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Der Sucher E-Book

Tana French

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Beschreibung

»Überzeugende suggestive Kraft.« FAZ »Unwiderstehlicher Lese-Sog.« Brigitte »Durch ihren Roman ›Der Sucher‹ bin ich Fan von Tana French geworden.« Devid Striesow Cal Hooper, ehemaliger Cop aus Chicago, hat sich in den Westen von Irland geflüchtet. Die Natur scheint friedlich, im Dorf nimmt man ihn freundlich auf. Da springt sein langjährig trainierter innerer Alarm an: Er wird beobachtet. Immer wieder taucht ein Kind bei ihm auf. Auf den umliegenden Farmen kommen auf seltsame Weise Tiere zu Tode. Cal gerät in eine Suche, die niemanden verschont. Ein beeindruckender, atmosphärischer Roman über Familie, Gemeinschaft, die Natur und die Gefahr, die von den Menschen kommt. Das neue spannende Werk der renommierten Bestseller-Autorin Tana French. »Ein Meisterwerk in seiner eigenen Liga: Diese soghafte Geschichte über vereitelte Träume ist Tana Frenchs bestes Buch bisher.« Washington Post

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Seitenzahl: 669

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Tana French

Der Sucher

Roman

 

Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann

 

Über dieses Buch

 

 

Cal Hooper hat seinen inneren Kompass verloren. Nach vielen Jahren als Ermittler und einer schmerzhaften Scheidung will er nichts, als in ländlicher Ruhe ein Cottage zu renovieren. Anders als erwartet, nehmen ihn die Menschen in dem abgelegenen irischen Flecken hilfsbereit auf. Doch bald findet er sich auf einer Suche wieder, wie er sie noch niemals erlebt hat: rückhaltlos, persönlich, abgründig.

 

Eine Geschichte von wilder Spannung und Schönheit, die große Fragen stellt: Wie wollen wir leben? Wie sollen wir handeln? Wie weit gehen wir für das, was uns wichtig ist? Ein literarischer Thriller und ein beeindruckender Roman über Gemeinschaft, Familie, die Natur und die Gefahr, die von den Menschen kommt.

 

»Tana French ist eine Klasse für sich. Sie schreibt große Romane, in denen auch Verbrechen geschehen.« New York Times

 

»Tana French kann kaum einer das Wasser reichen.« Bücher

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

»Meisterhaft, wie Tana French Stimmungen einfängt und geniale Plots konstruiert«, sagt die Washington Post über Tana French. Mit ihrer eindrücklichen Sprache zeichnet sie markante Porträts der irischen Gesellschaft und schaut tief in die Seelen der Menschen. Die irische Autorin wurde für ihr Werk vielfach ausgezeichnet; ihre Romane stehen weltweit auf den Bestsellerlisten. Tana French wuchs in Irland, Italien und Malawi auf. Sie absolvierte eine Schauspielausbildung am Trinity College und arbeitete für Theater, Film und Fernsehen. Tana French lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern im nördlichen Teil von Dublin.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Inhalt

[Widmung]

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

Danksagung

Für Ann-Marie

1

Als Cal aus der Hintertür tritt, haben die Krähen gerade Beute gemacht. Sechs von ihnen hüpfen im hohen nassen Gras und dem gelb blühenden Unkraut herum und hacken auf irgendwas ziemlich Kleines ein, das sich noch bewegt.

Cal stellt den Müllsack mit abgerissenen Tapeten ab. Er überlegt, sein Jagdmesser zu holen und die Kreatur von ihrem Leiden zu erlösen, aber die Krähen sind schon sehr viel länger hier als er. Es wäre ziemlich unverschämt von ihm, sich mir nichts, dir nichts in ihre Angelegenheiten zu mischen. Stattdessen lässt er sich neben dem Müllsack auf die bemooste Türstufe sinken.

Er mag die Krähen. Er hat irgendwo gelesen, dass sie verdammt schlau sind, dass sie sich mit Menschen anfreunden, ihnen sogar Geschenke bringen können. Seit mittlerweile drei Monaten versucht er, sich bei ihnen einzuschleimen, indem er ihnen immer mal wieder Essensabfälle auf den großen Baumstumpf hinten im Garten legt. Von ihrer Kolonie in der efeubehangenen Eiche aus beobachten die Vögel, wie er durch das Gras hin und her stapft, und sobald er in sicherer Entfernung ist, stoßen sie herab, zanken sich um die Abfälle und geben krächzende Kommentare ab. Aber sie haben weiterhin ein misstrauisches Auge auf Cal, und sobald er auch nur einen Schritt näher kommt, sind sie weg, flüchten sich zurück in die Eiche, von wo sie ihn verhöhnen und ihm Zweige auf den Kopf werfen. Gestern Nachmittag war er in seinem Wohnzimmer und riss schimmelige Tapeten ab, als eine seidig glänzende, mittelgroße Krähe auf dem Sims des offenen Fensters landete und etwas krächzte, was offensichtlich eine Beleidigung war, um dann lachend davonzuflattern.

Das kleine Etwas auf der Wiese zuckt wild im hohen Gras. Eine fette Krähe hüpft näher heran, landet einen präzisen wilden Stich mit dem Schnabel, und das Etwas erschlafft.

Ein Kaninchen, vielleicht. Cal hat frühmorgens draußen im Tau welche herumflitzen und knabbern sehen. Ihre Baue sind irgendwo auf der Wiese hinter seinem Haus, bei dem dichten Haselnuss- und Ebereschenwäldchen. Wenn er endlich seinen Waffenschein hat, will er rausfinden, ob er sich noch daran erinnert, was sein Grandpa ihm über das Abziehen und Ausnehmen von Wild beigebracht hat, und ob der launische Internetzugang ihm ein Rezept für Kanincheneintopf liefert. Die Krähen drängen sich zusammen, hacken und picken und stemmen die Füße fest auf den Boden, um Fleischbissen herauszureißen. Immer mehr gleiten vom Baum herunter und stürzen sich ins Getümmel.

Cal schaut ihnen eine Weile zu, streckt die Beine aus und lässt eine Schulter kreisen. Die Arbeit am Haus beansprucht Muskeln, von denen er gar nicht mehr wusste, dass er sie hat. Jeden Morgen tut ihm irgendwas anderes weh, wenn auch wohl zum Teil deshalb, weil er auf einer billigen Matratze auf dem Fußboden schläft. Cal ist zu alt und zu schwer für so was, aber es hätte keinen Sinn, bei dem Staub und der Feuchtigkeit und dem Moder gute Möbel aufzustellen. Die wird er sich erst anschaffen, wenn das Haus fertig ist und er herausgefunden hat, wo man sie am besten kauft – für so was war immer Donna zuständig. Mittlerweile stören ihn die schmerzenden Muskeln nicht mehr. Sie erfüllen ihn mit Genugtuung. Zusammen mit den Blasen und der dicken Hornhaut an den Händen sind sie etwas Verlässliches, der mühsam erarbeitete Beleg für das, was jetzt sein Leben ist.

Der lange kühle Septemberabend bricht an, doch durch die dichte Wolkendecke ist keine Spur von einem Sonnenuntergang zu sehen. Der Himmel, in feinen Graustufen gesprenkelt, erstreckt sich unendlich; ebenso die Weiden, je nach Nutzungsart in unterschiedlichen Grünschattierungen und durch ausgedehnte Hecken, Trockenmauern und vereinzelte schmale Wege unterteilt. Nach Norden hin zieht sich eine niedrige Bergkette am Horizont entlang. Cals Augen müssen sich noch immer daran gewöhnen, so weit schauen zu können, nach all den Jahren in der Stadt mit ihren Häuserblocks. Landschaft ist eines der wenigen Dinge, von denen er weiß, dass die Wirklichkeit keine Enttäuschung ist. Der Westen Irlands sah im Internet schön aus. Von mittendrin aus betrachtet sieht er sogar noch besser aus. Die Luft ist gehaltvoll wie Früchtebrot, als sollte man mehr mit ihr machen als sie nur einatmen, vielleicht ein großes Stück herausbeißen oder sie sich händeweise ins Gesicht reiben.

Nach einer Weile beruhigen sich die Krähen, gesättigt von ihrer Mahlzeit. Cal steht auf und hebt den Müllsack vom Boden. Sofort spähen die Krähen argwöhnisch zu ihm herüber, und als er durch den Garten geht, schwingen sie sich in die Luft und befördern ihre vollen Bäuche flatternd zurück in die Eiche. Er trägt den Sack bis hinten in die Ecke neben dem mit Kletterpflanzen überwucherten baufälligen Steinschuppen, bleibt zwischendurch stehen, um sich das Abendessen der Krähen anzusehen. Kaninchen, tatsächlich, ein junges, jetzt jedoch kaum noch als solches zu erkennen.

Er stellt den Müllsack zu den anderen und geht zurück zum Haus. Er ist fast dort, als die Krähen loslegen, mit Blättern rascheln und irgendetwas mit Beschimpfungen überschütten. Cal dreht sich nicht um, sondern geht unbeirrt weiter. Als er die Hintertür schließt, zischt er ganz leise durch zusammengepresste Zähne: »Arschloch.«

Seit anderthalb Wochen wird Cal von irgendwem beobachtet. Wahrscheinlich schon länger, aber er war auf seine Arbeit konzentriert und ging, wie das jeder inmitten von so viel freier Natur mit Fug und Recht tun würde, ganz selbstverständlich davon aus, dass er allein wäre. Seine mentale Alarmanlage war abgeschaltet, genau wie er das wollte. Eines Abends dann machte er sich gerade etwas zu essen – briet einen Hamburger auf der einzigen funktionierenden Kochplatte des rostfleckigen Küchenherds, Steve Earle schön laut aus dem iPod-Lautsprecher, gelegentlich von Cal schwungvoll mit Luftschlagzeugeinlagen untermalt –, als sein Nacken plötzlich heiß wurde.

