Der Stoff, aus dem Gefühle sind - Karl Deisseroth - E-Book

Der Stoff, aus dem Gefühle sind E-Book

Karl Deisseroth

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Beschreibung

Albert-Lasker-Preis 2021 für Karl Deisseroth

»Ein Meisterwerk, das für uns alle geschrieben wurde.« Patricia Churchland, Professorin für Philosophie

»Karl Deisseroth verwebt Neurowissenschaften und Lebensgeschichten auf völlig neue Weise: zugleich technisch, poetisch und zutiefst einfühlsam.« Lucy Kalanithi, Professorin für Medizin

»Ein einfühlsamer Psychiater und ein fesselnder Autor, der urmenschliche Gefühle mit tief schürfenden Einsichten aus der führenden Psychiatrie und Neurowissenschaft zusammenführt.« Robert Lefkowitz, Chemie-Nobelpreisträger

Warum fühlen wir? Wie entstanden unsere Emotionen? Welche Geheimnisse birgt das ganze Spektrum unserer Gefühlswelten? Ein außergewöhnliches, erhellendes und mitreißendes Werk - über Lebensgeschichten und die Geschichte allen menschlichen Lebens.

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Seitenzahl: 374

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Zum Buch

Wie entstehen aus körperlicher Materie unsere Gefühle? Lässt sich überhaupt wissenschaftlich festmachen, wo sie »wohnen« – und wie sie im Laufe unserer evolutionären Geschichte entstanden sind? (Schließlich hinterlassen Emotionen keine Fossilien.) Was erleben Menschen, die sich plötzlich in einer extremen Gefühlswelt wiederfinden, weil sie eine psychische Störung erleiden – Depression, Angststörungen, Demenz, Schizophrenie, Anorexie? Und wie kann die Wissenschaft uns dabei helfen, eine solche besondere und die menschliche Erfahrung an sich besser zu verstehen? Mit diesen wichtigen Fragen beschäftigt sich Karl Deisseroth als Psychiater, wegweisender Hirnforscher und hoch talentierter Autor in seinem Buch über den Stoff, aus dem Gefühle sind.

Zum Autor

Karl Deisseroth ist Professor für Biotechnik und Psychiatrie. Er studierte in Harvard u.a. Creative Writing, und unterrichtet heute an der Stanford University. Neben seiner Lehr- und Forschungsarbeit war er jahrelang in der ambulanten Psychiatrie tätig, und nach wie vor behandelt er z.B. Menschen mit Diagnosen auf dem Autismus-Spektrum. Deisseroth veröffentlichte zahlreiche Arbeiten u. a. in »Nature« und »Science«, er selbst und seine Forschung erfuhren bereits große Beachtung in internationalen Medien, u. a. »The New York Times«, »DERSPIEGEL« und SWR. Für seine Entwicklung bahnbrechender biotechnischer Verfahren wie die Optogenetik erhielt er namhafte und hochdotierte Auszeichnungen, darunter den Else-Kröner-Fresenius-Preis für medizinische Forschung 2017, den Kyoto-Preis 2018, den Warren Alpert Foundation Prize 2019 und den A.H.-Heineken-Preis für Medizin 2020 von der Königlich-Niederländischen Akademie der Wissenschaften. Deisseroth lebt mit seiner Frau und fünf Kindern in Palo Alto, Kalifornien.

KARL DEISSEROTH

Der

Stoff,

aus dem

Gefühle

sind

Über den Ursprung

menschlicher Emotionen

Aus dem Englischen

von Jürgen Neubauer

Blessing

Originaltitel: PROJECTIONS – A Story of Human Emotions

Originalverlag: Random House, Penguin Random House LLC, New York

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2021 by Karl Deisseroth

Copyright © 2021 by Karl Blessing Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: geviert.com, Nastassja Abel

Umschlagabbildung: © Mark Owen/Trevillion Images

Redaktion: Barbara Häusler

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-25108-6V001

www.blessing-verlag.de

Für unsere Familie

Ich schenke dir die Erinnerung an eine gelbe Rose zu Sonnenaufgang, Jahre vor deiner Geburt.

Ich schenke dir Erklärungen deiner selbst, Theorien über dich selbst, wahre und wundersame Kunde von dir selbst.

Ich biete dir meine Einsamkeit, meine Finsternis, den Hunger meines Herzens; ich besteche dich mit Ungewissheit, mit Gefahr, mit Niederlage.

Jorge Luis Borges, Two English Poems

Inhalt

Vorwort

1  Tränenhort

2  Ausbruch

3  Fassungsvermögen

4  Wunde Haut

5  Faradayscher Käfig

6  Verzehrt

7  Moro

Epilog

Dank

Weiterführende Literatur

Vorwort

Nach Lärm, Licht und Hitze,

Erinnerung, Wille und Verstehen

James Joyce, Finnegans Wake

Im Weberhandwerk bezeichnet man als Werft die tragenden, fest im Ursprung verankerten Kettfäden, die beim Weben das Gerüst für die Schussfäden vorgeben. Der Werft weist über den letzten Schuss hinaus in den freien Raum und überspannt die bereits gestaltete Vergangenheit, die flatternde Gegenwart und die noch formlose Zukunft.

Das Tuch der menschlichen Geschichte hat seinen eigenen Werft, der tief in den Schluchten Ostafrikas verankert ist und das vielgestaltige Gewebe des menschlichen Lebens über die Jahrmillionen hinweg zusammenhält – Piktogramme vor Landschaften aus zerklüftetem Eis, wilden Wäldern, Stein, Stahl und schimmernden Bodenschätzen.

Unser Geist spannt den Rahmen, auf den die Geschichte jedes Einzelnen gewoben wird. Die ganz eigene Färbung und Textur unseres Tuchs verdankt sich den Schussfäden unserer persönlichen Erlebnisse und Erfahrungen, dem feinen Gespinst unseres Lebens, dessen komplexe Einzelheiten die Struktur verbergen.

In diesem Buch begegnen wir Menschen, deren Tuch ausfasert, deren Werft bloß und sichtbar vor uns liegt.

Die in diesem Buch geschilderten Fälle stammen aus der verwirrenden Intensität der Notfallpsychiatrie. Um die allen gemeinsame Struktur des menschlichen Geistes sichtbar zu machen, müssen die zerrissenen inneren Zustände so getreu wie möglich dargestellt werden. Um das wahre Wesen dieser Erfahrungen zu erfassen, ihre Färbung und Seele, beschreibe ich die Symptome der Patienten gänzlich ungeschminkt, auch wenn ich nebensächliche Details verändere, um die Anonymität der Patienten zu wahren.

Genauso real ist die hier vorgestellte neurowissenschaftliche Technologie, auch wenn sie gelegentlich an Science-Fiction erinnern und zutiefst beunruhigend wirken mag. Die hier beschriebenen Verfahren, welche die psychiatrische Arbeit ergänzen, indem sie ganz eigene Einblicke in das menschliche Gehirn liefern, stammen aus der aktuellen Forschung und kommen in Labors in aller Welt zum Einsatz, auch in meinem eigenen.

