Der wilde Detektiv - Jonathan Lethem - E-Book

Der wilde Detektiv E-Book

Jonathan Lethem

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Beschreibung

Als die arbeitslose Phoebe Siegler erfährt, dass die Tochter ihrer besten Freundin vermisst wird, bricht sie von Brooklyn aus auf, um in der kalifornischen Provinz nach dem Teenager zu suchen. Im dunklen Herzen der Wüste trifft sie auf Aussteiger, die jenseits von Recht und Gesetz in Stammesgruppen leben. Der Einzige, der ihr Zugang zu diesen ehemaligen Hippie- Kommunen verschaffen kann, ist Charles Heist – genannt der "wilde Detektiv". Nach dem Wahlsieg von Donald Trump kündigt Phoebe Siegler ihren Job bei einem Radiosender, weil sie sich mit schuldig fühlt, dass es so weit gekommen ist. Als sie der Hilferuf ihrer Freundin Rosalyn erreicht, fliegt sie nach Kalifornien, um deren Tochter Arabella zu finden. Sie landet in einer Stadt am Rande der Wüste, zu deren merkwürdig zusammengewürfelten Bewohnern auch Charles Heist gehört, den sie den wilden Detektiv nennt. Ihre gemeinsame Suche führt die beiden in die gefährliche Gesellschaft der Stämme, die dort ohne Stromversorgung autonom leben. Während Phoebe und der wilde Detektiv mehr über das verschwundene Mädchen herausfinden, geraten sie in immer größere Lebensgefahr. All dies in einer Zeit, in der es wegen Donald Trump und des Todes von Leonard Cohen sowieso nicht viel zu feiern gibt.

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EPUB

Seitenzahl: 350

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Jonathan Lethem

Der wilde Detektiv

Roman

Übersetzt von Ulrich Blumenbach

Impressum

Die beiden Motti auf S. 6 stammen aus folgenden Quellen:

Jorge Luis Borges, Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Band 6: Der Erzählungen zweiter Teil. David Brodies Bericht / Das Sandbuch / Shakespeares Gedächtnis. Übersetzt aus dem Spanischen von Curt Meyer-Clason, Dieter E. Zimmer, Gisbert Haefs, herausgegeben von Gisbert Haefs, Fritz Arnold. München 2001.

Dawn Powell, Das Glücksrad. Ins Deutsche übertragen von Karen Lauer. München 1999.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Tropen

www.tropen.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

»The feral detective« im Verlag Doubleday, New York

© 2018 by Jonathan Lethem

Für die deutsche Ausgabe

© 2019 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Gestaltung: Zero-Media.net, München

MOTIV U1: © Getty Images/E+/peeterv, Iconica/Mike Harrington

MOTIV U4: © FinePic®, München

Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde

Printausgabe: ISBN 978-3-608-50385-2

E-Book: ISBN 978-3-608-11077-7

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Inhalt

Teil I

Der Schwemmkegel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Teil II

Der Berg

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Teil III

Die Wüste

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Teil IV

Nacht und Morgen

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Teil V

Cobble Hill

Kapitel 44

Kapitel 45

Teil VI

Berg, Schwemmkegel, Wüste

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Teil VII

Desert Hot Springs

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

Danksagungen

Zur Erinnerung an

Michael Friedman

Arden Reed

Dan Icolari

»Ich weiß wohl, dass die Yahoos ein barbarisches Volk sind, vielleicht das barbarischste des Erdkreises, doch wäre es ungerecht, bestimmte Züge zu vergessen, die sie erlösen. Sie haben Institutionen, erfreuen sich eines Königs, bedienen sich einer auf Gattungsbegriffen fußenden Sprache, glauben wie die Hebräer und die Griechen an den göttlichen Ursprung der Dichtung und ahnen, dass die Seele den Tod des Leibes überlebt. Sie bekräftigen die Wahrheit der Strafe und des Lohns. Kurz: Sie stellen die Kultur dar, wie wir sie trotz unserer vielen Sünden darstellen. Ich bereue nicht, in ihren Reihen gegen die Affenmenschen gekämpft zu haben.«

Jorge Luis Borges, David Brodies Bericht

»Gut, sagt man sich, angenommen, hier gibt es keine Taktik, keine Täuschung, aus welchem Motiv heraus hat dieser Mann hier kein Motiv?«

Dawn Powell, Das Glücksrad

Teil I

Der Schwemmkegel

Kapitel 1

Ich kam zwanzig Minuten zu spät zu meinem Termin bei dem wilden Detektiv, weil ich zweimal an dem Haus vorbeifuhr. Am helllichten Tag, an einem breiten und flachen Morgen in einem Mietwagen mit GPS, das mich nur quasi im Stich ließ. Stärker ließ mich das Gefühl im Stich, das mich beim Anblick des Hauses überkam. Das Gefühl nämlich, dass dieses Haus fürs Dranvorbeifahren wie geschaffen war und dass mein Fuß deshalb das Bremspedal nicht fand. Weiß verputzt mit rotholzverkleideten Säulen und einem Terrakotta-Ziegeldach. Der erste Stock hatte einen Umlaufgang, den man über eine Treppe vom Parkplatz aus erreichte. Alle Fenster waren vergittert.

Die Beschilderung an den verschiedenen Türen bestand entweder aus billigem Plastik oder einfach vertikal bedruckten Schildern, die man durch Ösen an die Säulen genagelt hatte. Auf einem stand nur tattoos, auf einem anderen wellness. Oben krieger-sutra körperpiercing. Im Fenster der Wellness-Oase leuchtete vor zugezogenen Vorhängen ein rot-blauer Neonschriftzug open. Ich konnte mir denken, wofür Wellness hier stand. Es war neun Uhr, Samstagmorgen, der 14. Januar 2017. Oder zwanzig nach, weil ich wie gesagt zu spät kam. Irgendwie schien es ausgeschlossen, sich bei einem Termin mit egal wem in so einem Gebäude zu verspäten.

Wenn man hier verabredet war, war man durch den Boden des eigenen Lebens und aus der normalen Zeit herausgefallen. Ein Mensch wie ich hatte hier einfach nichts zu suchen.

Nachdem ich mein Ziel verpasst hatte, fuhr ich noch ein Stück den Foothill Boulevard lang, bevor es mir aufging. Die Malls, Tankstellen und Kettenrestaurants machten den Eindruck eines einzigen, immerzu wiederholten Hintergrunds, vor dem ein Fred Feuerstein entlangfuhr. Raum wurde hier anders gedacht. Ich wendete und fuhr langsam zurück. Das Gebäude lag nicht direkt im Dunkeln – das ging in diesem Gleißen gar nicht. Aber es hatte eine warzige Dichte, die sich gegen das Gesehenwerden wehrte.

