Oberflächen gleiten ließ, oder der plötzlich schief gelegte Kopf, der ein Bild musterte, das er wohl schon hundert Mal intensiv betrachtet hatte – niemals war Alfred losgelöst von seinen Möbeln und Gegenständen. Ein langer Arbeitstag in seinem Geschäft fand ihn auch ohne Kundschaft schließlich so erschöpft, als hätte er einen ganzen Tag lang erklärt, angepriesen, gehandelt und verkauft.

Der augenscheinliche Widerspruch zwischen der Liebe des Sammlers und der Funktion des Händlers, des ewigen Käufers und Verkäufers, war für Alfred unauflösbar. Die physische Wertschätzung, die sich zusätzlich zu einer emotionalen und intellektuellen Beziehung zu einem bestimmten Objekt entwickelte, basierte für Alfred zunächst auf den vielfältigen Proportionen und Materialien eines Gegenstands. Die Gegensätze der Größe einzelner Teile, deren Beschaffenheit und die Abgestimmtheit der Komponenten aufeinander und schließlich – eine besondere Betrachtungsweise Alfreds – das Verhältnis des Umgebenden zum Inneren. Jeder Gegenstand hatte für Alfred ein Innen und ein Außen. Nicht immer war alles zur gleichen Zeit sichtbar. Aber diese Abstraktion seiner Wahrnehmung war eine sehr zielstrebige berufliche Weiterentwicklung gewesen, als er nach und nach die unendlich respektvolle physische Beziehung eines Restaurateurs zu seinem Objekt, der Arbeit eines Handwerkers eben, in die Arbeit eines Händlers einbringen konnte.

Es war diese besondere Aufmerksamkeit, die Alfred der Beschaffenheit jedes Objekts entgegenbrachte, die er schließlich zu einer speziellen Feinsinnigkeit kultiviert hatte. Seine Kunden schätzten an ihm diese Kompetenz, dieses Wissen, diese Erfahrung … In Wirklichkeit war es eine Gier, ein Brennen und schließlich seine Ohnmacht, diesen Gegenstand niemals vollkommen besitzen zu können, seine Geschichte nur bruchstückhaft erfahren zu haben. Bruchstücke – irreparables Ende eines Gegenstands, der niemals mehr so sein würde wie früher.

ALFRED ERWACHTE MIT ENTSETZLICHEM DURST. Er brauchte ein paar Momente, um sich zurechtzufinden. Laura, neben ihm, atmete regelmäßig. Seine Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit. Durch das Fenster war das zärtliche Hellschwarz eines Morgens zu erahnen. Lauras Konturen unter der Decke, die sie die Nacht über geteilt hatten, zeichneten eine sanft geschwungene Figur, ein Halbrelief in der Bettlandschaft.

Die erste Nacht in der Wohnung einer Frau zu verbringen, empfand Alfred immer als etwas Magisches. Das zögerliche Entdecken ihres Territoriums, die Bereitschaft ihn aufzunehmen, ihn an den faszinierenden privaten weiblichen Ritualen des Zubettgehens Anteil nehmen zu lassen, die Preisgabe ihrer Umgebung, das Badezimmer, das Buch am Nachttisch, das Glas Wasser neben dem Bett, dies alles hatte für Alfred eine eigene erotische Dimension. Was Alfred Triumph der Eroberung und archaische Hingabe schien, dem konnte für seine jeweilige Gastgeberin immer nur vollkommene Normalität anhaften. Was für sie organisatorische Vorbereitungen waren, erfuhr Alfred als sinnverwirrendes Vorspiel. Derart asynchron eingestimmt, erforderte späteres Gemeinsames das Einfühlungsvermögen beider.

Es war wunderbar gewesen. Alfred war Lauras Begeisterungsfähigkeit mit so viel Aufrichtigkeit und Direktheit begegnet, dass die Möglichkeiten einer ersten Nacht ausgeschöpft schienen.

