Der Stillstand - Jonathan Lethem - E-Book

Der Stillstand E-Book

Jonathan Lethem

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Beschreibung

»Das Besondere an den besten Lethem-Romanen ist, dass sie so viel Spaß machen.« The Guardian Seit dem Stillstand lebt Journeyman zurückgezogen mit seiner Schwester Maddy auf einem Bio-Bauernhof in Maine. Der Stillstand kam plötzlich. Autos, Waffen, Computer und Flugzeuge funktionierten nicht mehr und schon war die Gesellschaft im Eimer. Was ganz okay ist, bis Todbaum mit seinem irren Atom-Gefährt auftaucht. Hochamüsant, äußerst gegenwärtig - Lethem at his best! Vor dem Stillstand hatte Journeyman ein gutes Leben, nun hilft er dem Metzger von East Tindwerwick in Maine und liefert die Lebensmittel aus, die seine Schwester Maddy auf ihrer Bio-Farm anbaut. Doch dann taucht sein alter Freund Todbaum wieder auf, mit einem Fahrzeug namens Blue Streak: einem atombetriebenen Tunnelbagger. Todbaum ist einer der mächtigsten Männer in Hollywood, seine Motive sind unklar, aber seine Art ist so unangenehm wie eh und je. Was auch immer Todbaume vorhat, es könnte an Journeyman liegen, ihn aufzuhalten. Der Stillstand vereint knisternde Prosa, schnellen Witz und ein großes Herz.

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Seitenzahl: 300

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Dies ist der Umschlag des Buches »Der Stillstand« von Jonathan Lethem, Ulrich Blumenbach

Jonathan Lethem

Der Stillstand

Aus dem Amerikanischen von Ulrich Blumenbach

TROPEN

Impressum

Die Arbeit des Übersetzers an dem vorliegenden Buch wurde mit einem Stipendium der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia gefördert.

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Tropen

www.tropen.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Arrest« im Verlag HarperCollins, New York

© 2020 by Jonathan Lethem

Für die deutsche Ausgabe

© 2024 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Zero-Media.net, München

unter Verwendung einer Illustration von © Juli Scalzi/Arcangel

Illustration auf S. 60: © DC Comics, in: Superman’s Pal, Jimmy Olsen, Nr. 133, Oktober 1970, Cover: Jack Kirby.

Illustration auf S. 307 mit freundlicher Genehmigung von STUDIOCANALFilms Ltd. Fotograf John Brown.

Das Zitat auf S. 7 stammt aus Sandra Simonds Atopia (Wesleyan University Press 2019).

Die Zitate aus dem Kopfkissenbuch der Sei Shōnagon folgen der Übersetzung aus dem Japanischen durch Michael Stein (Manesse 2015).

Gesetzt von Dörlemann Satz, Lemförde

Gedruckt und gebunden von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-608-50242-8

E-Book ISBN 978-3-608-12250-3

Für Anna

Siehst du genau hin, ist ein Käfig vor allem aus Luft –

Wovor muss man da

also Angst haben?

Ein Käfig aus Luft. Baudelaire hat gesagt,

Poe hielt Amerika für einen riesigen Käfig.

Für die Dichterin ist eine Nation ein großer Käfig.

Und ist die Nation nicht vor allem mit Luft gefüllt?

Versuch, einen Käfig um deinen Traum zu bauen.

Der Käfig entkommt dem Traum.

Ich sehe ihn flitzen und fließen.

Sandra Simonds, Atopie

I.

Dienstag

1

Frostaufbrüche

Der Straßenverlauf folgt dem Diktat der Landschaft. Einst und jetzt wieder ein Reitweg, ist er nicht geglättet oder begradigt worden, sondern schlängelt sich durch die Hügel. Er klettert und kippt, übernimmt ihre Form. Hier sieht man etwas erst kommen, wenn es schon da ist. Sollte etwas erwähnt werden, das blindwütig unterwegs ist, na gut. Warte nur. Was sich zu deiner Stadt windet, erreicht sie, wann es will.

Sträuben sich dir die Nackenhaare? Schau dich um. Vieles existiert ungesehen. Die Krähen in den Baumkronen zum Beispiel – du hörst sie, kannst sie aber nicht ausmachen. Dein Auge gilt vor allem dem Weg, du achtest auf deine Schritte auf dem unregelmäßigen, unterhöhlten Asphalt. Verstreute … Eicheln vielleicht? Schrothülsen? Die können es nicht mehr sein. Vielleicht Losung. Am Straßenrand niedrige, aus abgeräumten Feldsteinen aufgestapelte Mauern. Das Rotwild ist zurück oder war nie weg. Alles hängt davon ab, wo du hinschaust.

Hinter den Städten verläuft die Straße in Kurven nach Süden, eine Schlangenlinie vom Festland über zwei heute verfallene Dämme auf die Halbinsel. Eine Ader im Fleisch des alten Landes, führt die Straße zur Hauptstraße der Fischerenklave auf der südlicheren der beiden Inseln, die von der Spitze der Halbinsel in den Atlantik baumeln. Ein Hummerstädtchen, dessen Hafenmolen ein halbes Jahrhundert lang in der Hand von Kunstgalerien und Restaurants waren, einer Eisbude voller schokoladenüberzogener Waffelkegel. Jeder kann da vorbeigekommen sein, sei es auch nur ein einziges Mal, und über die Touristen gemurrt haben. Jetzt ist es wieder ein Fischerdorf. Mit Pferd oder Fahrrad zwei Stunden von der Steinbruchsiedlung entfernt.

Zu weit. Vergiss die Hummerfischer, die sich alle Jubeljahre mal blicken lassen. Die anderen, hoch zu Pferde, die sich Kordonisten nennen, die muss man erahnen, abwarten, vermeiden. Sie riegeln die Süd- und Westgrenzen ab, den Landweg aufs Festland. Heute kann man von der Halbinsel nur noch auf dem Seeweg fliehen.

Auf dem verrosteten gelben Warnschild an der Landstraße steht FROSTAUFBRÜCHE. Ein semantisches Rätsel. Nicht der Frost bricht auf, sondern er bricht die Straße auf. Gab es eine bestimmte Verwerfung, einen Buckel in einer ansonsten glatten Fläche, der einst das Aufstellen des Warnschilds geboten hat? Heute besteht die ganze Straße aus Frostaufbrüchen. Vor langer Zeit hat jemand, der eine Kugel übrig hatte, auf das Metallschild geschossen. Die ewige Überraschung, dass die Kugel hindurchgegangen und nicht stecken geblieben ist.