Cals Nacken wurde fünfundzwanzig Jahre lang bei der Polizei von Chicago ausgebildet. Er nimmt ihn ernst. Er schlenderte lässig durch die Küche, nickte dabei zur Musik und inspizierte die Arbeitsplatte, als suche er nach etwas, dann hechtete er jäh zum Fenster: niemand zu sehen. Er drehte die Kochplatte ab und lief zur Tür, doch der Garten war leer. Er ging sein Grundstück ab, unter einer Million wilder Sterne und einem prallen Vollmond, ringsherum weiß schimmernde Weiden und schreiende Eulen: nichts.

Irgendein Tiergeräusch, sagte Cal sich, von der Musik übertönt, so dass nur sein Unterbewusstsein es registrierte. Die Dunkelheit hier ist lebendig. Er hat schon etliche Male bis weit nach Mitternacht auf seiner Stufe gesessen, ein paar Bier getrunken und sich an die Nacht gewöhnt. Er hat Igel durch seinen Garten wuseln sehen, einen geschmeidigen Fuchs, der kurz stehen blieb, um ihm einen provozierenden Blick zuzuwerfen. Einmal zockelte ein Dachs, größer und kräftiger, als Cal ihn sich vorgestellt hatte, an der Hecke entlang und verschwand darin. Eine Minute später war ein durchdringender Schrei zu hören, dann das Rascheln des Dachses, der sich entfernte. Alles Mögliche hätte sich da draußen herumtreiben können.

Bevor Cal an dem Abend zu Bett ging, stellte er seine zwei Tassen und Teller auf die Schlafzimmerfensterbank und schob einen alten Sekretär vor die Zimmertür. Dann nannte er sich selbst einen Blödmann und räumte alles wieder weg.

Einige Tage später war er vormittags damit beschäftigt, Tapeten abzureißen, bei geöffnetem Fenster, damit der Staub abziehen konnte, als die Krähen explosionsartig aus ihrem Baum aufflogen und irgendetwas darunter anschrien. Das hastige Rascheln hinter der Hecke war viel zu geräuschvoll für einen Igel oder Fuchs, sogar für einen Dachs. Doch als Cal die Hecke erreichte, war er wieder mal zu spät.

Wahrscheinlich gelangweilte Kids, die den neu Zugezogenen ausspionieren. Sehr viel mehr gibt’s hier auch nicht zu tun. Das Dorf ist ein verschlafenes Kaff am Arsch der Welt, und die nächste Kleinstadt liegt fünfzehn Meilen entfernt. Cal kommt sich albern vor, dass er überhaupt irgendwas anderes in Erwägung zieht. Mart, sein nächster Nachbar ein Stück die Straße rauf, schließt nachts nicht mal seine Haustür ab. Als Cal ihn daraufhin verwundert ansah, verzog sich Marts hageres Gesicht, und er lachte, bis er nach Luft schnappte. »So, wie das da aussieht«, sagte er und zeigte auf Cals Haus, »was soll dir denn da einer klauen? Und wer überhaupt? Meinst du, ich schleich mich morgens rein und durchstöber deinen Wäschekorb, weil ich was suche, womit ich meine Garderobe aufhübschen kann?« Und Cal lachte auch und sagte, die könnte es gebrauchen, und Mart erwiderte, er sei mit seinen eigenen Klamotten bestens zufrieden, weil er nicht vorhabe, auf Brautschau zu gehen, und dann erklärte er ihm, warum nicht.

Aber Cal hat Dinge bemerkt. Nichts Besonderes, bloß Sachen, die seinen Cop-Instinkt kitzelten. Aufheulende Motoren nachts um drei auf entlegenen Feldwegen, röchelnde, brodelnde Knurrlaute. An manchen Abenden ein Pulk Männer in der hinteren Ecke des Pubs, zu jung und falsch gekleidet, ihre Unterhaltung zu laut und zu schnell in einem Tonfall, der nicht hierher passt. Das jähe Herumschnellen ihrer Köpfe, wenn Cal hereinkommt, die starren Blicke, die eine Sekunde zu lange dauern. Er hat ganz bewusst niemandem erzählt, welchen Beruf er hatte, aber für manche könnte es schon reichen, dass er ein Fremder ist.

Albern, sagt Cal sich, als er die Herdplatte unter der Pfanne andreht und aus dem Küchenfenster auf die dämmrigen grünen Weiden schaut. Marts Hund trabt neben den Schafen her, die friedlich zu ihrem Pferch trotten. Zu viele Jahre auf Streife in schlechten Gegenden, und jetzt wirken Farmarbeiter wie Gangster.

Gelangweilte Kids, zehn zu eins. Trotzdem – Cal dreht die Musik nicht mehr so laut auf, damit ihm nichts entgeht, er überlegt, sich eine Alarmanlage anzuschaffen, und das macht ihn sauer. Jahre, in denen Donna zum Lautstärkeregler stürzte: Cal, das Baby nebenan versucht zu schlafen! Cal, Mrs. Scapanski ist frisch operiert, meinst du, es tut ihr gut, wenn du ihr die Ohren volldröhnst? Cal, sollen die Nachbarn uns für Asoziale halten? Er wollte ein eigenes Stück Land, auch damit er Steve Earle so laut drehen kann, dass die Eichhörnchen aus den Bäumen fliegen, und er wollte es mitten in der Pampa, damit er keine Alarmanlage mehr braucht. Er hat das Gefühl, dass er nicht mal, zum Beispiel, seine Eier zurechtrücken kann, ohne vorher über die Schulter zu gucken, dabei sollte ein Mann das in seiner eigenen Küche ungeniert tun können. Kids ja oder nein, er muss der Sache auf den Grund gehen.

Zu Hause hätte er das mit ein paar guten, diskreten Kameras gelöst, die ihre Bilder direkt in die Cloud schicken. Hier, selbst wenn sein WLAN das schaffen würde, was er bezweifelt, ist ihm unwohl bei der Vorstellung, seine Aufnahmen in die nächstgelegene Polizeistation zu bringen. Er weiß nicht, was er damit vielleicht heraufbeschwört: eine Nachbarschaftsfehde, oder der Stalker ist womöglich der Cousin des Officers oder Gott weiß was.

Er hat Stolperdraht in Erwägung gezogen. Das ist vermutlich illegal, aber Cal ist ziemlich sicher, dass das an sich kein großes Problem wäre: Mart hat schon zweimal angeboten, ihm eine nicht registrierte Schrotflinte zu verkaufen, die er übrig hat, und nach dem Abend im Pub fahren alle mit dem Auto nach Hause. Das Problem dabei ist wieder, dass Cal nicht weiß, was er damit vielleicht in Gang setzt.

Oder vielleicht schon getan hat – durch seine Gespräche mit Mart hat Cal allmählich eine Ahnung davon bekommen, wie eng verstrickt hier alles ist und wie gut man aufpassen muss, wo man hintritt. Noreen, die Betreiberin des Ladens in der kurzen Doppelreihe von Häusern, die das Dorf Ardnakelty bilden, bestellt für Mart nicht mehr seine Lieblingskekse, weil es in den 1980ern zwischen ihren Onkeln und Marts Vater einen komplizierten Konflikt wegen Weiderechten gab. Mart redet nicht mehr mit einem unaussprechlichen Farmer auf der anderen Seite der Berge, weil der Mann einen Welpen gekauft hat, der von Marts Hund gezeugt wurde, was aber aus irgendwelchen Gründen nicht hätte passieren sollen. Es gibt noch mehr solche Geschichten, obwohl Cal sie nicht alle richtig verstanden hat, denn Mart erzählt gern mit großen Ausschweifungen, und Cal tut sich noch immer schwer mit dem regionalen Dialekt. Er gefällt ihm – satt wie die Luft, aber mit nadelfeinen Spitzen, die ihn an kaltes Flusswasser oder Wind in den Bergen denken lassen –, aber manchmal sind ihm ganze Gesprächsbrocken schlicht unverständlich, und dann lauscht er nur noch den Rhythmen, wodurch er noch mehr verpasst. Dennoch hat er genug mitbekommen, um zu wissen, dass er sich im Pub auf den Hocker von irgendjemandem gesetzt haben oder bei seinen Spaziergängen über das falsche Grundstück gegangen sein könnte und dass das etwas bedeuten würde.