Auch die unmittelbare Umgebung war ein Problem. Hinter dem Parkplatz lag ein weit verstreuter Trailerpark. Rechts hinter Maschendrahtzaun eine Tundra aus Gruben und aufgeschütteten Kieshügeln, auf einem Grundstück so groß wie der Central Park. Vielleicht übertreibe ich. Ja. Halb so groß wie der Central Park. In diesem Brachland schien das Gebäude ein Fake zu sein. Es behauptete einen Kontext, wo es keinen geben konnte. Ich meine Menschen, die man sein oder kennen wollte. Die Kraft, die mich hatte vorbeifahren lassen, war mehr als unsympathisch. Das Gebäude wies einen auf geistige Scheuklappen hin. Wer hier seinen Wagen abstellte, war nicht der, für den er sich hielt. Vielleicht war ich das jetzt auch nicht.

Und das Blau brachte mich um. Keine blauen Stunden wie im Blues. (Die hatte ich zwar auch manchmal, aber so einen Schrott würde ich niemals laut von mir geben.) Das Blau des Himmels brachte mich um, und hinzu kam, dass sich jenseits der Straße schneebedeckte Gipfel ohne jeden Sinn für Proportionen oder Geschmack gegen das flache galaktische Blau behaupteten. Unter den Gipfeln schlangen sich weiße Nebelschlieren um die Felsformationen. Am Himmel selbst war nichts dergleichen zu sehen.

Wenn ich auf die Stellen starrte, wo sich Blau und Weiß trafen, machte mich das wahnsinnig. So was bekam man nur im Kino zu sehen, wo als Zwerge verkleidete Schauspieler computergenerierte Berge hochliefen, nur gab es hier keinen schwarzen Rahmen, und kein exit-Zeichen schwebte am Rand des Sichtfelds. Nichts als Blau. Ich überlegte, ob das Wort weltentrückt es traf, fand das aber selber lächerlich. Das hier war denkbar weltlich. Also parkte ich auf dem Parkplatz hinter dem Haus und suchte Suite Nr. 8.

Ich fand sie erst, als ich die Treppe hochging. Vom umlaufenden Gang im ersten Stock bekam ich einen neuen Blick auf den Trailerpark und die vorstädtische Öde dahinter. Das lüftete nicht das Geheimnis, was sich in den Schotterbetten verbarg oder warum sich am Berg Nebelschleier halten konnten, wenn der Himmel völlig wolkenlos war.

Mädel, du bist selbst schuld, du bist in den Westen gekommen, also mach dir nicht ins Hemd. Ich klopfte.

Kapitel 2

Falls das noch nicht klar sein sollte, es gibt in dieser Geschichte einen Detektiv. Aber ich bin es nicht. Als ich ins Flugzeug stieg, hatte ich mich halb als Detektivin gesehen, aber nein, tut mir leid. Andererseits geht es in der Geschichte um eine Vermisste, und die könnte ich sein. Oder Sie oder praktisch jeder. Wie er einmal zu mir meinte, wer wird nicht vermisst? Er hatte ein Faible für dahingeraunte orakelhafte Bemerkungen. Zu meiner Überraschung merkte ich, dass ich das mochte.

Kapitel 3

Eine Stimme hinter der Nr. 8 aus Messing rief »Ist offen«. Ich drückte die Tür auf. Das übliche Gesetz gleißenden Gegenlichts galt, und in dem Halbdunkel sah ich gar nichts. Es gab weder Diele noch Wartezimmer und schon gar keine Sekretärin, die seine Termine regelte. Ich war in der sogenannten Suite gelandet, einem großen vollgemüllten und unergründlichen Zimmer, das noch dunkler wurde, als die Stimme sagte »Tür zu« und ich gehorchte. In dem kurzen Augenblick, in dem ich Umrisse ausmachen konnte, sah ich den bootsgroßen Schreibtisch, die Gestalt dahinter, die Formen an den Wänden, allesamt leblos. Hier lag niemand im Hinterhalt, da war ich ziemlich sicher. Ich wäre wieder zur Tür hinaus, bevor er um seinen Tisch herum war. Ich hatte Pfefferspray und eine kleine Presslufthupe in der Handtasche. Beides hatte ich noch nie gebraucht, und die Hupe war vielleicht eh nur ein Witz.

»Phoebe Siegler?« Die einzige Lampe im Zimmer stand auf dem Tisch, und ich sah nur Jeans und Stiefel. Die einzige Gesellschaft der Lampe war ein Festnetztelefon, ein schwerer schwarzer Büroapparat. Kein Computer.

»Tut mir leid, dass ich so spät dran bin«, haspelte ich.

Er schwang die Füße vom Tisch, rollte mit dem Stuhl ein Stück vor, und jetzt hatten sich meine Augen so weit an die Lichtverhältnisse angepasst, dass ich seine abgewetzte rote Lederjacke sehen konnte, bis ins Detail wie ein Cowboyhemd geschnitten, mit weiß gesäumten Westentaschen und Manschetten. Das Leder war so steif und trocken, als hätte man ein Cowboyhemd in Bronze gegossen und dann mit Farbe besprüht. Eine alberne Jacke, aber irgendwann gehörte sie für mich einfach dazu. Mehr als das, sie wurde sein Markenzeichen. Ich habe nie wieder eine ähnliche Jacke gesehen.

Über der Jacke schob sich sein großer Kopf in den Lichtkegel. Seine Augen waren braun unter buschigen, verschmitzt gewölbten Brauen. Seine Haare strömten aus der breiten Stirn nach hinten, und auch seine Koteletten waren so breit und buschig, als strömten sie aus seinen Wangen. Als wäre sein ganzes Gesicht durch Lücken in einem Haarnetz gestopft worden, ging mir absurderweise durch den Kopf. Wo die Koteletten aufhörten, fingen Zweitagestoppeln an, mindestens. Er erinnerte an die Blattgesichter aus Ton, die man manchmal in den Schuppen von Möchtegerngärtnern sieht. Seine große Nase und die Lippen, die tiefe Kinnspalte und das Philtrum erinnerten an eine Pekannuss oder einen Penis. Ich muss gestehen, dass mich Männer mit Penisgesichtern manchmal anziehen, weswegen ich schon mal mit einem Kahlkopf zusammen war. Aber anfangs find ich sie immer abstoßend.