Vielleicht ist Frost in Wahrheit ein Mensch, der Dichter, den wir an der Highschool durchgenommen haben. Frost bricht den Geist auf. Seine Straße lief auseinander, unsere nicht. Wobei – läuft nicht jede Straße, die man in zwei Richtungen entlanggehen kann, von Anfang an auseinander?

2

Der See der Müdigkeit

Journeyman verließ das Dorf an diesem Tag Richtung Norden, um einem seiner beiden regelmäßigen Jobs nachzugehen. Er machte seine Runden zu Fuß, weil sein Fahrrad in Reparatur war. Er war kein Reiter, obwohl er notfalls hätte reiten können. In Sommerlagern in den Poconos hatte er ein paarmal auf einem Pferd gesessen. Doch was er im ersten Teil seines Lebens gelernt hatte, nützte ihm im zweiten nicht viel. Dieses Leben war nicht das, was er sich früher ausgemalt hatte.

Zu Journeymans Job gehörte es, den Mann zu besuchen, der am See der Müdigkeit lebte. Er hatte ihm Lebensmittel und andere Sachen wie Kerzen und handgesponnene Zahnseide zu bringen. Wobei es kein Problem war, die Päckchen einfach oben an der Straße zu deponieren; der Gefangene kam dann hoch und holte sie ab. Eine Art Gefangener. Nichts hinderte ihn daran, über diesen Punkt hinauszugehen, an dem der Weg von seiner Hütte am See auf die wichtigste Verkehrsader der Halbinsel stieß. Es gab nur die Vereinbarung zwischen dem Mann und der Stadt, dass er sich dorthin ins Exil zurückgezogen hatte. Der Mann hieß Jerome Kormentz und war schon im fortgeschrittenen Alter. Wo sollte er schon hin?

Die Straße zum See der Müdigkeit war längst überwachsen, das wuchernde Gras verbarg die Reifenspuren in der Mitte und an den Seiten des alten Schotterbetts, ein perfekter botanischer Schummelscheitel. Im Schatten des dichten Laubs war die Luft trocken und kühl, was an heißen und sonnigen Tagen in jeder Hinsicht bemerkenswert war. Journeyman sollte sich später daran erinnern. Ein paar Krähen waren ihm von der Hauptstraße gefolgt. Vielleicht waren es auch andere Vögel. Er war nicht gerade ein begnadeter Krähenkundler.

Der Pfad weitete sich zu einer Lichtung. Im früher sorgfältig gemähten Rasen kräuselten sich jetzt dieselben Gräser, die auch im Schotterbett wuchsen, dazu spontane Setzlinge, die als Bäume das Land zurückerobern würden, wenn sie nicht ausgejätet wurden. Hier wollte alles Wald werden. Als er, das Stadtkind, besuchshalber in Neuengland gewesen war, hatte er das von dichten Wäldern gesäumte Weideland für eine natürliche Landschaftsform gehalten. Eine ansprechende Abwechslung von Dichtem und Spärlichem, Schattigem und Sonnigem. Heute wusste er, dass jede Lichtung in Maine ein gewaltiges menschliches Unterfangen festhielt, das in der Regel auf Bauern des 18. und 19. Jahrhunderts sowie ihre Nachbarn zurückging. Ein stiller Krieg gegen das Wachstum, der einst gewonnen und inzwischen größtenteils wieder verloren worden war.

Die Hütte stand unten am Ufer, ein Steg lief ein Stück ins Wasser hinaus. Der See der Müdigkeit war eigentlich ein großer Teich, war ihm mal erklärt worden. Eine Sache von Zufluss und Abfluss oder deren Fehlen.

Kormentz kam ihm von der Hütte entgegen. Das machte er immer, obwohl Journeymans Besuche keinem Zeitplan folgten. Er begrüßte ihn überschwänglich: die Arme so ausgebreitet, dass sich die behaarten Handgelenke aus dem Kimono schoben, um ihm die Hände zu drücken. Er stürmte den Hügel hoch, obwohl er ein alter Mann war und sein Besucher, wenn auch nicht jung, so doch jünger. Mittleren Alters. Und obwohl sie dann beide zusammen wieder zur Hütte hinuntergingen.

Wenn Journeyman Jerome Kormentz’ Gesicht sah, musste er innerlich immer justieren, wie alt er geworden war, obwohl er ihn erst seit fünf Jahren kannte. Das Ergebnis nützte sich schnell ab. Später sollte Journeyman darüber nachdenken, wie er diese Wahrnehmung an diesem speziellen Tag bei Kormentz trainiert hatte, weil er sie nur wenige Stunden später an einem anderen Menschen anwenden sollte, den wiederzusehen er nie erwartet hatte.

3

Die Zeit mitteln

So nannte Journeyman das: die Zeit mitteln. Es war kein kompliziertes Konzept. Vielmehr kam es unbewusst zur Anwendung, wenn man jemanden sah, den man schon lange kannte, aber nur in großen Abständen zu Gesicht bekam. Es war eine automatische Gesichtsbearbeitung des Verstandes. Zum Zeitmitteln konnte es auch bei jemandem kommen, den man als Kind oder Teenager gekannt hatte – etwa bei einem Neffen oder einer Nichte.

Es funktionierte folgendermaßen: Man sah sie. Sie kamen einem schockierend alt vor. Oder waren – wenn es sich um Kinder handelte – erschreckend gewachsen. Man fragte sich unwillkürlich: Wohin war die Zeit verschwunden? Bin ich selbst auch alt? Hatten sie mit derselben Verwirrung zu kämpfen, während sie einem lächelnd sagten, man sähe prima aus? Dann kam das Zeitmitteln zur Anwendung. Im Kopf hatte man eine Ablage früherer Versionen, und wenn man die miteinander verschmolz, wurde der jetzige Mensch eine Fortsetzung seiner Altfassungen. Man stöberte ihre Schönheit und Unverdorbenheit auf und fügte sie nahtlos ins Bild ein. Wenn der Betreffende, so wie jetzt Jerome Kormentz, schon richtig alt war, musste man ihn halt ein bisschen aufpäppeln. Bei einem Teenager fand man das Kind, das noch unter der Oberfläche des Gesichts lauerte.