Alfred tastete sich barfuß zur Schlafzimmertür. Er hatte ein gutes Gedächtnis für Grundrisse von Wohnungen und fand sich nach dem Durchqueren des Wohnzimmers und eines kleinen Vorzimmers in der großen Küche. Jetzt erst machte er Licht und wurde sich seiner Nacktheit bewusst. Während er nach einem Wasserglas suchte, bemerkte er, dass Laura die Rotweinkelche offenbar doch noch ausgewaschen hatte. Es war ein großartiger Bordeaux gewesen. Noch aus der Sammlung ihres Ex, wie sie ihn nannte. Alfred hatte diese Bezeichnung noch nie leiden können. Nicht nur erinnerte ihn das Lautgebilde an Axt und die damit assoziierbare Brutalität eines Beziehungsendes, sondern er empfand es auch als eine Art übertrieben extrovertierte Zurschaustellung der Bewältigung einer Ehe, die ja nie so wirklich vorüber war. Er fand, er hätte kein Recht darauf, von Laura oder sonst einer Frau informiert zu werden, wie es um deren Ehebewältigung stand. Es war ihm irgendwie peinlich, bei der nachträglichen öffentlichen Hinrichtung Zeuge sein zu müssen.

Dankbar trank er das Glas Wasser und sah sich in der Küche um. Sie war gut ausgestattet und funktionell eingerichtet. Er hatte ja am Abend davor die meiste Zeit im Wohnzimmer und im Arbeitszimmer zugebracht, um sich die Möbel dort genauer anzusehen. Dies war schließlich der eigentliche Anlass für die Einladung gewesen. Laura wollte ein paar Erbstücke ihres weiterhin namenlosen Ex verkaufen und hatte um seinen Rat gebeten. Dass ein raffiniert zubereitetes Abendessen mit perfekter Weinbegleitung auf ihn wartete, wurde als eine Art Aufwandsentschädigung dargestellt. Dass der Abend dann die Richtung genommen hatte, die er nahm, schrieb Alfred der gegenseitigen Sympathie, dem fabelhaften Wein und der Ungebundenheit zweier Erwachsener zu, die bereit waren, ihr Leben in der einen oder anderen Art neuerlich zu verkomplizieren.

Die Möbel waren allesamt solides Biedermeier. Ein sehr schönes Schubert-Biedermeier-Buffet, ein großer Tisch, der zwar jetzt als Schreibtischablage benützt wurde, der aber eigentlich ein Esstisch war, ein hübscher Bücherschrank mit auffälliger Maserung an den unteren Türen war oben bei den Regalen mit Glaswänden versehen worden, offenbar von jemandem, der staubige Bücher mehr hasste, als er Original-Biedermeier lieben konnte. Laura schwor, dass es nicht sie gewesen sei und schon gar nicht ihr Ex, weil der sich weder für Bücher noch für Möbel ausreichend interessierte, um derart unwiderrufliche möbeltechnische Entscheidungen zu treffen. Ein kleines Aquarell fiel Alfred im Vorzimmer auf, möglicherweise ein Gauermann, vermutlich aber nur einer seiner Schüler. Er hatte versprochen, das Bild in seinen Nachschlagewerken und im Internet zu recherchieren und Laura Bescheid zu geben. Für Biedermeier waren viele Kaufkunden Alfreds momentan sehr empfänglich. Nach dem Abebben der Jugendstil-Manie fanden viele wieder Gefallen an den schlichteren Formen und der reduzierten Ornamentik. Das kam Alfred sehr entgegen. Er hatte Jugendstil immer schon für eine zu manierierte Entwicklung des Möbeldesigns erachtet – seine ganz persönliche Meinung und er wusste, dass er diese Ansicht nicht mit sehr vielen Menschen teilte. Laura konnte bei entsprechender Geduld eine ganz schöne Summe für den Verkauf dieser Stücke erzielen, ganz zu schweigen von dem Gauermann, der viele Sammler hatte. Die Provision für Alfred wäre mit Sicherheit den eigenen Aufwand wert, auch wenn die formelle Geschäftsbeziehung nach dieser Nacht irgendwie aus dem Ruder zu laufen schien.