Als er hier ankam, war er auf eine geschlossene Front gegen den Fremden gefasst. Das machte ihm nichts aus, solange ihm keiner das Haus abfackelte. Er hoffte nicht auf Golffreunde oder Dinnerpartys. Doch dann kam es anders. Die Menschen waren hilfsbereit. Als Cal am Tag seiner Ankunft anfing, Sachen aus dem Haus heraus- und hineinzuschleppen, kam Mart angeschlendert, um sich aufs Tor zu lehnen und ihm auf den Zahn zu fühlen, und am Ende brachte er ihm einen alten Minikühlschrank rüber und empfahl einen guten Baumarkt. Noreen erklärte ihm, wer wie mit wem verwandt ist und wie er sich an die dörfliche Wasserversorgung anschließen konnte, und sie bot nur halb im Scherz an – später, nachdem Cal sie ein paarmal zum Lachen gebracht hatte –, ihn mit ihrer verwitweten Schwester zu verkuppeln. Die alten Männer, die anscheinend im Pub wohnen, nicken nicht mehr nur knapp mit dem Kopf, sondern machen hier und da Bemerkungen übers Wetter oder lassen sich auch schon mal zu leidenschaftlichen Erklärungen einer Sportart namens Hurling hinreißen, die für Cal wie etwas aussieht, was dabei herauskommt, wenn man Tempo, Körperbeherrschung und Brutalität von Eishockey nimmt, aber das Eis und den Großteil der Schutzausrüstung weglässt. Bis letzte Woche hatte er das Gefühl, zwar nicht gerade mit offenen Armen aufgenommen worden zu sein, aber doch zumindest als mäßig interessantes Naturphänomen akzeptiert zu werden, wie beispielsweise ein Seehund, der sich im Fluss angesiedelt hat. Natürlich würde er immer ein Außenseiter bleiben, aber er gewann allmählich den Eindruck, als spiele das keine große Rolle. Jetzt ist er sich da nicht mehr so sicher.

Deshalb ist Cal vor vier Tagen in die Stadt gefahren und hat einen großen Sack Gartenerde gekauft. Ihm ist bewusst, wie widersinnig es ist, noch mehr Erde zu kaufen, wo er fast seine gesamten Ersparnisse für vier Hektar davon ausgegeben hat, aber sein eigener Boden ist grob und klumpig, mit Graswurzeln und kleinen spitzen Steinen durchsetzt. Hierfür brauchte er die feine, feuchte, weiche Variante. Am nächsten Tag stand er vor Sonnenaufgang auf und verteilte eine Schicht davon an der Außenwand seines Hauses unter jedem Fenster. Er musste Unkraut und Kriechpflanzen ausreißen und Steine wegharken, um einen gleichmäßigen Untergrund zu bekommen. Die Luft war kalt bis tief in seine Lunge. Allmählich wurden die Weiden um ihn herum sichtbar. Die Krähen erwachten und fingen gleich an zu zanken. Als der Himmel hell wurde und er Marts herrischen Pfiff nach seinem Hütehund hörte, knüllte Cal den leeren Gartenerdesack zusammen, stopfte ihn tief in den Müll und ging ins Haus, um sich Frühstück zu machen.

Am nächsten Morgen: nichts. Am Morgen darauf: nichts. Anscheinend war er beim letzten Mal näher dran gewesen als gedacht, hatte ihnen wohl einen ordentlichen Schrecken eingejagt. Er arbeitete vor sich hin und schaute möglichst nicht zu den Fenstern oder den Hecken hinüber.

Heute Morgen: Fußspuren in der Erde unter seinem Wohnzimmerfenster. Sneakers, den Teilabdrücken des Profils nach zu urteilen, aber die Spuren waren verwischt und überlappten einander zu sehr, um erkennen zu können, welche Schuhgröße und wie viele.

Die Bratpfanne ist heiß. Cal klatscht vier Scheiben Frühstücksspeck hinein, fleischiger und schmackhafter, als er es von zu Hause gewohnt ist, und sobald das Fett brutzelt, schlägt er zwei Eier darüber. Er geht zu seinem iPod, der auf demselben Holztisch liegt, an dem Cal seine Mahlzeiten isst – sein gesamtes Mobiliar besteht derzeit aus diesem Tisch, zwei zurückgelassenen zerkratzten Resopalstühlen und einem dicken grünen Sessel, den Marts Cousin loswerden wollte –, und legt Johnny Cash auf, nicht zu laut.

Falls er jemanden mit irgendwas sauer gemacht hat, kann das eigentlich nur der Kauf dieses Hauses gewesen sein. Er hat es auf einer Website ausgesucht, wegen des großen Grundstücks, weil es gute Angelmöglichkeiten in der Nähe gibt, das Dach solide aussah und er sich die Papiere anschauen wollte, die aus dem alten Sekretär lugten. Es war lange her, dass Cal so einen spontanen Impuls hatte, und das kam ihm wie ein zusätzlicher Grund vor, es zu tun. Die Immobilienmakler verlangten fünfunddreißig Riesen. Cal bot dreißig, in bar. Sie hätten ihm fast die Hand abgebissen.

Zu der Zeit war er gar nicht auf die Idee gekommen, dass noch jemand anders interessiert sein könnte. Das Haus ist klein, grau, unauffällig, irgendwann in den 1930ern erbaut. Es hat rund 50 Quadratmeter Wohnfläche, ein Schieferdach und Schiebefenster. Nur die dicken Ecksteine und der breite gemauerte Kamin verleihen ihm einen gewissen Reiz. Auf den Fotos im Internet wirkte es wie seit Jahren oder gar Jahrzehnten unbewohnt: fleckige und großflächig abblätternde Farbe, umgekippte dunkelbraune Möbel und angemoderte Blümchenvorhänge in den Zimmern, junge Bäumchen, die vor der Tür sprossen, ein zerbrochenes Fenster, durch das Kletterpflanzen rankten. Doch mittlerweile ist ihm klar geworden, dass vielleicht noch jemand anders dieses Haus haben wollte, selbst wenn die Gründe dafür nicht unmittelbar ersichtlich sind, und dass jemand, der das Gefühl hatte, ein Recht darauf zu haben, das nicht so ohne weiteres hinnehmen würde.

Cal schaufelt sein Essen auf zwei dicke Scheiben Brot, gibt Ketchup dazu, nimmt ein Bier aus dem Minikühlschrank und stellt den Teller auf den Tisch. Donna würde ihn wegen seiner neuen Essgewohnheiten zusammenstauchen, die fast gänzlich ohne Ballaststoffe und frisches Gemüse auskommen, doch obwohl er sich praktisch nur aus Bratpfanne und Mikrowelle ernährt, hat er tatsächlich ein paar Pfund abgenommen. Vielleicht mehr als nur ein paar. Er spürt das, nicht nur am Hosenbund, sondern auch in seinen Bewegungen: Alles, was er tut, hat eine erstaunliche neue Leichtigkeit an sich. Anfangs hat ihn das verunsichert, als wäre er von der Schwerkraft abgekoppelt worden, doch mittlerweile mag er das Gefühl.

Es liegt an der regelmäßigen Bewegung. Fast jeden Tag geht Cal ein paar Stunden spazieren, ohne ein bestimmtes Ziel. Er folgt einfach seiner Nase und macht sich mit der neuen Umgebung vertraut. Oft wird er dabei nass, aber das ist okay. Er hat eine große, gewachste Jacke, und so einen Regen wie hier kannte er bis jetzt nicht: ein feiner weicher Schleier, der scheinbar reglos in der Luft hängt. Die meiste Zeit lässt Cal seine Kapuze unten, damit er diesen Schleier auf dem Gesicht spürt. Und er kann nicht nur weiter sehen, er kann auch weiter hören: Das Blöken eines Schafes oder das Brüllen einer Kuh oder der Ruf eines Farmers dringt wie aus meilenweiter Ferne an sein Ohr, durch die Distanz geglättet und besänftigt. Manchmal sieht er einen der Farmer, der irgendwo auf den Weiden arbeitet oder auf einem Traktor einen schmalen Feldweg entlangtuckert, so dass Cal sich in die wuchernde Hecke drücken muss, wenn er ihn passiert und eine Hand zum Gruß hebt. Er ist an kräftig gebauten Frauen vorbeigekommen, die schwere Sachen über vollgestellte Stallhöfe schleppen, an rotwangigen Kleinkindern, die durch Tore zu ihm hochstarren und an den Torstangen lutschen, während dünne Hunde ihn wütend ankläffen. Manchmal singt ein Vogel ein wildes, schrilles Lied über seinem Kopf, oder ein Fasan bricht aus dem Unterholz, wenn Cal näher kommt. Auf dem Rückweg zum Haus hat er dann das Gefühl, dass es richtig war, alles aufzugeben und sich hier niederzulassen.

Zwischen den Spaziergängen, wenn nichts anderes ansteht, arbeitet Cal mehr oder weniger von morgens bis abends am Haus. Gleich nach seiner Ankunft fegte er als Erstes den dicken Kokon aus Spinnweben und Staub, toten Käfern und sonstigem Dreck weg. Dann verglaste er die Fenster neu und tauschte das Klosett und die Badewanne aus – beide waren von jemandem mit einem Vorschlaghammer und tief sitzender Wut auf Badezimmerinstallationen regelrecht zertrümmert worden –, damit er nicht mehr in ein Erdloch kacken und sich in einem Eimer waschen musste. Cal ist kein Installateur, aber er war schon immer handwerklich geschickt, und er hat Heimwerkervideos auf YouTube, solange das Internet nicht den Geist aufgibt. Er hat’s ganz gut hingekriegt.

