Schattenstill - Tana French - E-Book
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Schattenstill E-Book

Tana French

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Beschreibung

»WAS SIE ÜBER MORD WISSEN MÜSSEN: IN NEUNUNDNEUNZIG VON HUNDERT FÄLLEN BRICHT ER NICHT IN DAS LEBEN DER MENSCHEN EIN. SONDERN SIE ÖFFNEN IHM DIE TÜR.« In Broken Harbour, einer windgepeitschten Geisterstadt voller Bauruinen, ist eine ganze Familie ausgelöscht worden. Seltsame Löcher klaffen in den Wänden ihres Hauses. Kühl und methodisch beginnt Detective Mike Kennedy mit den Ermittlungen – doch Broken Harbour zieht auch ihn erbarmungslos in sein zerstörerisches Kraftfeld. »Tana French in Hochform: ein Meisterwerk.« Cosmopolitan »Die irische Autorin Tana French gehört längst zur Elite der europäischen Krimigarde. Auch nach diesem Buch weiß jeder, warum.« MDR »730 Seiten subtile Spannung. Spitzenklasse!« TV Movie »Ein packender Psychothriller, in dem alle Beteiligten einem Wahn verfallen sind.« Die Welt »Tana French ist eine der besten Crime-Autorinnen der Welt.« The Washington Post »Frenchs Bücher gehören zum Stärksten, was in den letzten Jahren an Krimis erschienen ist – nicht zuletzt, weil sie so viel mehr sind.« Brigitte »Das ist die hohe Schule des Krimischreibens.« Financial Times

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Tana French

Schattenstill

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Ulrike Waselund Klaus Timmermann

FISCHER E-Books

Inhalt

Widmung12345678910111213141516171819Dank

Für Darley, Zauberer und Gentleman

1

DAMIT EINS VON VORNHEREIN KLAR IST: Ich war genau der Richtige für diesen Fall. Sie würden sich wundern, wie viele von den Kollegen einen Riesenbogen darum gemacht hätten, wenn sie es sich hätten aussuchen können – und ich konnte es mir aussuchen, zumindest am Anfang. Ein paar von ihnen sagten es mir ganz offen: Lieber du als ich, Mann. Das hat mir nichts ausgemacht, nicht das Geringste. Die taten mir bloß leid.

Manche von ihnen sind nicht besonders scharf auf die spektakulären, publicity-trächtigen Fälle, bei denen es wirklich um was geht – zu viel Medienrummel, sagen sie, und zu viel Ärger, wenn du den Fall nicht aufklärst. Ich halte nichts von so einer negativen Einstellung. Wenn du Energie dafür verpulverst, dir vorzustellen, wie schmerzhaft der Absturz wäre, bist du schon halb unten. Ich konzentrier mich auf das Positive, und davon gibt’s reichlich: Du kannst ruhig so tun, als hättest du so was nicht nötig, aber jeder weiß, dass nur die fetten Fälle auch fette Beförderungen bringen. Ich sage: Her mit den Schlagzeilenfüllern, die Messerstechereien im Drogenmilieu könnt ihr von mir aus behalten. Wenn du keinen Druck aushalten kannst, bleib lieber auf Streife.

Manche Kollegen kommen nicht damit klar, wenn Kinder die Opfer sind, woran ja auch nichts auszusetzen wäre, bis auf eine Kleinigkeit: Wenn du keine wirklich schlimmen Mordfälle verkraftest, was zum Teufel hast du dann im Morddezernat zu suchen, wenn ich fragen darf? Ich wette, die Kollegen vom Dezernat für Urheberrechtsverletzungen hätten deinen sensiblen Hintern furchtbar gern mit an Bord. Ich hab schon alles erlebt: tote Babys, Ertrunkene, Lustmorde und einen von einer Schrotflinte weggepusteten Kopf, mit haufenweise Gehirnmasse an den Wänden, und ich kann trotzdem prima schlafen, solange die Arbeit gemacht wird. Irgendwer muss sie schließlich machen. Wenn ich derjenige bin, dann wird sie wenigstens richtig gemacht.

Denn ich möchte noch etwas klarstellen, wo wir schon mal dabei sind: Ich bin verflucht gut in meinem Job. Das glaube ich noch immer. Ich bin seit zehn Jahren beim Morddezernat, und seit sieben Jahren, nachdem ich gelernt hatte, wie der Hase läuft, hab ich die höchste Aufklärungsrate in dem Laden. Dieses Jahr bin ich auf Platz zwei abgerutscht, aber die Nummer eins hatte eine Serie mit todsicheren Sachen, Fälle von häuslicher Gewalt, wo der Verdächtige sich praktisch selbst die Handschellen angelegt und sein Geständnis auf dem Silbertablett serviert hat. Ich dagegen hab die harten Nüsse erwischt, die Morde unter Junkies, wo kein Schwein irgendwas gesehen hat, und trotzdem war ich erfolgreich. Wenn unser Superintendent an mir gezweifelt hätte, auch nur ein klitzekleines bisschen, hätte er mich jederzeit von dem Fall abziehen können. Hat er aber nicht.

Ich will damit Folgendes sagen: In diesem Fall hätte alles wie ein Uhrwerk ablaufen müssen. Er hätte als leuchtendes Beispiel dafür, wie man alles richtig macht, in die Lehrbücher eingehen sollen. Allen Voraussetzungen nach hätte es der Traumfall sein müssen.

 

Ich wusste sofort, vom allerersten Moment an, dass es ein richtig großes Ding war. Wir alle wussten das. Der normale Allerweltsmord landet direkt bei uns Detectives im Büro und geht an denjenigen, der turnusmäßig an der Reihe ist, oder, falls der Betreffende nicht da ist, an denjenigen, der zufällig da ist. Nur die großen Sachen, die heiklen, die Fingerspitzengefühl erfordern, gehen über den Superintendent, damit er sich den passenden Mann aussuchen kann. Als O’Kelly also den Kopf zur Tür hereinsteckte, auf mich zeigte, »Kennedy, in mein Büro«, blaffte und wieder verschwand, wussten wir Bescheid.

Ich schnappte mir mein Jackett von der Rückenlehne des Schreibtischstuhls und zog es an. Mein Herzschlag hatte sich beschleunigt. Es war lange her, zu lange her, seit ich einen von den richtig Großen ergattert hatte. »Nicht weglaufen«, sagte ich zu Richie, meinem Partner.

»O-oh«, sagte Quigley gespielt erschrocken hinter seinem Schreibtisch und schwenkte eine dickliche Hand. »Steckt Rocky wieder in der Scheiße? Hätte nicht gedacht, dass wir das noch mal erleben.«

»Sperr schön die Augen auf, alter Junge.« Ich zupfte meine Krawatte zurecht. Quigley führte sich ein bisschen gehässig auf, weil turnusmäßig eigentlich er an der Reihe war. Wenn er nicht so ein Totalversager gewesen wäre, hätte O’Kelly vielleicht ihn mit dem Fall betraut.

»Was hast du angestellt?«

»Deine Schwester gevögelt. Das Einzige, was ein bisschen gestört hat, war ihr Gesicht.«

Die Jungs kicherten, worauf Quigley eine Schnute zog wie eine alte Frau. »Das ist nicht witzig.«

»Zu nah an der Wahrheit?«

Richie war der Unterkiefer runtergeklappt, und vor Neugier hielt es ihn kaum auf dem Stuhl. Ich fischte meinen Kamm aus der Jacketttasche und fuhr mir rasch damit durchs Haar. »Seh ich anständig aus?«

»Arschkriecher«, sagte Quigley eingeschnappt. Ich ignorierte ihn.

