Die Bestsellerin - Josef Brainin - E-Book

Die Bestsellerin E-Book

Josef Brainin

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Beschreibung

Die gefeierte Autorin Gisela Berger bricht aus ihrem Erfolgsgefängnis aus und beginnt plötzlich anders zu schreiben. Als Ergebnis ihrer künstlerischen Entwicklung erscheint ihre Sprache jetzt manchen sperrig, ihre Figuren werden widersprüchlicher, die Texte sind weniger gefällig. Sie will nicht mehr länger die umgängliche Schriftstellerin sein, der begehrte Gast in Talkshows und Literaturzirkeln. Raimund Vogel, ihr Verleger, ist in Sorge. Die Verkaufszahlen könnten sinken. Wird die Starautorin wieder zu ihrer Form zurückfinden? Er greift zu ungewöhnlichen Mitteln… nur einmal zur Überbrückung... Gisela holt zum Gegenschlag aus und überrascht ihr Publikum, ihre Widersacher und die gesamte Branche mit Fantasie und Entschlossenheit. Genauso wie sich ihre Sprache ändert, verändert sich auch ihr Wesen. "Die Bestsellerin" ist eine kritische, humorvolle, sinnliche und einfühlsame Betrachtung des Literaturbetriebs aus der Sicht einer Frau, für die Erfolg nicht alles ist, das Schreiben jedoch ihr Leben bedeutet. Begriffe wie Autorenschaft, geistiges Eigentum, Urheberrecht und Plagiat beginnen in Zeiten digitaler Literatur zu verschwimmen. Was bleibt ist die Einsamkeit der Autorin, während sich Buchmärkte nach und nach in globalen Contentbörsenplätzen auflösen.

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Josef BraininDie Bestsellerin

JOSEF BRAININ

DIE BESTSELLERIN

ROMAN

Dachbuch Verlag

1. Auflage: März 2018Veröffentlicht von Dachbuch Verlag GmbH, Wien

ISBN 978-3-9504426-7-0

Copyright © 2018 Dachbuch Verlag GmbH, WienAlle Rechte vorbehalten

Autor: Josef Brainin

Lektorat: Nikolai UzelacKorrektorat: Lesley KirnbauerSatz: Daniel UzelacUmschlaggestaltung: Daniel UzelacAutorenfoto: Marie Jecel

Besuchen sie uns im Internetwww.dachbuch.at

Gewidmet Wilbirg und Annaund Mike, dessen frühe Begeisterung für das Manuskript zur zuversichtlichen Motivation für das Buch wurde.

Hauptbeschreibung

Die gefeierte Autorin Gisela Berger bricht aus ihrem Erfolgsgefängnis aus und beginnt plötzlich anders zu schreiben. Als Ergebnis ihrer künstlerischen Entwicklung erscheint ihre Sprache jetzt manchen sperrig, ihre Figuren werden widersprüchlicher, die Texte sind weniger gefällig. Sie will nicht mehr länger die umgängliche Schriftstellerin sein, der begehrte Gast in Talkshows und Literaturzirkeln.

Raimund Vogel, ihr Verleger, ist in Sorge. Die Verkaufszahlen könnten sinken. Wird die Starautorin wieder zu ihrer Form zurückfinden? Er greift zu ungewöhnlichen Mitteln… nur einmal zur Überbrückung...

Gisela holt zum Gegenschlag aus und überrascht ihr Publikum, ihre Widersacher und die gesamte Branche mit Fantasie und Entschlossenheit. Genauso wie sich ihre Sprache ändert, verändert sich auch ihr Wesen.

»Die Bestsellerin« ist eine kritische, humorvolle, sinnliche und einfühlsame Betrachtung des Literaturbetriebs aus der Sicht einer Frau, für die Erfolg nicht alles ist, das Schreiben jedoch ihr Leben bedeutet. Begriffe wie Autorenschaft, geistiges Eigentum, Urheberrecht und Plagiat beginnen in Zeiten digitaler Literatur zu verschwimmen. Was bleibt ist die Einsamkeit der Autorin, während sich Buchmärkte nach und nach in globalen Contentbörsenplätzen auflösen.

Autor

Josef Brainins Debüt-Roman »Der Staubleser« erschien 2013 im Braumüller Verlag und erreichte noch im selben Jahr die zweite Auflage.

Nach mehreren Berufsjahren in der Verlagsbranche kennt Brainin aber den Buchmarkt nicht nur als Autor, sondern auch aus der Sicht anderer Beteiligter. Nun liegt mit der »Bestsellerin« sein zweites Buch auf, das amüsanten Branchenzynismus übt, hellsichtige Konstrukte, reale Bedrohungen und irreale Fluchtmöglichkeiten entwickelt. Mit der ihm eigenen Sprachfreude gelingt es Brainin, ein nicht immer ganz ernstes, aber sicherlich ernst zu nehmendes Bild der Welt der Verlage, der Schreibenden und der Lesenden zu zeichnen, das vielleicht nicht ganz so ist, aber so sein könnte.