Am meisten mitteln wir die Zeit bei ehemaligen und aktuellen Geliebten, sagte sich Journeyman immer. Natürlich. Bei Geliebten und Geschwistern. Seine Schwester zeitmittelte er praktisch täglich, obwohl sie sich ständig sahen.

Hätte man Journeyman vor dem Stillstand gesagt, ihm stünde ein Leben bevor, in dem er seine Schwester fast täglich sähe, hätte die Vorstellung ihn wohl verstört.

Journeymans Meinung nach war das Zeitmitteln kein schwieriges Verfahren. Es ließ sich, ganz im Gegenteil, gar nicht vermeiden. Er nahm an, dass es auch beim eigenen Spiegelbild zur Anwendung kam, auch wenn das die Theorie etwas verflachte. Allerdings interessierte er sich dieser Tage nicht für Spiegel. Das Verblüffende war nicht das Zeitmitteln an sich, sondern dass es winzige Zeiträume gab, in denen es noch nicht stattgefunden hatte. Jene seltenen Augenblicke, in denen wir die Dinge so sahen, wie sie waren.

Journeyman ging davon aus, dass wir mit der Welt genauso umsprangen. Das musste einfach so sein.

4

Das Kopfkissenbuch des Jerome Kormentz

Journeyman war durchschnittlich groß, aber Kormentz gegenüber kam er sich als Hüne vor. Er hatte den anderen immer mit einem Fischmann assoziiert; er hatte Glupschaugen, schürzte die immer lächelnden Lippen, seine Unterlippe war ein Valentinsherz, und die schütteren Haare kämmte er fast unsichtbar über den Schädel zurück. Je älter Kormentz wurde, desto mehr verstärkte sich dieser Eindruck, trotz des Zeitmittelns. Auf dem Höhepunkt der Ähnlichkeit würde er eines Tages vielleicht in den See der Müdigkeit springen, sich erschauernd in einen Goldfisch verwandeln und verschwinden. Bei seinem Hang zur Mystik war das nicht ausgeschlossen.

»Guten Morgen, Sandy!« Journeyman hieß Alexander Duplessis, wurde aber von den meisten Sandy genannt. Seine Schwester hatte den Familienspitznamen in der Gegend verbreitet, bevor er etwas dagegen tun konnte.

»Hallo, Jerome.«

»Geschichtenerzähler, erzähl mir eine Geschichte.« Kormentz’ Standardspruch.

»Ich bin für dich so wenig ein Geschichtenerzähler wie für sonst wen, Jerome.«

»Nein, du bist jetzt der Schlachter. Hast du mir ein mageres Kotelett mitgebracht? Ein Stück von irgendjemands Lieblingslamm namens Fleckchen oder Gänseblümchen?« Er trippelte neben Journeyman her, als sie zu seiner Terrasse gingen.

»Ich hab Schweinefleisch dabei. Sollte sich für eine Suppe eignen.«

»Aber wie hieß das Schwein? War es ein Eber oder eine Sau? Hast du es selbst geschlachtet? Hast du dich langsam daran gewöhnt? Du weißt doch, wie ich nach Namen dürste, Sandy. Nach etwas für meine Hirnsuppe. Auf die Leute kann ich verzichten, wenn du mir nur ihre Namen nennst. Die Leute erfind ich mir dann schon selbst.«

»Ich hab tatsächlich eine Geschichte für dich«, sagte Journeyman. »Ed Waltz hat’s geschafft, einen Trecker mit einer Mischung aus menschlichen Fäkalien und dem Altöl aus Mike Raritans Fritteuse ein paar Meter weit übers Feld fahren zu lassen. Er glaubt, das könnte das Rezept sein.« Die Kordonisten hatten fahrtüchtige Motorräder. Niemand kannte das Geheimnis ihres Treibstoffs, aber ihre Mühlen stanken wie Scheißhäuser.

»Ed und Mike, das ist doch mal ein Anfang. Was ist mit Sarah und Jennifer und Penny? Was ist mit Susan? Hast du was von Susan zu erzählen? Sind Neue in die Jurte gezogen?«

»Ich weiß nicht genau, wen du meinst. Die einzige mir bekannte Susan gehört zu den Weggezogenen.«

»Schade.«

»Ich hab dir das hier mitgebracht.« Journeyman schnürte seinen Rucksack auf, ein Relikt aus dem Davor. Auf den Riemen stand in verblichenen Buchstaben TELLURIDE FILM FESTIVAL 2020. Er hatte ihn als Werbegeschenk bekommen. Jeder Gast hatte in seinem Hotelzimmer einen solchen mit Criterion-Blu-rays und anderen Merchandises vollgestopften Rucksack vorgefunden. Ob die anderen inzwischen auch solche Flecken hatten, vom Blut frischgeschlachteter Enten und Schafe getränkt oder mit dem ausgelassenen Schmalz des Schweinefleischs in den Einmachgläsern beschmiert, die Journeyman jetzt auspackte? Er zog auch einen mit einem Gummiband zusammengehaltenen Bund Karotten heraus – das Gummi machte er zur Wiederverwendung ab –, ein paar lose Zwiebeln und Knoblauchknollen. »Da lässt sich eine prima Suppe draus kochen«, sagte er. »Besonders, wenn du Pilze suchen warst.«

»Du musst ein Buch für mich finden, Sandy.«

»Welches denn?«

»Das Kopfkissenbuch der Sei Shōnagon. Ein altes japanisches Buch aus dem 10. oder 11. Jahrhundert, soweit ich weiß.«

»Kopfkissenbuch?« Das hörte Journeyman gar nicht gern. »Wie der Film mit Doris Day? Ach nee, der hieß Bettgeflüster.«