»Ja«, sagte Richie. »Alles bestens. Was …?«

»Nicht weglaufen«, sagte ich noch einmal zu ihm und ging zu O’Kelly.

Mein zweiter Anhaltspunkt: Der Superintendent stand hinter seinem Schreibtisch, die Hände in den Hosentaschen, und wippte auf den Fußballen vor und zurück. Dieser Fall hatte ihn derart mit Adrenalin aufgepumpt, dass er nicht mehr in seinen Schreibtischsessel passte. »Na endlich«, kam es.

»Tut mir leid, Sir.«

Er blieb, wo er war, sog Luft durch die Zähne und las noch einmal das Einsatzformular auf seinem Schreibtisch durch. »Wie kommen Sie mit der Mullen-Akte voran?«

Ich hatte die letzten paar Wochen damit verbracht, für die Staatsanwaltschaft eine Akte zu einem dieser kniffligen und chaotischen Drogendealerfälle zusammenzutragen, damit die miese kleine Ratte auch ja nicht durch einen noch so winzigen Spalt durchflutschen konnte. Manche Detectives denken, ihre Arbeit ist erledigt, sobald Anklage erhoben wird, aber ich nehme es persönlich, wenn sich einer meiner Fänge vom Haken windet, was selten vorkommt. »So gut wie fertig. Mehr oder weniger.«

»Könnte jemand anders den Rest übernehmen?«

»Kein Problem.«

Er nickte und las weiter. O’Kelly hat es gern, wenn er gefragt wird – so zeigst du ihm, dass du weißt, wer der Boss ist –, und da er nun mal tatsächlich mein Boss ist, hab ich kein Problem damit, wie ein braves Hündchen das zu tun, was er will, wenn das die Dinge einfacher macht. »Ist was reingekommen, Sir?«

»Kennen Sie Brianstown?«

»Nie gehört.«

»Ich bis jetzt auch nicht. Ist eine von diesen neuen Siedlungen an der Küste, hinter Balbriggan. Hieß früher mal Broken Bay oder so ähnlich.«

»Broken Harbour«, sagte ich. »Ja. Broken Harbour kenn ich.«

»Heißt jetzt Brianstown. Und spätestens heute Abend kennt das ganze Land den Namen.«

Ich sagte: »Klingt nach einem üblen Fall.«

O’Kelly legte eine Handfläche schwer auf das Einsatzformular, als müsste er es festhalten. Er sagte: »Ehemann, Frau und zwei Kinder, zu Hause niedergestochen. Die Frau ist auf dem Weg ins Krankenhaus, ob sie durchkommt, ist fraglich. Die anderen drei sind tot.«

Wir schwiegen einen Moment, lauschten auf die kleinen Vibrationen, die seine Worte in der Luft hinterließen. Ich sagte: »Wer hat die Meldung gemacht?«

»Die Schwester der Frau. Die beiden telefonieren jeden Morgen, aber heute konnte sie sie nicht erreichen. Das hat sie so beunruhigt, dass sie ins Auto gestiegen und nach Brianstown gefahren ist. Wagen in der Einfahrt, am helllichten Tag Licht im Haus, keiner macht auf, also ruft sie die Polizei an. Die Jungs in Uniform brechen die Tür auf – und große Überraschung.«

»Wer ist vor Ort?«

»Bloß die Kollegen von der Streife. Ein Blick hat genügt, und sie wussten, dass das eine Nummer zu groß für sie war. Sie haben dann gleich Meldung gemacht.«

»Großartig«, sagte ich. Es gibt eine ganze Menge Idioten, die erst noch stundenlang Detective gespielt und den Fall versaut hätten, ehe sie sich geschlagen gegeben und die echten Profis verständigt hätten. Anscheinend hatten wir Schwein gehabt und zwei mit ein bisschen Grips erwischt.

»Ich will, dass Sie das machen. Können Sie übernehmen?«

»Es wäre mir eine Ehre.«

»Wenn Sie nicht alles andere stehen und liegen lassen können, dann sagen Sie es jetzt, und ich setz Flaherty auf den Fall an. Die Sache hat oberste Priorität.«

Flaherty ist der Typ mit den todsicheren Fällen und der Spitzenaufklärungsrate. Ich sagte: »Das wird nicht nötig sein, Sir. Ich übernehme den Fall.«

»Schön«, sagte O’Kelly, aber er gab mir nicht das Einsatzformular. Er hielt es ins Licht, studierte es und rieb sich dabei mit dem Daumen am Unterkiefer entlang. »Curran«, sagte er. »Hat der das Zeug für diesen Fall?«

Der kleine Richie war gerade mal zwei Wochen bei uns. Viele Kollegen lernen die Neuen nicht gern an, daher mache ich das. Wenn du was von deinem Job verstehst, hast du die Pflicht, dein Wissen weiterzugeben. »Sicher«, sagte ich.

»Ich kann ihn vorübergehend woanders unterbringen, Ihnen jemanden zur Seite stellen, der weiß, wo’s langgeht.«

»Wenn Curran keinen Druck aushält, sollten wir es lieber gleich rausfinden.« Ich wollte niemanden, der wusste, wo es langgeht. Das Abrichten von Neulingen hat den Vorteil, dass du dir jede Menge Ärger ersparst. Wir alle, die wir schon länger dabei sind, haben nämlich so unsere eigenen Methoden, und zu viele Köche et cetera. Wenn du weißt, wie du mit einem Anfänger umzugehen hast, behindert er dich längst nicht so wie ein anderer alter Hase. Ich konnte es mir nicht leisten, Zeit mit Spielchen à la bitte-nach-Ihnen-nein-nach-Ihnen zu verplempern, nicht in diesem Fall.

»Sie würden die Ermittlung leiten, so oder so.«

»Glauben Sie mir, Sir. Curran kommt schon klar.«

»Es ist ein Risiko.«

Anfänger verbringen ihr erstes Jahr sozusagen auf Bewährung. Das ist keine offizielle Richtlinie, aber deshalb nicht weniger wahr. Falls Richie gleich am Start einen Fehler machte, mitten im grellen Licht der Medien, könnte er praktisch anfangen, seinen Schreibtisch zu räumen. Ich sagte: »Er packt das. Dafür sorge ich.«

O’Kelly sagte: »Nicht bloß in Currans Interesse. Wie lange ist es her, seit Sie zuletzt einen echten Brocken hatten?«

Seine Augen waren auf mich gerichtet, klein und durchdringend. Mein letzter aufsehenerregender Fall war in die Hose gegangen. Nicht durch meine Schuld – jemand, den ich für einen Freund hielt, hatte mich reingelegt, in die Scheiße geritten und drin stecken lassen –, aber dennoch, die Leute erinnern sich dran. Ich sagte: »Fast zwei Jahre.«

»Stimmt. Wenn Sie den hier aufklären, sind Sie wieder im Rennen.«

Den zweiten Teil ließ er unausgesprochen in der Luft hängen. Ich sagte: »Ich klär ihn auf.«

O’Kelly nickte. »Dachte ich mir. Halten Sie mich auf dem Laufenden.« Er beugte sich über den Schreibtisch und reichte mir das Einsatzformular.