Die Bestsellerin

Anatol begann »auszufransen«, wie Gisela Berger manchmal von ihren Figuren sagte, wenn sie mit ihrer Arbeit unzufrieden war. Seine Handlungen waren nicht konsistent mit ihren eigenen Erwartungen. Anatol begann zu tun und zu lassen, was er wollte. Gisela beneidete ihre Schriftstellerkollegen, von denen sich viele gerne an reale Vorlagen hielten. Sie hatten kein Problem mit der Authentizität. Wenn jemand echt war, dann stellte sich die Frage nicht nach Glaubwürdigkeit der Person und Schlüssigkeit des Handlungsbogens. Greise Väter, Eishockeyspieler, Forscher und Entdecker, Familiengeschichten der Großmutter und die Dorfkinobesitzerin, alle waren durch akribische Recherche legitimiert.

Aber Anatol war Giselas Erfindung, die plötzlich ein Eigenleben begann, das von irgendwoher in ihre Tastatur geronnen war, ohne dass sie es kontrollieren konnte. Da war zum Beispiel seine oberflächliche Beziehung mit der Nachbarin, eine sexistische Girl-next-door-Situation, die jeder Lektor hinterfragen würde. Raimund hatte auch schon begonnen daran herumzukratzen. Anatols Charakter war rücksichtslos streitsüchtig bis zur völligen Vernichtung des Gegenübers. Wirtschaftliche und soziale Konventionen missachtete er weitgehend. Was für ihn zählte, war nur seine Arbeit als Fotograf. Dabei – und darauf legte Gisela sehr viel Wert – hatte Anatols Unangepasstheit ihre Wurzeln in seinem tiefen kryptoanarchischen Verständnis von Freiheit und damit in der Ablehnung von allem, was Anatol als spätkapitalistische Bürgerlichkeit bezeichnete.

Gisela war als Schriftstellerin zu erfahren und zu gewissenhaft, um sich damit zufrieden zu geben, dass diesmal einer wie Anatol ihr Protagonist war und nicht ein anderer. Es beunruhigte sie, wie wissend und eindringlich sie von den bedrohlichen Ahnungen und Motivationen ihrer Hauptfigur schrieb. Im Augenblick des Schreibens empfand sie das als absolut relevant und vertretbar. Später, beim Durchlesen, wunderte sie sich über die eigentümliche Farbe, die ihr Text angenommen hatte. Versuche, manche Passagen tiefgreifend zu überarbeiten, scheiterten. Stilistische Eingriffe, die Monologe und Dialoge verknappten, semantische Veränderungen, die die Intensität von Worten behutsam reduzierten, um auf diese Weise mehr Distanz zwischen sich und dem Text zu schaffen, machten das Ganze nur holpriger und die Lesbarkeit litt. Ihre eigene Unzufriedenheit trieb sie sogar dazu, die noch unfertigen Teile des Buches anderen vorzulesen, um Hinweise zu erhalten, wie sie Verbesserungen erreichen könnte. Die Ergebnisse waren naturgemäß nicht nur vielfältig, sondern auch unbefriedigend.

Je länger sich Gisela mit Anatol abgab, umso deutlicher zeichnete sich die Bedeutsamkeit seiner Lebensthemen für sie selbst ab und damit einhergehend, die Irreversibilität ihres neuen Stils. Gisela begann das nach und nach an der Ausweglosigkeit ihres eigenen Erfolgs festzumachen.

Sie hatte sich in über 20 Jahren schriftstellerischer Arbeit im deutschsprachigen Raum als Gisela Berger etabliert. Sie war eine Marke geworden, sie hatte ihre Zielgruppe und ihren Marktwert und funktionierte tagaus tagein so, dass sie ihren Marktwert kontinuierlich erhöhte. Selbstverständlich konnte sie mit ihren Möglichkeiten gegen diese Vereinnahmung ankämpfen. Sie tat das auch, wann immer sich dazu eine Gelegenheit bot. Sie hatte ihren Staatspreis dem Integrationshaus gestiftet, sie wurde bei der Demonstration gegen die Schwarz-blaue Regierung kurzfristig festgenommen. Sie hatte sich nie ein Blatt vor den Mund genommen, wenn es um Anliegen von Migrantinnen, um Opposition gegen Männerbünde, um zweifelhafte historische Ansichten zu Heimat und Vaterland ging oder um die erbärmliche Kulturpolitik. Aber immer wieder musste sie feststellen, dass alle ihre Anstrengungen nichts änderten, außer dass sich ihre Auflagen und die Anzahl der Angebote für öffentliche Auftritte erhöhten.

Jetzt schien endlich Bewegung zu entstehen. Wie ganz von selbst. So als hätte ihr Talent genug von der jahrzehntelangen Ausbeutung. Ihre Hauptfigur war nicht mehr ganz so gefällig und widersetzte sich den Korrekturmaßnahmen ihrer Schöpferin. Ihre Texte begannen sperrig zu werden. Manche ihrer Testzuhörer vermissten die Geschliffenheit ihrer Sprache, empfahlen eine Überarbeitung.

Gisela dachte nicht daran. Sie beobachtete sich selbst wie eine Fremde und ließ sich gewähren, hilflos und neugierig zugleich. Es war ihre eigene, sorgfältig trainierte Aufmerksamkeit, die sie nicht mehr nur ihren erfundenen Figuren, sondern endlich auch sich selbst angedeihen ließ.

***

Private Lesungen waren oft peinlich, weil die Distanz fehlte, die Anonymität. Öffentliche Lesungen waren für sie mittlerweile zu einem wirtschaftlich unentbehrlichen Erwerbszweig geworden, aber gewöhnt hatte sie sich immer noch nicht daran. Private Lesungen hatten ja nicht einmal eine finanzielle Motivation. Warum tat sie sich das also an? Warum bereitete sie sich vor, warum wählte sie die Passagen so sorgfältig, als ginge es um den Bachmann-Preis?