Danach nahm er sich die Zeit, das Zeug durchzusehen, das in den Räumen zurückgelassen worden war, inspizierte gründlich jedes einzelne Teil. Cal hat keine Ahnung, wer zuletzt hier gewohnt hat, aber Religion muss diesen Leuten wichtig gewesen sein: Sie hatten Bilder mit der heiligen Bernadette, einer enttäuscht wirkenden Jungfrau Maria und von jemandem namens Padre Pio, alle in dünnen, billigen Rahmen und alle von weniger frommen Erben in einer Ecke gestapelt, wo sie vor sich hin gilbten. Sie hatten eine Vorliebe für Kondensmilch, wovon fünf Dosen im Küchenschrank standen, allesamt fünfzehn Jahre über ihrem Verfallsdatum. Sie hatten rosa gemusterte Porzellantassen, verrostete Kochtöpfe, zusammengerollte Wachstuchtischdecken und einen Schuhkarton mit einem altmodischen Paar eleganter Herrenschuhe. Cal war leicht verwundert, keinerlei Hinweise darauf zu finden, dass sich Teenager hier herumgetrieben hatten, keine leeren Bierdosen oder Zigarettenkippen oder benutzte Kondome, keine Schmierereien an den Wänden. Er vermutete, dass das Haus dafür zu abgelegen war. Zunächst hielt er das für etwas Gutes. Jetzt ist er da nicht mehr ganz so sicher. Die Möglichkeit, dass Teenager ihrem alten Geheimtreff mal wieder einen Besuch abstatten wollen, wäre ihm noch das liebste Problem.

Die Papiere in dem alten Sekretär erwiesen sich als unwichtig: aus Zeitungen und Illustrierten herausgerissene Artikel, in ordentliche Rechtecke gefaltet. Cal versuchte vergeblich, einen roten Faden zwischen den Artikeln zu finden: Sie handelten unter anderem von der Geschichte der Pfadfinder, dem Anbau von Zuckererbsen, von Melodien für die Tin Whistle, den irischen Friedenstruppen im Libanon und von einem Rezept für die walisische Variante von Käsetoast namens Welsh Rarebit. Cal behielt sie, weil sie in gewisser Weise der Auslöser waren, der ihn hierhergeführt hatte. Die meisten anderen Sachen warf er weg, so auch die Vorhänge, was er jetzt bedauert. Er hat überlegt, den Berg Müllsäcke, der hinter dem Schuppen immer größer wird, nach ihnen zu durchstöbern, aber mittlerweile sind sie bestimmt von irgendwelchen Tieren entweder angenagt oder vollgepinkelt worden.

Er hat Regenrinnen und Fallrohre ersetzt, ist auf das Dach geklettert, um den Schornstein von einem hartnäckigen gelb blühenden Büschel Unkraut zu befreien, hat die alten Eichendielen abgeschliffen und poliert, und seit einigen Tagen bearbeitet er die Wände. Der letzte Bewohner hatte entweder einen erstaunlich unkonventionellen Geschmack oder war irgendwie an ein paar Eimer billige Farbe gekommen. Cals Schlafzimmerwände waren mal in einem dunklen, satten Indigoblau gestrichen, bis die Feuchtigkeit sie mit Schimmelstreifen und hellen Stellen aus nacktem Putz überzog. Das kleinere Schlafzimmer war hell mintgrün. In der Wohnküche war ein rostiges Rotbraun auf wellige Tapeten geklatscht worden. Was genau im Kochbereich geplant war, ist unklar. Es sieht aus, als ob jemand begonnen hätte, ihn zu fliesen, dann aber abgelenkt worden wäre. So viel Mühe hat sich mit dem Bad keiner gemacht: Es ist ein winziges angebautes Kabuff auf der Rückseite des Hauses, mit kahlen Wänden und den Überresten eines grünen Teppichbodens, der die unbehandelten Dielenbretter mehr oder weniger abdeckt. Wenn Cal sich mit seinen ein Meter dreiundneunzig in die Wanne zwängt, berühren seine Knie praktisch sein Kinn. Sobald er den Raum gefliest hat, wird er eine Dusche einbauen, aber das kann warten. Er will die Anstreicherarbeiten erledigen, solange das Wetter noch so gut ist, dass er die Fenster offen lassen kann. Es hat jetzt schon Tage gegeben, nur einige wenige, an denen der Himmel trübgrau war und die Kälte aus dem Boden aufstieg und der Wind schnurstracks über Hunderte von Meilen und durch das Haus wehte, als wäre es gar nicht da, Tage, die ihm einen warnenden Vorgeschmack auf den Winter gaben. Nichts, was an die Schneeverwehungen und eisigen Temperaturen der Winter in Chicago heranreicht – das weiß er aus dem Internet –, sondern eine ganz eigene Kategorie, etwas Unerbittliches und Hartnäckiges, fast schon verschlagen.

Während Cal isst, betrachtet er sein Tagewerk. An manchen Stellen ist die Tapete im Laufe der Jahre eine Symbiose mit der Wand eingegangen, was die Arbeit erschwert, aber er hat jetzt in über der Hälfte des Raumes den Putz freigelegt. Die Wand um die wuchtige Steinumrandung des Kamins ist noch immer fleckig rotbraun. Zu seiner Verwunderung mag er den Raum so. Er erzählt eine Geschichte. Cal ist kein Künstler, aber wenn er es wäre, könnte er sich vorstellen, das Zimmer erst mal so zu lassen, ein paar Bilder zu malen.

Er hat halb aufgegessen und ist noch ganz in Gedanken, als sein Nacken wieder heiß wird. Diesmal hört er sogar den Auslöser dafür: ein kurzes, tapsiges Stolpern, fast sofort gestoppt, als wäre jemand in dem Unterholz vor seinem Fenster ins Straucheln geraten und hätte sich wieder abgefangen.

Cal nimmt einen weiteren großen Bissen von seinem Sandwich, spült ihn mit einem kräftigen Schluck Bier hinunter und wischt sich Schaum vom Schnurrbart. Er steht schwerfällig vom Stuhl auf, lässt den Kopf kreisen, dass seine Halswirbel knacken, und geht Richtung Bad, eine Hand schon an der Gürtelschnalle.

Das Badezimmerfenster geht so reibungslos und leise auf, als wäre es mit Kontaktspray eingesprüht worden, was es auch wurde. Cal hat außerdem geübt, auf den Toilettenspülkasten und von dort aus dem Fenster zu steigen, und das gelingt ihm sehr viel geschmeidiger, als man es von jemandem seiner Größe erwarten würde, was aber nichts an der Tatsache ändert, dass er unter anderem deshalb als Streifenbulle aufhörte, weil er es satthatte, bei der Verfolgung von Ganoven, die irgendwelchen sinnlosen Mist bauen, über unzumutbare Objekte zu klettern, und er hat nicht vor, wieder damit anzufangen. Als er draußen auf der Erde landet, hat er sich den Hintern am Fensterrahmen aufgekratzt, aber sein Herz schaltet hoch in den alten vertrauten Jagdrhythmus, und seine Verärgerung wächst.

Das Beste, was er aufbieten kann, ist ein Stück Rohr, das er von der Arbeit im Bad übrig behalten und in einem Busch versteckt hat. Selbst als er es in Händen hält, fühlt er sich ohne seine Dienstwaffe ungeschützt und zu leichtgewichtig. Er bleibt einen Moment ruhig stehen, wartet, bis seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnen, und lauscht, doch die Nacht ist ringsum mit leisen Geräuschen durchsetzt, und er kann keines ausmachen, das bedeutsamer scheint als die anderen. Es ist dunkel geworden, der Mond steht am Himmel, eine scharfe Sichel, über die zerfetzte Wolken jagen und die nur ein schwaches unbeständiges Licht und zu viele Schatten wirft. Cal packt das Rohr fester und bewegt sich mit dem alten geübten Kompromiss zwischen schnell und lautlos zur Hausecke.

Unterhalb des Wohnzimmerfensters zeichnet sich eine kauernde Gestalt ab, reglos, der Kopf gerade hoch genug, um über den Sims zu spähen. Cal schaut sich vorsichtig um, so gut er kann, doch die Wiese drum herum ist leer: offenbar bloß einer. In dem Lichtschein aus der Küche kann er raspelkurze Haare und irgendwas Rötliches ausmachen.

Cal lässt das Rohr fallen und greift an. Er will auf den Typ hechten, ihn zu Boden werfen und dann überlegen, wie es weitergeht, rutscht aber mit dem Fuß auf einem Stein weg. In der einen Sekunde, die er armrudernd das Gleichgewicht wiederfindet, springt der Bursche auf und weg. Cal macht einen Satz in die Beinahe-Dunkelheit, bekommt einen Arm zu fassen und reißt mit voller Kraft daran.

Der Kerl fliegt zu leicht nach hinten, und der Arm ist so dünn, dass seine Hand ihn komplett umschließt. Der Arm eines Kindes. Diese Erkenntnis lockert seinen Griff ein wenig. Der Junge windet sich wie eine Wildkatze, stößt zischend den Atem aus und schlägt seine Zähne in Cals Hand.

Cal schreit auf. Der Junge reißt sich los und flitzt wie eine Rakete durch den Garten davon, die Füße im Gras fast geräuschlos. Cal setzt ihm nach, doch in Sekundenschnelle ist der Kerl in das Schattengewirr an der Hecke zur Straße hin getaucht, und als Cal sie erreicht, ist er verschwunden. Cal zwängt sich durchs Gebüsch und blickt die Straße rauf und runter, die durch die Mondschatten der Hecken zu einem bleichen Band verengt ist. Nichts. Er wirft ein paar Steine in die Büsche zu beiden Seiten, will den Jungen aufscheuchen: vergeblich.