Diesmal war ich auch entsetzt und ließ mir das anmerken. Er sagte: »Ich bin Charles Heist« und schob sich weiter ins Licht, reichte mir aber nicht die Hand. Inzwischen konnte ich auch das Mobiliar erkennen. Links an der Wand stand ein schmales Eisenbett mit zerwühlten Bettdecken und Kissen entlang der Längsseite. Hoffentlich ging er nicht davon aus, dass ich das als Couch ansah. Rechts standen der angeschlagene schwarze Koffer einer Akustikgitarre, ein Aktenschrank mit zwei Schubladen und ein hoher Kleiderschrank aus Hellholz, der ein ziemlich protziges Stück dänische Moderne abgegeben hätte, wenn er nicht so ramponiert gewesen wäre. Aber das war nur mein Gehirn, das sich an Nebensächlichkeiten stieß wie eine Flipperkugel.

Er half mir auf die Sprünge. »Sie sagten am Telefon, Sie würden jemanden suchen.« Ich hatte am Vortag eine Nummer angerufen und war zurückgerufen worden – vielleicht von dem Telefon vor ihm auf dem Tisch.

»Genau, die Tochter einer Freundin.«

»Setzen Sie sich.« Er deutete auf einen Klappstuhl zwischen Akten- und Kleiderschrank. Er sah zu, wie ich ihn nahm und aufklappte, und schämte sich offenbar kein bisschen seines mangelnden Feingefühls. Ich war erst mal froh, dass der Schreibtisch zwischen uns stand, und vielleicht spürte er das, was ein tieferes Feingefühl verraten hätte.

»Sie haben meine Nummer von Jane Toth?«

»Ja.« Jane Toth war die Sozialarbeiterin, deren Namen die Ortspolizei herausrückte, nachdem sie mir die Hoffnung genommen hatte, bei der Suche nach Arabella Swados helfen zu können, deren letzte Spuren nach Upland wiesen. Achtzehnjährige Studienabbrecherinnen vom Reed College, die seit drei Monaten verschwunden waren, entsprachen nicht ihren Vorstellungen von Ausweitung ihrer Fallbelastung. Also hatte ich mich auf die Suche nach Ms. Toth gemacht, die sich vor Ort auf Bedürftige und Ausreißer spezialisiert hatte. Auch sie hatte mich erst mit einer Reihe von erwartungssenkenden Gesten traktiert, dann Heists Namen und Telefonnummer auf die Rückseite ihrer Visitenkarte gekritzelt und seinen merkwürdigen Spitznamen erwähnt. Sie hatte mich auch gewarnt, er neige zu unorthodoxen Methoden, produziere manchmal aber wunderbare Ergebnisse für Familien, bei denen die Spuren schon erkaltet waren wie bei Arabella.

»Haben Sie Dokumente mitgebracht?«

»Entschuldigung.« Das sollte ich mir abgewöhnen. Ich wühlte in der Handtasche nach Arabellas Pass, dessen Foto vor einem Jahr aufgenommen worden war. Da war sie siebzehn gewesen. »Das heißt dann wohl, in Mexiko müssen wir nicht suchen.«

»So nah ist Mexiko hier nun auch nicht, Ms. Siegler. Aber wenn man will, gibt es Stellen, wo man nur mit einem Führerschein rüberkommt.«

»Soweit ich weiß, hat sie keinen.«

»Benutzt sie Kreditkarten?«

»Sie hatte eine von ihrer Mutter, aber die benutzt sie nicht, das haben wir schon geprüft.«

»Sonst wären Sie nicht hier.«

Der Pass, den ich ihm auf den Tisch legte, war neu und sauber, und durch den festen Einband klappte er nicht auf, doch das merkte er nicht. Heist – ich sollte ihn Charles nennen, auch wenn er das da noch nicht für mich war – beachtete ihn gar nicht. Er starrte mich an. Ich hatte meinen Teil entkleidende Männerblicke abbekommen, aber das hier war existenziell schonungsloser, das Aufblitzen von Seelenverwandtschaft auf einer sonnigen Lichtung. Einen Augenblick lang wirkte er genauso schockiert wie ich, dass ich in sein Büro gekommen war.

»Ich nehme an, Sie arbeiten eher weniger in diese Richtung, oder? Mit Datenabgleich und so?« Au Backe. Ich haspelte wieder.

»Überhaupt nicht.«

»Als sie noch an der Highschool war, hat sie auf einem Biobauernhof in Vermont gejobbt.« Noch während ich das sagte, blitzten die Berge in mir auf, die öde Pampa, vor der ich mich gerade ins Haus verdrückt hatte. Das Blau. Arabella und ich waren verflixt weit weg von Vermonts ländlichen Dorfangeridyllen. »Ich glaube, da ist sie auf diese Idee gekommen, vom Radar zu verschwinden. Die hatte sie von privilegierten Jugendlichen, die genauso ahnungslos waren wie sie.«

»Muss ja nicht grundsätzlich ’ne schlechte Idee sein.« Das kam ohne eine Ablehnung meiner Einschätzung, obwohl ich dazu eingeladen hatte.

»Nein, klar, so hab ich’s auch nicht gemeint. Jedenfalls: Solche Sachen übernehmen Sie?«

»Ja.« Jetzt machte sein blaues Starren dasselbe wie der Himmel: Es brachte mich um. Vielleicht war es aus Gnade, dass er die Spannung löste, indem er eine Schreibtischschublade zu seiner Rechten aufzog. Natürlich würde er eine Waffe herausnehmen. Vielleicht war das auch die Stelle im Drehbuch, wo er eine Flasche und zwei Schnapsgläser auf den Tisch stellte. Vielleicht sah ich der Frau ähnlich, die ihm das Herz gebrochen hatte. Ich beugte mich ein wenig vor. Die Schublade war tief und rollte massiv aus dem Tisch heraus. Er schob den Arm weit hinein und holte einen pelzigen, grau gestreiften Football heraus, der eine kegelförmige weiße Schnauze und weiche rosa Krallen wie die Hände einer Kinderpuppe hatte. Ich war selbst überrascht, dass mir sofort die richtige Bezeichnung einfiel – ein Opossum.

Die Beine und der dicke unbehaarte Schwanz des Tiers hingen beidseits übers Heists Arm, aber es war nicht tot. Seine schwarzen Augen funkelten. Ich lehnte mich wieder zurück. Im Zimmer roch es warm und holzig, wie Strauchwerk, und jetzt schrieb ich das dem Tier zu, von dessen Versteck in der Schublade ich nichts geahnt hatte. Heist strich ihm mit einem stumpfen Finger von den katzenartigen Ohren das Rückgrat hinab und schien es fast zu hypnotisieren. Vielleicht wurde auch ich hypnotisiert.