Weil sie Profi war, versicherte sie sich immer wieder, deswegen. Fehlerlos, auch in kleinen Dingen perfekt, zumindest besser als die anderen, das war ihr Ziel. Pünktliche Lieferungen von Texten und Korrekturen, zehn Minuten vor der Abfahrt des Zuges am Bahnhof, genaue Recherchen, präzise Antworten auf wirre Interviewfragen, das waren ihre Markenzeichen in der Branche.

Es war auch, was die Leser, meist ja Leserinnen, an ihr schätzten. Ein Handlungsbogen, der sich vereinbarungsgemäß modern an die in sich geschlossenen Sprachmodule schmiegte, der sich nach und nach offenbarte und die Leserinnen durch Einsicht und Erfahrung, vor allem aber durch die Aufmerksamkeit ihrer eigenen Vergangenheit gegenüber berührte. Die narrative Atemlosigkeit, sprunghaft geklitterte Kapitel und Bezüge, die sich erst später erklärten, eine Erzähltechnik, die sie auch in ihrem Vortrag widerspiegelte, verliehen dem Erlebten Authentizität.

Leser und Zuhörer waren mit einem fremden Schicksal konfrontiert, dessen Unerreichbarkeit nicht nur durch die zeitliche Entfernung vergangener Jahre, sondern auch durch die geografische Distanz in eine geheimnisvolle Wolke gehüllt blieb. Die Schilderung befremdlichen Brauchtums, der straffen Familien- und Dorfstrukturen und der Einsamkeit von Alpentälern, in denen mehr Geschichte zum Leben erweckt wurde, als ihre Abgeschiedenheit manchmal erwarten ließ, trugen nicht nur zum ethnografischen Verständnis eines aussterbenden Biotops bei, sondern hatten auch Giselas Sprache gefärbt.

Ihre beiden deutschen Verlage der letzten zehn Jahre hatten an ihren Texten gearbeitet, aber ihr eigener Duktus und die so typische Lautmalerei blieben unverwechselbar. Die charmante Eigenheit, bestimmte Präpositionen anders einzusetzen als herkömmliche Schulbildung forderte, manche archaisch anmutenden Konjugationen, die Zuhörer verunsicherten und angesichts der Autorität der bekannten Schriftstellerin an ihren eigenen Deutschkenntnissen zweifeln ließen, waren Teil ihres persönlichen Sprachraums. Dieser war jedoch der ständigen korrektiven Multiplikationsarbeit von Radio und Fernsehen ausgesetzt, die den Textraum ihrer Bücher nach und nach einengte. Dieser Prozess blieb Gisela nicht verborgen. Sie wehrte sich so gut es ging. Gekettet an ihr Medium Sprache, lebte die Entwurzelte mit der ihr eigenen Konsequenz das Leben einer Emigrantin. Jede Änderung oder Anpassung wäre entweder Verrat an ihrer Herkunft – der sprudelnden Quelle ihrer literarischen Legitimation – gewesen oder ein ernsthafter Einschnitt in ihren in die Jahre gekommenen Broterwerb.

Gisela sah sich um. Sie hatte sich zwar vorgenommen vor der Lesung nichts zu trinken, aber ohne Glas in der Hand fühlte sie sich in dieser zunehmend fröhlichen Abendgesellschaft verloren. Der Gastgeber, ein bekannter und erfolgreicher Rechtsanwalt, war ein Freund aus früheren Tagen. Er hatte zu seinem runden Geburtstag geladen und auch sie zu diesem Abend gebeten. Ob sie aus ihrem neuen Buch lesen wollte? Gerne, hatte sie gesagt, ohne nachzudenken. Dann, erst viel später hatte sie gefragt: Was für Leute kommen denn da hin? Ach, nur Freunde, hatte er gesagt und es vermutlich auch so gemeint. Gisela erinnerte sich an kerzenbeleuchtete Wohnungen und süßen Haschischgeruch in der Luft. Legionen von leeren Dopplern und Bierflaschen in der Küche und jemand hatte seine Gedichte vorgetragen. Alle hatten sie damals Bärte und rochen gleich. Manchmal, wenn man mit einem von ihnen auf einem der leintuchlosen Betten war, musste man schon genau schauen, welcher von ihnen das jetzt war. Alle waren sie damals schlank, langhaarig und leidenschaftlich. Gisela sah den Gastgeber an. Er trug sein Hemd aus der Hose und relativierte somit jenen Dresscode, den sich manche seiner Gäste ihm zu Ehren auferlegt hatten. Vielleicht hatte er es aber auch ein bisschen für sie gemacht. Ein Zeichen. Nein, ich habe nicht vergessen, wo wir herkommen. Auch nach all den Jahren nicht.

Ein Mädchen ging mit einem Tablett vorbei. Der kühle Weißwein tat gut. Was für ein Stimmengewirr. Gisela konnte ihr Gehör so einstellen, dass sie die Bedeutung von Worten ausblendete und alles Hörbare im Raum in einen mächtigen Geräuschstrom einfließen ließ. Und dann begann sie auf diesen Schwingungen akustisch zu reiten, hoch und tief, laut und leise bis ihr schwindlig wurde. Sie hielt ihr Glas fest und lehnte sich gegen die weiße kühle Wand. Eine Brandung umspülte sie. Sie war untergetaucht.