Er glaubt nicht, dass der Junge Komplizen hatte – dann hätte er etwas gerufen, damit sie ihm helfen oder um sie zu warnen –, dennoch dreht Cal eine Runde durch den Garten, nur für alle Fälle. Die Krähen schlafen ungestört. Neue Fußspuren in der Erde unter dem Wohnzimmerfenster, dasselbe Profil wie letztes Mal; sonst nirgends. Cal geht in dem dunklen Schatten des Schuppens in Deckung und wartet eine ganze Weile, versucht, seine keuchende Atmung zu beruhigen, aber er hört kein Rascheln in der Hecke, und es stiehlt sich auch kein Schatten über eine der Weiden davon. Bloß dieser eine, und bloß ein Kind. Das nicht zurückkommen wird, zumindest nicht heute Nacht.

Wieder im Haus nimmt er seine Hand in Augenschein. Der Junge hat ihn ordentlich erwischt: drei tiefe Zahnabdrücke und eine blutende Stelle. Cal ist schon einmal gebissen worden, im Dienst, was eine Flut von Papierkram, Befragungen, Bluttests, juristischen Querelen, Tabletten und Aussagen vor Gericht zur Folge hatte. Er holt seinen Erste-Hilfe-Kasten und weicht die Hand eine Zeitlang in Desinfektionsmittel ein, dann klebt er ein Pflaster drauf.

Sein Essen ist kalt geworden. Er wärmt es in der Mikrowelle auf und setzt sich wieder damit an den Tisch. Johnny Cash singt noch immer, beklagt seine verlorene Rose und seinen verlorenen Sohn mit einer tiefen, gebrochenen Zitterstimme, als wäre er schon ein Geist.

Cal fühlt sich nicht so, wie er eigentlich erwartet hat. Teenager, die den Neuen ausspionieren, das war seine Hoffnung gewesen, das bestmögliche Szenario. Er dachte, er würde ihnen wüste Drohungen hinterherbrüllen, während sie johlend und lachend abhauen und ihm über die Schulter noch ein paar Beleidigungen zurufen, und dann würde er kopfschüttelnd zurück ins Haus gehen und wie ein alter Spießer über die Jugend von heute schimpfen, und damit wäre die Sache erledigt. Vielleicht würden sie ab und zu wiederkommen, um ihn erneut zu ärgern, aber damit könnte Cal leben. Unterdessen würde er sich weiter der Renovierung widmen und seine Musik laut laufen lassen und seine Eier zurechtrücken, wann es ihm verdammt nochmal passt, und seinen Polizisteninstinkt wieder ins Bett packen, wo er hingehört.

Aber er hat nicht das Gefühl, dass die Sache erledigt ist, und sein Polizisteninstinkt bleibt hellwach. Kids, die zum Spaß einen Fremden verarschen, wären im Rudel gekommen, und sie wären lautstark gewesen, aufgekratzt von ihrem eigenen Wagemut wie von Koffein. Er denkt daran, wie reglos der Junge unter dem Fenster kauerte, an seine Stille, als Cal ihn packte, die Giftschlangenwildheit seines Bisses. Dieser Junge hatte nichts Übermütiges an sich.

Er war aus irgendeinem Grund da. Er wird wiederkommen.

Cal isst seinen Teller leer und macht den Abwasch. Er nagelt eine Abdeckplane vor das Badezimmerfenster und badet rasch. Danach liegt er im Dunkeln auf seiner Matratze, die Hände hinterm Kopf, betrachtet durchs Fenster die wolkenfleckigen Sterne und lauscht Füchsen, die irgendwo draußen auf den Weiden miteinander kämpfen.

2

Der kaputte Sekretär, den Cal aus dem Haus trägt und genauer untersucht, ist älter, als er dachte, und von besserer Qualität: dunkel gebeiztes Eichenholz mit feinen Schnitzereien an der Leiste oberhalb der herunterklappbaren Schreibplatte und an den Unterkanten der Schubladen und mit einem Dutzend kleinen Fächern im oberen Teil. Er hatte ihn in das kleinere Schlafzimmer geschafft, weil er sich erst später damit befassen wollte, aber heute kam er ihm ganz gelegen. Er hat ihn bis ans Ende des Gartens geschleppt, in sorgfältig kalkuliertem Abstand zur Hecke und zum Krähenbaum, den Esstisch als Arbeitsfläche dazugestellt und seine Werkzeugkiste geholt. Diese Werkzeugkiste ist eines der wenigen Dinge, die er mit hierhergebracht hat. Die meisten Werkzeuge darin gehörten mal seinem Grandpa. Sie haben Kratzer und Schrammen und alte Farbspritzer, aber sie funktionieren immer noch besser als der Mist, den man heutzutage in Baumärkten bekommt.

Die größte Beschädigung an dem Sekretär ist eine große gesplitterte Delle auf einer Seite, als hätte derjenige, der das Badezimmer mit dem Vorschlaghammer zerdeppert hat, im Rausgehen noch einmal kurz zugeschlagen. Die hebt Cal sich für später auf, wenn er wieder mehr Routine hat. Er will mit den Laufleisten der Schubladen anfangen. Zwei sind einfach weg, und die anderen zwei sind verzogen und geborsten, so dass sich die Schublade nur mit Mühe bewegen lässt. Er zieht beide Schubladen heraus, kippt den Sekretär nach hinten und fängt an, mit einem Bleistift die Position der verbliebenen Laufleisten zu markieren.

Das Wetter spielt mit: Der Tag ist mild und sonnig, mit einer leichten Brise, kleinen Vögeln in den Hecken und Bienen in den Wildblumen, ein Tag, an dem man Lust bekommt, draußen zu arbeiten. Es ist später Vormittag an einem Schultag, aber aufgrund der bisherigen Vorfälle vermutet Cal, dass er hier nicht zwangsläufig seine Zeit vergeudet. Selbst wenn nicht gleich etwas passiert, mit dem Sekretär wird er genug zu tun haben, bis die Schule aus ist. Er pfeift die alten Folksongs seines Grandpas durch die Zähne und singt immer mal wieder ein paar Zeilen, wenn ihm der Text dazu einfällt.

Als er ein Stück entfernt Schritte im Gras hört, pfeift er weiter und hält den Kopf über den Sekretär gebeugt. Aber kurz darauf drängt etwas achtlos durch die Hecke, und eine nasse Schnauze stupst seinen Ellbogen an: Kojak, Marts zottiger schwarz-weißer Hütehund. Cal richtet sich auf und winkt Mart zu.

»Wie isses?«, erkundigt sich Mart über den Zaun hinweg. Kojak trabt davon, um nachzusehen, was sich alles in Cals Hecke rumgetrieben hat, seit er zuletzt hier war.

»Ganz gut«, sagt Cal. »Und bei dir?«

»Alles bestens.« Mart ist klein, knapp ein Meter siebzig, und drahtig. Er hat flaumiges graues Haar, ein runzeliges Gesicht, eine Nase, die im Laufe der Zeit das ein oder andere Mal gebrochen wurde, und eine große Sammlung von Kopfbedeckungen. Heute trägt er eine Schiebermütze aus Tweed, die aussieht, als wäre sie von irgendeinem Farmtier durchgekaut worden. »Was hast du denn mit dem Ding da vor?«

»Ich bring es wieder auf Vordermann«, sagt Cal. Er versucht, die zweite Laufleiste zu lockern, aber die sitzt fest. Wer auch immer diesen Sekretär vor langer Zeit gebaut hat, verstand was von seinem Handwerk.

»Zeitverschwendung«, erklärt Mart. »Auf diesen Werbe-Websites kriegst du ein halbes Dutzend von denen zum Schnäppchenpreis.«

»Ich brauch nur einen«, sagt Cal. »Und ich hab einen.«

Mart überlegt offensichtlich, ob er ihm widersprechen soll, entscheidet sich aber, lieber etwas Erfreulicheres anzusprechen. »Du siehst gut aus«, sagt er und beäugt Cal von oben bis unten. Mart war von Anfang an geneigt, Cal zu akzeptieren. Er unterhält sich für sein Leben gern und hat in seinen einundsechzig Jahren schon alle im Dorf mehr oder weniger totgequatscht. Für Mart ist Cal praktisch ein Geschenk des Himmels.

»Danke«, sagt Cal. »Du auch.«

»Im Ernst, Mann. Schön schlank. Die Wampe schmilzt dir weg.« Und als Cal, der behutsam an der Laufleiste wackelt, nicht antwortet: »Und weißt du auch, weshalb?«

»Deshalb«, sagt Cal und deutet mit dem Kopf nach hinten zum Haus. »Statt den ganzen Tag an einem Schreibtisch auf dem Hintern zu sitzen.«

Mart schüttelt heftig den Kopf. »Nee. Ich verrat dir, weshalb. Das kommt von dem Fleisch, das du isst. Von den Würstchen und den Speckscheiben, die du bei Noreen kriegst. Ist alles von hier, so frisch, dass es glatt vom Teller hüpfen und dich angrunzen könnte. Tut dir richtig gut.«

»Du bist mir lieber als mein alter Arzt«, sagt Cal.

»Jetzt hör doch mal. Dieses amerikanische Fleisch, das du zu Hause die ganze Zeit gefuttert hast, das ist rammelvoll mit Hormonen. Die pumpen das Vieh damit voll, damit’s schnell fett wird. Und was glaubst du wohl, was das Zeug dann im Menschen macht?«

Er wartet auf eine Antwort. »Bestimmt nichts Gutes«, sagt Cal.