LAURAS GAUERMANN WAR, WIE ER BEFÜRCHTET hatte, kein Gauermann. Nach eingehendem Studium der zwei maßgeblichen Werkverzeichnisse, Recherchen in diversen Ausstellungskatalogen, die Alfred sammelte wie andere Briefmarken, nach Durchsicht alter Auktionsverzeichnisse und gewissenhaften drei Stunden im viel gelobten, aber in spezialisierten Themen nach wie vor bruchstückhaft informierten Internet schien es gewiss: Der Gauermann war die Arbeit eines August Schlehring, einer der vielen modischen Wiener Maler des 19. Jahrhunderts. Schlehring, ursprünglich aus Passau, kam als junger Mann nach Wien und erregte mit seinem großen Zeichentalent die Aufmerksamkeit Gauermanns, der dessen Arbeiten in einer der damals häufigen kleinen Wiener Sammelausstellungen gesehen hatte. Im Atelier Gauermann gab es trotz der Liebe zur Kunst dieselben Eifersüchteleien wie in allen Kleinbetrieben, in denen die Aufmerksamkeit des Chefs karrierefördernd ist. Schlehring hielt es dort nicht länger als zwei Jahre aus und versuchte danach sein Glück mit einem eigenen Atelier. Begabung und zahlreiche Gönner ließen den jungen Schlehring sehr bald am eigenen Ehrgeiz verglühen. Heute sind nur noch einige seiner Arbeiten bekannt und vermutlich erhalten. So fand sich genau Lauras „Frühlingsidyll am Hermannskogel“ in fast allen Auflistungen seiner Arbeiten.

Alfred war mit seiner Forschungsarbeit zufrieden. Er betrachtete das Echtheitszertifikat des Gemäldes. Es war von einem Salzburger Kunsthändler im Jahre 1952 ausgestellt worden. Der Kaufpreis, den ein Wiener Galerist damals beglichen hatte, war eintausendeinhundert Schilling gewesen. Das war der Salzburger Rechnung zu entnehmen. Laut Beleg hatte Lauras Ex im Jahr 1984 sechstausendachthundert Schilling für das Bild bezahlt. In Anbetracht der Entwicklung des Kunstmarkts hatte er einen guten Kauf gemacht. Heute wäre der Eurokaufpreis wohl um einiges höher. Diese Preisdifferenz beunruhigte Alfred. Das Bild war in tadellosem Zustand. Der Wiener Anbieter war von ebensolcher Reputation. Alfred war lange genug im Geschäft, um den Grund für so einen günstigen Einkaufspreis zu erahnen.

Der Name des Salzburger Kunsthändlers war nicht nur Alfred bekannt. Die österreichweiten Akquisitionstätigkeiten des Großvaters des heutigen Besitzers hatten immer wieder für Zeitungsberichte gesorgt, die ihm unnachgiebige Verhandlungspraktiken während der frühen Kriegsjahre nachsagten. Ausländische Erben Vertriebener und Ermordeter behaupteten, er hätte ihren Familien Kunstgegenstände kaltblütig abgepresst, während er von Hilfe sprach, die er den Menschen angedeihen ließ, die sich vor dem großen Krieg ins sichere Ausland abgesetzt hatten. Die Beweislage war in keinem Fall ausreichend, um an mehr als am Ruf der Salzburger Galerie zu kratzen. Auch die Geschäfte ließen sich von solchen Anschuldigungen nicht beeindrucken.

Alfred hatte das Gemälde bei sich im Geschäft aufgestellt. Das Licht des Spots an der Decke fiel nicht direkt auf das Bild, gab aber genug Helligkeit, um alle Details erkennen zu können. Alfred glaubte in jedem Farbpunkt die unbändige Liebe des Malers zur Natur zu erkennen. Die Ehrfurcht vor dem Sonnenlicht auf dem bunten Teppich der vielen Wiesenblumen, der irgendwann einmal die Tapetenwand eines Wiener Salons geschmückt hatte. Das grenzenlose Glück des jungen Paars auf dem Bild überstrahlte das eingefangene Frühlingslicht und verlieh der gesamten Szenerie eine derart unbeschwerte Freude am Leben, dass ihr Realismus die grausame Realität des folgenden Jahrhunderts auf ewig irreal erscheinen ließ.

Alfred fotografierte das Gemälde und druckte das Foto auf seinem Drucker aus. Er nahm die Mappe mit den Dokumenten und fuhr mit der U-Bahn in die Innenstadt. Er kannte den Weg zur Galerie Scherbichler. Er hatte Glück. Erwin Scherbichler war selbst im Geschäft und kam auf ihn zu, sobald er beim Eintreten die elektronische Klingel ausgelöst hatte.