»Alles okay, Gisela?« Sie öffnete die Augen. Dieser kleine Satz hatte sich durch den Wirbel gekämpft und an das Ufer ihrer Wahrnehmung retten können, ohne fortgerissen zu werden.

»Ja, ja, danke – nur ein bisschen heiß hier.«

»Komm auf die Terrasse, dort ist es kühler.«

Gisela folgte dem Gastgeber dankbar. »Ja, hier ist es besser.«

»Wann können wir die Lesung machen, was glaubst du?«

Gisela dachte bei sich, dass er den Satz: Bevor alle zu betrunken sind… aus Höflichkeit ausgespart hatte. »Jederzeit«, log sie ein bisschen.

»Gut, dann sagen wir in fünf Minuten.«

Sie hatte ihre Chance gehabt. Er war nicht gewohnt, zweimal nachzufragen. Sie nickte.

Das Zimmer war viel zu hell. Die Menschen kamen langsam herein. Manche hatten sich noch rasch vom Buffet etwas zu essen mitgenommen, fast alle hielten gefüllte Gläser in den Händen. Man war zumindest kulinarisch vorbereitet, die Lesung über sich ergehen zu lassen. Der Gastgeber dankte allen für ihr Kommen und insbesondere Gisela Berger, die ihn davon enthoben hatte, eine Rede zu halten, die er anlässlich des eigenen Anlasses für durchaus erlässlich hielte. Gut und witzig formuliert, dachte Gisela, die darin ein nostalgisches Zeichen erkannte. Sich als Mitglied einer autoritätslosen Gruppe selbst zu loben, war schon immer uncool gewesen, auch wenn es damals noch nicht so praktisch bezeichnet wurde. Einzelne Gäste, die keinen Sitzplatz mehr gefunden hatten, suchten eine Lehnposition an einer Wand oder einem Möbel. Sie übernahm das Wort und setzte dort fort, wo ihre Vorstellung geendet hatte, bei ihrem neuen Roman, der im Sommer erscheinen würde.

***

Anatol versagte sich. Er war Objekt geworden, das zwischen den Geschehnissen seines Alltags Platz fand wie Dichtungsmaterial. Er füllte es aus, er dämmte. Seine Konturlosigkeit wurde von außen begrenzt. Präzise waren die Beschränkungen, nicht aber er selbst. Damit wurde er austauschbar. Eine reproduzierbare Figur. Gisela beschäftigte sich nicht mehr mit der Entscheidungsfreiheit des von ihr geschaffenen Subjekts innerhalb ihrer Erzählstruktur, die – je nachdem – dessen Scheitern oder dessen Erfolg beinhaltete. Vielmehr war sie mit der Unmöglichkeit eines solchen Romans konfrontiert, mit der absehbaren Ohnmacht des Protagonisten, die sich sprachlich und formal auch auf ihre Arbeit als Autorin auszudehnen begann.

Raimund war fassungslos. Gisela hatte sich ihm entzogen, so wie sich Anatol ihr entzogen hatte. Raimunds Misstrauen gegenüber Anatol war zu hemmungslosem Zorn geworden. Gleichzeitig wusste er, dass Gisela eine Schwelle überschritten hatte, die eine Rückkehr unmöglich erscheinen ließ. Wollte er Gisela Berger nicht vollständig verlieren, dann musste er sehr rasch an ihrer Neupositionierung im Buchgeschäft arbeiten. Das hieß die richtigen Rezensenten neu zu sensibilisieren und die bisherigen Berger-Fans unter ihnen vor Enttäuschung zu bewahren. Eventuell musste der Verlag schleunigst ausgewählte Neuauflagen im Schuber oder so etwas herausbringen und vor allem musste der Film vorangetrieben werden, der noch mehr Marktanteile bringen würde, bevor auch dieses Publikum durch Giselas neue Arbeiten vollständig verloren sein würde.

Raimund versuchte Gisela sehr feinfühlig seine kommerziellen Verlagsstrategien vorzutragen, hatte aber das Gefühl, dass sie ihm kaum zuhörte.

***

Gisela Berger war seit fast genau einem Monat 43 Jahre alt. Es war das erste Mal, dass sie zu Weihnachten nicht zuhause sein würde. Ihre Lesetermine in Hamburg und in Berlin waren dicht gestaffelt. Der Verlag wollte noch einen Impuls für das Weihnachtsgeschäft setzen. Es läuft gut, Gisela, hatte Raimund gesagt, sehr gut.

Ihre Mutter war traurig und gekränkt gewesen. Aber Gisela wusste, es war nicht nur die unerwartete Abwesenheit der Tochter von den Familienfeierlichkeiten, die sie traurig machte, sondern es war auch die routinierte Unterstützung dieser Tochter, die ihr bei den Weihnachtsvorbereitungen fehlen würde. Die Keksbackerei, der Hausputz, die großen Mahlzeiten, die Auswahl, Besorgung und das Verpacken der Geschenke, die langen Nachmittage mit den vielen Kindern aus der Familie, die Besuche und Gegenbesuche der Verwandten – all das waren die jährlichen Fitness-Benchmarks für eine alternde Frau, die von kritischen Familienmitgliedern beurteilt wurden. Analytische Bisse in das saisonale Traditionsgebäck, professionelle Blicke auf Polstermöbel, Teppiche und Vorhänge, Getuschel unter den Tanten, jede selbst am jährlichen Prüfstein der Familie. Wer würde die nächste sein, die die Verantwortung an die kommende Generation abgab?