Doch Medizin und Wissenschaft reichen nicht aus, um unser subjektives inneres Erleben zu beschreiben. Daher schildere ich einige der Fälle nicht aus dem Blickwinkel des Arztes und Wissenschaftlers, sondern aus dem der Patienten – manchmal in der ersten oder dritten Person, manchmal auch mithilfe einer veränderten Sprache, die ihren veränderten Bewusstseinszuständen gerecht werden soll. Wo ich die Gedanken, Gefühle und Erinnerungen eines Menschen auf diese Weise ausleuchte, gibt der Text nicht die Wissenschaft wieder, sondern den Versuch, mit aller gebotenen Sorgfalt, Achtung und Bescheidenheit und mithilfe meiner Vorstellungskraft mit Stimmen zu kommunizieren, die ich nie direkt gehört habe, sondern nur aus ihrem Nachhall erspüre. Eine der zentralen Herausforderungen der Psychiatrie besteht tatsächlich darin, unkonventionelle Wirklichkeiten aus Sicht der Patienten wahrzunehmen und nachzuempfinden und hinter die Verzerrungen von Subjekt und Objekt vorzudringen. Doch die wahre Stimme der Verstorbenen und Verstummten, der Leidenden und Verlorenen wird für immer ungehört bleiben.

Die Vorstellungskraft mag unzuverlässig sein, doch auch die modernen Neurowissenschaften und die Psychiatrie haben für sich genommen ihre Grenzen. Zum Verständnis von Patienten scheinen mir literarische Texte oft ebenso wichtig, und ihre Einblicke verraten mir oft mehr über den menschlichen Geist als jedes moderne Mikroskop. Zum Verständnis des Menschen ist mir die Literatur bis heute genauso wichtig wie die Wissenschaft, und sooft ich kann, gehe ich meiner großen Leidenschaft, dem Schreiben, nach – auch wenn diese Leidenschaft jahrelang nur unter Wissenschaft und Medizin verschüttet schwelte.

Somit geben drei eigenständige Sichtweisen – Psychiatrie, Vorstellungskraft und Technik – zusammen den gedanklichen Rahmen vor, was damit zu tun haben könnte, dass sie so wenig gemeinsam haben.

Die erste Achse ist die Geschichte eines Psychiaters, erzählt durch eine Reihe klinischer Begegnungen mit jeweils ein oder zwei Menschen. So wie beim Zerfasern des Gewebes dessen verborgene Struktur erkennbar wird (oder sich aus der Mutation eines Gens seine ursprüngliche Funktion erschließen lässt), erlaubt das Zerrissene den Blick auf das Heile. Auf diese Weise unterstreicht jede der Geschichten, wie das unsichtbare innere Erleben von gesunden Menschen – und vielleicht auch das eines Arztes – im noch kryptischeren und schattenhafteren Erleben von Psychiatriepatienten erkennbar werden kann.

Jede Geschichte zeichnet auch das entstehende innere Erleben von Emotionen, in der Welt von heute und während der Jahrmillionen unserer Evolution, über Hindernisse hinweg, zu deren Überwindung vermutlich viele Kompromisse nötig waren. Diese zweite Achse beginnt mit Geschichten von einfachen und uralten Schaltkreisen, die uns das Leben ermöglichen – Zellen, durch die wir atmen, Muskeln bewegen oder die fundamentale Grenze zwischen uns und anderen ziehen. Aus der ältesten, primitivsten Trennlinie zwischen uns und der Welt – dem äußeren Keimblatt, einer zerbrechlichen Schicht von der Dicke einer einzigen Zelle – entsteht nicht nur die Haut, sondern auch das Gehirn, und an dieser uralten Grenze erleben wir den Kontakt zwischen Menschen in all seinen körperlichen und seelischen Formen, über das gesamte Spektrum hinweg, von gesunden bis zu gestörten Beziehungen.

Die Geschichten erzählen von universellen Empfindungen wie Verlust und Trauer in zwischenmenschlichen Beziehungen; von den tiefen Brüchen in der Grunderfahrung der äußeren Wirklichkeit, wie sie mit Manie und Psychose einhergehen; von den Störungen des Selbst, etwa dem Verlust der Fähigkeit, Freude zu empfinden, wie wir sie aus der Depression kennen, oder dem Verlust der Motivation, uns Nahrung zuzuführen, wie sie mit Essstörungen einhergeht; und vom Verlust des Selbst mit der Demenz am Lebensende. Diese zweite Achse, die Emotionen der subjektiven Innenwelt, beginnt und endet mit der Vorstellungskraft – ob in Geschichten der Prähistorie (Gefühle hinterlassen keine Fossilien; wir wissen nicht, was Menschen in der Vergangenheit gefühlt haben, und versuchen uns daher auch nicht als Evolutionspsychologen) oder der Gegenwart (denn selbst heute haben wir keinen direkten Einblick in das innere Erleben eines anderen Menschen).

Doch wo die messbaren Auswirkungen von Empfindungen über Individuen hinweg konstant sind – soweit wir das mithilfe sorgfältig angewandter Technik beurteilen können –, lassen sich neue Erkenntnisse über das Innenleben unseres Gehirns gewinnen. Auf einer dritten Achse handelt daher jede Geschichte von unserem sich rasch entwickelnden wissenschaftlichen Verständnis, das wir aus Experimenten und Daten von Gesunden und Kranken gewinnen. In den Anmerkungen finden interessierte Leser Hinweise zu den wissenschaftlichen Hintergründen und können je nach ihren persönlichen Interessen den einen oder anderen Faden nachverfolgen. Hier finden sich auch wichtige wissenschaftliche Quellen, wobei ich nur frei zugängliche Artikel anführe. Diese letzte Achse ist eine wissenschaftliche Ebene für Leser, die zwar kein Fachwissen, wohl aber das Interesse mitbringen.

In diesem Buch geht es also nicht nur um die Erfahrungen eines Psychiaters, die Ursprünge der menschlichen Emotionen und die aktuelle Hirnforschung. Jede dieser drei Sichtweisen ist vielmehr eine Linse, die die Geheimnisse des menschlichen Geistes aus einem anderen Winkel zeigt und einen anderen Blick auf dieselbe Landschaft bietet. Diese unterschiedlichen Perspektiven zu einem Bild zusammenzufügen ist nicht einfach – genauso wenig, wie Mensch sein und Menschheit werden –, sodass dieses Buch letztlich nur ein sehr grobkörniges Bild zeichnen kann.

Mein tiefer Dank gilt meinen Patienten, die uns mit ihren Geschichten diese Einblicke ermöglicht haben, und all denen, deren bekanntes und unbekanntes Leid untrennbar verwoben ist mit dem langen, düsteren, schmerzlichen und mitunter erhabenen Gewebe unserer gemeinsamen Entwicklungsgeschichte.

Da ich als Erzähler – wie wir alle – eher subjektiv als objektiv und nur eine milchige menschliche Linse bin, könnten einige Worte zu mir und meinem Werdegang von Interesse sein. In meiner Kindheit wies nichts darauf hin, dass mich mein Weg in die Psychiatrie oder gar die Biotechnologie führen würde.

Meine Kindheit verbrachte ich vor einer sich ständig verändernden Kulisse in kleinen und großen Städten kreuz und quer durch ganz Nordamerika, immer im Schlepptau meiner rastlosen Familie, die alle paar Jahre umzog. Wie meine Eltern und meine beiden Schwestern hatte ich vor allem ein Hobby: lesen. Ich erinnere mich, wie ich meinem Vater stunden- und tagelang am Stück vorlas, während wir mit dem Auto von Maryland nach Kalifornien fuhren. Meine Freizeit verbrachte ich vor allem mit der Nase in Büchern, und wenn ich mit dem Fahrrad zur Schule radelte, hatte ich oft ein Buch auf dem Lenker. Ich las zwar auch Geschichte und Biologie, fand Geschichten und Gedichte jedoch fesselnder. Bis ich auf etwas anderes stieß.