»Ist das Ihr Bluthund?«, flachste ich. »Ich hab vergessen, ein bisschen Stoff mitzubringen.«

»Sie heißt Jean.« Er sprach ausdruckslos, ließ sich von meiner Schnoddrigkeit noch immer nicht aus der Ruhe bringen. »Sie erholt sich von einer Harnwegsinfektion, falls sie nicht daran stirbt.«

»Also einfach ein Haustier.«

»Es gibt Leute, die das dachten, aber die waren schief gewickelt. Ich hab sie ihnen abgenommen.«

»Verstehe. Und jetzt lebt sie in Ihrem Schreibtisch?«

»Vorläufig.«

»Und dann – wollen Sie sie auswildern?«

»Wenn sie überlebt. Wird sie aber kaum.«

Mir kam das alles ein bisschen selbstgerecht vor, aber für Haarspaltereien fehlten mir die zoologischen Kenntnisse. Nur wurde ich den Eindruck nicht los, dass Heist das Tier nicht um seiner selbst willen streichelte, auch nicht um mich zu beeindrucken, sondern um seine eigene Einsamkeit zu mildern. Vielleicht war es diesem Mann schon zu viel, von verschwundenen Mädchen nur zu hören. Ich hätte mich treten können, weil ich geglaubt hatte, er könnte eines finden.

»Was brauchen Sie, um loszulegen?«, fragte ich unbeholfen. »In Bezug auf Arabella, meine ich.«

»Ich werde mich umhören.« Er streichelte das Opossum, das mir zuzwinkerte.

»Brauchen Sie einen Vorschuss?«

»Mal sehen, was ich herausfinde, dann reden wir übers Honorar. Gibt es noch andere Namen?«

»Andere Namen?«

»Könnte sie sich als jemand anders ausgeben? Gibt es Namen, mit denen sie um sich geworfen hat, die in diesem Lebensabschnitt eine Rolle für sie spielen? Freundinnen, Lover, Feinde.«

»Ich glaube, sie hat aufgehört, mit Namen um sich zu werfen. Meldet sich auch überhaupt nicht mehr zu Hause. Aber ich frag ihre Mom mal.«

»Jedes bisschen hilft.«

»Einen Namen gäbe es, aber da zögere ich.«

Er und Jean warteten, ließen mich nicht aus den Augen.

»Leonard Cohen.«

»Weiter.«

»Sie war ziemlich versessen auf ihn, sollte ich vielleicht dazusagen. Schon vor seinem Tod, mein ich. Es könnte sein, dass sie ganz allgemein deswegen in den Westen gekommen ist.« Mal davon abgesehen, dass mir ums Verrecken kein anderer Grund einfiel, warum eine jugendliche Veganerin mit Hirn und Herz in diese gottverlassene Gegend ziehen würde, aber ich wollte einen Landstrich, den Charles Heist und seine kleine Freundin ihre Heimat nannten, nicht in den Dreck ziehen.

»Sie glauben, sie ist den Berg hochgepilgert.«

»Es ist jedenfalls ein auffälliger Zufall.« Genau so weit hatte mich meine eigene Detektivarbeit gebracht: Auf Mount Baldy, einem der Berge, zu deren Füßen sich Upland erstreckte, lag das Kloster, zu dessen buddhistischem Guru sich Leonard Cohen in den letzten zehn Jahren oder so zurückgezogen hatte. Bei einer Gegenüberstellung hätte ich nicht sagen können, welcher schneebedeckte Gipfel das war, aber dafür hatte ich ja das GPS des Mietwagens und jetzt vielleicht den Typ vor mir.

Die Aussichten beunruhigten ihn anscheinend, und es dauerte eine ganze Weile, bis er eine absolut unzureichende Antwort gab. »Okay, ich setz es mal auf die Liste.«

Ich hätte mir gewünscht, dass er tatsächlich eine Liste anlegte, wenigstens ein bisschen Gekrakel auf einem Post-it, aber es war zumindest schön, dass er das Wort in den Mund nahm. Aktionspunkte, Vorgehensweisen, Protokolle – alles lieber als diese menschliche Freakshow in roter Lederjacke, die ihr Kuschelopossum tröstete oder von ihm getröstet wurde.

Womit ich mal wieder die elitäre Voreingenommenheit des Acela-Korridors zur Schau stellte. Ich glaubte, meiner Blase entflohen zu sein, als ich nach Westen kam, aber in Wahrheit hatte ich sie huckepack dabei wie ein Schneckenhaus, eine Blase im Einpersonenformat. Als meine Angst abklang, stieg an ihrer Stelle Wut in mir auf, dass ich an diesen absurden Ort gekommen war, dass ich Arabella solchen Händen überlassen wollte. Oder dass Arabella mich ihnen überlassen hatte, so konnte man das ja auch sehen. Heist schien mich abermals zu durchschauen und ließ Jeans Ohren lange genug los, um den Pass in eine Innentasche seiner Jacke zu stecken. Jetzt konnte ich ihn nicht mehr an mich nehmen. Ich war eine Idiotin, weil ich ihm anstelle des Originals nicht eine Kopie überlassen hatte.

»Wo kann ich Sie erreichen?«, fragte er.

»Ich habe ein Zimmer im Doubletree, unten am Foothill –«

»Unter Ihrem eigenen Namen?«

»Ja, aber was ich fragen wollte: Kann ich nicht mit Ihnen mitkommen? Es wäre vielleicht ganz hilfreich, dass ich sie beschreiben kann –«

Ich verstummte, denn direkt hinter mir hörte ich so ein Scheppern und Rascheln, dass ich mir fast in die Hose machte. Das nächste Rettungstier? Die Fassade des Kleiderschranks schwang auf, und zwei nackte, dreckige Füße schoben sich seitwärts ins Zimmer, die Knöchel in grauen Leggins. Die Füße tasteten nach dem Boden, und der dazugehörige Mensch glitt heraus und kauerte sich zusammen wie das Tier, für das ich ihn gehalten hatte.

Ein Mädchen, vielleicht dreizehn oder vierzehn, schätzte ich. Das strähnige schwarze Haar fiel ihr auf die Schultern und sah aus, als wäre es mit dem Nagelclip gekürzt worden, dessen Verwendung für die abgeknabberten Fingernägel man ihr offenbar nie beigebracht hatte. Sie schlang die Arme um die Knie und warf mir Seitenblicke zu, ohne den mandelförmigen Kopf ganz in meine Richtung zu drehen. Über den Leggins trug sie ein schlauchartiges schwarzes Strandkleid. Die nackten Arme waren braun gebrannt und zeigten leichten sonnengebleichten Flaum, der vom Schwarzwuchs in den Achselhöhlen abstach.

»Schon okay«, sagte Heist. Er sprach an mir vorbei das Mädchen an. »Sie sucht nicht nach dir.«

Sie kauerte da, erschauerte leicht und zog einen Mundwinkel hoch.