Raimund war mit der Lesetour sehr zufrieden gewesen, musste aber dringend nach München und hatte sie seinem »lieben Freund Joachim, du kennst doch Joachim…« an den Hals geworfen, der sie für Heiligabend, wie sie hier sagten, in das Borchardt bestellt hatte. Joachim war freier Lektor für Raimund und Gisela kannte ihn vom Sehen. Sie hatten noch nie zusammen gearbeitet, aber er war bei ihren letzten beiden Lesungen in Berlin dabei gewesen und hatte ihr mehrfach gratuliert. Das war offenbar aus der Sicht Raimunds Legitimation genug, um sie zu einem Abend mit ihm zu »verdonnern«. Feiert nur schön, der Verlag übernimmt die Rechnung. Eine seltene Gelegenheit. Raimund sparte sonst bei allem. Einmal wollte er sogar unbeschriebene Rückseiten von unverlangt eingesandten Manuskripten als Notizzettel für den Verlag verwenden. Alle Verlage machen das so, hatte er gemeint.

Als Joachim dann kam, brachte er ein Geschenk mit. Es wäre doch Weihnachten, hatte er gemeint, während er ihr gegenüber in die Koje rutschte. Es war ein aus dem Slowenischen übersetzter Gedichtband, den er lektoriert hatte und der vom Karst und vom Meer handelte und somit eine Antipode zum nasskalten Berliner Heiligabend sein sollte. Der Umstand, dass etwas negiert wurde, was noch gar nicht stattgefunden hatte, irritierte Gisela. Die Avancen, die absehbar nach den Horsd'œuvres begannen, erhielten auf diese Weise eine Note der Unverbindlichkeit, auf die sie sich im Nachhinein lieber eingelassen hätte, als auf die tiefgehende Seelenöffnung, die nach der Hauptspeise einsetzte und bis zur Ankunft der Crème brûlées dauerte.

»Meine Frau feiert mit meinen Söhnen bei ihrem Bruder in London. Wir sind seit einem Jahr getrennt.« Cognac in gewärmten Schwenkern destillierte dann systematisch Sinn aus vielen und gehäuften Worten. Er wäre ja auch gerne Schriftsteller geworden, hätte aber diesen Druck zur Produktivität nie ausgehalten, die dauernde Verantwortung der Sprache gegenüber.

Eine Flasche Champagner versöhnte Karst mit Ku’damm, löschte Gesagtes und Befürchtetes und beschwor Berliner Verruchtheit und die Leichtlebigkeit der Bohème, der sich beide verpflichtet fühlten. Giselas Hotel war nicht weit genug vom Borchardt entfernt, um der kalten Weihnachtsluft ausreichend Gelegenheit zur Ernüchterung zumindest einer der beiden zu geben. Im Zimmer machten sie kein Licht und fielen hilflos über einander her, weil der diesjährige Heiligabend zu Ende zu gehen drohte.

***

Raimund war sehr gründlich. Gisela hatte lange gebraucht, bis sie sich daran gewöhnt hatte, dass sie eigentlich nicht für ihn, sondern für ihre Leser schrieb. Sie kannte ihre Leser nicht persönlich. Raimund war da. Er nahm Anteil, er wollte Genaueres wissen, er begnügte sich nie mit dem, was er bekam, so wie es ihr anonymes Publikum machen musste. Er wollte immer mehr. Erst wenn er zufrieden war, dann bekamen die Leser ihren Teil. Nach einer »Session« mit Raimund, wie sie es beide zunächst scherzhaft, dann immer ernster nannten, war Gisela erschöpft. Hätte sie noch geraucht, dann würde sie jetzt eine Zigarette rauchen und einen starken Kaffee trinken. So trank sie Wasser, viel Wasser und starrte auf den Ordner mit den gelochten Seiten und den bunten Stickern, die Textstellen markierten und oben und an der Seite vorwurfsvoll herausragten.

Als Raimund vor vier Jahren das Lektorat ihrer Texte von einer erfahrenen und begeisterungsfähigen Germanistin übernommen hatte, da hatte Gisela das als natürliches Interesse des Verlegers an seiner besten Einnahmequelle angesehen. Nach und nach entwickelte sich die gemeinsame Arbeit an ihren Texten jedoch zur Konfrontation zweier Menschen, die für beide immer intensiver wurde. Gisela schlief schlecht in der Nacht vor einem Raimund-Termin, wie vor einer Prüfung an der Uni. Sie begann seine möglichen Fragen zu antizipieren, sie legte Listen an, sie bereitete Argumente vor. Wie vor einem Seminar mit Donnenberg, ihrem Professor, der sie als Studentin nicht nur geschätzt hatte, sondern ihr auch immer mit Respekt gegenübergetreten war.