Das erste Seminar an der Universität, zu dem ich mich einschrieb, war ein Kurs in kreativem Schreiben. Gleichzeitig lernte ich im Austausch mit Kommilitonen und in meinen Kursen einen biologischen Ansatz kennen, der bei einzelnen Zellen begann und bis zu komplexen Systemen reichte und der zur Lösung einiger der dunkelsten Geheimnisse des Lebens beitrug. Fragen wie diese schienen lange unbeantwortbar: Wie kann sich aus einer einzelnen Zelle ein ganzer Körper entwickeln? Wie entstehen in den verstreut im Blut treibenden Zellen komplexe Erinnerungen zur Immunität gegen Infektionskrankheiten? Wie lassen sich grundverschiedene Krebsursachen wie Gene, Giftstoffe oder Viren so in einem auf der Zelle basierenden Konzept vereinen, dass man etwas damit anfangen konnte?

Diese unterschiedlichen Gebiete wurden revolutioniert, indem man Erkenntnisse vom Kleinen und Grundlegenden auf das Große und Komplexe übertrug. Das Geheimnis der Biologie bestand offenbar darin, auf die Ebene der Zellen und Moleküle hinabzusteigen und gleichzeitig das gesamte System, den ganzen Körper im Blick zu behalten. Diese Aussicht, diese einfache Überlegung von der Welt der Zellen auf die Geheimnisse des menschlichen Geistes, auf Bewusstsein, Empfindungen und das Erregen von Emotion durch Sprache zu übertragen, erfüllte mich mit Begeisterung, mit einer »rebellischen Vorgewissheit«, wie Toni Morrison sie nennt, diesem allgemein menschlichen Zustand der rastlosen Freude, der sich einstellt, wenn man plötzlich einen Weg vor sich sieht.

In Gesprächen mit Freunden im Wohnheim, die unerklärlicherweise allesamt theoretische Physiker waren, wurde mir klar, dass dieses Gefühl auch unter Kosmologen verbreitet war, die sich mit astronomischen Dimensionen beschäftigen. Auch sie begannen bei den kleinsten und elementarsten Formen der Materie und bei Kräften, die auf winzigste Entfernungen wirken. Das Ergebnis waren Prozesse und Emotionen, die ebenso himmlisch wie persönlich waren.

Damals kam ich außerdem mit einem rasch expandierenden Gebiet der Informatik in Berührung, den sogenannten neuronalen Netzwerken, die sich damit beschäftigten, wie ein Gedächtnis ohne zentrale Steuerung durch Ansammlungen zellartiger und nur virtuell über Rechenoperationen miteinander verbundener Einheiten entsteht. Wie der Name sagt, wurden diese neuronalen Netzwerke von der Neurobiologie inspiriert. Die Erkenntnisse auf diesem Gebiet sollten Jahrzehnte später eine Revolution der lernenden Maschinen anstoßen, die mittels gewaltiger Ansammlungen zellartiger Einheiten nahezu alle Bereiche der menschlichen Forschung und Information umkrempelt, darunter auch die Neurobiologie, von der sie einst angeregt wurde.

Es scheint, als könnten große Ansammlungen von kleinen vernetzten Einheiten fast alles erreichen – wenn sie nur richtig miteinander verbunden werden.

Ich überlegte, ob sich auch etwas Rätselhaftes wie unsere Emotionen auf der Ebene von Zellen erklären ließe. Was bewirkt starke Regungen und angepasste beziehungsweise fehlangepasste Gefühle in gesunden und kranken Menschen? Oder anders gefragt, was sind diese Gefühle in einem physischen Sinne, auf der Ebene der Zellen und ihrer Verbindungen? Das schien mir eines der größten Geheimnisse des Universums, vielleicht nur noch übertroffen von der Frage nach dem Ursprung und dem Seinsgrund des Universums.

Das menschliche Gehirn war eindeutig der Schlüssel zu diesem Rätsel, denn nur Menschen können ihre Emotionen angemessen beschreiben. Da ich glaubte, dass die Neurochirurgie einen privilegierten Zugang zum menschlichen Gehirn habe, schien mir dies der logische Zugang und der geeignete Ort, um das menschliche Gehirn zu erforschen und zu heilen. Also schlug ich in meinem Medizinstudium diese Richtung ein.

Wie alle Mediziner musste ich allerdings im praktischen Teil meines Studiums auch einen Abstecher in die Psychiatrie machen. Bis dahin hatte mich dieses Gebiet nicht sonderlich interessiert. Im Gegenteil, es hatte etwas Beunruhigendes an sich. Vielleicht lag es an der scheinbaren Subjektivität der Diagnoseinstrumente, vielleicht auch an einigen persönlichen Themen, denen ich aus dem Weg gegangen war. Was auch immer der Grund gewesen sein mag, die Psychiatrie war das letzte Gebiet, in dem ich meinen Facharzt gemacht hätte. Meine Erfahrungen in der Neurochirurgie hatten mich dagegen beflügelt – ich fühlte mich wohl im Operationssaal, in dem mit Präzision, Intensität und Erregung um Menschenleben gerungen wird. Umso mehr staunten meine Freunde und auch ich selbst, als ich mich stattdessen für die Psychiatrie entschied.

Ich hatte gelernt, das Gehirn als biologisches Objekt zu verstehen – ein aus Zellen aufgebautes und von Blut gespeistes Organ. Doch anders als ein gebrochenes Bein oder ein schwaches Herz ist dieses Organ bei einer psychiatrischen Erkrankung nicht auf sichtbare Weise geschädigt. Die Krankheitsursache ist nicht in der Blutversorgung des Gehirns zu suchen, sondern in seinen verborgenen Kommunikationsprozessen, seiner inneren Stimme. Das lässt sich nicht messen, sondern nur mit Worten erfassen – denen der Patienten und unseren.

Die Psychiatrie beschäftigt sich mit den tiefsten Geheimnissen der Biologie und vielleicht des gesamten Universums, und nur Worte – meine erste und größte Leidenschaft – konnten den Zugang zu ihnen eröffnen. Nachdem ich diese Verbindung erkannt hatte, schlug ich einen vollkommen neuen Weg ein. Und wie so viele radikale Wendungen begann auch diese mit einem außergewöhnlichen Erlebnis.

An meinem ersten Tag in der Psychiatrie saß ich im Schwesternzimmer und blätterte in einer neurowissenschaftlichen Fachzeitschrift, als es auf dem Flur laut wurde und ein Patient – ein großer, dürrer Mittvierziger mit spärlichem Bartwuchs – hereinplatzte, obwohl die Tür eigentlich abgeschlossen sein sollte. Mit vor Angst und Wut weit aufgerissenen Augen stand er vor mir und starrte mich an. Mein Magen krampfte sich zusammen, als er anfing, auf mich einzubrüllen.

Als Großstädter war ich es gewohnt, dass Menschen mitunter sonderbare Dinge von sich geben. Aber dies war keine Zufallsbegegnung auf der Straße. Dieser Patient wirkte hellwach, keineswegs umnebelt. Sein Erleben war stabil und klar, aus seinen Augen leuchtete der Schmerz, seine Angst war echt. Mit der gebrochenen Stimme, die ihm noch blieb, und mit großem Mut stellte er sich der Bedrohung.

Was er sagte, war kreativ in seinem Leid, seine Formulierungen entzogen sich jeder herkömmlichen Semantik und schienen allein auf kommunikative Wirkung bedacht zu sein, hatten ihre ganz eigene Grammatik und Ästhetik. Obwohl wir uns noch nie begegnet waren, schien er zu glauben, dass ich ihn verletzt hatte. Er ging mich auf direkte Weise an, allerdings mit Lauten und Gefühlen, die jenseits von Syntax und Sinn zusammenhingen. Dabei verwendete er eine Wortschöpfung, die von James Joyce hätte stammen können, telmetale – Erzähl-mir-Geschichte –, das war Finnegans Wake in der geschlossenen Abteilung. Ich saß wie erstarrt, und während er sprach, schaltete mein Gehirn um. Seine Worte brachten Wissenschaft und Kunst zusammen, nicht nebeneinander, sondern miteinander verschmolzen, in der steten Zwangsläufigkeit und dem unkontrollierten Aufflammen eines Sonnenaufgangs. Es war schockierend, singulär und bedeutsam, und es brachte zum ersten Mal alle Stränge meines intellektuellen Lebens zusammen.