»Sandy, du bist ein Kulturbanause. Das ist ein Klassiker der japanischen Literatur. Die Verfasserin war eine Hofdame der Kaiserin. Im Alter hat sie ihre Erinnerungen aufgezeichnet, aber nie an eine Veröffentlichung gedacht. Na ja, vielleicht hat sie ein bisschen mit der Nachwelt geliebäugelt. Früher konnte ich ganze Passagen daraus auswendig – heute ist das leider alles futsch. Ich weiß noch, dass es herrliche Kategorien enthielt, Listen à la ›Was groß besser wirkt‹, ›Was einen trostlosen Anblick bietet‹ oder ›Was mir banges Herzklopfen bereitet‹.«

Jerome Kormentz, der sich zu einem seiner Räusche aufschwang: Das gehörte zu den Dingen, die Journeyman banges Herzklopfen bereiteten. Er hatte dann immer das Gefühl, verantwortlich zu sein, auch wenn es gar keine Zeugen gab. Ihn störte, dass Kormentz ständig »fernöstliches« Zeug heraufbeschwor. Mit fernöstlichem Zeug hatte er die beiden Teenager auf der Spodosol Ridge Farm umgarnt, was ihm letzten Endes dieses schnucklige Exil eingebracht hatte. Auf dem Ohr für fernöstliches Zeug war Journeyman taub. Jedenfalls für das Zeug, mit dem westliche Esoteriker, die sich für erleuchtet hielten, einen vollsülzten. Er sehnte sich nur nach Sushi-Restaurants, Wong Kar-Wais Filmen und alten japanischen Samuraifilmen von Kurosawa und Kobayashi. Ihr Anblick quälte ihn in den Regalen der Stadtbibliothek, wo er wohl bald hinmusste, um Kormentz sein Kopfkissenbuch zu besorgen. Die örtlichen Tüftler hatten leider weder Zeit noch Lust, am Prototyp eines fahrrad- oder fäkalienbetriebenen DVD- oder Blu-ray-Players herumzufrickeln.

»Ich schreibe an meiner eigenen Version«, sagte Kormentz in Journeymans Schweigen. »Das Kopfkissenbuch des Jerome Kormentz. Seine Chancen, auf die Nachwelt zu kommen, stehen zwar genauso schlecht wie bei Sei Shōnagon, aber man weiß ja nie.«

»Reimt es sich?«

»Nein«, sagte Kormentz. »Wie kommst du darauf?«

»Sind nicht die meisten Sachen, die auf die Nachwelt kommen, Lieder oder Epen? Wie die Odyssee. Und den Song von Chuck Berry haben sie sogar ins All geschossen.« Gespräche mit Kormentz holten oft skurrile Fakten ans Licht, von deren Existenz in den Tiefen seines Gedächtnisses Journeyman gar nichts geahnt hatte. »Egal. Worum geht’s denn in deinem Kopfkissenbuch?«

»Lies Sei Shōnagon, bevor du sie mir bringst, dann weißt du Bescheid. Das sind einfach die reinsten Eindrücke gelebten Lebens, ohne jede Rechtfertigung.«

Damit war klar, wo das hinführte. »Ich schau mal rein«, sagte Journeyman säuerlich. Er hatte das restliche Gemüse und das Einweckglas mit Ziegenmilchjoghurt ausgepackt, das seine Schwester immer für Kormentz zurücklegte. Nichts hielt ihn mehr hier. An anderen Tagen wäre er vielleicht noch für einen Schwatz geblieben, aber heute nicht.

»Ich war immer ein liebevoller Mensch«, faselte Kormentz drauflos. »Das wussten alle. Ich hab gedacht, es wäre lieb und nett, ein Licht, das ich auf der Farm verbreiten wollte. Ich liebe Frauen, Sandy. Ich habe ihnen das Gefühl der Unwiderstehlichkeit gegeben. Alle wussten, dass ich sie gern angefasst, ihnen die Hand ins Kreuz gelegt hab …«

Journeyman kannte die alte Leier: die Hand im Kreuz. Noch heute schwelgte Kormentz im Augenblick seines Untergangs. Das hatte seine Verbannung an den See der Müdigkeit mindestens ebenso herbeigeführt wie sein Vergehen selbst – die Tatsache, dass er nicht aufhören konnte, darüber zu reden.

5

Der Stillstand, wie Journeyman ihn sah

Ohne jede Warnung, abgesehen von jeder erdenklichen Warnung, war er gekommen: der Stillstand. Der Zusammenbruch, die Abschottung und Umbesetzung von allem, der vertrauten Welt, wie Journeyman sie sein Leben lang gekannt hatte.

Die Zukunft hatte sich nämlich angekündigt. Die immer schon gegebene, aber wie alles andere auch ungleich verteilte Zukunft – wie Brot, Begabung und Sex, wie Pappelfeigen, Niembäume, Aloen und alle anderen Pflanzen, die nachts Sauerstoff abgaben, und wie der seltene Spodosolboden, nach dem sich das Landwirtschaftskollektiv von Journeymans Schwester benannt hatte. Der Stillstand produzierte sich als jetzt schon vergangen. Wie eine ausgegrabene Zeitkapsel.

Das war verwirrend. Und es sollte verwirrend sein. Hatte Journeyman die Welt verstanden, in die er hineingeboren worden war – ihre Prämissen, ihre Parameter, ihren Plot? Nein. Wie sollte er dann ihre Veränderungen begreifen?

Ließ sich überhaupt genau sagen, wann der Stillstand angefangen hatte? Die Frage war, wie man auf ihn aufmerksam geworden war. Vieles blieb unbemerkt. Halbierte Artenvielfalt? Riss kaum wen vom Hocker. Abgeschmolzene Polkappen und das Versinken von Miami? Schrecklich, aber auch zu groß, um es persönlich zu nehmen. Eines Tages fielen Journeyman Berichte von einer neuen, von Zecken übertragenen Krankheit auf. Bei den Infizierten führte der Verzehr von Rindfleisch zum Kehlverschluss. Kein Tomahawk-Steak aus amerikanischem Wagyu-Fleisch für zwei mehr, außen schwarz und innen rot. Die Leute witzelten unbehaglich. Waren die neuen Zecken ein ökoterroristischer Anschlag? Der eine sagte im Fernsehen, der Wendepunkt sei gewesen, als der Präsident 1986 die Solarzellen vom Weißen Haus hatte entfernen lassen. Der andere sagte, der Wendepunkt sei gewesen, als Paulus’ Brief an die Römer zugestellt und ignoriert worden sei. Der Scheiß ließ sich endlos diskutieren.