Ganz anders Raimund. Ausgestattet mit der ihm selbst verliehenen Verlegerlizenz tief in ihre Welt eindringen zu können, um sich frei darin zu bewegen, verließ er sie dann auch genauso ungehindert wieder, wenn er den Zeitpunkt als gekommen erachtete. Dabei nahm er auf wenig Rücksicht, auch wenn er manchmal – danach – versuchte, mit Entschuldigungen und Lob zu trösten und Schaden zu reparieren. Raimund behauptete immer, er sähe das als seinen Dienst an der Sache. »Wir wollen doch, dass es ein gutes Buch wird, Gisela.«

Sie war zu dem Schluss gekommen, dass es vollkommen unmöglich war, dass er bei der gezeigten Sensibilität für die Kraftfelder ihrer Worte, der kompetenten, tiefenpsychologischen Interpretation von Symbolhaftem und seinem fast zärtlichen Verständnis für die Schilderung von Gefühls- und Gedankenwelten ihrer Figuren, übersehen konnte, auf welchen energiegeladenen Schienen ihre Gespräche, ihre Sessions, abliefen. Wie konnte er sich auch nur eine Sekunde lang die Oberflächlichkeit anmaßen, dass ihr das entgehen könnte? Woher kämen denn dann all diese Sätze, diese Gedanken in ihren Texten? Glaubte er allen Ernstes, das wäre nur Handwerk, das sie so schreiben ließ? Oder noch schlimmer, glaubte er tatsächlich an die Wirksamkeit seiner spontanen Inspirationen und Anregungen? »Ich will mich ja nicht zu sehr einbringen, Gisela, es ist dein Text – nur ein Gedanke…« Er, der große Verleger sähe die großen Zusammenhänge, sie, die Autorin, wäre ein Werkzeug zu seinem intellektuellen Beitrag zur Welt.

Sie erkannte in seinem unnachgiebigen Ringen um Authentizität, in seinem Kampf gegen »Textballast«, wie er es nannte, eine unstillbare Sehnsucht nach eigener Erfüllung, gehemmt von der unbewältigten Angst vor seiner Mittelmäßigkeit und seiner eigenen Scham, sich bloß zu stellen. Die Negation ihrer Komplizenschaft war seine Abwehr zu einem Eingeständnis. Er hatte die Verlegergespräche mit seiner Autorin auf eine Ebene gehoben, die den Bezug zu ihm selbst verloren hatte. Gisela übernahm die Rolle, die ihr zugedacht war, genauso wie sie wusste, dass sie sich selbst mit ihren Texten immer einen Schritt hinterher sein würde.

Raimund hatte sich in die Figur des Anatol verbissen wie ein Kampfhund. Erstens mochte er den Namen nicht. Das wäre Schnitzler-besetzt und damit unbrauchbar. Auf diese Weise hatte er Anatol, Gisela begann jetzt schon selbst an dem Namen zu zweifeln, eine gehörige Portion seiner Identität genommen. Anatol begann als Figur zu schwanken, noch bevor er in seinen wirklichen Wesenszügen angegriffen worden war. Er wäre unglaubwürdig, eine solche Existenz war Bohème des vergangenen Jahrhunderts, heutige Leser könnten mit so einem Lebensmodell wenig anfangen… »Es wäre besser das zeitgemäßer anzupassen, nur ein Gedanke, Gisela, nur ein Vorschlag…« Sie wusste, warum Raimund das tat. Er erkannte in Anatol die alternative Lebensweise, der er sich versagt hatte. Er erkannte in Anatol die Bedrohung seiner eigenen Person. Raimund wusste: Gisela Berger hatte Anatol nicht erfunden. Gisela Berger kannte Anatol. Gisela Berger schlief mit diesem Anatol. Dass der Name Anatol genauso mit »A« begann, wie Arthur, war Gisela zunächst gar nicht aufgefallen.

***

»Du kennst doch Gisela Berger?«, fragte Raimund und tupfte sich affektiert den Mund, bevor er das Weinglas ansetzte.

Er sah das Gesicht von Joachim Ahling durch den Boden des Glases, verzerrt und rot, so wie es jetzt wohl auch ohne das Riedelglas aussehen mochte. Gisela hatte es ihm zwar nie erzählt, aber das musste sie auch nicht. Er wusste es einfach. Er wusste, dass Joachim und sie damals in Berlin die Weihnachtsnacht zusammen verbracht hatten. Der Abend war einfach dafür gemacht gewesen. Er kannte Gisela Berger, er las ja ihre Texte. Sie konnte keine Geheimnisse vor ihm haben. Und er kannte auch Joachim, der noch dazu damals in Trennung lebte. Joachim war es sichtlich unangenehm.

»Ja, klar kenne ich Gisela«, hörte Raimund durch das Echo seines Zweigelts und bewunderte Joachims Flucht nach vorne, der Bergers Vornamen gebrauchte und auf diese Weise offensiv Vertraulichkeit signalisierte. »Damals in Berlin. Wir wollten alle gemeinsam Weihnachten feiern, aber du musstest nach München. Da waren wir dann nur noch zu zweit.« Das eingestreute »nur noch« blieb dem textsensiblen Verleger als Beschreibung einer Situation mit vorhersehbarem Ausgang nicht verborgen.

»Ach ja. Jetzt erinnere ich mich.« Raimund nützte die große Stoffserviette, um sich die Testlüge von seinen Zweigeltlippen aus dem Gesicht zu wischen. »Ich brauche deine Hilfe, Joachim«, kam Raimund zur Sache.