»Danke, Sir. Ich werd Sie nicht enttäuschen.«

»Cooper und die Spurensicherung sind schon unterwegs.« Cooper ist der Rechtsmediziner. »Sie werden mehr Leute brauchen. Ich lass Ihnen aus dem Personalpool ein paar Sonderfahnder zuweisen. Reichen Ihnen sechs fürs Erste?«

»Sechs sind in Ordnung. Wenn ich mehr brauche, sag ich Bescheid.«

Ich war schon auf dem Weg nach draußen, als O’Kelly nachschob: »Und unternehmen Sie in Gottes Namen was gegen Currans Garderobe.«

»Ich hab letzte Woche ein Wörtchen mit ihm geredet.«

»Eins reicht nicht. War das etwa ein Kapuzenshirt, was er da gestern anhatte?«

»Die Turnschuhe hab ich ihm schon ausgetrieben. Ein Schritt nach dem anderen.«

»Wenn er bei diesem Fall mitmischen will, sollte er besser ein paar Riesenschritte einlegen, bevor ihr am Tatort aufkreuzt. Die Medien werden sich auf den Fall stürzen wie Fliegen auf Hundescheiße. Sorgen Sie wenigstens dafür, dass er seinen Mantel anbehält, damit der Trainingsanzug nicht zu sehen ist oder womit auch immer er uns heute beehrt hat.«

»Ich hab eine Ersatzkrawatte im Schreibtisch. Er wird passabel aussehen.« O’Kelly knurrte irgendwas Unwirsches von wegen Schwein im Smoking.

Auf dem Weg zurück ins Großraumbüro überflog ich das Einsatzformular: Da stand genau das, was O’Kelly mir bereits erzählt hatte. Bei den Opfern handelte es sich um Patrick Spain, seine Frau Jennifer und ihre Kinder Emma und Jack. Die Schwester, die die Polizei angerufen hatte, hieß Fiona Rafferty. Unter ihren Namen hatte der Kollege von der Zentrale in warnenden Großbuchstaben geschrieben: ACHTUNG, ANRUFERIN KLINGT HYSTERISCH.

 

Richie schoss von seinem Stuhl hoch und hüpfte von einem Fuß auf den anderen, als hätte er Sprungfedern in den Knien. »Und …?«

»Mach dich startklar. Wir müssen los.«

»Hab ich dir doch gesagt«, sagte Quigley zu Richie.

Richie sah ihn mit großen arglosen Augen an. »Hast du, echt? Tut mir leid, Mann, hab nicht zugehört. Hab so viel anderes im Kopf, wenn du verstehst, was ich meine.«

»Ich versuch bloß, dir einen Gefallen zu tun, Curran. Mach damit, was du willst.« Quigley hatte noch immer den gekränkten Ausdruck im Gesicht.

Ich zog mir meinen Mantel über und fing an, meine Aktentasche durchzusehen. »Ihr zwei habt anscheinend ein interessantes Schwätzchen gehalten. Worum ging’s denn?«

»Nichts Besonderes«, sagte Richie schnell. »Wir haben nur ein bisschen rumgequatscht.«

»Ich hab den kleinen Richie bloß gewarnt«, sagte Quigley herablassend zu mir. »Kein gutes Zeichen, wenn der Superintendent dich allein zu sich zitiert. Dir die Infos hinter Richies Rücken gibt. Was sagt das wohl über seine Stellung hier im Dezernat? Ich dachte, darüber sollte er mal ein bisschen nachdenken.«

Quigley macht Anfängern gern das Leben schwer, genauso wie er Verdächtige gern einen Tick zu hart in die Mangel nimmt. Das haben wir alle schon mal gemacht, aber keiner von uns kostet es so aus wie er. Normalerweise ist er allerdings schlau genug, meine Jungs in Ruhe zu lassen. Aus irgendwelchen Gründen war er sauer auf Richie. Ich sagte: »In der nächsten Zeit hat er genug anderes, worüber er nachdenken muss. Da darf er sich nicht durch irgendwelches sinnloses Zeug ablenken lassen. Detective Curran, können wir?«

»Na denn«, sagte Quigley und drückte sein Dreifachkinn fest zusammen. »Kümmert euch nicht um mich.«

»Tu ich sowieso nie, Kumpel.« Ich zog unauffällig die Krawatte aus der Schublade und steckte sie im Schutz des Schreibtisches in die Manteltasche: kein Grund, Quigley noch mehr Munition zu liefern. »Fertig, Detective Curran? Abmarsch.«

»Wir sehen uns«, sagte Quigley hämisch zu Richie, als wir zur Tür strebten. Richie warf ihm eine Kusshand zu, aber das sollte ich nicht sehen, also sah ich es nicht.

Es war Oktober, ein verhangener, kalter, grauer Dienstagmorgen, trüb und launisch wie im März. Ich holte meinen silbernen Lieblings-BMW aus dem Fuhrpark – offiziell läuft das nach dem Prinzip »wer zuerst kommt, mahlt zuerst«, aber in der Praxis kommt kein Jüngelchen vom Dezernat für häusliche Gewalt auch nur in die Nähe der Lieblingskarre eines Detectives vom Morddezernat, was den Vorteil hat, dass ich den Sitz nicht jedes Mal verstellen muss und keiner Hamburger-Verpackungen auf den Boden schmeißt. Ich wäre jede Wette eingegangen, dass ich den Weg nach Broken Harbour noch immer im Schlaf gefunden hätte, aber falls nicht, wollte ich das nicht ausgerechnet heute rausfinden, also programmierte ich das Navi. Es wusste nicht, wo Broken Harbour lag. Es wollte nach Brianstown.

Richie hatte seine ersten zwei Wochen im Dezernat damit verbracht, mir bei der Arbeit an der Mullen-Akte zu helfen und ein paar Zeugen noch mal neu zu vernehmen. Jetzt winkte ihm sein erster richtiger Mordfall, und er hatte vor Aufregung förmlich Hummeln im Hintern. Er beherrschte sich, bis wir losgefahren waren. Dann platzte es aus ihm heraus: »Haben wir einen Fall?«

»Ja.«

»Was für einen Fall?«

»Einen Mordfall.« Ich hielt an einer roten Ampel, zog die Krawatte raus und gab sie ihm. Wir hatten Glück: Er trug ein Hemd, wenn auch ein billiges weißes Ding, so dünn, dass ich seine Brusthaare hätte sehen können, wenn er welche gehabt hätte, und eine graue Hose, die eigentlich ganz passabel war, nur leider eine Nummer zu groß. »Umbinden.«

Er starrte auf die Krawatte, als hätte er noch nie eine gesehen. »Echt?«

»Echt.«

Einen Moment lang dachte ich schon, ich würde anhalten und ihm die Krawatte binden müssen – wahrscheinlich hatte er bei seiner Firmung das letzte Mal eine getragen –, aber schließlich schaffte er es, mehr oder weniger. Er klappte die Sonnenblende runter, um sich im Spiegel zu begutachten. »Ganz schön schick, was?«

»Besser«, sagte ich. O’Kelly hatte recht: Die Krawatte machte überhaupt keinen Unterschied. Sie war ein edles Teil aus weinroter Seide mit einem feinen Streifen im Gewebe, aber manche Leute können gute Qualität tragen und manche eben nicht. Richie ist eins fünfundsiebzig, wenn’s hoch kommt, und besteht nur aus Ellbogen und dürren Beinen und schmalen Schultern – er sieht aus wie vierzehn, obwohl er laut seiner Personalakte einunddreißig ist –, und halten Sie mich meinetwegen für voreingenommen, aber ich hätte Ihnen schon nach einem einzigen Blick genau sagen können, aus was für einem Milieu er stammt. Da passt alles: das zu kurze, glanzlose Haar, die scharfen Gesichtszüge, der federnde, unruhige Gang, als würde er mit einem Auge aufpassen, ob ihm irgendwie Ärger blüht, und mit dem anderen nach allem Ausschau halten, was nicht abgeschlossen ist. An ihm sah die Krawatte bloß aus wie geklaut.