Nur im Fernsehen nicht mehr. Spätestens hier hatte der Stillstand Journeymans volle Aufmerksamkeit bekommen. Er spitzte die Ohren und bemerkte den Tod der Bildschirme. Sie starben nicht alle auf einmal, aber sie starben in hellen Scharen, wie die Geschöpfe der erwärmten Weltmeere, wie die Hunderte von Seekühen, die nur wenige Wochen zuvor in Boca Grande an genau dem Tag an den Strand geschwemmt worden waren, an dem Journeyman sie für überflüssig befunden und den Feed gelöscht hatte. Er hatte die Seekühe entfolgt. Nichts für ungut.

Als Erstes starb das Fernsehen. Es erkrankte an einem hämorrhagischen Leiden, Ebola oder irgendeiner anderen fleischschmelzenden Seuche. Die Programme bluteten, die Signale verschmolzen zeitenübergreifend, aber auch im virtuellen Raum, die Live-Ausstrahlung einer Rod-Serling-Folge von Playhouse 90 aus dem Jahr 1956 erlag ihren letzten Zuckungen mitten in den Episoden der zweiten Staffel von Big Little Lies. Der Vietnamkrieg kam genauso zurück wie Family Ties. Bis auch das alles aufkochte und zerschmolz.

Gmail, SMS, Wischen, FaceTime, Tweets und dergleichen erlitten einen Völkerkollaps. Boten fanden die Route zum Bienenkorb nicht mehr oder verkümmerten dort und stießen bei Arbeiterinnen wie Drohnen auf keinerlei Interesse mehr. E-Mails produzierten plötzlich keinen Honig mehr.

So viele Ökologien waren abhängig von Bestäubung, vom Kommen und Gehen der auf einmal erschöpften Drohnen und Arbeiterinnen. Ohne sie lief gar nichts. Klimaanlagen fielen aus und Flugzeuge vom Himmel. Der Honig von Mails und SMS war offenbar der Klebstoff gewesen, der die Welt zusammengehalten hatte. Jetzt siechten die smarten Geräte an Kümmerkrankheiten dahin und mussten auf flache Weiden verfrachtet werden, wo sie ihr Gnadenbrot verzehren konnten. Dort gingen sie in die Knie und verhungerten, weil sie das Grasen verlernt hatten.

Die Leute wischten weiter auf Smartphones herum und tatzten auf Tastaturen ein. Die einen versuchten, sprachgesteuerte Geräte per Mund-zu-Mund-Beatmung wiederzubeleben. Die anderen rieten zu Fixes und Workarounds. Mystisch Veranlagtere legten Handys oder Fernbedienungen nachts unter ihre Kissen oder bauten Schreine, in denen sie die Geräte mit Kristallen umgaben und hofften, auf diese Weise ihre Lebensgeister zu reanimieren. Andere saßen wie Journeyman nur weiter vor ihren erloschenen Bildschirmen und weinten in regelmäßigen Abständen. Manchen Leuten musste man wie ihm schließlich einen Becher Kräutertee reichen, während jemand anders die alten, untätig gewordenen elektronischen Spielsachen versteckte.

Eine Sonneneruption?

Ökoterrorismus? Terrorterrorismus? Rache der vom Aussterben bedrohten Arten? Revolution?

Hatte Journeymans Zivilisation ihren Zenit überschritten?

Die Sterne erloschen nicht einer nach dem anderen.

Die USA wurden nicht durch etwas Neues ersetzt. Sie wurden durch den Ort ersetzt, an dem man sich gerade aufhielt. Durch den Ort, an dem man sich rein zufällig gerade befand, als der Stillstand eintrat, der nach einigen Fehlstarts schließlich über Nacht kam. Wurde er woanders überhaupt Stillstand genannt? Journeyman hatte von solchen Spekulationen die Nase voll. SEI JETZT HIER; WO DU BIST, IST DAS ZIEL; ALLE POLITIK IST LOKAL: Alle Autoaufkleber waren in dem Augenblick wahr geworden, als man die Wracks in die Straßengräben geschoben hatte, um Platz für andere Fortbewegungsmittel zu schaffen. Irgendein Witzbold musste weltweit Zucker in die Tanks gekippt haben, jedenfalls war das Benzin etwas geworden, das wie geschmolzener Kuchen ohne Mehl aus den Tankstutzen quoll.

Schusswaffen dagegen funktionierten noch monatelang, noch fast ein Jahr nach dem ursprünglichen Stillstand. Dann starben auch sie und kippten um wie Milch bei Gewitter. Die Patronen explodierten nicht mal mehr, wenn man mit dem Hammer draufschlug – Journeyman war bei Versuchen dabei gewesen.

Benzin, Patronen und geschmolzenen Kuchen ohne Mehl konnte man in den Wind schreiben. Kaffee konnte man sich abschminken. Schluss mit Bananen und Rihanna, mit Father John Misty, mit der Cloud, mit Newsfeeds über Kernschmelzen am anderen Ende der Welt, mit Seekühen, im Meer versunkenen Städten und anderen Tragödien, die Journeyman mit schlechtem Gewissen nicht betrauert hatte. Dafür her mit solarbetriebenen Entwässerern, Regenwasserkollektoren auf dem Dach, Bohnen, Kohl und Winterkürbissen. Her mit Kompostklos, Fäkaliendünger, Tötungskegeln, Federrupfern und Ausweidungsmessern. Gewöhn dich daran, eine kreischende Ente in den Teich zu jagen und dann zum Tötungskegel zurückzuschleifen. Daran, der Spülbursche des Schlachters zu sein.

Hatte Journeyman gewusst, dass Ställe traditionell rot gestrichen wurden, damit man die Blutflecken nicht so sah? Nein. Seit dem Stillstand hatte er Versäumtes nachgeholt, Handbücher gebüffelt, Bauernkalender und Saatgutkataloge gepaukt und alte Taschenbücher von Michael Pollan studiert. Konnte er auf seine alten Tage noch auf Bauer umschulen? Nein, was Hänschen nicht gelernt hatte, lernte Hans nimmermehr. Ohnehin wimmelte es auf der Halbinsel nur so von kompetenten Biobauern, die die Regiotarierbewegung hergelockt hatte. Seine Schwester gehörte dazu.