Joachim Ahling hatte den ganzen Nachmittag im Verlag zugebracht. Raimund hatte ihm einen Text von Gisela Berger vorgelegt. »Das ist die Arbeit des ganzen letzten Monats«, hatte er gesagt, als er den dicken Stoß loser Seiten auf den Tisch legte. »Sie hatte vor das umzuschreiben, so wie wir es lang und breit besprochen hatten. Und das ist das Ergebnis: nichts! Oder fast nichts ist passiert. Sie ist der Meinung, diese Überarbeitung genügt.« Raimund hatte ihn bedeutsam angesehen und dann den Raum verlassen, leise und bedrückt, wie jemand, der ein Sterbezimmer verlässt.

Ahling hatte aufmerksam gelesen und war von vielen Passagen sehr berührt. Der Text handelte von einer beginnenden Liebesbeziehung: beide wissen noch nicht, dass es eine Liebesbeziehung werden wird, aber auf unaufdringliche Weise wird es dem Leser noch vor den handelnden Personen klar. Es ist der Erwartungswert, den die Konventionen der Erzähltechnik schaffen, der zunächst als Brücke zwischen Text und Wahrnehmung offen gelegt wird, deren Teile dann nach und nach sorgfältig demontiert werden, bis sie vollständig abgebrochen ist. Handlung und Abstraktion der Handlung sind schließlich voneinander isoliert. Eigene Sprachwelten beschreiben sie gesondert und liefern so eine narrative Dekonstruktion, die für die endgültige Hoffnungslosigkeit herkömmlicher Zweierbeziehungen stehen könnte. Ahling war atemlos.

***

Gisela öffnete die Wohnungstür. Wie spät war es überhaupt? Sie hätte sich die Hausschuhe anziehen sollen. Es täte ihm leid. Komm rein. Du stinkst. Tut mir leid. Ein Glas Wasser? Über ihr die dunkle Decke. Neben ihr sein Atmen. Draußen wurde es hell. Morgen, eigentlich heute: Termin mit Raimund. Er wollte ihr Manuskript sehen, wegen der Vertreterkonferenz. Vermutlich dann Abendessen. Hoffentlich nicht bei diesem affigen Italiener. Vielleicht war das seine Wagenbach-Marotte. Raimunds Partygag war es, in einem Atemzug über 30 Arten Pasta aufzuzählen. Sie wollte ausgeschlafen und bestens vorbereitet sein. Arthurs später Besuch hatte das verhindert. Raimund konnte sehr eindringlich fragen, auch wenn er den ganzen Text noch nicht gelesen hatte. Er kannte sie sehr gut. Er wusste, wo sie versuchen würde mit weniger durchzukommen. Er wollte immer alles. Er war unersättlich. War er das nur bei ihr? War das sein Versuch ihr näher zu kommen? Er stieß an ihre Grenzen. Sie wollte ihn nicht enttäuschen und gab nach, auch wenn es anstrengend und schmerzhaft war. Nachher fühlte sie sich besser, sie hatte ihm geben können was er wollte. Sie war froh, dass sie nie mit ihm im Bett gewesen war. Sein unnachgiebiges, verlegerisches Insistieren auf ihre vollständige literarische Eroberung war von einer ganz anderen Qualität als sein routiniertes Flirten, das eine tradierte, liberale Etikette von ihm, dem intellektuellen Bonvivant, zu fordern schien. Es war dieses Missverhältnis, das beide überrascht und rechtzeitig gewarnt hatte.

Arthur las ihre Texte, aber manchmal hatte sie das Gefühl, er verstand sie nicht ganz. Nicht weil er dumm war oder sich nicht für sie interessierte. Für ihn waren ihre Texte vollständig getrennt von der Frau, mit der er eine Beziehung hatte. Gisela machte sich dann Vorwürfe. Oft genug sah sie sich gestrandet zwischen den erfundenen Welten ihrer Figuren. War das nicht immer wieder ein Versuch, sich in ihrem eigenen Leben zurechtzufinden? Sie war einmal mehr daran gescheitert, ihre verschiedenen Welten zu einer zu machen. Raimund hatte seine Gisela Berger, die gefeierte Autorin und Arthur hatte seine Gisela Berger, die Frau, an deren Tür er um vier Uhr früh läuten konnte und die ihn nicht abwies.

***

Raimund war sprunghaft und unkonzentriert. Schon nach einer knappen Stunde hatte er um eine Verschiebung der Manuskriptbesprechung ersucht, er hätte schlecht geschlafen und wäre nicht bei Sache. Gisela war froh und verärgert zugleich, ganz ähnlich wie bei einem abgesagten Zahnarzttermin. Auch Raimund schien erleichtert. Nur so war seine plötzlich aufflammende Begeisterung zu erklären, als er Gisela von dem Filmprojekt erzählte. Ein deutscher Produzent wollte »Die Berufung« verfilmen und wäre für einen Tag in Wien. Raimund wollte, dass sie sich unbedingt und gleich morgen mit diesem Produzenten und dem Drehbuchautor treffen sollte. Er selbst müsste leider nach München, aber er witterte hier ein großes Geschäft für den Verlag. Der Termin mit Herrn Giesecke war für Nachmittag in der Bar im Intercont vereinbart. Giesecke hätte so viele Gespräche in Wien zu führen, da wäre es doch das Einfachste…

Gisela Berger war pünktlich und erriet ihre beiden Gesprächspartner mühelos. Ein gestikulierender Mann, der an seinem Handy hing und ein Langhaariger mit einer dieser eckigen kleinen Brillen, die ihr dickes Glas in so enge schwarze Rahmen presste, dass man die Augen kaum ausmachen konnte. Das musste Fehlsdorf sein. Andreas Fehlsdorf, der Drehbuchautor.