Er rieb prüfend mit einem Finger darüber. »Die ist gut. Ich geb sie dir wieder.«

»Behalt sie. Und besorg dir bei Gelegenheit noch ein paar eigene.«

Er warf mir einen Blick zu, und ich dachte schon, er würde etwas sagen, aber er bremste sich. »Danke«, sagte er stattdessen.

Wir hatten die Kais erreicht und fuhren Richtung M1. Der Wind blies so heftig vom Meer her die Liffey hoch, dass die Fußgänger sich richtig in ihn hineinlehnen mussten. Als wir in einen Stau gerieten – irgendein Angeber in einem SUV hatte nicht damit gerechnet oder es war ihm egal gewesen, dass er es nicht mehr über die Kreuzung schaffen würde –, holte ich meinen BlackBerry raus und schickte meiner Schwester Geraldine eine SMS: Geri, bitte BITTE: Hol Dina schnellstens von der Arbeit ab. Falls sie meckert, weil sie Stunden verliert, sag ihr, ich bezahl ihr die. Keine Bange, alles ok mit ihr, aber sie sollte ein paar Tage bei dir bleiben. Ruf dich später an. Danke. Der Superintendent hatte recht: In ein paar Stunden würden die Medien Broken Harbour in Beschlag nehmen und umgekehrt. Dina ist die Kleinste; Geri und ich kümmern uns noch immer um sie. Wenn sie von dieser Geschichte erfuhr, musste sie irgendwo in Sicherheit sein.

Richie stellte keine Fragen wegen der SMS, was gut war, und sagte stattdessen mit Blick aufs Navi: »Außerhalb der Stadt, ja?«

»Brianstown. Schon mal gehört?«

Er schüttelte den Kopf. »Klingt nach einer von diesen neuen Siedlungen.«

»Richtig. Ein Stück die Küste hoch. War früher mal ein Dorf namens Broken Harbour, aber es klingt, als hätte da einer was völlig Neues aus dem Boden gestampft.« Der Angeber in dem SUV schaffte es endlich, seine Karre aus dem Weg zu manövrieren, und der Verkehr setzte sich wieder in Bewegung. »Sag mal. Was ist das Schlimmste, das du bisher im Job erlebt hast?«

Richie zuckte die Achseln. »Ich war eine Ewigkeit bei der Verkehrspolizei, bevor ich ins Dezernat für Kfz-Diebstahl kam. Da hab ich ganz schön üble Sachen gesehen. Unfälle.«

Das denken alle. Bestimmt habe ich das auch mal gedacht, vor langer, langer Zeit. »Nein, mein Junge. Hast du nicht. Das verrät mir bloß, wie arglos du bist. Es ist weiß Gott nicht schön, ein Kind mit aufgeplatztem Schädel zu sehen, weil irgendein Vollidiot eine Kurve zu schnell genommen hat, aber das ist nichts im Vergleich dazu, ein Kind mit aufgeplatztem Schädel zu sehen, weil irgend so ein Arschloch es absichtlich gegen die Wand geknallt hat, bis es aufgehört hat zu atmen. Bisher hast du nur gesehen, was schlichtes Pech Menschen antun kann. Gleich wirst du zum ersten Mal sehen, was Menschen sich gegenseitig antun können. Glaub mir: Das ist nicht das Gleiche.«

Richie fragte: »Geht’s um ein Kind? In dem Fall jetzt?«

»Um eine ganze Familie. Vater, Mutter und zwei Kinder. Die Frau kommt vielleicht durch. Die anderen sind tot.«

Seine Hände waren auf seinen Knien erstarrt. Es war das erste Mal, dass ich ihn völlig reglos erlebte. »O Mann. Wie alt sind die Kinder?«

»Wissen wir noch nicht.«

»Was ist mit ihnen passiert?«

»Wie es aussieht, wurden sie erstochen. Zu Hause, vermutlich irgendwann letzte Nacht.«

»Mann, ist das Scheiße. Das ist so was von Scheiße.« Richies Gesicht war zu einer Grimasse verzogen.

»Ja«, sagte ich, »ganz genau. Und wenn wir gleich am Tatort ankommen, musst du drüber weg sein. Regel Nummer eins, und das kannst du dir aufschreiben: keine Emotionen am Tatort. Zähl bis zehn, bete den Rosenkranz, reiß makabre Witze, mach, was immer du machen musst. Wenn du ein paar Tipps brauchst, um klarzukommen, frag mich jetzt.«

»Ich schaff das schon.«

»Das musst du auch. Die Schwester von der Ehefrau ist da draußen, und die interessiert sich nicht dafür, wie sehr dir die Sache an die Nieren geht. Die muss lediglich wissen, dass du der Sache gewachsen bist.«

»Ich bin der Sache gewachsen.«

»Gut. Hier, lies.«

Ich reichte ihm das Einsatzformular und gab ihm dreißig Sekunden, um es zu überfliegen. Sein Gesicht veränderte sich, wenn er sich konzentrierte: Er wirkte älter und klüger. »Wenn wir da draußen ankommen«, sagte ich, als die Zeit um war, »welche Frage stellst du den Jungs von der Streife dann als Erstes?«

»Die Waffe. Wurde die am Tatort gefunden?«

»Warum nicht: ›Irgendwelche Anzeichen für gewaltsames Eindringen?‹«

»So was kann man vortäuschen.«

Ich sagte: »Reden wir nicht drum herum. Mit ›man‹ meinst du Patrick oder Jennifer Spain.«

Er zuckte so minimal zusammen, dass es mir glatt entgangen wäre, wenn ich nicht drauf geachtet hätte. »Jeder mit Zugang zum Haus. Ein Verwandter oder ein Freund. Jeder, den sie reinlassen würden.«

»Aber das hattest du nicht im Sinn, oder? Du hast an die Spains gedacht.«

»Ja. Kann sein.«

»So was kommt vor, mein Junge. Kein Grund, so zu tun, als wär’s nicht so. Jennifer Spain hat überlebt, was sie für uns automatisch in den Mittelpunkt rückt. Andererseits, bei so einem Tatablauf ist es meistens der Vater: Eine Frau bringt bloß die Kinder und sich selbst um, ein Mann löscht die ganze Familie aus. Aber wie auch immer, normalerweise halten sie sich nicht damit auf, gewaltsames Eindringen vorzutäuschen. So was ist ihnen längst völlig egal.«

»Trotzdem. Ich denke, das können wir erst entscheiden, wenn die Spurensicherung da ist. Wir werden uns wohl nicht darauf verlassen, was die Jungs von der Streife sagen. Aber die Waffe, für die würde ich mich als Erstes interessieren.«

»Sehr gut. Das steht ganz oben auf der Liste für die Kollegen in Uniform, richtig. Und was würdest du die Schwester als Erstes fragen?«

»Ob irgendjemand was gegen Jennifer Spain gehabt hat. Oder gegen Patrick Spain.«

»Okay, klar, aber das werden wir jeden fragen, den wir finden können. Was willst du speziell Fiona Rafferty fragen?«

Er schüttelte den Kopf.