Später erfuhr ich, dass der Mann unter etwas litt, was man damals als schizoaffektive Störung bezeichnete, einen verheerenden Sturm von Emotionen und Realitätsfragmenten, in der Symptome der Depression, Manie und Psychose zusammenkommen. Ich erfuhr auch, dass diese Definition keinerlei Rolle spielte, da die Diagnose über die Eindämmung der Symptome hinaus keinerlei Auswirkungen auf die Behandlung hat und es keine Erklärung für die Ursachen gibt. Niemand konnte die simplen Fragen beantworten, worin diese Krankheit in körperlichem Sinne besteht, warum ausgerechnet dieser Mensch unter ihr leidet oder wie ein derart sonderbarer und entsetzlicher Zustand Teil der menschlichen Erfahrung werden kann.

Als Menschen suchen wir nach Erklärungen, auch wenn die Suche noch so aussichtslos erscheint. Für mich gab es von diesem Moment an kein Zurück, und je mehr ich lernte, umso faszinierter war ich. Ich wählte Psychiatrie für meine Facharztausbildung, und nach dem vierjährigen Studium gründete ich ein Labor im neuen Fachbereich Biotechnik, und zwar an der Universität in Silicon Valley, an der ich schon Medizin studiert hatte. Dort wollte ich Patienten behandeln und gleichzeitig neue Geräte zur Erforschung des Gehirns entwickeln. Damit hoffte ich, endlich auch neue Fragen stellen zu können.

So kompliziert das Gehirn scheinen mag, es ist genau wie jeder andere Körperteil auch nicht mehr als ein Zellklumpen. Zugegeben, es sind sehr schöne Zellen, darunter mehr als 80 Milliarden Neuronen, von denen jede an einen Baum mit winterlich kahlen Zweigen erinnert. Diese Zweige dienen der Leitung von elektrischen Signalen und gehen Zigtausende chemische Verknüpfungen, die sogenannten Synapsenverbindungen, mit anderen Zellen ein. Diese Zellen geben ständig winzige elektrische Signale weiter, die nur eine Tausendstelsekunde dauern und nur einige Picoampere stark sind. Transportiert werden diese Signale in fettummantelten leitfähigen Fasern namens Axonen, die zusammen die weiße Masse des Gehirns bilden. An dieser Schnittstelle zwischen Elektrizität und Chemie entstehen sämtliche Aktivitäten des menschlichen Gehirns – Erinnern, Denken, Fühlen. Das alles hat also mit Zellen zu tun, die sich beobachten, verstehen und verändern lassen.

Wie jeder andere Bereich der Biologie musste auch die Neurowissenschaft zunächst neue Methoden entwickeln, um das Funktionieren des Gehirns auf Zellebene besser zu verstehen. Vor 2005 gab es keine Möglichkeiten, konkrete Hirnzellen zu präziser elektrischer Aktivität anzuregen. Bis dahin beschränkte sich die Neurowissenschaft auf die Beobachtung und lauschte mit Elektroden denjenigen Zellen, die bei bestimmten Tätigkeiten aktiv werden. Dabei ging es darum, Aktivitätsmuster zu identifizieren, die mit bestimmten Hirnfunktionen und Verhaltensweisen wie Fühlen, Denken und Handeln zusammenhängen. Eines der ersten, ab 2004 in meinem Labor entwickelten Verfahren, die sogenannte Optogenetik, sollte diese Einschränkung aufheben, indem sie die Aktivität in konkreten Hirnzellen unterdrückte oder stimulierte.

Die Optogenetik dient dazu, Fremdgut in Form eines ganz speziellen Gens über die größte nur vorstellbare Entfernung zu transportieren, und zwar von den Zellen eines Reichs der Biologie in die eines anderen. Dieses Gen weist Zellen an, ein bestimmtes Protein herzustellen, welches wiederum in einer Zelle eine ganz bestimmte Aufgabe übernimmt. Konkret borgen wir uns in der Optogenetik Gene von Mikroben, Bakterien und einzelligen Algen und verpflanzen sie in ausgewählte Hirnzellen von Wirbeltieren, zum Beispiel von Mäusen oder Fischen. Das mag befremdlich klingen, hat aber seinen Sinn, denn in ihrem neuen Umfeld bewirken die geborgten Gene (sogenannte mikrobielle Opsine) die Produktion von bemerkenswerten Proteinen, die Licht in elektrischen Strom umwandeln.

In den ursprünglichen Wirten verwandelt dieses Protein Sonnenlicht in elektrische Signale oder Energie, etwa indem sie die einzellige Alge zu der für das Überleben optimalen Lichtmenge führen oder (im Falle von bestimmten urtümlichen Bakterien) Bedingungen herstellen, in denen aus Licht Energie gewonnen werden kann. Unter normalen Umständen reagieren die meisten tierischen Nervenzellen nicht auf Licht – dazu haben sie auch keinen Anlass, im Schädel ist es schließlich recht dunkel. Mit unserem optogenetischen Trick brachten wir jedoch ausgewählte Zellen im Gehirn dazu, dieses Protein zu produzieren und auf Licht zu reagieren. Auf diese Weise sprechen sie als einzige Zellen im Gehirn auf Lichtimpulse an, die Wissenschaftler einspeisen – und das Ergebnis ist die Optogenetik.

Elektrizität ist der wesentliche Informationsträger des Nervensystems. Mithilfe von Laserlicht, das wir durch dünne Faserkabel oder Hologramme ins Gehirn einbrachten, konnten wir in diesen modifizierten Zellen die elektrischen Signale verändern und das Verhalten der Tiere damit auf erstaunlich spezifische Weise manipulieren. So konnten wir beobachten, welche Rolle die betreffenden Zellen bei bestimmten Hirnfunktionen wie Wahrnehmung oder Gedächtnis spielen. Diese Experimente bedeuteten einen großen Fortschritt für die Neurowissenschaften, weil wir auf diese Weise die lokale Aktivität einzelner Zellen mit einem umfassenden Blick auf das gesamte Gehirn verbinden können. Tests von Ursache und Wirkung finden nun im richtigen Zusammenhang statt; nur Zellen in lebenden Gehirnen können die komplexen Funktionen (und Dysfunktionen) hinter einem bestimmten Verhalten hervorbringen – so wie einzelne Wörter nur im Zusammenhang eines Satzes für die Kommunikation sinnvoll sind.

Wir arbeiten vor allem mit Mäusen, Ratten und Fischen – Tieren, deren Nervensystem ähnlich aufgebaut ist wie unseres, auch wenn die Strukturen beim Menschen deutlich größer sind. Wie wir sind sie Wirbeltiere, die empfinden, entscheiden, sich erinnern und handeln, und wenn wir sie dabei in der richtigen Weise beobachten, können wir herausfinden, wie unsere gemeinsamen Hirnstrukturen funktionieren. Dieser neue Ansatz der Hirnforschung nutzt winzige und uralte Errungenschaften von Lebensformen, die sich fast zu Beginn der Evolutionsgeschichte von unserer Abstammungslinie abspalteten – ganz unten am Baum des Lebens, auf dem der Werft aufgepflanzt ist.