»Sie hat gedacht, die Behörden könnten Sie geschickt haben«, erklärte er mir. Wahrscheinlich konnte ich froh sein, dass er das Gefühl hatte, mir Rechenschaft geben zu müssen. Ich war halb aufgestanden und setzte mich jetzt wieder.

»Mach ruhig«, sagte Heist.

Das Mädchen wieselte an mir vorbei zum Deckenwall auf dem niedrigen Bett. Sie kauerte sich darunter, schlang wieder die Arme um die Knie, und oben starrten mich die Augen wie von einem Ameisenhügel herab an.

Sollte das eine Botschaft sein? Sollte ich mich daran erinnern, dass manche Verlorenen nicht gefunden werden wollen?

Heist bettete Jean wieder sanft in ihre Schublade und schob sie zu. »Das ist Phoebe«, sagte er zu dem Mädchen. »Sie sucht jemand anders, jemand Verlorenen. Wir werden ihr helfen.«

Wir? Mir kamen gleich die Tränen. Ritt das Mädchen auf Jean, wenn sie sich zusammen auf die Suche machten? Nein, sie brauchte ein größeres Tier, einen Wolf oder eine Ziege. Vielleicht schleppte der Detektiv sie auch unter dem freien Arm mit, dem, der nicht das Opossum hielt.

»Ich melde mich bei Ihnen im Doubletree«, sagte er jetzt. Das war nicht schroff oder grob, aber ich war entlassen. Ich hatte das Gefühl, unter dem Stuhl hätte sich eine Falltür aufgetan.

»Ich kann wirklich nicht mitkommen?«, hörte ich mich fast schon betteln. »Ich möchte die Lage der Dinge kennenlernen. Ich bin nur aus einem Grund hier.«

»Vielleicht nach meinen ersten Erkundigungen.«

»Prima«, sagte ich und fügte dann noch lahm hinzu: »Dann versuch ich mal, mich bis dahin auf meine Weise nützlich zu machen.« Unser Wortwechsel hätte glaubwürdig geklungen, wenn er in einem glaubwürdigen Ambiente stattgefunden hätte. Hier klang er nach leiernd Aufgesagtem ohne Einfluss auf das, was gerade wirklich in diesem Zimmer verhandelt wurde, etwas, das ich nicht benennen konnte und in dem ich nur widerwillig mitspielte.

Ob ich ihn bitten konnte, mir den Pass zurückzugeben? Ich ließ es bleiben. Das Mädchen sah mir nach, als ich zur Tür ging und das blendende Gleißen hereinließ. Erst jetzt sah ich den Wassernapf und die Futterschüssel in der Ecke – Jeans Verpflegungsstation. Oder die des struppigen Mädchens. Mir fiel auf, dass Heist mir das Opossum namentlich vorgestellt hatte, das Mädchen aber nicht. Ich fühlte mich wie dement vor Verzweiflung, dass ich hergekommen war. Meine radikale Geste, aus meinem Privilegienkäfig auszubrechen und mich ins Abenteuer zu stürzen. Die Rolle der Retterin zu übernehmen. Es kam mir so vor, als wäre ich bewusst verkleinert worden, als stünde ich auf einer Stufe mit dem Opossum oder dem Mädchen unter der Bettdecke. Meine Mission war in der Standardeinstellung neuen Kuschens vor männlicher Autorität gelandet, ich befolgte das morsche Skript, nach dessen Pfeife die ganze Welt tanzte, vor der ich geflohen war. All die verlorenen Mädchen, die auf ihre Detektive warteten. Ich würde im Doubletree warten und all den Bequemlichkeiten nachtrauern, denen ich entsagt hatte. Dabei spürte ich die ganze Unzulänglichkeit der Autorität, unter deren Fittiche ich geflüchtet war, weil der Mann in seiner Schublade nicht mal eine Knarre, eine Flasche Whisky oder ein gebrochenes Herz aufbewahrte, sondern bloß ein Beuteltier mit einer Harnwegsinfektion. Ich war verwirrt, um es milde auszudrücken. Ich machte mich vom Acker.

Kapitel 4

Schuld daran war die Wahl. Ich hatte für die große graue Nachrichtenorganisation gearbeitet, in einer bescheidenen, hart erkämpften Position, die mir ein Leben allmählichen Aufsteigens garantierte. So war das jedenfalls gedacht, bis ich dann ausstieg. Ich hatte alles richtig gemacht, genau wie eine gewisse erste weibliche Kandidatin, mit der wir alle gerechnet hatten – sogar meine männlichen Bekannten, die sie nicht ausstehen konnten –, weil sie dem rasenden Wahnwitz der Welt einen Riegel vorschob. Jetzt konnte sie in den Hügeln um Chappaqua herum spazieren gehen, und ich hatte ins Doubletree eingecheckt, anderthalb Kilometer westlich von Upland, Kalifornien.

Ich war als reinrassiges Produkt Manhattans groß geworden, im Verborgenen der Mittelschicht von Yorkville. Meine Eltern waren beide Psychotherapeuten, und ihre Ehe war eine laufende Instandhaltungsmaßnahme für die fahrige, havarierte Romantik meiner Mutter. Ich war ein Einzelkind und vielleicht eines zu viel. Ich verbrachte einen Großteil meiner Jugend damit, mich auf Elternhäuser mit mehreren Kindern und einem solchen Lärmpegel zu verteilen, dass ein Kind mehr oder weniger nicht ins Gewicht fiel. Nicht dass meine Eltern etwas dagegen hatten, dass ich Freunde mitbrachte. Wenn ich das tat, waren sie immer hocherfreut und servierten Tee und Kekse, unterzogen uns aber – wie ich heute noch den Eindruck habe – einer Art Paartherapie.

Ich ersparte meinen Eltern einen tiefen Griff in den Geldbeutel, indem ich an die Hunter College High School ging, und dann zwang ich sie zu einem tiefen Griff in den Geldbeutel, indem ich in Boston an die Uni ging. Im Sommer vor meinem vorletzten Studienjahr machte ich ein Praktikum bei einer Literaturzeitschrift, und als ich nach dem Abschluss nach New York zurückging, bekam ich dort eine Festanstellung. Die Redaktion bestärkte eine Frau darin, bestimmte radikale feministische Theoriepositionen, die ich mir an der Uni angeeignet hatte, auch dann nicht preiszugeben, als ich in einer Büroatmosphäre subtil ironisierter Belästigungen durch »Mentoren« vorankam, die zehn Jahre älter waren als ich. Dann ging’s weiter zu NPR, wo ich die Spickzettel vorbereitete, dank derer sich die Interviewer immer anhörten, als hätten sie Bücher gelesen, die sie gar nicht kannten. Schließlich schrieb ich Kommentare, mein Fuß in der Tür der Zitadelle.