»Keine Idee? Ich persönlich würde gern hören, was sie da zu suchen hat.«

»Hier steht –« Richie hielt das Einsatzformular hoch. »Die beiden haben jeden Tag miteinander telefoniert. Sie konnte sie nicht erreichen.«

»Und? Denk mal über den zeitlichen Ablauf nach, Richie. Sagen wir, sie telefonieren normalerweise um, na, neun Uhr, sobald die Ehemänner zur Arbeit und die Kinder zur Schule sind –«

»Oder sobald sie selbst auf der Arbeit sind, die Frauen. Könnte doch sein, dass sie arbeiten gehen.«

»Jennifer Spain nicht, sonst hätte die Schwester angegeben ›Sie ist nicht zur Arbeit erschienen‹, und nicht, ›Ich konnte sie nicht erreichen‹. Fiona ruft also gegen neun bei Jennifer an, frühestens halb neun – bis dahin waren sie bestimmt noch damit beschäftigt, für den Tag in die Gänge zu kommen. Und um zehn Uhr sechsunddreißig« – ich tippte auf das Einsatzformular – »ist sie in Brianstown und ruft die Polizei an. Ich weiß zwar nicht, wo Fiona Rafferty wohnt oder wo sie arbeitet, aber ich weiß, dass Brianstown eine gute Autostunde von so ziemlich allem entfernt liegt. Mit anderen Worten, Jennifer verpasst ihre gewohnte Telefonplauderei um gerade mal eine Stunde – und zwar höchstens eine Stunde, es könnte auch wesentlich weniger sein –, und schon kriegt Fiona Panik, lässt alles stehen und liegen und kutschiert ihren Hintern raus in die Pampa. Ziemlich übertriebene Reaktion, finde ich. Keine Ahnung, wie du das siehst, mein Lieber, aber mich würde brennend interessieren, was sie dermaßen auf Trab gebracht hat.«

»Vielleicht wohnt sie ja keine Stunde weit weg. Vielleicht wohnt sie nebenan, wollte bloß nachsehen, was los ist.«

»Warum fährt sie dann mit dem Auto? Wenn sie zu weit weg wohnt, um zu Fuß zu gehen, dann wohnt sie weit genug weg, um es seltsam erscheinen zu lassen, dass sie extra hinfährt. Und damit kommen wir zu Regel Nummer zwei: Wenn jemand sich seltsam verhält, ist das ein kleines Geschenk nur für dich, und du lässt es nicht eher los, bis du’s ausgepackt hast. Wir sind hier nicht beim Kfz-Diebstahl, Richie. In unserem Geschäft kannst du nicht sagen: ›Och, ist wahrscheinlich nicht wichtig, sie war an dem Tag einfach komisch drauf, Schwamm drüber.‹ Niemals.«

Es trat die Art von Stille ein, die signalisierte, dass das Gespräch nicht zu Ende war. Schließlich sagte Richie: »Ich bin ein guter Detective.«

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass du mal ein ausgezeichneter Detective wirst. Aber im Augenblick hast du noch allerhand zu lernen.«

»Ob ich Krawatten trage oder nicht.«

Ich sagte: »Du bist keine fünfzehn, Mann. Ein Aufzug wie ein Straßenräuber macht dich nicht zur großen tolldreisten Gefahr für das Establishment, er macht dich bloß zum Trottel.«

Richie nestelte an seinem dünnen Hemd herum. Er sagte, wobei er seine Worte sorgsam wählte: »Ich weiß, die Jungs im Morddezernat kommen normalerweise nicht daher, wo ich herkomme. Alle anderen kommen aus Farmerfamilien, nicht? Oder aus Lehrerfamilien. Ich entspreche nicht den normalen Erwartungen. Das ist mir klar.«

Seine Augen im Rückspiegel waren grün und ruhig. Ich sagte: »Es spielt keine Rolle, wo du herkommst. Daran kannst du nichts ändern, also verschwende deine Energie nicht damit, darüber nachzudenken. Wichtig ist, wo du hingehst. Und das, mein Freund, hast du selbst in der Hand.«

»Das weiß ich. Ich bin schließlich hier, oder?«

»Und meine Aufgabe ist es, dir zu helfen, weiterzukommen. Eine Möglichkeit, selbst dafür zu sorgen, dass du dein Ziel erreichst, ist zum Beispiel, so zu tun, als wärst du schon angekommen. Kannst du mir folgen?«

Er sah mich verständnislos an.

»Ich will es mal so ausdrücken. Was meinst du, warum wir einen BMW fahren?«

Richie zuckte die Achseln. »Ich hab gedacht, weil dir der Wagen gefällt.«

Ich nahm eine Hand vom Lenkrad, um mit einem Finger auf ihn zu zeigen. »Du hast gedacht, weil meinem Ego der Wagen gefällt. Mach dir nichts vor: So einfach ist das nicht. Wir sind nicht hinter Ladendieben her, Richie. Mörder sind die großen Fische in diesem Teich. Was sie tun, ist alles andere als belanglos. Wenn wir in einem klapprigen Toyota Baujahr ’95 am Tatort aufkreuzen, wirkt das respektlos. Als würden wir denken, die Opfer hätten nicht unser Bestes verdient. Das macht die Leute sauer. Willst du so anfangen?«

»Nein.«

»Nein, natürlich nicht. Und obendrein würden wir in einem klapprigen Toyota aussehen wie zwei Losertypen. Das spielt eine Rolle, Mann. Nicht bloß für mein Ego. Wenn die bösen Jungs zwei Loser sehen, glauben sie, sie hätten mehr Mumm als wir, und dann sind sie schwerer kleinzukriegen. Wenn die Guten zwei Loser sehen, denken sie, dass wir diesen Fall nie im Leben aufklären, also wieso sollten sie sich die Mühe machen, uns zu helfen? Und wenn wir bei jedem Blick in den Spiegel zwei Loser sehen, was glaubst du wohl, wie sich das auf unsere Gewinnchancen auswirkt?«

»Die sinken in den Keller, schätze ich.«

»Bingo. Wenn du Erfolg haben willst, darfst du nicht nach Scheitern riechen, Richie. Kapierst du, was ich sagen will?«

Er berührte den Knoten seiner neuen Krawatte. »Dass ich mich besser anziehen soll. Einfach ausgedrückt.«

»Bloß dass es nicht einfach ist, mein Lieber. Es ist alles andere als einfach. Die Regeln wurden aus gutem Grund aufgestellt. Bevor du sie brichst, solltest du vielleicht mal drüber nachdenken, was das für ein Grund sein könnte.«

Ich bog auf die M1 und gab Gas, brachte den BMW schön auf Touren. Richie warf einen Blick auf den Tacho, aber ich wusste auch ohne hinzuschauen, dass ich genau am Tempolimit fuhr, keine Meile drüber, und er hielt den Mund. Wahrscheinlich war ich für ihn ein langweiliger Schwätzer. Viele Leute denken so. Das sind allesamt Teenager, wenn nicht physisch, so doch im Kopf. Nur Teenager meinen, langweilig ist schlecht. Erwachsene, Männer und Frauen, die schon so ihre Erfahrungen gemacht haben, wissen, dass Langeweile ein Geschenk Gottes ist. Das Leben hat schon mehr als genug Aufregungen in petto, die dir auflauern und zuschlagen, sobald du nicht hinschaust, da musst du nicht auch noch zusätzlich für Spannung sorgen. Wenn Richie das noch nicht wusste, würde er es bald rausfinden.