Deshalb arbeitete Journeyman für den Schlachter Augustus Cordell, spülte die blutigen Stahltische und sammelte Innereien und Fleischabfälle für Victorias Wurstproduktion. Ihre Erzeugnisse – ihre Sommerwurst, Salami und Blutwurst – wurden auf der ganzen Halbinsel geschätzt, waren aber auch wichtig für den Tauschhandel mit den Kordonisten. Wie sich nur fünf Minuten später herausstellen sollte, wäre Journeyman froh gewesen, wenn er ein Päckchen davon in seinem Telluride-Film-Festival-Rucksack dabeigehabt hätte, als er den zugewucherten Feldweg wieder zur Hauptstraße hochgestiefelt war.

6

Ein alter Freund

Als Journeyman aus dem Wald auf den sonnengefleckten alten Asphalt trat, schrieb er das seltsame Summen zuerst Bienen oder Bremsen zu, verwechselte es mit der insektendurchsummten Waldlichtung. Der Tag war noch von seltsamer Vollkommenheit. Journeyman war Kormentz’ Monolog entkommen und hatte Lust, das Buch zu suchen, um das der Gefangene ihn gebeten hatte. Es beschäftigte seine Fantasie. Außerdem war er ein bisschen in die Frau verschossen, die in die Bibliothek gezogen war – jetzt hatte er einen guten Vorwand, sie zu besuchen.

Es waren keine Bienen. Ein Trupp von Kordonisten näherte sich auf der Straße, und das Summen wich unregelmäßigeren Geräuschen, dem Knattern ihrer Fäkaliengefährte. Journeyman erkannte es, unmittelbar, bevor die Biker auftauchten. Zwei Scheiße-Harleys. Dahinter zwei Männer auf Pferden. Die vier waren der Vortrupp für etwas anderes. Hinter ihnen grummelte ein Gewitter auf der Straße.

Journeyman stand da und blinzelte, als sie abstiegen. Er kannte einen der Fahrer, der sich Eke nannte. War das eine Abkürzung von Ezekiel, Ekediah oder einem noch längeren Namen? Das wusste Journeyman nicht. Er schätzte Eke auf Ende zwanzig. Seine Haare waren nach hinten gegelt und an den Seiten trendig kurz geschoren, obwohl er den Stalaktitenbart eines Kordonältesten trug.

»Mr Duplessis.« Die Kordonisten sprachen Mitglieder aus Journeymans Gemeinschaft immer so förmlich oder pseudoförmlich an. Eke zumal wandte sich ungestraft an Männer, die Jahrzehnte älter waren als er, oder jedenfalls an Journeyman. Er bohrte auch vor ihm in der Nase – auch das ein im Grunde unnötiger Beweis, dass die Förmlichkeit seiner Anrede mehr pseudo als sonst was war.

»Hallo, Eke.«

»Genau Sie hab ich gesucht. Welch ein Glück, Sie hier auf der Straße anzutreffen.«

»Ich freu mich auch, dich zu sehen, Eke, wobei ich nicht mit dir gerechnet habe. Ich hab nichts dabei.« Zu diesem Zeitpunkt dachte Journeyman noch, es ginge um Wurst oder anderen Proviant.

»Darum geht’s heute nicht.«

»Sondern?«

»Sie sind gut zu uns, Mr Duplessis. Wir verlangen nicht mehr als unseren gerechten Anteil.«

»Was kann ich dann für dich tun?«

»Wir haben da was Schräges. Und Sie und Ihre Schwester haben damit zu tun. Wären Ihre Namen nicht gefallen, wären wir wahrscheinlich nicht hier.«

»Da komm ich nicht mit.«

»Wir sind da auf einen Typ mit ’ner Art Auto gestoßen.« Er deutete auf die Straße hinter ihm. Die anderen Männer und auch Eke selbst sahen kurz in die Richtung, aus der sie gekommen waren, als hätte Eke ihre Köpfe mit unsichtbaren Fäden an seine Hand gebunden.

»Ein funktionierendes Auto?«

Eke schüttelte zögernd den Kopf, um anzudeuten, dass das Definitionssache sei. »Nichts, was sich irgendwer unter einem Auto vorstellt. Es ist riesig. Eher so ’ne Art Panzer. Ein Superauto, könnte man sagen.« Ein Ausdruck, der hängenbleiben sollte, wie Journeyman später feststellte: Superauto. Vielleicht eine unvermeidliche Bezeichnung. »Er steigt da nicht von runter und sagt, er redet nur mit Sandy Duplessis oder Madeleine Duplessis. Er wusste sogar, wie die Farm von Ihrer Schwester heißt.«

»Wie jetzt … ihr habt ihn nicht aus seinem Auto gekriegt?«

»Da hätten wir’s wohl für sprengen müssen. Was wir übrigens quasi vorhatten, nur fing er dann eben an, Ihren Namen runterzubrüllen. Harter Brocken, sag ich Ihnen. Nicht, dass wir Angst vor ihm hatten, das nun nicht. Einige finden, wir sollen ihn dahin zurückschicken, wo der Pfeffer wächst, aber ein paar andere finden, kann ja nicht schaden, wenn man sich mal anguckt, wie die Karre funktioniert, falls wir ihn da ohne Dynamit rauskriegen. Aber wir dachten uns, Sie und Ihre Schwester wollen sich vielleicht erst mal anhören, was er zu sagen hat, bevor wir eine Entscheidung treffen.«

»Runtergebrüllt?« Journeyman konnte sich kein Bild davon machen. Außerdem fiel ihm etwas auf, das ihn ablenkte: Zwei der Kordonisten trugen Verbände. Der eine einen richtigen Höcker am Übergang vom Hals in die Schulter. Hatten die eine Art Schlacht hinter sich? Stammten die Verletzungen vom Versuch, dieses Superauto zu knacken? Oder steckte hinter ihren Märchen von immer wieder angreifenden Horden doch mehr, als Journeyman ihnen bisher abgekauft hatte?

»Er sitzt ganz schön hoch«, sagte Eke. »Sehen Sie gleich.« Er warf einen Blick über die Schulter. Und jetzt hörte und sah es auch Journeyman. Noch nicht das Auto selbst, das steckte noch hinter ein paar Kurven, aber sein Belfern erzeugte eine sichtbare Staubwolke im ruhigen und sonnigen Nachmittagshimmel. Eke wirkte irgendwie verunsichert von dem anrückenden Ding, das er zu beschreiben versucht hatte.