An dem berüchtigten Tag im November, an dem sich mein Boss und seinesgleichen mit dem designierten Trumpeltier hinter geschlossenen Türen an einem langen Tisch zusammensetzten, um seine Geißelungen und Schmeicheleien entgegenzunehmen, reifte mein Entschluss zu kündigen. Zu Beginn der nächsten Woche riss ich tatsächlich die Klappe auf, gab meine Entscheidung bekannt, ritt ein bisschen auf meinen Prinzipien herum und versetzte mich und alle Leute in Hörweite in einen Schockzustand. Mein Hass war erstaunlich. Ich machte meiner Stadt Vorwürfe, das Monster im Turm hervorgebracht zu haben und jetzt nicht mehr besiegen zu können. Meine Fluchtroute hatte ich schon festgelegt, und meine versammelten Mentoren bekamen in der Angelegenheit genau wie meine Eltern exakt null Mitspracherecht. Nach meinem dreiunddreißigjährigen Tobsuchtsanfall war ich nur noch das Mädchen, das kündigte. Ich glaube, an dem Tag hab ich bei Facebook gewonnen, ob das nun was bringt oder nicht. In der sogenannten Blase, meine ich natürlich.

Roslyn Swados war bei NPR meine Vorgesetzte gewesen. Sie war zwanzig Jahre älter als ich, eine eingefleischte Radiomacherin und frisch geschieden, als wir uns anfreundeten. Ich hatte auch gerade eine Trennung ohne allzu viel Tiefgang hinter mir. Roslyn lud mich in ihre durchgestylte Maisonette in Cobble Hill zu einem Abendessen ein, das aus einer Flasche Weißwein, einem Baguette und einem riesigen Brocken Humboldt Fog bestand, einem Käse, den ich noch nie probiert hatte. In einer Orgie der Anteilnahme putzten wir alles weg und stiegen dann auf einen Riegel Toblerone um.

Roslyns Leben bewegte sich in den Bahnen des New York, das ich in meiner Jugend verklärt hatte und das uns Nachgeborenen immer weniger offenstand – das New York, das in Tausenden von Kurzgeschichten heraufbeschworen wird, die in den Achtzigern und Neunzigern in den Heften des New Yorker erschienen, die sich heute noch im Badezimmer meiner Eltern stapeln und die ich teilweise auswendig kann. Es passte nur zu gut, dass sie am Cheever Place wohnte, einem als Wahrzeichen dienenden baumgesäumten Block, der mein Refugium und Ideal bildete.

Wir waren beide nicht lesbisch, also konnte ich nicht in Roslyn verliebt sein. Es wäre sinnlos gewesen, sie sein zu wollen, weil es noch niemanden gab, von dem ich mich hätte scheiden lassen müssen. Ich war auch nicht Roslyns Tochter, da meine Mutter noch lebte und sie Arabella hatte, die in die zehnte Klasse ging, als ich sie kennenlernte, und noch zu Hause wohnte, auch wenn sie sich Roslyn in mancher Hinsicht schon entzog. Es war ein bisschen, als hätte ich mich wieder in andere Hände begeben, wie damals zu Schulzeiten. Hier handelte es sich um eine Familie, in der ich eine kleine Schwester der Mutter und eine große der Tochter sein konnte. Roslyn hoffte bestimmt, ich könne sie beide etwas länger aneinander binden. Ich machte ihr wegen dieser Überlegung nie einen Vorwurf. Unsere Freundschaft war echt, aber ihre Hoffnung war falsch, beides kommt vor. Ich konnte Mutter und Tochter nicht einmal für kurze Zeit aneinander binden.

Aber ich lernte Arabella kennen. Sie vertraute mir. Sie war mit zwölf Vegetarierin geworden, nachdem sie Jonathan Safran Foers Buch gelesen hatte, und in ihrem Zimmer hingen drei Poster: Sleater-Kinney, Pussy Riot und Leonard Cohen. Ihre sexuelle Ausrichtung war uneindeutig, aber ich hatte das Gefühl, die sexuelle Ausrichtung der ganzen Highschool in St. Ann’s war uneindeutig, also war sie in guter Gesellschaft. Den Kontakt zu ihrem Vater hatte sie abgebrochen. Sie spielte Gitarre, wenn auch schlecht. Ich machte mir Sorgen, als sie sagte, ihr Lieblingsstück wäre Cohens »Chelsea Hotel #2«, wo vom Blowjob auf dem ungemachten Bett die Rede ist, und war froh, als sich herausstellte, dass sie sich nicht mit der Frau, sondern mit dem männlichen Sänger identifizierte.

Arabella und ihre Freunde konnten sich an eine Zeit vor dem 11. September nicht oder kaum erinnern, vielleicht hatten sie mal einen Blick auf einem üblen Kanal erwischt, weil ihre Eltern nicht schnell genug die Fernbedienung unter den Kissen fanden, um wegzuzappen. Ich kam mir in ihrer Gegenwart zwar alt vor, unterstützte sie und ihre Generationsgenossen aber mit der bescheuerten Ergebenheit, die andere Leute Sportmannschaften entgegenbringen. Ich war ehrlich neidisch auf Arabella, als sie erklärte, sich für keine Uni an der Ostküste zu interessieren, und sich stattdessen am Reed einschrieb. Ich dachte, sie würde dort aufblühen.

An einem Septemberabend ging ich mit Roslyn essen. Wir trafen uns bei Prune an der First Street. Wir beugten uns über einen Eintopf aus Muscheln und Lauch, unser Lieblingsgericht, aber irgendetwas stimmte an dem Abend nicht, und das war nicht nur das »Alles läuft falsch« eines vorweggenommenen Wahldesasters. Arabella hatte nicht mehr zu Hause angerufen. Ihre SMS waren knapp, feindselig und trotzig. Roslyn wusste nicht, was sie machen sollte.

»Hast du im Studium deine Mutter angerufen?«, fragte sie geradeheraus.

»Meine Mutter war nicht der Typ, den man anrief«, setzte ich an, sagte es aber mit einer Zungenfertigkeit, die mir sofort leidtat.

»So sieht Arabella mich auch.«

Natürlich. Etwas bisher Schleierhaftes wurde klar, der Grund, warum ich mich so sehr in diese Familie eingebracht hatte. Ich hatte die Freiheit genossen, Mutter und Tochter gleichermaßen wahrzunehmen und zu bewundern, wozu sie beide nicht imstande waren. Im System meiner eigenen Familie hatte ich mich für eine Seite entscheiden müssen.

»Ich meld mich mal bei ihr«, sagte ich. Ich wusste, dass sie auf diesen Satz von mir gehofft hatte.