»Du gehst davon auseinander wie ein Hefekloß und kriegst Titten wie Dolly Parton. Übles Zeug. Die EU hat’s hier komplett verboten. Davon bist du überhaupt erst so dick geworden. Und jetzt, wo du anständiges irisches Fleisch isst, wirst du das Gewicht ratzfatz wieder los. Dauert nicht mehr lange, dann siehst du aus wie Gene Kelly.«

Mart hat anscheinend gemerkt, dass Cal heute irgendwas durch den Kopf geht, und ist entschlossen, ihn davon abzulenken. »Du solltest das vermarkten«, sagt Cal. »Marts mirakulöser Diät-Speck. Je mehr du isst, desto schlanker wirst du.«

Mart kichert, offenbar zufrieden. »Hab dich gestern in die Stadt fahren sehen«, bemerkt er wie nebenbei. Er blickt blinzelnd durch den Garten zu Kojak hinüber, der sich mit wachsender Energie einem Gebüsch widmet und angestrengt versucht, seine ganze vordere Körperhälfte hineinzuzwängen.

»Ach ja«, sagt Cal und richtet sich auf. Er weiß, worauf Mart aus ist. »Momentchen.« Er geht ins Haus und kommt mit einer Packung Kekse wieder heraus. »Aber nicht alle auf einmal essen«, sagt er.

»Du bist ein echter Gentleman«, sagt Mart fröhlich und nimmt die Kekse über den Zaun entgegen. »Hast du die schon mal probiert?«

Marts Kekse sind eine komplizierte Komposition aus fluffigem rosa Mäusespeck, Marmelade und Kokoscreme und sehen für Cal aus wie etwas, womit man eine Fünfjährige mit dicker Schleife im Haar bestechen könnte, ihren Trotzanfall zu unterbrechen. »Noch nicht«, sagt er.

»Du musst sie stippen, Mann. In den Tee. Der Mäusespeck wird schön weich, und die Marmelade zerfließt dir auf der Zunge. Was Besseres gibt’s gar nicht.« Mart stopft die Kekse in die Tasche seiner grünen Wachsjacke. Er bietet nicht an, sie zu bezahlen. Das erste Mal tat Mart so, als wäre das Mitbringen der Kekse eine Ausnahme, nur ein kleiner Gefallen, um einem armen Farmer eine Freude zu machen, und Cal scheute sich, von seinem neuen Nachbarn eine Handvoll Kleingeld zu verlangen. Danach behandelte Mart das Ganze wie eine altbewährte Tradition. Das amüsierte Zwinkern seiner Augen, wenn Cal ihm mal wieder die Kekse rüberreicht, verrät, dass er ihn auf die Probe stellt.

»Ich bin Kaffeetrinker«, sagt Cal. »Das wäre nicht dasselbe.«

»Aber erzähl bloß Noreen nix hiervon«, warnt Mart ihn. »Dann lässt die sich was anderes einfallen, was sie mir vorenthält. Bildet sich gern ein, dass sie am längeren Hebel sitzt.«

»Apropos Noreen«, sagt Cal. »Falls du ins Dorf fährst, kannst du mir ein paar Scheiben Schinken mitbringen? Hab ich vergessen.«

Mart stößt einen langgezogenen Pfiff aus. »Hast du sie etwa irgendwie geärgert? Ganz schlecht, mein Lieber. Siehst ja, was mir das gebracht hat. Egal, was du angestellt hast, geh mit ’nem fetten Blumenstrauß zu ihr und sag nett Entschuldigung.«

Der wahre Grund ist, dass Cal heute hier am Haus bleiben will. »Nee«, sagt er. »Sie versucht dauernd, mich mit ihrer Schwester zu verkuppeln.«

Marts Augenbrauen schnellen hoch. »Welche Schwester?«

»Helena, hat sie gesagt, glaub ich.«

»Großer Gott, Mann, dann mal los. Im ersten Moment hab ich gedacht, du meinst Fionnuala, aber anscheinend kann Noreen dich gut leiden. Lena hat Köpfchen. Und ihr Mann war ein Geizhals und hat gesoffen wie ein Loch. Gott hab ihn selig, also hat sie keine hohen Erwartungen. Sie reißt dir nicht gleich den Kopf ab, wenn du mit dreckigen Stiefeln reinkommst oder im Bett furzt.«

»Klingt wie eine Frau nach meinem Herzen«, sagt Cal. »Wenn ich eine suchen würde.«

»Und sie ist schön stramm, nicht so klapperdürr wie die jungen Dinger, die du von der Seite aus glatt übersiehst. Eine Frau muss was zum Anfassen haben. Na, na.« Er zeigt mit dem Finger auf Cal, der angefangen hat zu lachen. »Das ist jetzt deine schmutzige Phantasie. Ich red nicht vom Bumsen. Hab ich irgendwas von Bumsen gesagt?«

Cal schüttelt noch immer lachend den Kopf.

»Hab ich nicht. Was ich sagen will …«, Mart legt die Unterarme auf den Zaun, macht es sich für seine weiteren Ausführungen bequem, »was ich dir sagen will, ist Folgendes: Wenn du eine Frau ins Haus holst, solltest du eine nehmen, die ein bisschen Raum einnimmt. Irgendein dürres Gerippe mit einem dünnen Mäusestimmchen, das den ganzen Tag kein Wort rausbringt, taugt nichts. Da kämst du nicht auf deine Kosten. Wenn du ins Haus kommst, willst du deine Frau sehen und hören. Du willst wissen, dass sie da ist, was hätte es denn sonst für einen Sinn, überhaupt eine zu haben?«

»Überhaupt keinen Sinn«, sagt Cal grinsend. »Lena ist also laut, hm?«

»Du weißt jedenfalls, dass sie da ist. Na los, hol dir selbst deinen Schinken und sag Noreen, sie soll für euch ein Rendezvous arrangieren. Wasch dich mal ordentlich, rasier dir den Wookiee ab und zieh ein schickes Hemd an. Und dann lädst du sie in die Stadt ein, in ein Restaurant. Komm bloß nicht mit ihr runter in den Pub, das Gesindel da würde euch die ganze Zeit bloß anglotzen.«

»Lad du sie doch ein«, sagt Cal.

Mart schnaubt. »Ich hab nie geheiratet.«

»Genau deshalb«, sagt Cal. »Wär doch nicht richtig von mir, mehr laute Frauen in Anspruch zu nehmen, als mir zustehen.«

Mart schüttelt energisch den Kopf. »Ah, nein, nein, nein. Du liegst total falsch. Wie alt bist du? Fünfundvierzig?«

»Achtundvierzig.«

»Sieht man dir nicht an. Dieses Hormonzeug im Fleisch scheint dich jung zu halten.«

»Danke.«

»Jedenfalls: Wenn ein Mann erst mal vierzig ist, hat er sich entweder dran gewöhnt, verheiratet zu sein, oder nicht. Frauen kommen andauernd auf irgendwelche Ideen, und ich hab nie gelernt, mich mit anderen Ideen zu befassen als mit meinen eigenen. Du schon.« Diese und andere wesentlichen Informationen hat Mart bei ihrer ersten Begegnung aus Cal herausgeholt, und das mit solch fast unmerklichem Geschick, dass Cal sich wie ein Amateur vorkam.

»Du hast mit deinem Bruder zusammengelebt«, wendet Cal ein. Mart ist immerhin nicht minder auskunftsfreudig: Cal hat alles über den Bruder erfahren, der lieber Kekse mit Vanillefüllung aß, ein fürchterlicher Trottel, der aber eine prima Hilfe beim Lammen war, Mart die Nase gebrochen hat, als er ihm beim Streit um die Fernbedienung einen Schlag mit einem Schraubenschüssel verpasste, und vor Jahren an einem Schlaganfall starb.

»Der ist nicht auf Ideen gekommen«, sagt Mart im Ton eines Mannes, der ein Totschlagargument auspackt. »Doof wie Schifferscheiße. Ich könnt keine Frau im Haus haben, die auf Ideen kommt. Dass sie vielleicht einen Kronleuchter haben will oder einen Pudel oder dass ich einen Yoga-Kurs machen soll.«

»Du könntest dir eine Dumme suchen«, schlägt Cal vor.

Mart tut das mit einem geräuschvollen Ausatmen ab. »Dummheit hab ich mit meinem Bruder genug gehabt. Aber kennst du Dumbo Gannon? Auf der Farm da hinten?« Er zeigt über die Weiden auf einen langgestreckten Flachbau mit rotem Dach.

»Ja«, sagt Cal, weil er eine Vermutung hat: Einer der alten Männer im Pub, ein kleiner Wicht mit einem Paar Eselsohren, an denen man ihn hochheben könnte.

»Dumbo hat jetzt schon die dritte Frau im Haus. Sollte man nicht meinen, so wie er aussieht und so, aber ich sag’s dir. Eine von ihnen ist gestorben, und die andere ist ihm weggelaufen, aber beide Male hatte Dumbo nach nicht mal einem Jahr eine neue. So wie ich mir einen neuen Hund besorgen würde, wenn Kojak mir wegstirbt, oder eine neue Glotze, falls meine den Geist aufgibt, so zieht Dumbo los und sucht sich eine neue Frau. Weil er dran gewöhnt ist, dass jemand ihm mit Ideen kommt. Wenn keine Frau da ist, weiß er nicht, was er abends essen oder sich im Fernsehen angucken soll. Und ohne Frau wirst du nicht wissen, wie du die Zimmer in deiner Villa dahinten streichen sollst.«

»Ich nehm erst mal Weiß«, sagt Cal.