 

Ich halte viel von Siedlungsbauprojekten – wer will, kann von mir aus die Bauunternehmer und ihre handzahmen Banker und Politiker für diese Rezession verantwortlich machen, aber Tatsache ist, wenn die nicht geklotzt statt gekleckert hätten, wären wir aus der letzten gar nicht erst rausgekommen. Wenn tagtäglich ein Wohnblock hochgezogen wird, voll mit Leuten, die jeden Morgen zur Arbeit gehen und dieses Land in Schwung halten und dann nach Hause in ihre selbstverdienten eigenen vier Wände zurückkehren, ist mir das tausendmal lieber als eine Wiese, die keinem was nützt außer vielleicht ein paar Kühen. Orte sind wie Haie: Wenn sie nicht in Bewegung bleiben, sterben sie. Aber jeder hat einen Ort, von dem er gern glaubt, dass er sich nie verändern wird.

Ich kannte Broken Harbour mal wie meine Westentasche, als ich ein magerer kleiner Junge war, mit von der Mutter geschnittenen Haaren und geflickten Jeans. Die jungen Leute von heute sind während des Wirtschaftsbooms mit Urlaub im Süden aufgewachsen, zwei Wochen an der Costa del Sol sind für sie das absolute Minimum, aber ich bin zweiundvierzig, und unsere Generation hatte niedrige Erwartungen. Ein paar Tage an der Irischen See in einem gemieteten Wohnwagen, das war schon mehr, als die meisten sich leisten konnten.

Broken Harbour war damals der Arsch der Welt. Ein Dutzend vereinzelte Häuser voll mit Familien, die Whelan oder Lynch hießen und schon seit Beginn der Evolution da waren, ein Laden namens Lynch’s und ein Pub namens Whelan’s und eine Handvoll Wohnwagenstellplätze, bloß einen kurzen Sprint mit nackten Füßen über weiche Sanddünen und durch büscheliges Schilfgras zum cremefarbenen Streifen Strand. Jeden Juni verbrachten wir zwei Wochen dort, in einem rostigen Vierbettenwohnwagen, den mein Dad ein Jahr im Voraus buchte. Geri und ich kriegten die oberen Betten; Dina musste unten schlafen, bei meinen Eltern. Geri hatte die erste Wahl, weil sie die Älteste war, aber sie wollte immer die Seite landeinwärts, damit sie die Ponys auf der Weide hinter uns sehen konnte. Somit bot sich mir jeden Tag, wenn ich die Augen aufschlug, der Anblick von weißen Gischtstreifen und flinken langbeinigen Vögeln, die über den Sand flitzten, und das alles glitzernd im frühen Morgenlicht.

Bei Tagesanbruch waren wir drei auch schon aus den Federn und gingen nach draußen, in jeder Hand eine Scheibe Brot mit Zucker. Wir spielten den ganzen Tag Piraten mit den Kindern aus den anderen Wohnwagen, und unsere Haut wurde sommersprossig und pellte sich vom Sand und vom Wind und von der Sonne, wenn sie sich denn mal blicken ließ. Zum Abendessen briet meine Mutter Spiegeleier und Würstchen auf einem Campingkocher, und hinterher schickte mein Vater uns zu Lynch’s, wo wir für uns alle ein Eis kauften. Wenn wir zurückkamen, saß meine Mutter bei ihm auf dem Schoß, hatte den Kopf in seine Halsbeuge gelegt und blickte verträumt lächelnd hinaus aufs Wasser. Er wickelte sich dann ihre Haarsträhnen um die freie Hand, damit der Seewind sie nicht in ihr Eis wehte. Ich wartete das ganze Jahr darauf, die beiden so zu sehen.

Sobald ich mit dem BMW von den Hauptverkehrsstraßen runter war, fiel mir die Strecke nach und nach wieder ein, wie ich es mir gedacht hatte, bloß eine verblasste Skizze irgendwo im Hinterkopf – vorbei an diesem Wäldchen, das jetzt höher war, und dann links an dem Knick in der Steinmauer. Doch genau da, wo das Wasser hinter einem niedrigen grünen Hügel hätte in Sicht kommen müssen, tauchte wie aus dem Nichts die Siedlung auf und stellte sich uns wie eine Straßensperre in den Weg: Hinter einer hohen Betonsteinmauer erstreckten sich scheinbar meilenweit in beide Richtungen Reihen von Schieferdächern und weißen Giebeln. Auf dem Schild an der Zufahrt stand in fetten verspielten Buchstaben, die etwa so groß wie mein Kopf waren: WILLKOMMEN IN OCEAN VIEW, BRIANSTOWN. GEHOBENE WOHNQUALITÄT IM NEUEN STIL. LUXUSHÄUSER ZUR BESICHTIGUNG OFFEN. Irgendwer hatte einen großen roten Schwanz mit Eiern quer darüber gesprüht.

Auf den ersten Blick sah Ocean View ziemlich klasse aus: große Häuser, die einem was Ordentliches fürs Geld boten, gepflegte Grünstreifen, hübsche Wegweiser, die in Richtung KINDERKRIPPE KLEINE PERLEN und FREIZEITCENTER SCHATZTRUHE zeigten. Auf den zweiten Blick mussten die Rasenflächen dringend von Unkraut befreit werden, und die Fußwege waren voller Löcher. Auf den dritten Blick stimmte hier irgendetwas nicht.

Die Häuser waren sich zu ähnlich. Selbst bei denen, wo einem ein triumphierendes rotblaues Schild VERKAUFT entgegenschrie, hatte keiner die Haustür in einer komischen Farbe gestrichen, Blumentöpfe auf die Fensterbänke gestellt oder Plastikspielsachen auf den Rasen gekippt. In einigen wenigen Einfahrten stand ein Auto, manchmal auch zwei, aber die meisten waren leer, und nicht so, dass man dachte, die sind gerade alle unterwegs und steigern das Bruttosozialprodukt. Durch drei von vier Häusern konntest du glatt hindurchgucken, auf nackte rückwärtige Fenster und graue Quadrate Himmel. Eine pummelige junge Frau in einem roten Anorak schob einen Buggy über einen Fußweg, das Haar vom Wind zerzaust. Sie und ihr mondgesichtiges Kind hätten die einzigen Menschen meilenweit sein können.

»Meine Fresse«, sagte Richie. In der Stille war seine Stimme so laut, dass wir beide zusammenzuckten. »Das Dorf der Verdammten.«

Auf dem Einsatzformular stand Ocean View Rise 9, was mehr Sinn gemacht hätte, wenn die Irische See ein Ozean oder überhaupt sichtbar gewesen wäre, aber ich schätze, man versucht, das Beste aus dem zu machen, was man hat. Das Navi war langsam überfordert: Es lotste uns den Ocean View Drive runter und dann in den Ocean View Grove – eine Straße, die sich als baumlose Sackgasse entpuppte –, um schließlich zu verkünden: »Sie haben Ihr Ziel erreicht.«

Ich wendete und fing an zu suchen. Je tiefer wir in die Siedlung kamen, desto unvollständiger wurden die Häuser, als würden wir einen Film rückwärts sehen. Schon bald bestanden sie nur noch aus wahllosen Ansammlungen von Mauern und Gerüsten, mit dem einen oder anderen klaffenden Fensterloch; wo die Häuserfronten fehlten, waren die Räume übersät mit kaputten Leitern, Rohrstücken, leeren Zementsäcken. Jedes Mal, wenn wir um eine Ecke bogen, rechnete ich damit, einen Schwarm von emsigen Bauarbeitern zu sehen, aber das höchste der Gefühle war ein zerbeulter gelber Bagger, der, zur Seite geneigt, auf einem leeren Grundstück stand, umgeben von aufgewühlter Erde und vereinzelten Sandhaufen.