Was fühlte Journeyman bei seiner Immanenz, an jenem Dienstag seiner Ankunft, bevor es ins Blickfeld kam? War er auch verunsichert?

Bestimmt. Aber mehr als das. Journeyman spürte ein bitteres Zucken des Mannes, der er gewesen war. Jemand in einem »Superauto« hatte sich auf ihn berufen? Vielleicht war Journeyman ja mehr als nur der Gesandte des Städtchens am See der Müdigkeit, mehr als nur der Spülbursche des Schlachters. Vielleicht hatte er auf dieser Halbinsel ja noch eine wichtigere Aufgabe.

»Und dieser Mann – kannte der wirklich meinen Namen?« Die Sache musste einen Haken haben. Die Staubwolke kam näher. Davon abgesehen, stand die Zeit still. Eine Krähe hüpfte von Ast zu Ast und warf Schattenflecke auf die sonnengetüpfelte Straße. Hätte Journeyman länger mit Jerome Kormentz geklönt, wäre ihm die seltsame Karawane entgangen. Vielleicht hätte Eke an Journeymans Stelle dann eine andere Zufallsbegegnung in die Sache hineingezogen.

»Ja, Mr Duplessis. Da gab’s kein Vertun.«

»Hat er auch gesagt, wie er heißt?«

Eke kratzte sich mit starken Fingern ausgiebig den Bart. »Ja, hat er. Peter Todbaume. Hat gesagt, Sie kennen ihn.«

7

Die Starlet Apartments, Teil 1

Als Peter Todbaume und er vierundzwanzig waren und Yale seit zwei Jahren hinter sich hatten, hatte er ihn eine Weile aus den Augen verloren.

Damals hatte Journeyman noch keinen Spitznamen gehabt und das damit einhergehende Urteil noch nicht akzeptieren müssen.

Er lebte in New York City, war bei Farrar, Straus and Giroux angestellt und schrieb Kurzgeschichten, die keiner drucken wollte, als sich Todbaume wieder bei ihm meldete. Der hatte sich in der Zwischenzeit einen Agenten besorgt, war nach Hollywood unterwegs und wollte Journeyman als Co-Autor an einem Haufen Ideen dabeihaben, die er angeblich schon entwickelt und auf Herz und Nieren geprüft hatte. Er sollte nur noch für den letzten Schliff sorgen. Journeyman, nicht William Goldman oder Nora Ephron. Todbaume würde ihnen eine Wohnung in Burbank besorgen, wo sie zusammen leben und Treatments raushauen konnten, ein großes Abenteuer, genau wie Yale, nur ohne das ganze sinnlose Yale-Zeug, dafür aber mit deutlich mehr Kokain. Journeyman war sofort dabei.

Sie zogen in die Starlet Apartments, einen klassischen Wohnkomplex aus den Dreißigern, der sich um einen Pool herumzog. Monatsmietverträge, eine kunterbunte Mischung aus lang- und kurzfristigen Mietern und jede Menge leer stehende Wohnungen. Der Komplex lag im Schatten der hohen Mauern der Warner-Brothers-Zentrale. Todbaume flachste, der Name stamme daher, dass die Anlage in den Mittagspausen traditionell als eine einzige große Besetzungscouch gedient hätte, und wahrscheinlich lag er damit gar nicht so falsch.

Die beiden verkrochen sich im Starlet und schusterten am Pool oder in der schäbigen Suite im ersten Stock bei voll aufgedrehter Klimaanlage ihre Projekte zusammen. Abends klapperten sie mit dem ausrangierten BMW von Todbaumes Vater die Bars von West Hollywood ab, kippten Jägermeister und baggerten Frauen an, die oft deutlich älter waren als sie. Erfolg hatten sie damit nie, aber das kratzte sie nicht, weil sie sich und ihre Projekte sowieso für die Größten hielten. Alle paar Tage rief Todbaumes Agent an und fragte, wie sie mit der Arbeit vorankämen; er scharrte mit den Füßen, weil er sie bei »guten Studios« unterbringen wollte, sobald das Material ausgereift war. Also ignorierten sie die halbe Zeit ihre Umgebung, brainstormten selbst völlig benebelt vom deutschen Kräuterschnaps in den Bars weiter an ihren Ideen für Drehbücher und Fernsehsendungen oder arbeiteten Seite an Seite in ihren Liegestühlen, während die anderen jungen Mieter der Anlage sie in den Pool zu locken versuchten.

Besoffen oder verkatert, Journeyman verbiss sich in die Aufgabe. In seinen Augen waren Todbaume und er mindestens Billy Wilder und Charles Brackett; Todbaume war der Stussschwätzer, er der Turbotipper. Todbaume umkreiste Journeyman, spulte ganze Epen selbstverliebter Improvisationen ab, ahmte Stimmen nach, änderte abrupt Dialogzeilen oder Figurennamen und zwang Journeyman, auf ihrer Canon Typestar hastig endlose Zeilen durchzuixen. Dann riss er ihm die Seiten aus der Hand, kritzelte weitere Verbesserungen darauf oder zerknüllte die Blätter und schmiss sie in die Ecke. Sie nagelten ein Drehbuch zusammen, einen Horrorfilm, der auf einer von Journeymans unveröffentlichten Erzählungen beruhte, und vier oder fünf lange Treatments, zum Gutteil seichte, beknackte Komödien mit Blick auf gerade angesagte Stars, wie Carrey, Martin oder Murphy.

Ihr Lieblingsprojekt aus Todbaumes unerschöpflichem Vorrat an »Killer Pitches« war ein Science-Fiction-Film, dem er den Titel Noch eine Welt gegeben hatte. Eine Mär über alternative Albtraumerden, eine Art Cyberpunk-Extrapolation aus dem Kalten Krieg der Fünfzigerjahre, in der sich die Welt in zwei Welten gegabelt hatte. Die eine war eine Version ihrer eigenen Realität, die andere eine orwellsche Technikdystopie. Am Anfang der Geschichte entdeckten die beiden Welten ein Portal, über das sie kommunizieren konnten (die technischen Details dieser Kommunikation hatte Todbaume offengelassen; die sollte Journeyman sich ausdenken). Noch eine Welt war auch eine Liebesgeschichte mit einem unüberwindlichen Hindernis: Ein Mann aus der dystopischen Cyberpunk-Welt (vorzugsweise Harrison Ford, aber Bruce Willis stand auch zur Debatte) verliebte sich in eine Naturwissenschaftlerin aus ihrer Welt (Todbaumes erste Wahl war Michelle Pfeiffer; er fand, mit Brille sähe die einfach scharf aus).