Ich bekam Arabella ans Telefon, einmal. Sie mochte weder ihre Seminare noch Portland. Sie wiederholte eine frühere Aussage, dass sie nämlich das Studium abbrechen und Mount Baldy aufsuchen werde, um Leonard Cohen zu finden. Ich nahm das mit amüsierter Skepsis auf – ein großer Fehler. Arabella roch das wahrscheinlich; sie ließ sich nicht zum Narren halten. Es war das erste Mal, dass ich mich bereit erklärt hatte, als Vermittlerin oder Spionin für ihre Mutter aufzutreten.

Dann kam die Novemberwoche, in der Cohen der nationalen Katastrophe einen zweiten Schicksalsschlag hinzufügte und tot umfiel. Als Roslyn Arabella auf dem Smartphone anrief, schrieb diese ihr nur eine SMS: Alles gut. Ich weiß noch, dass ich dachte, dass Alles gut irgendwie nie das bedeutet, was es besagt.

Ich drängte Roslyn, den Studiendekan zu kontaktieren. Ich hatte den Eindruck, dass sie sich damit abgefunden hatte, zu wenig von ihrer Tochter zu hören. Arabella war in New York aufgewachsen, erinnerte ich sie. Das hieß, dass sie bestens gewappnet war, es hieß aber auch, dass der Rest des Landes, sogar das angesagte Portland, für sie ein fremdes Wunderland war – zumal nach dem 8. November.

Aber auch Roslyn war New Yorkerin. Abgelenkt, stoisch und jetzt genauso mitgenommen wie wir alle. Sie hatte zu viel Weißwein getrunken und zu wenig Humboldt Fog und Baguette gegessen, um die Wirkung abzufedern. Ich konnte ihr keine Vorwürfe machen. Sie gab sich mit Arabellas sporadischen tonlosen SMS zufrieden, bis Mitte Dezember auch diese versiegten, und wenn sie ihre Nummer anrief, bekam sie eine »Sprachbox voll«-Nachricht.

Roslyn erwachte aus ihrer Trance und kaufte ein Flugticket nach Portland. Sie war so aufgelöst, dass ich anbot, sie zu begleiten. Wir flogen an einem Freitagabend und waren zusammen, als der Wachschutz vom Reed uns ihr Wohnheimzimmer aufsperrte, das Einzelzimmer, das sie sich erkämpft hatte. In dessen Chaos fand sich ungeöffnete Post mit Stempeln bis zurück in den September, Unmengen unberührter Hausaufgaben und der zurückgelassene Pass, den ich jetzt Heist gegeben hatte. Wie die meisten achtzehnjährigen New Yorker hatte Arabella keinen Führerschein, also war sie ohne Ausweis abgetaucht, was uns alarmierte. Vor dem Rückflug in den Osten sprachen wir am Montag mit dem Studiendekan, aber Arabella war im System der Mentoren und Berater nicht aufgetaucht. Sie hatte von Anfang an auf unauffällige Weise immer wieder gefehlt, und niemand kannte sie.

Zurück in New York half ich der fast gelähmten Roslyn bei der ersten Detektivarbeit. Ein Kreditkartenbeleg dokumentierte eine Amtrak-Zugfahrt nach Los Angeles. Wie sich schnell herausstellte, hatte Leonard Cohen nicht auf Mount Baldy gelebt, sondern im eigentlichen Los Angeles, unter Juden und Popstars wie jeder vernünftige Mensch. Nicht so Arabella. Die letzte Kreditkartenspur – einige Lebensmittel – führte in einen Supermarkt namens Stater Brothers in der Mountain Plaza Shopping Mall im kalifornischen Upland, achtzig Kilometer von der Pazifikküste entfernt. Ich ging von einer Wallfahrt auf den Zen-Gipfel aus. Etwas Plausibleres fiel mir zu dem Ort nicht ein – nicht aus dem fernen New York und schon gar nicht dann in Upland selbst, nachdem ich Roslyn versprochen hatte, mich dort mal umzuschauen und ihre Tochter zu finden.

Harvard, Hillary, Trump, The New York Times. Namen, die ich nicht mehr in den Mund nehmen wollte, weil sie mich auf ein Leben festnagelten, das mit ihren Annahmen geronnen war. Dazu gehörte das Überlegenheitsgefühl gegenüber denen, die ich hasste – die reaktionären weißen Wähler oder die Männer, die mir die Chance nahmen, ihren Heiratsantrag abzulehnen, indem sie mir gar nicht erst einen machten. Aber im Gegensatz zu vielen Helikopterkindern um mich herum brauchte ich niemanden, der den Spiegel für mich hielt – zumindest bildete ich mir das ein. Wenn es ein Außen meines Schicksals gab, dann würde ich das erreichen oder im autoreferenziellen System der Vertrautheiten zur Hölle fahren. Vielleicht konnte ich Arabella zurückbringen und mit ihr einen Bericht aus der Außenwelt.

Kapitel 5

Mein Hotel lag nur anderthalb Kilometer von Uplands staubigen gelben Geheimnissen weg, aber es hätte auch eine Million sein können. Claremont präsentierte sich als uneinnehmbare Festung standortfremder Schattenbäume und gut gepflegter Designvillen, die sich um einen Universitätscampus scharten, der so leer und vollkommen war wie ein Bühnenbild. In diesem fröhlichen Simulakrum entdeckte ich nichts, was zum Kaufen verleitete, abgesehen von einem quirligen Plattenladen, aber ich konnte hier gar keine Platten abspielen. Also setzte ich mich mit meinem Smartphone in eine Bäckerei samt Café namens Some Crust, las Elena Ferrante an einem Tisch im Freien und hoffte, ein lustiger Student würde mich anbaggern. Stattdessen wurde ich von lustigen Senioren angebaggert. Vielleicht hatten die neuerdings genauso Oberwasser wie der Ku-Klux-Klan. Ich zog mich ins Hotel zurück.

Stilistisch erinnerte mein Zimmer an den Spruch eines Gangsterliebchens in irgendeinem alten Film bei Betreten eines Apartments: »Frühes Nichts.« Mir blieb nur Facebook, wo der Wahlausgang meine Freunde auf schrille zänkische Karikaturen reduziert hatte. Oder ich entschied mich für CNN, wo die üblichen Lallokraten ihre schrillen karikaturesken Drohgebärden ausagierten, ohne reduziert werden zu müssen, da die einzige Errungenschaft ihres Lebens darin bestand, für diese schöne neue Welt präformiert worden zu sein. Das Fernsehen hatte sich selbst gewählt, fand ich. Von mir aus konnte es sich dann auch selber sehen. Ich las mein Buch.