Hier wohnte kein Mensch. Ich versuchte, uns wieder halbwegs in die Richtung zu bringen, aus der wir gekommen waren, aber die Siedlung war wie einer von diesen alten Heckenirrgärten angelegt, lauter Sackgassen und Spitzkehren, und wir hatten uns im Handumdrehen verfahren. Ein winziger Stich idiotischer Panik durchfuhr mich. Ich habe noch nie gern die Orientierung verloren.

Ich hielt an einer Kreuzung – reflexartig, nicht weil ich damit rechnete, dass mir irgendwer vors Auto laufen würde –, und stellte den Motor ab, und in der plötzlichen Stille hörten wir das tiefe Dröhnen des Meeres. Dann schnellte Richies Kopf hoch. Er sagte: »Was ist das?«

Es war ein kurzes, raues, schrilles Kreischen, das sich immerzu wiederholte, so regelmäßig, dass es mechanisch klang. Es breitete sich über Dreck und Beton aus und prallte von unfertigen Mauern ab, bis es von nirgendwo oder von überallher hätte kommen können. Soweit ich sagen konnte, waren das und das Meer die einzigen Geräusche in der Siedlung.

Ich sagte: »Ich vermute mal, das ist die Schwester.«

Er sah mich an, als wollte ich ihn auf den Arm nehmen. »Das ist ein Fuchs oder so. Vielleicht ist er angefahren worden.«

»Und ich hab doch tatsächlich gedacht, du wärst mit allen Wassern gewaschen und wüsstest genau, was dich hier erwartet. Mach dich auf was gefasst, Richie. Aber gehörig.«

Ich ließ ein Fenster herunter, startete den Motor und folgte dem Geräusch. Die Echos lenkten mich ein paarmal vom Kurs ab, aber als unser Ziel in Sicht kam, wussten wir sofort Bescheid. Der Ocean View Rise bestand auf einer Seite aus adretten, mit Erkerfenstern versehenen, weißen Doppelhäusern, die akkurat aufgereiht waren wie Dominosteine, auf der anderen Seite aus Gerüsten und Schutt. Zwischen den Dominosteinen, jenseits der Siedlungsmauer, bewegten sich schmale Streifen grauen Meeres. Vor einigen Häusern parkten ein oder zwei Autos, aber vor einem Haus standen drei: ein weißer Volvo-Kombi – die typische Familienkutsche –, ein gelber Fiat Seicento, der schon bessere Tage gesehen hatte, und ein Streifenwagen. Entlang der niedrigen Gartenmauer war blauweißes Polizeiabsperrband gespannt.

Was ich zu Richie gesagt hatte, war mein voller Ernst gewesen: In unserem Job spielt alles eine Rolle, selbst wie du die Autotür öffnest. Lange bevor ich das erste Wort an einen Zeugen oder einen Verdächtigen richte, soll er wissen, dass Mick Kennedy eingeflogen ist und dass er den Fall im Griff hat. Manches davon ist Glück – ich bin groß, ich habe volles Haar, das noch zu neunundneunzig Prozent dunkelbraun ist, ich sehe ganz passabel aus, wenn ich das sagen darf, und all das ist von Vorteil –, aber den Rest verdanke ich reichlich Übung und Zeit auf dem Laufband. Ich hielt das Tempo bis zur letzten Sekunde, bremste scharf ab, schwang mich mitsamt meiner Aktentasche in einer einzigen geschmeidigen Bewegung aus dem Wagen und strebte mit eiligen forschen Schritten aufs Haus zu. Richie würde lernen müssen, mit mir mitzuhalten.

Einer der Streifenpolizisten hockte ungelenk vor der offenen Hintertür seines Wagens und tätschelte jemanden auf der Rückbank, bei dem es sich ganz offensichtlich um die Quelle des Geschreis handelte. Der andere tigerte vor dem Tor auf und ab, zu schnell, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Die Luft roch frisch, süß und salzig: Meer und Wiesen. Hier draußen war es kälter als in Dublin. Der Wind pfiff halbherzig durch Gerüste und nackte Balken.

Der Typ, der auf und ab tigerte, war in meinem Alter, hatte Bauch und einen geschockten Gesichtsausdruck: Offensichtlich hatte er zwanzig Jahre bei der Polizei überstanden, ohne so etwas wie hier erleben zu müssen, und hatte gehofft, es würde ihm auch die nächsten zwanzig Jahre erspart bleiben. Er sagte: »Garda Wall. Das da am Wagen ist Garda Mallon.«

Richie streckte ihm eine Hand hin. Ich hatte das Gefühl, einen jungen Hund bei mir zu haben. Ich sagte, ehe er dazu kam, einen auf guten Kumpel zu machen: »Detective Sergeant Kennedy und Detective Garda Curran. Sie waren im Haus?«

»Nur kurz – nachdem wir angekommen waren. Sobald wir konnten, sind wir wieder raus und haben euch verständigt.«

»Gute Entscheidung. Sagen Sie mir genau, was Sie gemacht haben, vom Reingehen bis zum Rausgehen.«

Die Augen des Polizisten richteten sich auf das Haus, als könnte er kaum glauben, dass es dasselbe Gebäude war, vor dem er gerade mal zwei Stunden zuvor eingetroffen war. Er sagte: »Wir wurden gerufen, um hier nach dem Rechten zu sehen – die Schwester der Bewohnerin machte sich Sorgen. Wir waren um kurz nach elf Uhr vor Ort und versuchten, Kontakt zu den Bewohnern aufzunehmen, indem wir an der Tür läuteten, und wir haben auch angerufen, aber ohne Erfolg. Wir konnten keine Anzeichen für ein gewaltsames Eindringen feststellen, aber als wir durchs Vorderfenster schauten, sahen wir, dass im Parterre die Lampen brannten und im Wohnzimmer eine gewisse Unordnung herrschte. Die Wände –«

»Wir werden uns die Unordnung gleich selbst ansehen. Fahren Sie fort.« Lass dir nie von anderen die Einzelheiten beschreiben, bevor du einen Tatort betrittst, sonst siehst du nur das, was sie gesehen haben.