Darauf aufbauend entwickelte mein Labor eine weitere Technik, die sogenannte Hydrogelgewebe-Chemie. (Das ursprüngliche Verfahren aus dem Jahr 2013 nannten wir CLARITY; seither wurden daraus zahlreiche Varianten entwickelt.) Mithilfe chemischer Tricks werden hierbei lichtdurchlässige Hydrogele – weiche Polymere auf Wasserbasis – in Zellen und Gewebe eingebracht. Auf diese Weise werden ansonsten dichte und nicht lichtdurchlässige Hirnzellen transparent und ermöglichen die hochauflösende Visualisierung von Zellen und Biomolekülen. Die entscheidenden Teile bleiben dabei im Gewebe an Ort und Stelle, und die Bilder davon erinnern an Kindergeburtstage – an durchsichtigen Wackelpudding mit Obststückchen, die von außen sichtbar sind.

Die Optogenetik und das Hydrogelgewebe-Verfahren haben gemeinsam, dass wir das lebende Gehirn beobachten und Bestandteile erkennen können, die mit bestimmten Funktionen in Zusammenhang stehen. Detaillierte Analyse, ein wesentlicher Teil jeder wissenschaftlichen Forschung, lässt sich so an lebenden Systemen durchführen. Diese und ähnliche Verfahren begeistern nicht nur Wissenschaftler und haben der Hirnforschung völlig neue Möglichkeiten eröffnet.

Durch die Kombination der Optogenetik mit technischen Neuerungen auf den Gebieten der Mikroskopie, der Genforschung und der Proteinmanipulation haben Wissenschaftler inzwischen Tausende Erkenntnisse darüber gewonnen, wie Neuronen bestimmte Hirnfunktionen und Verhaltensweisen hervorbringen. So haben sie zum Beispiel konkrete Axonverbindungen entdeckt, die quer durch das Gehirn reichen (wie die Kettfäden eines Teppichs, durchwirkt von zahllosen Querfasern) und die evolutionär jüngeren Frontalregionen mit den tief im Gehirn liegenden älteren Regionen wie Angst- und Belohnungszentren verbinden; diese Verbindungen dienen unter anderem dazu, aktiv Verhaltensweisen zu unterdrücken, die diese Emotionen und Triebe in impulsive Handlungen übersetzen würden. Diese Entdeckungen wurden möglich, weil sich jetzt bestimmte durch Herkunft und Verlauf definierte Verbindungen präzise ansteuern und beeinflussen ließen, und zwar in Echtzeit in der Geschwindigkeit von Gedanken und Gefühlen und während sich die untersuchten Tiere in natürlicher Weise verhielten.

Die tief im Gehirn eingebetteten Axone tragen dazu bei, Gehirnzustände zu definieren und den Ausdruck von Emotionen zu lenken. Indem wir nun innere Zustände klar definierten körperlichen Strukturen zuordnen können, versetzt uns dies in die Lage, die Vergangenheit und unsere Evolution besser zu verstehen. Diese körperlichen Strukturen entstanden in unserer frühen Entwicklung und Kindheit durch Einwirkung der Gene, und Gene sind das Werkzeug der Evolution, die seit Jahrmillionen unser Gehirn geformt haben. Unsere inneren Kettfäden überspannen also nicht nur unsere inneren Räume, sondern auch die Zeiträume der menschlichen Existenz – sie sind ein Erbe, das in unserer Vorgeschichte verankert ist und unseren Vorfahren das Überleben ermöglichte.

Diese Verbindung zur Vergangenheit ist keine Zauberei – es handelt sich nicht um ein »kollektives Unbewusstes«, wie C. G. Jung die mystische Beziehung zu unseren fernen Vorfahren nannte. Sie stammt vielmehr aus der Struktur unserer Gehirnzellen und ist ein physisches Erbe unserer Vorfahren. Wesen, die durch Zufall erste Versionen unserer heutigen (und individuell leicht unterschiedlichen) Verbindungen hervorbrachten, überlebten und vermehrten sich besser und gaben daher die Gene, die diese Strukturen steuern, an uns und andere der heute lebenden Säugetiere weiter. Wir fühlen also wahrscheinlich das, was auch unsere Vorfahren fühlten – nicht nur zufällig, sondern oft in lebensentscheidender Weise.

Diese inneren Zustände verdanken wir dem Überlebenswillen (und manchmal auch einer Portion Glück), und sie brachten die Menschheit mit all ihren Gefühlen und Schwächen hervor.

Die modernen Neurowissenschaften eröffnen sogar die Möglichkeit, diese menschlichen Schwächen und damit auch menschliches Leid zu lindern. Aus den neuen Erkenntnissen zu den Ursachen bestimmter emotionaler Zustände auf Zellebene lassen sich möglicherweise therapeutische Behandlungsformen entwickeln. Oder man könnte herausfinden, welche Rolle bestimmte mit psychiatrischen Störungen in Verbindung stehende Gene in Gehirnschaltkreisen spielen, und damit Patienten neue Hoffnung geben. So verändert der wissenschaftliche Fortschritt die klinische Praxis, doch in meinem Fall wirkt die klinische Arbeit auch auf meine Forschung. Denn auch die Psychiatrie ist ein Motor der neurologischen Forschung. Ein faszinierender Gedanke: Die Leiderfahrung von Menschen auf der einen Seite und die Untersuchung an Gehirnen von Mäusen und Fischen auf der anderen durchdringen einander. Neurowissenschaften und Psychiatrie entwickeln einander weiter und stehen auf einer tiefen Ebene in Beziehung zueinander.

Im Rückblick kann ich mich fragen, ob ich wirklich keinen persönlichen Bezug zur Psychiatrie hatte, wie ich früher meinte. Wenn ich mich an die unerwartete Begegnung in der psychiatrischen Abteilung erinnere – das Geschrei, die Angst, meine Verwundbarkeit angesichts der furchteinflößenden Wahrnehmungen eines anderen –, dann frage ich mich manchmal, ob ich nicht unbewusst bereits offen war für diesen Moment, der für viele verständlicherweise nicht mehr als eine verstörende Begegnung gewesen wäre. Wie die wissenschaftliche Entdeckung kann auch die persönliche Inspiration aus unerwarteten Richtungen kommen; daher sehe ich meinen Kurswechsel in diesem Moment als ein Gleichnis über die Gefahren der Voreingenommenheit und die Notwendigkeit der unmittelbaren Erfahrung, die nötig ist, um dem Menschlichen auf die Spur zu kommen.

Die Sache hat einen weiteren allegorischen Aspekt, denn die Geschichte der Optogenetik bietet unserer Gesellschaft eine Lektion über den Wert der vermeintlich zweckfreien Forschung. Die Entwicklung der Optogenetik und die neuen Erkenntnisse zu Emotionen und psychischen Krankheiten, die sie ermöglicht hat, basieren auf Untersuchungen zu Algen und Bakterien, die über ein Jahrhundert zurückreichen – und diese neuen Anwendungen waren seinerzeit nicht absehbar. Wie andere wissenschaftliche Durchbrüche zeigt auch die Optogenetik, dass Wissenschaft nicht ausschließlich nach ihrer unmittelbaren Anwendbarkeit beurteilt werden darf. Je mehr wir Forschung lenken wollen (etwa durch Konzentration von Fördermitteln auf konkrete medizinische Verfahren), umso eher bremsen wir den Fortschritt und umso eher bleiben Dinge unentdeckt, die Wissenschaft und Gesundheit wirklich voranbringen können. Ideen und Einflüsse aus unerwarteten Richtungen sind wesentlich – für die Medizin, für die Naturwissenschaften und für uns alle, weil sie uns neue Wege durch unsere Welt eröffnen.