Mit ihren Drehbüchern und Treatments klopften die beiden jungen Männer ein Leben fest, das zwanzig Jahre lang, mit nur wenigen Unterbrechungen, Journeymans Alltag bleiben sollte. Sprich, Todbaume redete, Journeyman tippte, und am Ende griffen sie eine schöne Stange Geld ab. Kormentz hatte also nicht komplett danebengelegen, als er Journeyman einen »Geschichtenerzähler« genannt hatte. In seinem ersten Leben, in der Welt vor dem Stillstand, hatte Journeyman tatsächlich mit Geschichten seine Brötchen verdient.

Anfangs verkauften Todbaume und Journeyman nichts von dem, was sie im Starlet ausheckten, aber sie präsentierten ihre Ideen wieder und wieder in zahllosen Meetings. Sie brillierten mit Fehlschüssen, die oft genug nicht nur knapp daneben waren und außer Telefonkonferenzen, wochenlangem Warten oder Bitten um das Überarbeiten von Einzelheiten nur selten mehr als einen Gratiskaffee zur Folge hatten. Am Ende dieser Phase waren alle Kunden in der Kartei von Todbaumes Agenten abgegrast, aber zwei Dinge hatten sich herauskristallisiert. Erstens konnte Journeyman, der stille Tastaturtiger, auf Zuruf Unmengen des Materials produzieren, das der Treibstoff dieser Stadt war. Zweitens hatte Peter Todbaume eine Gabe; seine Schnabelschnelligkeit konnte Sitzungsräume in verheißungsvolle visionäre Ekstase versetzen, auch wenn die bislang noch verpuffte, sobald er gegangen war. Aber immer wieder meinten Entwicklungsmanager nach einem Treffen mit den beiden unmissverständlich, Todbaume sollte ihren Job haben. Irgendwann hatte er ihn dann. Und Journeyman arbeitete die nächsten zwanzig Jahre vorwiegend für ihn.

Im letzten der fünf Monate, die die beiden Männer im Starlet wohnten, machte Journeymans Schwester ihren Abschluss am Baginstock College an der Küste von Maine, einer kleinen, aber feinen Uni mit geisteswissenschaftlichen Schwerpunkten – vielleicht, weil sie anders als Journeyman nicht an die traditionelle Uni der Familie gehen wollte. Madeleine war nur zwei Jahre jünger als ihr Bruder, ein Altersunterschied, der sich in der Atmosphäre der folgenden Jahrzehnte verflüchtigte: ihrem ernsten Leben und seinem unernsten. Seine Rolle als großer Bruder war vielleicht aber noch wichtig gewesen, als sie Peter Todbaume und ihn im Starlet besucht hatte.

Journeyman war klar, dass Maddy seine Einladung angenommen hatte, um nicht wieder »zu Hause« zu landen, auf Fishers Island, wo ihre Eltern den Ruhestand verlebten, nachdem sie die Kids ins Studium abgeschoben hatten. Vielleicht hatte Maddy ihre Zeit an der Atlantikküste für eine Weile satt. In den Hauptfächern hatte sie Umweltwissenschaft und Ozeanografie studiert und war im letzten Uni-Jahr vom Campus in ein Kollektiv gezogen, das sich der Biolandwirtschaft verschrieben hatte. In Los Angeles hatte sie nichts Besonderes vor, erst recht nicht in der Unterhaltungsindustrie, aber was braucht man mit 22 schon außer Neugier? Und was sollten zwei junge Drehbuchschreiber gegen eine attraktive Schwester einzuwenden haben, deren Begleitung sie bei ihren Streifzügen durch das Nachtleben von West Hollywood wenigstens nicht als komplette Vollflops dastehen ließ?

Maddy hatte ihre volle Größe erreicht. Vielleicht hatten aber auch ihre Kommunarden sie zum aufrechten Gang ermuntert und ihr eingeschärft, sich ihrer Statur nicht zu schämen. Sie war größer als ihre Eltern (die schon schrumpften) und auch größer als Journeyman und Todbaume, als der zu ihrer Begrüßung aufstand. Todbaume und sie waren sich in Yale nie begegnet, und als sie jetzt in die Wohnung kam, nur mit einem Tramper-Rucksack als Gepäck, in Tanktop und Hotpants, merkte Journeyman sofort, dass sie auf Todbaume wie ein Stromstoß wirkte.

»Das haut ja den stärksten Eskimo vom Schlitten. Was ist das denn für ’ne Kingsize-Granate?«, sagte er mit seiner Cary-Grant-Stimme. Todbaume war ein guter Stimmenimitator, auch wenn er meist auf Kinofossile zurückgriff, die inzwischen nach imitierten Imitaten klangen: Peter Lorre, John Wayne und dergleichen. Dann wieder sprach er mit einer tiefen und aggressiven Stimme, die Journeyman nicht einordnen konnte, bis Todbaume ihm erklärte, das wäre die seines Vaters. Ein paarmal hatte er aus Jux und Dollerei auch eine unheimliche Nachahmung von Journeymans Stimme hingelegt, bis der ihn gebeten hatte, das zu lassen.

»Peter – Madeleine«, sagte Journeyman wie auf einer Erstsemesterparty.

»Ja, Tach auch«, sagte Todbaume. »Nach den Erzählungen vom Sandmann hier hab ich einen kleinen Schlammhippie erwartet. So ’ne Art zugewucherten Gartenzwerg.« Todbaume dachte sich ständig Spitznamen aus, und Journeyman war unter anderem der Sandmann – teils eine Abwandlung seines Vornamens, teils eine Anspielung auf seine Gewohnheit, auf Partys oder während Todbaumes Satzkaskaden einfach wegzupennen.