»Und was noch?«

»Und Weiß.«

»Na bitte, genau das mein ich«, sagt Mart triumphierend. »Aber da wird nix draus. Du bist dran gewöhnt, dass wer mit Ideen kommt. Du wirst dich umschauen.«

»Ich könnte mir einen Innenarchitekten nehmen«, sagt Cal. »So einen hippen Typen, der alles hellgrün und taupe streichen lässt.«

»Und wo willst du so einen hier in der Gegend finden?«

»Ich lass ihn aus Dublin kommen. Braucht der dann ein Arbeitsvisum?«

»Du wirst es genauso machen wie Dumbo«, erklärt Mart. »Auch wenn du das selbst noch nicht weißt. Ich will nur dafür sorgen, dass du’s richtig machst, bevor irgend so eine magere Tussi dich angelt und dir das Leben zur Hölle macht.«

Cal kann nicht sagen, ob Mart irgendwas davon tatsächlich selbst glaubt oder ob er sich das alles bloß aus den Fingern saugt, weil er auf Widerspruch hofft. Mart mag Streitgespräche ebenso sehr wie seine Kekse. Manchmal lässt Cal sich um der guten Nachbarschaft willen darauf ein, aber heute hat er ein paar konkrete Fragen, und danach soll Mart bitte möglichst bald verschwinden. »Vielleicht in ein paar Monaten«, sagt er. »Vorläufig fang ich mit keiner Frau was an. Erst muss das Haus so weit fertig sein, dass ich sie reinlassen kann.«

Mart späht zum Haus hinüber und nickt. »Aber warte nicht zu lange. Lena könnte hier so ziemlich jeden haben.«

»Es hat jahrelang vor sich hin gegammelt«, sagt Cal. »Wird eine Weile dauern, es wieder in Schuss zu bringen. Hast du eine Ahnung, wie lang es leer gestanden hat?«

»Bestimmt fünfzehn Jahre. Vielleicht auch zwanzig.«

»Scheint mir noch länger«, sagt Cal. »Wer hat denn hier gewohnt?«

»Marie O’Shea«, sagt Mart. »Also, die hat nie wieder geheiratet, nachdem Paudge gestorben war, aber Frauen sind nun mal anders. Die heiraten auch, genau wie Männer, aber Frauen haben gern zwischendurch mal Pause. Marie war nur ein Jahr lang Witwe, dann ist sie gestorben. Die hatte gar keine Zeit mehr, mal durchzuschnaufen. Wenn Paudge zehn Jahre früher gestorben wär –«

»Und ihre Kinder wollten das Haus nicht?«

»Die sind alle weggezogen. Zwei nach Australien, eins nach Kanada. Nix gegen deinen Landsitz, aber so toll ist der auch wieder nicht, dass sie deswegen alles stehen und liegen gelassen hätten.«

Kojak hat die Hecke abgeschrieben und kommt schwanzwedelnd zu Cal getrottet, der krault ihn am Ohr. »Wieso haben sie’s denn jetzt erst verkauft? Gab’s vielleicht Streit darüber, was sie damit machen wollten?«

»Soweit ich weiß, haben sie’s erst noch behalten, weil die Preise hochgingen. Die Pappnasen haben gutes Land verkommen lassen, weil sie gedacht haben, es würde ihnen Millionen bringen. Und dann« – Marts Gesicht verzieht sich zu einem schadenfreudigen Grinsen – »kam der Crash, und sie sind’s nicht mal mehr für einen Spottpreis losgeworden.«

»Aha«, sagt Cal. Das könnte böses Blut geben, so oder so. »Gab’s denn Kaufinteressenten?«

»Meinen Bruder zum Beispiel«, sagt Mart prompt. »Der Vollidiot hat zu viel Dallas geguckt. Hat sich schon als Viehbaron gesehen.«

»Du hast doch gesagt, der hatte keine Ideen«, sagt Cal.

»Das war keine Idee, das war eine Flause. Hab ich ihm direkt wieder ausgeredet. Aber Frauen lassen sich keine Ideen ausreden. Wenn du die an einer Stelle plattmachst, wachsen sie woanders wieder nach. Da weißt du gar nicht, wo du anfangen und aufhören sollst.«

Kojak drückt sich gegen Cals Bein, die Augen vor lauter Wonne halb geschlossen, und stupst Cals Hand an, sobald er aufhört, ihn zu kraulen. Cal hat vor, sich einen Hund anzuschaffen. Eigentlich wollte er warten, bis er das Haus einigermaßen instand gesetzt hat, aber jetzt findet er, er könnte es auch schon früher tun. »Gibt’s hier noch irgendwelche Verwandte von den O’Sheas?«, fragt er. »Ich hab ein paar Sachen gefunden, die sie vielleicht haben wollen.«

»Wenn sie irgendwas gewollt hätten«, bemerkt Mart treffend, »hatten sie zwanzig Jahre Zeit, es zu holen. Was für Sachen?«

»Papiere«, sagte Cal vage. »Bilder. Ich hab gedacht, ich frag lieber mal, bevor ich alles wegschmeiße.«

Mart grinst. »Paudges Nichte Annie wohnt ein paar Meilen die Straße rauf, hinter Moneyscully. Falls du vorhast, ihr das Zeug zu bringen, fahr ich dich hin. Ich will sehen, was Annie für ein Gesicht macht. Ihre Mammy und Paudge konnten sich nicht ausstehen.«

»Ich glaub, ich verzichte«, sagt Cal. »Hat sie vielleicht Kinder, die ein Andenken an ihren Großonkel haben wollen?«

»Alle weggezogen. Dublin oder England. Mach dir mit den Papieren Feuer im Kamin. Oder verkauf sie im Internet an irgendeinen anderen Yankee, der was aus der Heimat seiner Vorfahren haben will.«

Cal kann nicht abschätzen, ob das eine Spitze gegen ihn ist oder nicht. Bei Mart ist er sich da nicht immer sicher, was ihm vermutlich einen Heidenspaß bereitet. »Vielleicht mach ich das«, sagt er. »Ist sowieso nicht die Heimat meiner Vorfahren. Soweit ich weiß, kamen die nicht aus Irland.«

»Ihr da drüben habt doch sowieso alle ein bisschen was Irisches in euch«, sagt Mart im Brustton der Überzeugung.

»Dann behalt ich den Kram wohl noch«, sagt Cal, gibt Kojak einen letzten Klaps und wendet sich wieder seiner Werkzeugkiste zu. Es klingt nicht so, als würde Annie irgendwen losschicken, um den Familiensitz auszukundschaften. Cal hätte gern irgendwelche Anhaltspunkte, wer der Junge sein könnte. Er dachte, er hätte inzwischen einen ganz guten Überblick über seine nächsten Nachbarn, und irgendwelche Kids sind ihm nicht aufgefallen. Aber als Fremder mittleren Alters rumzulaufen und sich nach Jungs aus der Gegend zu erkundigen, scheint ein Patentrezept zu sein, um sich eine Tracht Prügel und Ziegelsteine durch die Fenster einzuhandeln. Er kramt in der Werkzeugkiste nach einem Beitel.

»Viel Glück mit dem Teil da«, sagt Mart und richtet sich vom Zaun auf. Sein Gesicht verzieht sich dabei zu einer Grimasse. Die lebenslange Arbeit auf der Farm hat Marts Gelenke förmlich pulverisiert, so dass er Schmerzen in den Knien, den Schultern und überall dazwischen hat. »Wenn du damit fertig bist, nehm ich’s dir gern als Feuerholz ab.«

»Schinken«, ruft Cal ihm in Erinnerung.

»Früher oder später musst du doch wieder zu Noreen. Du kannst dich noch so lange hier verstecken, die wird’s nicht vergessen. Wie gesagt, mein Lieber: Wenn eine Frau sich eine Idee in den Kopf gesetzt hat, bleibt sie dabei.«

»Du kannst ja dann mein Trauzeuge sein«, sagt Cal und schiebt den Beitel unter die Laufleiste.

»Die Schinkenscheiben kosten zwei fünfzig«, informiert Mart ihn.

»Hm«, sagt Cal. »Die Kekse auch.«

Mart prustet los vor Lachen und schlägt so fest auf den Zaun, dass der bedenklich wippt und rappelt. Dann pfeift er Kojak, und die beiden trollen sich.

Cal beugt sich über den Sekretär und schüttelt grinsend den Kopf. Manchmal kommt es ihm so vor, als würde Mart die Rolle der irischen Provinzplaudertasche nur spielen, entweder einfach aus Spaß oder um Cal bei Laune zu halten, damit er ihm weiter seine Kekse besorgt oder was ihm sonst noch so alles einfällt. Hundertpro, hätte Donna früher gesagt, als sie beide sich noch gern gegenseitig zum Lachen brachten, wenn du nicht da bist, trägt er Smoking und redet wie die Queen, hundertpro. Oder aber er trägt seine Yeezy-Sneakers und macht einen auf Kanye West. Cal denkt nicht mehr ständig an Donna, nicht wie zu Anfang – monatelang hat er verbissen gearbeitet, ohrenbetäubend laute Musik gehört oder die Aufstellungen von Football-Mannschaften runtergebetet wie ein Irrer, sobald sie ihm in den Sinn kam, aber schließlich hat er’s geschafft. Sie schleicht sich immer mal wieder in seinen Kopf, aber eigentlich nur noch, wenn er auf irgendwas stößt, worüber sie lächeln müsste. Er hat Donnas Lächeln immer geliebt. Es war spontan und echt und ließ jedes Fältchen in ihrem Gesicht nach oben schnellen.