Manchmal stelle ich mir vor, wie ich diesem Patienten mit der schizoaffektiven Störung von damals noch einmal begegne und wir uns zu einem friedlichen Gespräch zusammensetzen. Das Wesen von Krankheiten auf dem Schizophreniespektrum könnte man auch als »Empfänglichkeit für das Unwahrscheinliche« beschreiben; deshalb würde er sich vielleicht gar nicht wundern, dass er mit seinem Auftritt im Schwesternzimmer zum Fortschritt der Psychiatrie und Hirnforschung beigetragen hat. Unser Gespräch würde aber auch für uns beide bekräftigen, dass bei allem Leid sein Werft parallel zu unserem verläuft und Teil des gemeinsamen Stoffs der menschlichen Erfahrung ist, in dem er genauso wenig krank ist wie die Menschheit selbst.

1  Tränenhort

Die Linien liegen klar zwischen den Sternen.

Die Nacht ist nicht der Hort, um den sie heulen,

Die Heuler, die in Tiefseesätzen gründeln.

Die Linien sind zu dunkel und zu scharf.

Der Geist kommt hier zur Einfachheit.

Kein Mond, kein einzig silbrig Blatt

Der Körper ist als Körper nicht zu sehn,

Sondern nur Auge, das sein schwarzes Lid besieht.

Wallace Stevens, Stars at Tallapoosa

Die Geschichte, die mir Mateo erzählte, konnte ich nur abstrahiert erfassen, indem ich mein mentales Bild von ihr zusammenklappte wie eine Falttrage und zwischen all die anderen schob, die ich schon gehört hatte. Es half mir, wenn ich mir nicht allzu bildhaft ausmalte, wie lange er in seinem Sicherheitsgurt kopfüber im überschlagenen Wagen gehangen hatte, und mir keine Gedanken darüber machte, wie hilflos er sich gefühlt haben musste, während seine Familie um ihn herum starb, sondern ihn mir stattdessen in einem einzigen Moment vorstellte, in einem Schnappschuss.

Oder indem ich stattdessen Mateo selbst vereinfachte, ihn auf eine einzige Dimension reduzierte und den Raum verkürzte, den er einnahm – indem ich seine menschliche Textur einebnete. Dann konnte ich seine Geschichte zu den anderen heften, die ich gehört und gesehen hatte – zusammen waren sie wie ein Stapel alter, nicht voneinander zu unterscheidender und von Tränen verklebter Zeitungen. So ließ sich das Leid bündeln wie ein fügsamer Stapel von zehn oder zehntausend Leben. Ich weiß nicht, warum ich nicht weinen kann. Mit diesen Worten hatte er begonnen. Und als alles gesagt und zusammengeschnürt war, war es nicht mehr und nicht weniger als jedes andere Ende einer menschlichen Welt.

Im Studium lernen Mediziner nicht, in diesen besonders vernichtenden Momenten ihr verwundbares Herz zu schützen. Ärzte, Soldaten oder Krisenhelfer müssen sich alle selbst Abwehrmechanismen aneignen, um unter den Extremen des menschlichen Leids zu überleben. Es ist nicht nur das Ausmaß des Schmerzes, sondern dass er einfach kein Ende nimmt – ein erbarmungsloser Abstieg in den Abgrund, Tag für Tag, Jahr für Jahr, der ohne Schutzmaßnahmen nicht zu ertragen wäre.

Wenn ein Mensch einen persönlichen Verlust erlitten hat, ist es unsere natürliche Reaktion, eine tiefe Verbindung zu ihm zu suchen und in unserer Vorstellung ein vollständiges und komplexes Abbild des anderen zu erspüren, um seine Tragödie nachzuvollziehen. Doch im Angesicht von extremem Leid kann es sinnvoll sein, den Blick stattdessen zu verengen, um sich das Mitgefühl zu bewahren, und innerhalb des umfassenden Lebensgeflechts des Patienten einen Punkt zu suchen, an dem die Fäden zusammenlaufen und an dem man die Formen und Farben nacherleben kann.

Es ist gut zu wissen, dass der Blick auf das Ganze verfügbar wäre, doch alles nachzuempfinden ließe uns die Tragödie nicht verstehen – aufgewühlte Emotionen sind bei Präzisionsaufgaben in Krisenmomenten nicht zuträglich, gleich, ob es sich um eine schwierige Rückenmarkspunktion handelt oder um ein psychiatrisches Gespräch, bei dem unaussprechliche Gefühle zum Ausdruck gebracht werden sollen. Unser Blick weitet sich, sobald er die Gelegenheit dazu bekommt, manchmal auch ohne jede Vorwarnung – mit einem plötzlichen Schluchzen auf dem Nachhauseweg oder bei unseren Kindern. Bis dahin bleiben die Fäden des Lebens und der Träume des Patienten – von den Wurzeln und Ursprüngen durch die Reisen und Beziehungen bis zum Moment dieser Katastrophe, in dem sie zusammenlaufen – unsichtbar, doch greifbar.

Jede Tragödie wird nach wie vor intensiv erlebt und jeder leidende Mensch sorgsam im Herzen verwahrt, wie viele im Laufe der Jahre auch noch hinzukommen mögen – jeder Vater, der nach einem Autounfall betäubt und sprachlos ist, jede Mutter, die um Worte ringt, nachdem die Ärzte ihr mitgeteilt haben, dass ihr Kind Krebs hat. Dabei ist Selbstschutz entscheidend; solange die Liste der Fälle noch kurz ist, etwa zu Beginn der medizinischen Ausbildung, kann schon eine einzige Begegnung unser Innerstes überrennen und dorthin vordringen, wo wir Repräsentationen von Menschen sehen und spüren, strukturierte Bilder von geliebten Menschen, die wir wie Wandteppiche liebevoll in unseren innersten, warm leuchtenden Hallen aufgehängt haben, den verborgenen Räumen des Selbst, unserem inneren Burgfried.

Ich hätte mich wappnen sollen, doch ich ahnte nicht, wie angreifbar mein Burgfried war. Als ich in die Notaufnahme gerufen wurde, um Mateo als Stationsarzt der Psychiatrie zu begutachten, war ich seit Jahren nicht mehr von meinem eigenen Mitgefühl ernsthaft verletzt worden, nicht seit meiner Zeit als unerfahrener junger Medizinstudent. Damals war jedoch alles anders gewesen – meine Gefühle waren schlicht Gefühle gewesen, nicht Gefühle zu Gefühlen, eine sicherere Form, die sie erst später annahmen. Als Student war ich verwundbarer gewesen, ich durfte keine Anweisungen geben und keine Behandlungen verordnen, und ich lernte erst die Sprache des Fachs, während ich gleichzeitig außerhalb des Krankenhauses als alleinerziehender Vater einen Sohn aufzog.

An meinem ersten und schmerzlichsten Abend, lange vor meiner Begegnung mit Mateo, hatte ich Nachtdienst im Kinderkrankenhaus. Der Abend war ruhig. Meine erste Aufgabe – und ein Vorspiel dessen, was noch auf mich zukommen sollte – war die Aufnahme einer Familie mit einer Mukoviszidose-Vorgeschichte. Die Patienten waren dreijährige Zwillinge, die mit Luftnot eingeliefert worden waren.

Die Familie war in der Klinik bekannt, die Kinder waren in der Vergangenheit schon mehrfach aufgenommen worden. Die Eltern hatten eine gewisse Routine und beantworteten meine Fragen, noch ehe ich sie richtig gestellt hatte. Außerdem befanden sie sich in Scheidung.