„Ja, bitte sehr, womit kann ich dienen?“ Alfred sah sich um. Es war niemand im Geschäft, also konnte er gleich zum Thema kommen, ohne Scherbichler vor zufällig anwesenden Kunden in Verlegenheit zu bringen. „Ich habe hier ein Foto von einem Ölbild“, begann Alfred und öffnete die Mappe, um es Scherbichler zu zeigen. „Ich glaube, es wurde bei Ihnen gekauft.“ Scherbichler nahm umständlich seine Brille aus einem Futteral in der Brusttasche und unterstrich damit die professionelle Bereitschaft, sich mit dem Anliegen seiner Kunden gewissenhaft auseinanderzusetzen. Wenn er das Bild am Foto erkannte, dann ließ er sich auf alle Fälle nichts anmerken. Er nahm die Brille ab, betrachtete Alfred vielleicht noch eine Spur genauer als das Bild und zuckte die Schultern: „Das ist schon möglich. Viele Bilder kommen und gehen. Wissen Sie, unlängst habe ich ein Ölbild, einen kleinen Walde, schon das dritte Mal in meinem Geschäft gehabt. Der Markt ist doch dauernd in Bewegung. Wie kann man sich da alle Bilder merken. Was ist mit diesem Bild? Wollen Sie es mir verkaufen?“ Alfred empfing den routiniert weinerlichen Wiener Ton eines gestressten Innenstadtgeschäftsmanns mit Irritation. Es waren die zur Schau gestellte Weltfremdheit, das unverhohlene Desinteresse und die scheinbare geschäftliche Unentschlossenheit mancher Menschen, die ihrem Gegenüber signalisieren, nicht ganz zu wissen, worum es im sich eben entspinnenden Gespräch gehen soll. Wie um diesen Umstand noch stärker zu betonen, wiederholte Scherbichler wie sein eigenes Echo: „Wollen Sie mir das Bild verkaufen?“ Alfred war sich sicher, dass in der Pause bis zur Wiederholung der Frage der höchste und niedrigste Einkaufspreis bereits im Kopf von Scherbichler entstanden waren. „Nein, ich will nicht verkaufen. Ich wollte Sie nur fragen, ob Sie sich erinnern, wie dieses Bild in Ihren Besitz gekommen ist?“ Alfred hasste sich für dieses „nur“ in seiner Frage. Er begann bereits auf die Strategie Scherbichlers einzugehen. Er berücksichtigte schon unaufgefordert die mangelnde Belastbarkeit seines Gesprächspartners. Ohne es zu wollen, hatte er ihn mit diesem „nur“ in Aussicht gestellt, dass er es bald überstanden hätte. „Ach wissen Sie, wie soll ich mich an dieses Bildchen erinnern? Ein Gauermann, ja?“ Die Aufmerksamkeitsspanne Scherbichlers schien nun fast endgültig ausgereizt. Er sah sich schon im Geschäft um, er wollte das Gespräch beenden. „Wenn Sie verkaufen wollen, dann geben Sie mir Bescheid, ja? Hier ist meine Karte.“ Scherbichler erschien mittlerweile völlig erschöpft. Er gab Alfred wie geistesabwesend die Hand. Alfred sah ihm ins Gesicht. Keine Regung, kein Zeichen.

Als er das Geschäft verließ, fühlte er die Augen Scherbichlers wie Pfeile in seinem Rücken.

DIE BERICHTE WAREN PLASTISCH. BERTRAM Sch., 39, sei Samstagabend nach einem Konzert auf dem Weg nach Hause ganz in der Nähe seines Wohnorts von zwei Unbekannten angehalten und niedergeschlagen worden. Nach Fußtritten gegen Kopf und Rippen sei Bertram Sch. bewegungsunfähig mehrere Stunden vor dem Haus in der Fichtnergasse 12 gelegen, bis ihn eine Dragica S. gegen 5 Uhr 30 gefunden und die Polizei alarmiert habe. Erste Einvernahmen des Opfers im Spital seien bruchstückhaft geblieben. Die Angreifer seien groß und in dunkle Lederjacken gekleidet gewesen. Möglicherweise Ausländer. Bestohlen wurde das Opfer nicht. Mehrere hundert Euro in der Innentasche seines Sakkos blieben unberührt, auch seine Rolex hatte Bertram Sch. noch immer am Handgelenk. Laut Polizei sei der Überfall die Arbeit von Profis gewesen.