Am zweiten Tag ohne Anruf von Heist fing es an zu regnen. Das Gewitter begann dramatisch verheißungsvoll mit einem Blitzschlag morgens um drei, zu dem es scheinbar direkt über dem Doubletree kam. Unmittelbar nach dem blendenden Blitz, der mich geweckt hatte, erschütterte ein Doppelknall mein Zimmer. Kommentierte die Welt das Jahr 2017 mit einem »Danke, kein Bedarf«, weil da eine ganze Palisade von Vollpfosten ins Kabinett gewählt worden war? Vielleicht war ich nach Kalifornien gekommen, um mit ihm zusammen ins Meer zu rutschen.

Das Gewitter war aber nur die Ouvertüre eines trüben Dauerregens, der den anschließenden Tag und die Nacht hindurch nicht aufhörte, aber unscheinbar blieb, solange ich mein Zimmer nicht verließ. Der ausgedörrte Wüstenboden, der all die Schattenbäume Lügen strafte, konnte das Wasser gar nicht aufnehmen. Der Regen schoss in Sturzbächen von den Berggipfeln herab, die sich jetzt hinter grauen Nebeldächern verbargen. Die schäumenden Pfützen machten jede Gehwegüberquerung zur Wildwasserfahrt, nur hatte ich kein Floß dabei. Alle Welt weiß, dass Südkalifornien nicht für Fußgänger geschaffen ist, aber an diesem Tag hätte man Amphibienfahrzeuge gebraucht.

Ich blieb in meinem Zimmer und schrieb Mails – bis auf die einzige dringende, die ich Roslyn schuldete. Ich wusste, dass meine Freundin völlig aufgelöst war und darauf wartete, dass ich ein Wunder vollbrachte. Und nun hatte ich mich in ihr Spiegelbild an der Westküste verwandelt: eine Frau, die allein in einem Zimmer saß. Ich war Arabella vielleicht näher; anzunehmen war das schon. Aber ich konnte es nicht beweisen.

Meine Gedanken kreisten um meinen frisch gekürten Heiland. Ich googelte verschiedene Kombinationen aus »wild«, »Detektiv« und »Heist«, aber, Wunder über Wunder, er hatte weder eine Website noch einen Wikipedia-Eintrag. Dass sein Name »Raub« bedeutete, half auch nicht gerade weiter. Die meisten Ergebnisse, bei denen es nicht um Gaunerkomödien ging, verlinkten mich zu steinerweichenden und reißerischen Zeitungsberichten über Kinder, die von ihren Erziehungsberechtigten in Florida oder sonst wo missbraucht worden waren, und schließlich brach ich die Suche angewidert ab. Durch die lausigen Lautsprecher meines Laptops spielte ich ein bisschen Leonard Cohen auf YouTube. Eine eher schwache Geste in Richtung Arabella, aber vielleicht konnte ich sie auf die Weise irgendwie heraufbeschwören und dazu bringen, nach Hause zu kommen.

Am dritten Morgen hielt ich es nicht mehr aus, rief Heists Nummer an, erreichte aber nur seinen Anrufbeantworter. »Ich kann gerade nicht rangehen, bitte hinterlassen Sie eine Nachricht.« Ich rief zweimal an, hinterließ aber keine Nachricht. Anders als beim ersten Mal, als ich seine Stimme gehört hatte, konnte ich mit ihrer seltsam flachen Ruhe jetzt ein Gesicht verbinden: ein seltsam flaches und ruhiges Penisgesicht, von Haaren überwuchert. Ich bekam es nicht aus dem Kopf, musste aber auch immerzu an sein Büro denken. Ob das in seine Decke gehüllte struppige Mädchen wohl von seiner Pritsche hochschreckte, wenn das Telefon klingelte? Oder er? Wessen Bett war das überhaupt? Schlappten das Mädchen und das Opossum zusammen Wasser aus dem Napf in der Ecke? Ich fühlte mich fast verpflichtet, bei ihm einzubrechen und das Kind zu befreien, aber die Ungewissheit lähmte mich ebenso wie die absurde Hoffnung, Charles Heist könne Arabella plötzlich aufgabeln und meinem vernachlässigten Leben und meiner Entwicklung Sinn geben. Ich sehnte mich nach meiner Bürowabe und nach dem nächsten Tinder-Rendezvous im Bourgeois Pig.

Ich schickte meiner einzigen Bekannten in Los Angeles eine Lebenszeichen-Mail, einer Freundin von der Highschool, die meine Kündigung bei Facebook gelikt und geschrieben hatte, ich solle mich doch mal melden. Als sie jetzt meinen Aufenthaltsort erfuhr, eröffnete sie mir, dass Culver City, wo sie in einer Galerie arbeitete, an einem Werktag fast zwei Autostunden entfernt war, auch ohne den Regen, der die ängstlichen Fahrer Südkaliforniens noch mal aufs halbe Tempo drosselte. Aber ich hatte ja keine anderen Verpflichtungen, außer ich fuhr den Berg hoch, um auf eigene Faust beim Zen-Zentrum herumzuschnüffeln – dessen Lage war bei Google Maps deutlich ausgewiesen. Nein, ich würde Heist noch einen Tag Aufschub geben. Also schrieb ich zurück, ich würde sie zum Abendessen im besten Restaurant einladen, das sie mir in Culver City zeigen könne. Ich musste ums Verrecken aus dem Doubletree und diesem ganzen Inland Empire raus.

Kapitel 6

»Fädeln Sie sich auf die Route 10 nach Westen Richtung Los Angeles ein«, wies das GPS mich an, aber in seiner Roboterstimme klang es wie lost and jealous. Die Veränderung nach der vorstädtischen Wüstenlandschaft, die ich kilometerweit hatte durchqueren müssen, bevor zu meiner Rechten endlich die Skyline auftauchte, war unerklärlich. Während sich die Kilometer unter den Reifen abspulten, dachte ich an Arabella und die Entfernungen, die sie hatte zurücklegen müssen, um im Westen zu verschwinden – wie groß sie waren, konnte ich noch gar nicht ermessen.

Als ich Arabella das letzte Mal persönlich getroffen hatte, hatte sie an ihrer Suche nach Leonard Cohen herumgeknobelt, was ich damals für ihr Privatvergnügen gehalten hatte. »Geh bloß nicht trampen«, hatte ich gesagt. »Außer in deinem Herzen schreiben wir nicht mehr das Jahr 1972.«

»Keine Angst, mach ich schon nicht«, hatte sie mit der verdrießlichen Verbitterung des Teenagers gesagt. Ich hatte sie nicht gezwungen, es mir zu versprechen. Jetzt machten die Kilometer in mir ticktack, ein Metronom der Selbstvorwürfe. Hätte ich Arabella jetzt in die Hände bekommen, hätte ich ihr einen Peilsender in den Nacken eingepflanzt, wie man das mit Katzen und Hunden im Tierheim macht.

Kapitel 7