Giesecke hatte sein Telefonat beendet, noch während sie auf seinen Tisch zusteuerte und stand mit ausgebreiteten Armen da, als ob er sie hier und jetzt an sein Produzentenherz drücken wollte. Gisela erinnerte sich an Raimunds Warnung, dass Produzenten in der Regel kein Herz hätten. Gieseckes Lächeln schien das verheimlichen zu wollen. Statt der befürchteten Ganzkörperumarmung kam es zu einer Kollision zweier Hände im Luftraum über dem Kopf von Fehlsdorf, der tatsächlich so kurzsichtig war, dass ihn das Manöver völlig überraschte. Er sprang auf und sein Kopf verfehlte den Knäuel der sich umklammernden zehn Finger nur knapp.

Gisela sah, dass Fehlsdorf ein sehr großer, elegant gekleideter Mann war, dessen lange schwarze Haare weit über seinen Hemdkragen hingen. Fehldorfs Augen waren zwei dunkle Knöpfe hinter dem Verkleinerungsglas, das seine getönte Brille abgab. Die Hand, mit der er, so wie jetzt, wohl hunderte Male am Tag sein Gesicht von seinen Haaren befreite, senkte sich und hing ihr hüfthoch zur Begrüßung entgegen. Gisela griff nach ihr und spürte eine erstaunlich weiche Haut.

»Frau Berger, was für eine Freude, Sie zu sehen«, kam die Stimme Gieseckes hinter dem hoch aufragenden Fehlsdorf hervor, der sich mittlerweile ganz umgedreht hatte und seine Körpertorsion mit seiner anderen Hand an der Fauteuillehne abstützte. Gisela umrundete Fehlsdorfs eingefrorene Stehpirouette gegen deren Drehrichtung, setzte sich in den freien Sessel und schlug ihre Beine übereinander. Fehlsdorf rotierte erleichtert in seine ursprüngliche Körperhaltung zurück und nahm Platz.

Giesecke nützte sein Stehen, um einen der Kellner auf sich aufmerksam zu machen, der sich zum Tisch bewegte, als wäre er auf Barbituraten.

»Kaffee, ja?«

Giesecke zeigte auf Gisela und wippte aufmunternd mit seinem Kinn in ihre Richtung, als hätte er seine Showbusiness-Karriere in einem Souffleurkasten begonnen. Gisela, derart unter Druck genommen, nickte, und der Kellner, offenbar geschäftsavers, wollte den Tisch schon verlassen, als Giesecke ihm noch zwei Mineralwasser abpresste.

Giesecke setzte sich und das lange in der Luft gehangene »So!« platzte über dem Tisch wie eine Piñata. Die Lächeln froren in den Gesichtern, und Giesecke gefiel sich darin Gisela anzustarren, als wäre sie sein ganz persönliches Geschenk, eben dieser Piñata entsprungen. Sein Blick glitt gönnerhaft über Giselas Schuhe, Beine, Rock und Jacke, verharrte möglicherweise etwas länger als an anderen Stellen an ihrer Brust und setzte dann den Scan über ihr Gesicht in ihre Haare fort und fokussierte dann ihre Augen. Das zweite »So!« war unabwendbar, aber Giesecke verlängerte dessen Nichtigkeit noch mit einem »Da wären wir also«, was in Gisela erste Zweifel an dessen Beurteilung von Dialogstellen aufkeimen ließ.

Der zurückgekehrte Kellner hantierte auf dem winzigen Tisch mit sehr viel unnötigem Silberbesteck und ließ in dem würdigen Rahmen schwerer Keramik einen unpassenden Thermopapierstreifen zurück, dessen Tendenz sich schamhaft einzurollen, er durch ein nasses Wasserglas zu verhindern wusste.

Was folgte, war eine längere Präambel Gieseckes, die Gisela Bergers Arbeit als Schriftstellerin würdigte, seiner Freude über jedes ihrer Bücher Ausdruck verlieh und darin endete, dass er seit seiner ersten Begegnung mit Marlies in »Die Berufung« – Gisela bemerkte, dass er innerhalb gesprochener Anführungszeichen nicht deklinierte – besessen wäre von der Idee, dieses Buch zu verfilmen. Was sie davon hielte? Zunächst fiel ihr auf, dass die Besessenheit für den begeisterten Sofortleser ihrer Bücher, als der sich Giesecke darstellte, offenbar schon eine geraume Zeit untherapiert angedauert haben musste; das Buch war vor rund zehn Jahren erschienen. Dann wunderte sie sich, was ein Mann wie Giesecke an der zerbrechlichen Marlies fand. Er schien ihr eher begeistert von Dralligkeit und Draufgängertum als von ephemeren Gedankengängen einer Vereinsamten auf dem Rückzug aus der Gesellschaft und schließlich aus dem Leben. Ihre Frage nach der Filmtauglichkeit des Stoffes wurde mit einer kurzen Kopfbewegung in Richtung des schweigsamen Fehlsdorf beantwortet.