Alfred legte die Zeitung weg. Er schauderte. Berufsbilder im Polizeijargon. Was hieß hier Profis? Was war das für ein Beruf, Menschen auf offener Straße zusammenzuschlagen?

Alfred kannte Bertram Schabhüttl. Er war ein Kollege, ein Antiquitätenhändler, allerdings ohne eigenes Geschäft. Schabhüttl kaufte und verkaufte für seine Kunden, die ihn beauftragten, bestimmte Objekte für sie am Markt zu suchen. Er war Dauergast bei einschlägigen Auktionen im Dorotheum und ersteigerte dort meist sehr zielstrebig ausgesuchte Kunstgegenstände. Er war auch öfters bei Alfred im Geschäft gewesen, hatte das eine oder andere eingehend geprüft und zweimal sogar etwas gekauft. Schabhüttl war Alfred nie sympathisch gewesen. Außerdem kaufte er Dinge, versprach sie abzuholen, ließ sie dann aber wochenlang im Geschäft. Platz war im Antiquitätenhandel fast so kapitalintensiv wie das Objekt selbst. Aber so einen brutalen Überfall wünschte Alfred niemandem, auch einem Bertram Schabhüttl nicht.

Das letzte Mal, als Schabhüttl gekommen war, wollte er Alfred etwas verkaufen. Es war eine kleine Bronze gewesen, von der er behauptete, sie sei ein Rodin. Er hatte ihm nur ein Foto gezeigt und Alfred gefragt, ob er Interesse hätte. Alfred hatte wenig Erfahrung mit Plastiken, aber er hatte keinen Grund anzunehmen, dass Schabhüttl etwas anbot, für das er beim Kauf kein Echtheitszertifikat vorlegen konnte. Das wäre höchst unprofessionell gewesen. Und professionell war Schabhüttl, das bezweifelte niemand in der Branche. Und doch, etwas stimmte nicht mit dem Angebot. Als Alfred feststellen wollte, woher diese Plastik stammte, als er – wie es unter Kollegen eigentlich üblich war – zumindest einen Hinweis erhalten wollte, aus welchem Besitz diese Bronze kam, da stieß er auf eine erstaunlich dicke Mauer. Keine Information war aus ihm herauszubekommen, Schabhüttl sei da jemandem im Wort. Das Geschäft kam natürlich nicht zustande.

Alfred zweifelte keine Sekunde daran, dass der Überfall auf Schabhüttl mit dessen beruflichen Tätigkeiten zusammenhing. Schabhüttl war viel zu sehr umtriebiger Geschäftsmann, als dass es vorstellbar gewesen wäre, etwas anderes in seinem Leben hätte die Größenordnung, so eine Attacke auszulösen.

ES WAR FAST DIE REGEL, DASS ALFRED NACH EINER Erstbesichtigung mit dem Kunden in ein nahe gelegenes Lokal ging und dort Kaffee und viel Wasser trank, um den Staub hinunterzuspülen und den Geruch der Sterbewohnung loszuwerden, der sich in seiner Nase, an seinen Händen und oft auch an seinen Kleidern fand. Er hatte das Bedürfnis, sich zu reinigen, Abstand zu gewinnen zu dem Ort, den er von Erinnerungen zu säubern hatte, die nicht die seinen waren. Frau Muthmayer hatte nichts dagegen, was Alfred als eine Art Zustimmung wertete, und sie gingen in eine Pizzeria, die um diese Zeit des späten Nachmittags noch ziemlich leer war. Wenigstens gab es guten italienischen Kaffee. Alfred trank ihn langsam. Er schmeckte die heiße, würzige Bitterkeit in seinem Mund, bevor er sie schluckte.