Bei der Geburt der Zwillinge hatten sie eine verborgene Schwachstelle ihrer Verbindung erkannt. In den meisten Fällen von Mukoviszidose haben die Eltern selbst keine Symptome, auch wenn sie beide ein geschädigtes Gen tragen. Säugetiere haben fast jedes Gen in zwei Ausführungen, sodass es folgenlos bleibt, wenn eines davon geschädigt ist.

Sowohl Vater als auch Mutter können also gesunde Träger eines Mukoviszidose-Gens sein; die Krankheit kommt erst zum Ausdruck, wenn ihr Kind zwei geschädigte Exemplare des Gens erbt und damit eine viel schwerere Bürde trägt. Es ist eine simple Rechnung, und an diesem Abend erfuhr ich, dass die Eltern, beide noch recht jung, die scheinbar einfache und praktische Entscheidung getroffen hatten, sich zu trennen und neue Partner zu suchen, mit denen sie gesunde Kinder zeugen konnten. Doch bevor sie ihren Kampf gegen die blinden Kräfte der Vererbung aufnahmen, musste ich inmitten des Aufruhrs der verschleimten und schreienden Zwillinge geduldig die Fakten zur Krankheitsgeschichte erfragen, um ihre Aufnahme abzuschließen.

Gegen Mitternacht war endlich wieder Ruhe eingekehrt, als wir von einem Notfall erfuhren, der aus einem anderen Krankenhaus zu uns verlegt worden war. Ein vierjähriges Mädchen namens Andi mit einem Befund am Hirnstamm.

Die folgenden Ereignisse sollten mich noch über Jahre hinweg begleiten und eine tiefe Wunde reißen, vielleicht tiefer als ich ahne, vielleicht bis auf den Grund. Ich war bei der Aufnahme von Andi dabei – ein charmantes und verträumtes Mädchen mit Pferdeschwanz, das auf dem Krankenhausbett kniete und seine Puppen um sich herum aufbaute, wobei ein Auge ein wenig nach innen schielte. Es war kaum aufgefallen, als sie am Abend mit ihren Eltern Fangen gespielt hatte, eine Kleinigkeit, die fast unterging in der Aufregung, länger draußen bleiben zu dürfen. Lediglich ein bisschen Doppeltsehen in der Abenddämmerung, dann ein leiser Anflug von Sorge.

Ich ließ mich schnell hineinziehen, obwohl ich der Unbedeutendste in der kleinen Gruppe von Leuten war, die sich des Falls annahmen und im Stationszimmer drängten. Zu Beginn der Besprechung hatte ich an der Wand gelehnt, doch sobald sich die emotionale Wucht der Szene vor mir offenbarte, war an hinsetzen nicht mehr zu denken. Ich war nicht einmal mehr imstande, auch nur das Gewicht von einem Fuß auf den anderen zu verlagern. Wie erstarrt stand ich da, bis draußen schon fast die Sonne aufging.

Die Eltern hatten ein rechteckiges Stückchen Zelluloid mitgebracht, das Negativ einer Aufnahme des Hirnstamms – ihre Fahrkarte, die sie aus dem Krankenhaus weiter oben im Tal zu uns gebracht hatte. Den ganzen Abend lang hatten sie sich an die verhasste Aufnahme geklammert, bis sie nun in diesem fensterlosen Raum an einem Leuchtkasten klemmte wie ein von hinten beleuchtetes graues Sterbebildchen. Andis Eltern, die Augen geschwollen von unterdrückten Tränen, saßen mir gegenüber, als befänden sie sich in einer anderen Dimension, allein im überfüllten Raum. Der behandelnde Arzt, ein pädiatrischer Neuroonkologe, saß direkt links von mir und beugte sich nach vorn. Er war aus dem Bett gerufen worden, nicht um zu operieren, und auch nicht, um eine Entscheidung zu treffen – es gab in dieser Nacht nichts mehr zu tun –, sondern um den Eltern den Befund der Untersuchung und der Aufnahme zu erklären.

Das einzige Instrument, das dem Arzt in dieser Nacht blieb, waren Worte. Stundenlang saß er nach vorn gebeugt, nicht ein einziges Mal lehnte er sich zurück oder sah mich oder einen anderen aus dem Team an. Seine Worte galten allein zwei Menschen in diesem überfüllten Raum, dem Vater und der Mutter, nur diesen beiden, die ganze Nacht hindurch.

Wir wussten, was die Doppelsicht bedeutete. Wir sahen die Aufnahme. Über ihre Hirnbrücke war ein Schatten gefallen.

Am Hirnstamm, an der Schädelbasis, befindet sich eine Verdickung von Zellen und Fasern namens Hirnbrücke – sie ist dicht und vital und verbindet alles, was uns im Hirn darüber zu Menschen macht, mit dem Rückenmark und den aus dem Schädel kommenden Nervensträngen darunter. Wenn die Fasern in dieser Hirnbrücke gestört sind, erkennt dies ein Arzt auch ohne Computer- oder Kernspintomografie. Er muss dem Menschen nur in die Augen sehen.

Andi schielte, aber nur eines ihrer beiden Augen blickte ein wenig nach innen, weil ein winziger Muskel seitlich ihres linken Augapfels, der laterale Augenmuskel, ausgefallen war. Eine feine Muskelfaser erhielt keine Anweisungen mehr vom Gehirn, weil der für sie zuständige Kommunikationsstrang, ihr Nerv, verstummt war.

Der sechste Hirnnerv (von den insgesamt zwölf) trägt den Namen Abduzens. Die überforderten Medizinstudenten lieben ihn, weil er im Vergleich zu den Windungen und Wirrungen der übrigen Hirnnerven einen ungewöhnlich gradlinigen Verlauf nimmt. Der Abduzens ist für einen einzigen Muskel zuständig, den lateralen Augenmuskel, und dieser Muskel hat wiederum nur eine einzige Aufgabe, nämlich die Ausrichtung des Auges. Der Abduzens verläuft seitlich des Hirnstamms, seine Fasern laufen mitten durch die Hirnbrücke und verrichten ihre einfache Aufgabe.

Doch an diesem Abend übernahm der Abduzens eine andere Aufgabe: Er vermeldete etwas Ungewöhnliches im Hirnstamm und verwies auf etwas, was nicht in Ordnung war. Die Aufnahme bestätigte es uns, sie zeigte eine dunkle Ausformung, die sich über die Hirnbrücke gelegt hatte. Die Nervenstränge auf der einen Seite der Brücke waren unterbrochen, sodass sich die Augen nicht mehr zugleich bewegten und nicht mehr auf ihr gemeinsames Ziel ausgerichtet waren.

Die Koordinierung der Augen ist eine wunderbare Sache, solange sie funktioniert und solange sie bei Primaten wie uns zusammen in die Welt blicken. Beide erhalten dieselbe Anweisung vom Gehirn, dem Ball nachzublicken, den der Vater in der Dämmerung wirft. Doch die beiden Augen mit ihren leicht unterschiedlichen Formen und Winkeln stehen nicht direkt miteinander in Verbindung. Vieles muss perfekt aufeinander abgestimmt sein, damit sie sich gemeinsam bewegen und dasselbe Motiv nicht doppelt sehen.

Bioingenieure lieben diese Aufgabe, weil sie unterstreicht, wie wichtig Konstruktion ist. In der Biologie stehen Synchronität und Symmetrie für Vertrauen, Wahrhaftigkeit und Gesundheit. Zwei Sensoren, zwei Augen, sind gemeinsam auf dem schmalsten Grat der Zeit ausbalanciert. Biologische Systeme sind immer fehlerhaft – Rauschen, Abweichungen, Chaos und selbst Täuschung können ja auch ihre Vorteile haben –, weshalb jedes System Rückkopplungen benötigt, um sich selbst zu kontrollieren und zu justieren. Zu Beginn des Lebens, ehe wir uns dessen bewusst werden, dient die Doppelsicht als Fehlermeldung, mit deren Hilfe unser Gehirn die Abweichung korrigiert, die Anweisungen durch den Hirnnerv an die Augenmuskeln berichtigt und sorgfältig kalibriert, bis sie verschwindet und wir die Welt als Einheit wahrnehmen.