Nachdem er so manchen Kollegen erlebt hatte, der diesen Prozess durchlaufen musste, nahm er an, dass er im betrunkenen Zustand stärker den Drang haben würde, sie anzurufen, deshalb ließ er eine Weile die Finger vom Alkohol, doch dann stellte sich heraus, dass seine Befürchtung unbegründet war. Nach ein paar Bier fühlt es sich an, als wäre Donna eine Million Meilen weit weg, in einer anderen Dimension, wo sie kein Telefon erreichen kann. Schwach wird er nur, wenn sie ihn überrumpelt, wenn sie so wie jetzt an einem arglosen Herbstmorgen plötzlich so klar und lebendig in seinem Kopf auftaucht, dass er sie fast riechen kann. Dann vergisst er, warum er nicht zum Handy greifen sollte, Hey, Darling, hör mal. Wahrscheinlich sollte er ihre Nummer löschen, aber es könnte ja sein, dass sie mal über Alyssa reden müssen, und außerdem kennt er sie ohnehin auswendig.

Die Laufleiste löst sich endlich, und Cal zieht die alten verrosteten Nägel mit einer Zange heraus. Er misst die Leiste ab und schreibt die Maße darauf. Als er das erste Mal im Baumarkt war, hat er unterschiedlich große Holzlatten gekauft, weil er die Werkzeugkiste hatte und weil man ja nie weiß. Ein langes Stück Kiefernholz hat ungefähr die richtige Breite für die Laufleiste. Es ist ein bisschen zu dick, aber nicht viel. Cal befestigt es mit einer Schraubzwinge am Tisch und fängt an, es abzuhobeln.

Zu Hause hätte er sich vorgenommen, den Jungen noch einmal zu erwischen, diesmal fester zuzugreifen und ihm eine Standpauke zu halten – über Hausfriedensbruch, Körperverletzung, Jugendstrafen und was mit Kids passiert, die sich mit Cops anlegen –, um ihn dann mit einem Klaps auf den Hinterkopf und einem kräftigen Schubs runter von seinem Grundstück zu befördern. Hier, wo er kein Cop ist und wo das Gefühl, nicht zu wissen, was er damit womöglich in Gang setzt, immer stärker wird, kommt nichts davon in Frage. Was er auch tut, er muss clever und mit Fingerspitzengefühl vorgehen.

Er hobelt das Holzstück auf die passende Dicke, zeichnet zwei Linien darauf ein und sägt an ihnen entlang je einen halben Zentimeter tief. Er hatte sich vage gefragt, ob er überhaupt noch mit den Werkzeugen umgehen kann, doch seine Hände erinnern sich: Die Werkzeuge sind griffig, als wären sie noch warm von seiner letzten Arbeit, und gleiten problemlos durch das Holz. Ein gutes Gefühl. Er pfeift wieder, diesmal ohne irgendwelche Melodien, schlägt den Vögeln bloß lustige kleine Triller und Riffs vor.

Es wird allmählich warm, so dass Cal seine Arbeit kurz unterbrechen muss, um sein Sweatshirt auszuziehen. Er fängt an, in aller Ruhe das Holz zwischen den beiden eingesägten Linien auszustemmen. Er hat’s nicht eilig. Der Junge, wer immer er ist, will irgendwas. Cal bietet ihm die Gelegenheit, es sich zu holen.

Das erste Geräusch, das er von irgendwo hinter der Hecke hört, wird von seinem Pfeifen und dem Schaben des Beitels übertönt, weshalb er sich seiner Sache nicht sicher ist. Er blickt nicht auf. Er nimmt sein Maßband und misst die Nut, die er macht: lang genug für eine Laufleiste. Als er um den Tisch geht, um nach seiner Säge zu greifen, hört er es wieder: ein deutliches Knacken von Zweigen, als würde jemand hindurchkriechen oder sich dort herumdrücken.

Cal blickt zur Hecke, als er sich nach der Säge bückt. »Wenn du schon zuguckst«, sagt er, »kannst du dir auch aus der Nähe anschauen, was ich hier mache. Komm her und hilf mir ein bisschen.«

Die Stille hinter der Hecke ist absolut. Cal spürt sie förmlich vibrieren.

Er sägt die Laufleiste ab, pustet den Staub weg und hält sie probeweise an die alte. Dann wirft er sie lässig und locker Richtung Hecke, gefolgt von einem Bogen Schleifpapier. »Hier«, sagt er zur Hecke. »Schmirgel das glatt.«

Er nimmt wieder Beitel und Hammer und macht sich daran, die Nut weiter auszustemmen. Die Stille dauert so lange an, dass er schon denkt, er hätte sich verkalkuliert. Dann hört er ein Rascheln, als würde sich jemand langsam und vorsichtig durch die Hecke schieben.

Cal arbeitet weiter. Aus dem Augenwinkel sieht er irgendetwas Rotes. Nach einer ganzen Weile hört er das Schaben von Schleifpapier, linkisch und unfachmännisch, unterbrochen von längeren Aussetzern.

»Muss kein Kunstwerk werden«, sagt er. »Die kommt in den Sekretär da, kriegt kein Mensch zu sehen. Nur die Splitter müssen abgeschliffen werden. Streich in Richtung der Maserung, nicht quer dazu.«

Pause. Erneutes Schleifen.

»Wir machen hier gerade Laufleisten für Schubladen«, sagt er. »Schon mal welche gesehen?«

Er blickt auf. Es ist der Junge von letzter Nacht, klar. Er steht knapp vier Meter entfernt auf der Wiese und starrt Cal an, jeder Muskel angespannt, bereit zur Flucht, falls es sein muss. Mattbraune, kurz geschorene Haare, schlabberiger, rot verwaschener Hoodie, schäbige Jeans. Er ist schätzungsweise zwölf.

Er schüttelt den Kopf, ein kurzer Ruck.

»Die sorgen dafür, dass die Schublade nicht wackelt und sich leicht rausziehen und reinschieben lässt. An der Schublade ist ein Teil, das genau in die Nut da reinpasst.« Cal beugt sich zu dem Sekretär, schön langsam, und zeigt darauf. Die Augen des Jungen folgen jeder seiner Bewegungen. »Die alten waren nicht mehr zu gebrauchen.«

Er stemmt weiter aus. »Das hier könnte man leichter mit einer Fräse machen oder einer Tischsäge«, sagt er, »aber so was hab ich nicht hier. Zum Glück war mein Grandpa Hobbyschreiner. Er hat mir gezeigt, wie man das per Hand macht, als ich etwa in deinem Alter war. Schon mal mit Holz gearbeitet?«

Er schielt wieder zu dem Jungen hinüber, und der schüttelt erneut den Kopf. Er ist drahtig gebaut, die Sorte, die so schnell ist, wie sie aussieht, und stärker, als man denkt. Beides hat Cal bereits letzte Nacht festgestellt. Das Gesicht ist durchschnittlich: noch ein kleiner Rest Babyweichheit, keine besonders markanten oder feinen Züge, nicht gutaussehend oder hässlich; auffällig sind nur das trotzige Kinn und ein graues Augenpaar, das Cal fixiert, als würde es ihn durch eine CIA-mäßige Datenbank laufen lassen.

»Tja«, sagt Cal. »Jetzt schon. Moderne Schubladen haben Metallschienen, aber der Sekretär hier ist alt. Wie alt genau kann ich dir nicht sagen. Ist nicht mein Fachgebiet. Wäre natürlich schön, wenn das Ding eine echte Kostbarkeit wäre, aber wahrscheinlich ist es bloß eine wertlose alte Kiste. Trotzdem gefällt er mir. Ich will versuchen, ihn wieder in Schuss zu bringen.«

Er redet, wie er mit einem streunenden Köter in seinem Garten reden würde, ruhig und gleichmäßig, ohne groß darüber nachzudenken, was genau er eigentlich sagt. Der Junge fängt an, schneller und sicherer zu schleifen, kriegt allmählich den Dreh raus.

Cal misst die Nut und sägt die nächste Laufleiste ab. »Die müsste langsam gut sein«, sagt er. »Lass mal sehen.«

»Wenn die für ’ne Schublade ist«, sagt der Junge, »muss die richtig glatt sein. Sonst klemmt die.«

Seine Stimme ist hell und deutlich, noch nicht im Stimmbruch, und sein Akzent ist fast so stark wie der von Mart. Und er ist nicht blöd. »Stimmt«, sagt Cal. »Dann mach weiter und lass dir Zeit.«

Er stellt sich so hin, dass er den Jungen aus dem Augenwinkel sehen kann, während er weiter Holz ausstemmt. Der Junge nimmt die Arbeit ernst, überprüft sorgfältig alle Kanten und Flächen mit dem Finger, schleift alles wieder und wieder ab, bis er zufrieden ist. Schließlich blickt er auf und wirft Cal die Laufleiste zu.

Cal fängt sie auf. »Gut gemacht«, sagt er, während er prüfend mit dem Daumen darüber fährt. »Guck mal.« Er drückt sie auf den Zapfen an der Seite der Schublade und schiebt sie hin und her. Der Junge reckt den Hals, um besser sehen zu können, kommt aber nicht näher.

»Glatt wie Butter«, sagt Cal. »Wir werden sie später noch wachsen, damit sie ein kleines bisschen leichter gleitet, aber eigentlich ist das schon nicht mehr nötig. Nimm die nächste.«

Als er nach der zweiten Laufleiste greift, huschen die Augen des Jungen zu dem Pflaster an seiner Hand.