Er sah Frau Muthmayer unverhohlen und lange ins Gesicht. Er hatte – so wie viele gut erzogene Menschen – natürlich gelernt, dass es unhöflich war, Fremde derart anzustarren. Seine scheinbare Missachtung dieses Überbleibsels alter Herrschaftsriten, die es wie so viele Manierismen geschafft hatten, aus ihrer feudalen Höfischkeit in eine nicht länger hinterfragte gesellschaftliche Höflichkeit übernommen zu werden, hatte immer wieder erstaunliche Wirkung. Frau Muthmayer kreuzte ihre Beine mehrmals, rührte im Kaffee, griff sich an die Haare und ihre Mundwinkel zuckten unkontrolliert zu einem kaum wahrnehmbaren, feinen Lächeln. Alfred wusste, dass dieses sinnierende Betrachten seines Gegenübers eine überraschend lange Zeit akzeptiert wurde, sofern er rechtzeitig damit begann, an einem Satz zu arbeiten, dessen Aufgabe es war, den Anschein zu erwecken, dass er eben während dieses gedankenverlorenen Moments in seinem Kopf gereift wäre. Meist genügte ein Räuspern, ein kleines „Mmh“, das die Botschaft ankündigte, bevor sie überhaupt noch formuliert war, und sein Objekt nahm noch ein paar weitere wertvolle Sekunden des Angestarrtwerdens hin. In Wirklichkeit jedoch diente Alfred diese mittlerweile zu einer automatisierten Perfektion entwickelte Fertigkeit einzig und allein dazu, ihn mit dem Objekt seiner Betrachtung, sei es auch nur für den kurzen Moment des gesellschaftlich akzeptierten Anstarrens, in Beziehung zu setzen. Sie gab ihm die Gelegenheit, sich, so wie bei den angeblich leblosen Gegenständen seiner Profession, der Aura des Objekts hinzugeben, sich vollständig auf diese einzulassen und zu versuchen, zu spüren, was da war oder sein könnte.

Alfred fand Frau Muthmayers Gesicht schön. Sie hatte ebenmäßige Züge, die ohne Problem altern könnten. Ihre Haut war glatt und ihr Teint hatte diesen ungewöhnlichen, leicht bräunlichen Ton in sich, der an Tage und Abende im Freien und an gute Luft erinnerte. Ihre kurzen, gelockten braunen Haare rahmten dieses Gesicht wie im Übermut ein und gaben ihm dadurch einen gesunden, burschikos vitalen Rahmen. Sie war eine dieser Fin-de-Siècle-Frauen, wie sie Alfred für sich nannte, die als dirndltragende Gastgeberin ihre städtischen Freunde in einer Villa in Altaussee mit rustikalem Charme verwöhnte, aber sich auch als mondäner Vamp ausgelassenen urbanen Freuden hingeben konnte. Sie erinnerte an Schnitzler, an Grand-Hotels am Semmering, an Tennis in langen weißen Leinenhosen und Schiabfahrten mit leuchtend roten Wangen. Trotz eines eher geradlinigen, konservativen Auftritts redete sich Alfred ein, dass ihre deutlich gekräuselten Nasenflügel eine verborgene Sinnlichkeit signalisierten, die im Widerspruch zu ihrer makellosen Korrektheit stehen musste.

Alfred hatte seine Betrachtungen in der Kürze der verfügbaren Zeitspanne abgeschlossen und war mit dem Ergebnis nicht unzufrieden. Als die dichten dunklen Augenbrauen dieses Gesichts nun endlich begannen sich zusammenzuziehen, um damit eine Ungeduld mit der anhaltenden Untersuchung zu zeigen, gab Alfred gerade seinen Satzanfang von sich, der wie erwartet Unmut und Irritation zerstreute und ihn als nachdenklichen, um Worte ringenden Menschen erscheinen ließ, der eben überlegte, bevor er sprach.

„Frau Muthmayer“, begann er und dehnte ihren Namen bedeutungsvoll, einerseits wegen des Eindrucks, den so eine Einleitung immer machte, andererseits wegen des Zeitgewinns von weiteren Zehntelsekunden. Als ob er gar nicht ihr Gesicht haarklein betrachtet, sondern nur nachdenklich ins Leere gestarrt hätte, löste Alfred seinen Blick von ihren entzückenden Sommersprossen und fokussierte ihn mit deutlich zur Schau gestellter Anstrengung auf ihre Augen. „Frau Muthmayer“, wiederholte er nochmals, wie in Gedanken, „warum haben Sie mir gesagt, dass in der Wohnung seit sieben Monaten niemand mehr gewohnt hat, wenn doch seit fast zwei Jahren niemand mehr dort gelebt hat?“

Alfred war stolz auf diesen Satz. Nicht nur war er vom Timing her perfekt gelungen, er war auch vom Inhalt so gebaut, dass Frau Muthmayer mit der Konstruktion ihrer Antwort genug zu tun haben würde, um sein unziemliches Anstarren zu vergessen.