Bis bei einigen Menschen der Fehler wiederkehrt – wie bei diesem Mädchen. Nur ließ er sich hier nicht mehr beheben. Wenn eines der beiden Augen auch nur geringfügig verrutscht, wird ein Eindringling erkennbar und eine Krankheit sichtbar. Der Schatten breitet sich aus, und die durch die Hirnbrücke laufenden Nervenstränge werden immer weiter gestört. Kein anderer Nerv konnte verantwortlich sein, es war der Abduzens, der sechste der zwölf Hirnnerven. In dieser Art von Hirnstammkrebs ist es immer der sechste, eine Grenzwache, die unerbittlich das ferne Hufgetrappel des Feindes vermeldet.

Der Arzt war sehr darauf bedacht, in dieser Nacht keine abschließende Prognose zu stellen, doch aus meinen Seminaren und vom Stationsdienst wusste ich, dass der Todesmarsch begonnen hatte. Es handelte sich um das DIPG, das diffuse intrinsische Ponsgliom, und Andi hatte noch sechs bis neun Monate zu leben. Ihre Eltern spürten es, doch sie wussten es nicht. Auch ohne Daten fühlten sie, wie etwas ins Wanken geraten war, wie diese Faser des Eindringlings in ihr Innerstes vordrang, jeden ihrer Gedanken umschlang und den Atem des Lebens selbst abschnürte. Ihre Worte waren verdorrt, wie erdrosselt, und rangen sich zäh aus ihrer Kehle.

Ich wusste etwas viel Schlimmeres, das sie in diesem Moment noch nicht ahnen konnten: Ich wusste, welcher Tod dem Mädchen bevorstand. In wenigen Monaten würde Andi nicht mehr sprechen und sich nicht mehr bewegen können. Mit weit geöffneten Augen würde sie gelähmt sein, und dabei immer noch so aufgeweckt, munter und aufnahmefähig wie an diesem Abend. Locked-in, in sich eingesperrt – ein Zustand wie aus dem schlimmsten Albtraum –, während die Brücke zur Welt zusammenbrach.

So schnell hatte sich alles geändert. Bloß ein Besuch beim Hausarzt am Abend eines gewöhnlichen Wochentags, weil das Mädchen doppelt gesehen hatte. Mein Sohn war damals etwa in demselben Alter, knapp vier, doch daran konnte ich in diesem Moment nur flüchtig denken. Jedes Mal, wenn mir an jenem Abend dieser Gedanke kam, wurde er ängstlich von einem anderen inneren Prozess zurückgedrängt, und ein schweres Tor wurde zugeschlagen. Eine primitive und unreife Verteidigungsstrategie, wie mir selbst damals bewusst war – schau nicht hin, fühle nichts. Doch für den Moment wirkte sie.

In den folgenden Tagen machte ich Bekanntschaft mit einer neuen Art der Trauer. Während ich lernte, das Tor einen einen Spaltbreit offen zu halten, um ein wenig Licht hindurchzulassen und Andis Verbindung zu meinem Sohn zu erkennen – und auf diese Weise auch die Trauer der Eltern, die meine Vorstellungskraft weit überstieg –, brach ich in zornige Tränen aus und empfand eine unsinnige Wut auf diese Krankheit und die Tatsache, dass es so etwas wie das Ponsgliom überhaupt gab. Es musste doch Hoffnung geben, seiner Bösartigkeit beizukommen; es musste doch Hoffnung für Andi geben.

Auf dem Tiefpunkt kam mir ein unerwarteter Gedanke, der von diesem Kind eingepflanzt und von meinem Zorn genährt worden war: Manche Ärzte mochten mit so etwas fertigwerden, aber ich konnte es nicht. Ich war nicht für Medizin gemacht. Ich würde gehen, mich in den Schutzraum der Forschung flüchten, der mir so vertraut war und in dem keine kleinen Mädchen starben.

Doch mit der Zeit verzog sich dieser Sturm aus Trauer, Wut, falschen Hoffnungen und Fluchtgedanken. Neue Erfahrungen drängten in den Vordergrund. Ich heilte – wenn auch immer noch unreif, indem ich den Schmerz schrittweise versiegelte wie ein Abszess, der einen Infektionsherd einkapselt. Im Lauf der Zeit gab ich die Hoffnung einfach auf; ich musste immer daran denken, dass die Welt mehr von mir benötigte als Hoffnung.

Für Andi konnten wir nichts tun. Es gibt keine Operation, die den Weg um die Fasern des Lebens der Atmung und der Bewegung in der Hirnbrücke herum findet, und keine Chemotherapie oder Bestrahlung, die dauerhaft wirken würde. Genau wie ihre Eltern war ich machtlos gegenüber dem, was sie heimgesucht hatte, eingehüllt ins Dunkel des Hirnstamms, in aller Heimlichkeit unter Haut und Schädel und unter der zarten Hirnhaut, die ihr Gehirn umschloss. Pia mater nennen wir diese Haut: die liebende Mutter.

Mit der Hoffnung versiegten auch meine Tränen. Ich richtete meine Aufmerksamkeit nach draußen, auf die anheimelnden Kleinigkeiten unseres Lebens. Mein Turnus auf der Kinderstation ging zu Ende, und ich sah Andi nie wieder. Es war nicht zu ertragen, doch ich ertrug es, ich kannte ihr Ende, aber ich erlebte es nicht mit. Doch bis heute trage ich sie in mir.

Noch immer erfassen diese Gefühle fast jeden Teil von mir, enden inzwischen jedoch kurz vor den Tränen. Dieser innere Zustand ist stets da, stets bereit zurückzukehren, auch wenn er heute subtiler und komplexer ist – die Welt ist eine andere, ich bin ein anderer. Tief in mir befinden sich mehr Abbilder anderer Menschen, die mit Andi verbunden sind und sie stützen.

Die Erinnerung ist heute auch gefärbt durch den Fortschritt der Wissenschaft und die Entwicklung der Optogenetik, mit deren Hilfe ich dem Gehirn beim Funktionieren zuschauen und erforschen kann, wie innere emotionale Zustände auf der Zellebene entstehen, um zu untersuchen, welche Rolle diese Bausteine spielen. Das optogenetische Verfahren basiert darauf, ein Stück eines Lebewesens in einem anderen neu entstehen zu lassen, und zwar derart, dass es im anderen weiterlebt und integriert wird. Im Wirt bewirkt dieses neue Stück, ein Gen, neue Vorgänge und Verhaltensweisen – genau wie eine neue Erkenntnis oder Erfahrung dies können.

In der Biologie kommt es häufig vor, dass ein Organismus die Grenze zu einem anderen überschreitet – manchmal spontan, manchmal vorsätzlich. Dabei kann es sich um eine einzelne Zelle handeln, die die universelle Essenz des Lebens – die DNA, ein genetisches Programm und eine lebende Säure – in einem Fettmantel mitbringt. Das ist nichts anderes als die Geschichte des Lebens auf der Erde, und sie spielt sich auf alle möglichen Arten ab. Vor allem wenn große Entfernungen und Hürden zu überwinden sind, eröffnen sich auf beiden Seiten der Grenze schier unbegrenzte Möglichkeiten.