„Ach, wissen Sie, ich habe an manchen Tagen nach dem Tod meines Vaters versucht ein bisschen Ordnung zu machen, Papiere durchzusehen, habe auch ab und zu, wenn es spät geworden ist, hier übernachtet, statt nach Hause, nach Hietzing zu fahren. Daher bin ich wohl davon ausgegangen, dass erst im letzten halben Jahr niemand mehr hier gewohnt hat. Wieso ist das wichtig?“

Alfred zuckte die Schultern. „Ach, nur so“, meinte er, „wegen dem Staub.“ Die Antwort war natürlich in keiner Weise befriedigend. Aber weder wollte Alfred näher auf seinen Lügendetektortest mit seinen Kunden eingehen, noch wollte er Näheres über die offenbar als Stadtabsteige verwendete Wohnung von Frau Muthmayer erfahren, in der er ein benutztes Präservativ im Küchenabfalleimer gesehen hatte – wohl kaum aus den aktiven Beständen des betagten Verstorbenen.

Nach dem Kaffee verspürte Frau Muthmayer Hunger und wählte nach langem Studium der Speisekarte und einem Tiefeninterview mit dem Personal eine Pizza ohne Mozzarella und mit frischem Gemüse. Dazu ein Glas Chianti, den sie ganz gut fand. Alfred pflichtete ihr bei und damit war der Weg zu weiteren Gläsern geebnet. Alfred leistete Frau Muthmayer mit der Bestellung einer ganz normalen Cardinale Gesellschaft. Bis die tellerüberhängenden Pizzaräder ihren Tisch erreichten, hatten beide mit dem Chianti bereits ausreichend zu einem Gesprächsklima beigetragen, das sich nach und nach von einer Geschäftsbeziehung zu einer vertraulichen Tischrunde gewandelt hatte. Frau Muthmayer berührte Alfred immer wieder am Arm, wenn sie einen besonderen Punkt in ihren Ausführungen nachhaltig unterstreichen wollte. Alfred war näher zu seiner Tischnachbarin gerückt, sodass er keine dieser zufälligen Berührungen missen musste. Frau Muthmayer, mit genügend Kinderstube aufgewachsen, um nicht mit vollem Mund zu sprechen, machte keine Anstalten, ihren Mund vollständig von Pizza zu leeren, bevor sie das Wort an Alfred richtete. Alfred sah das als einen gewissen Vertrauensbeweis, wenn eine Dame – und als solche schätzte Alfred Frau Muthmayer ohne Einschränkungen ein – sich in seiner Gegenwart ein bisschen gehen ließ.

Die verkohlten Reste ihrer Pizzen waren auf dem Teller zurückgeblieben wie die Trümmer eines sizilianischen Lehmdorfes nach einem Großbrand. Alfred bewunderte einmal mehr die Vielfältigkeit, wie Menschen sich an die Aufgabe heranmachen, mit in der Regel stumpfen Messern dicke Teigfladen zu zerteilen. Er selbst gehörte den Konzentrikern an. Unter dem Vorwand der Kalorienreduktion teilten diese die äußere Pizzakruste vom Mittelteil durch die Abtrennung eines mehr oder weniger breiten Außenrings und widmeten sich dem dick belegten Zentrum. Nach Beendigung dieser Hauptmahlzeit aßen sie meist mit den Fingern die verbliebenen trockenen Teile auf. Frau Muthmayer war eine penible Tortenschneiderin. Sie teilte die Pizza in saubere Tortenstücke und aß von deren Spitze in Richtung Außenrand. Dann gab es noch die Sekantentypen. Diese säbelten mit geraden Schnitten vom Rand her Stücke unterschiedlicher Größe und aßen sie entweder als händisch geklappte Sandwiches oder nach weiterer mundgerechter Zerteilung mit ihrer Gabel. Das Zwischenergebnis dieser Technik war ein sehr unregelmäßiges Polygon. Eine hierzulande seltene Gruppe waren die Amerikaner. Die zerrissen die Pizza mit der Hand und wickelten die auf diese Weise gewonnenen Einzelteile zu calzoneartigen Rollen meist beeindruckender Größe.