»Okay.« Er blinzelte, nahm den Faden wieder auf. »Jedenfalls. Wir haben versucht, hinters Haus zu gehen, aber Sie sehen ja selbst – da käme nicht mal ein Kind durch.« Er hatte recht: Die Lücke zwischen den Häusern war gerade breit genug für die Seitenmauer. »Wir meinten, dass die Unordnung im Wohnzimmer und die Sorge der Schwester ein gewaltsames Öffnen der Haustür rechtfertigten. Wir fanden …«

Er trat von einem Bein aufs andere, versuchte, sich so zu drehen, dass er das Haus sehen konnte, als wäre es ein kauerndes Tier, das sich jeden Moment auf ihn stürzen könnte. »Wir betraten das Wohnzimmer, fanden nichts Nennenswertes – die Unordnung eben, aber sonst … Wir gingen dann weiter in die Küche, wo wir einen Mann und eine Frau auf dem Boden vorfanden. Beide niedergestochen, wie es aussah. Eine Wunde, im Gesicht der Frau, war für mich und Garda Mallon deutlich zu erkennen. Allem Anschein nach eine Messerwunde. Es –«

»Das wird der Rechtsmediziner entscheiden. Was haben Sie dann gemacht?«

»Wir dachten, sie wären beide tot. Wir waren uns sicher. Es war alles voller Blut. Jede Menge …« Er deutete vage auf seinen eigenen Körper, machte eine unbestimmte hackende Bewegung. Manche bleiben nicht ohne Grund in Uniform. »Garda Mallon hat trotzdem bei beiden den Puls gefühlt, nur für alle Fälle. Die Frau lag ganz dicht bei dem Mann, als würde sie sich an ihn schmiegen – sie hatte den Kopf … der Kopf lag auf seinem Arm, als würde sie schlafen … Jedenfalls, Garda Mallon stellte dann fest, dass sie noch Puls hatte. Er hat einen Riesenschreck gekriegt. Wir hätten nie gedacht … Er konnte es nicht glauben, aber dann ist er nah mit dem Kopf ran und hat sie atmen gehört. Wir haben sofort den Rettungswagen gerufen.«

»Und in der Wartezeit?«

»Garda Mallon ist bei der Frau geblieben. Hat mit ihr geredet. Sie war bewusstlos, aber … er hat bloß so Sachen gesagt wie, sie soll ganz ruhig bleiben, wir wären von der Polizei, ein Krankenwagen wäre unterwegs und sie soll durchhalten … Ich bin nach oben gegangen. In den Zimmern nach hinten raus … Da sind zwei kleine Kinder, Detective. Ein kleiner Junge und ein kleines Mädchen, in ihren Betten. Ich hab bei beiden Herzdruckmassage gemacht und versucht, sie zu beatmen. Sie sind – sie waren kalt, steif, aber ich hab’s trotzdem versucht. Nach dem, was mit der Mutter war, dachte ich, man kann nie wissen, vielleicht würden sie ja doch noch …« Er strich sich mit den Händen vorn über die Jacke, unbewusst, als wollte er versuchen, das Gefühl wegzuwischen. Ich machte ihn nicht dafür zur Schnecke, dass er vielleicht Spuren verwischt hatte: Er hatte nur getan, was jeder getan hätte. »Ohne Erfolg. Sobald ich mir ganz sicher war, bin ich wieder nach unten in die Küche zu Garda Mallon, und wir haben euch und den Rest verständigt.«

Ich fragte: »Ist die Frau mal zu sich gekommen? Hat sie irgendwas gesagt?«

Er schüttelte den Kopf. »Sie hat sich nicht gerührt. Wir haben ständig gedacht, sie wäre vielleicht doch gestorben, haben ihr andauernd den Puls gefühlt, um uns zu vergewissern, dass sie noch …« Er wischte sich wieder die Hände an der Jacke ab.

»Ist einer von unseren Leuten bei ihr im Krankenhaus?«

»Wir haben im Revier angerufen, jemanden hinschicken lassen. Vielleicht hätte einer von uns mit ihr fahren sollen, aber wegen der Tatortsicherung und der Schwester – die war … Aber das hören Sie ja selbst.«

»Sie haben es ihr gesagt«, stellte ich fest. Ich erledige das am liebsten selbst, wenn die Möglichkeit besteht. Die erste Reaktion kann sehr aufschlussreich sein.

Der Garda sagte verteidigend: »Wir haben ihr gesagt, sie soll draußen bleiben, bevor wir reingegangen sind, aber wir hatten keinen, der bei ihr bleiben konnte. Sie hat eine ganze Weile gewartet, aber dann ist sie reingekommen. Ins Haus. Wir waren bei dem Opfer, haben auf euch gewartet. Die Schwester stand schon an der Küchentür, ehe wir sie bemerkt haben. Sie hat losgeschrien. Ich hab sie wieder nach draußen gebracht, aber sie hat sich gewehrt … Ich musste es ihr sagen, Detective. Das war die einzige Möglichkeit, sie draußen zu halten. Sonst hätte ich ihr Handschellen anlegen müssen.«

»Okay. Ist nicht mehr zu ändern. Was haben Sie dann gemacht?«

»Ich bin draußen bei der Schwester geblieben. Garda Mallon hat bei dem Opfer auf den Rettungswagen gewartet. Dann hat er das Haus verlassen.«

»Ohne eine Durchsuchung vorzunehmen?«

»Ich bin noch einmal reingegangen, sobald er draußen war und bei der Schwester bleiben konnte. Garda Mallon, Sir, der ist voller Blut. Er wollte es nicht im ganzen Haus verteilen. Ich hab eine kurze Sicherheitsdurchsuchung vorgenommen, nur um mich zu vergewissern, dass keine anderen Personen im Haus waren. Also keine lebenden. Die gründliche Durchsuchung wollten wir natürlich euch und der Spurensicherung überlassen.«

»Das höre ich gern.« Ich sah Richie an und hob eine Augenbraue. Der Junge hatte aufgepasst und fragte prompt: »Haben Sie eine Waffe gefunden?«

Der Garda schüttelte den Kopf. »Aber sie könnte im Haus sein. Unter dem Körper von dem Mann oder … sonst wo. Wie gesagt, wir wollten den Tatort nicht mehr als nötig verändern.«

»Was ist mit einem Abschiedsbrief?«

Wieder ein Kopfschütteln.

Ich deutete mit einem Nicken auf den Streifenwagen. »Wie geht’s der Schwester?«

»Wir haben sie immer mal wieder ein bisschen beruhigen können, mal mehr, mal weniger, aber jedes Mal …« Er warf einen gequälten Blick über die Schulter zu dem Wagen. »Die Sanitäter wollten ihr eine Beruhigungsspritze geben, aber sie wollte nicht. Wir können noch mal einen Rettungswagen rufen, falls …«

»Versuchen Sie es weiter. Ich möchte nicht, dass sie sediert wird, wenn es sich vermeiden lässt, jedenfalls nicht, bevor wir mit ihr gesprochen haben. Wir werden uns jetzt im Haus umsehen. Das übrige Team ist auf dem Weg hierher. Wenn der Rechtsmediziner kommt, können Sie ihn ruhig hier warten lassen, aber sorgen Sie dafür, dass die Jungs von der Leichenhalle und von der Spurensicherung auf Distanz bleiben, bis wir versucht haben, mit der Schwester zu reden – wenn sie die sieht, flippt sie erst recht aus. Ansonsten passen Sie auf, dass sie bleibt, wo sie ist, dass die Nachbarn bleiben, wo sie sind, und dass überhaupt jeder, der hier aufkreuzt, bleibt, wo er ist. Klar?«

»Okay«, sagte er. Der Mann hätte den Ententanz hingelegt, wenn ich es ihm gesagt hätte, so erleichtert war er, dass ihm endlich jemand die Sache abnahm. Ich sah ihm an, dass er sich danach sehnte, in seine Stammkneipe zu gehen und einen doppelten Whiskey auf Ex zu kippen.

Ich wollte nirgendwo anders hin als in das Haus. »Handschuhe«, sagte ich zu Richie. »Schuhhüllen.« Ich fischte meine bereits aus der Manteltasche. Er tastete nach seinen, und wir gingen die Einfahrt hoch. Das langgezogene Dröhnen und Rauschen des Meeres brandete heran und traf uns von vorn, wie eine Begrüßung oder eine Herausforderung. Hinter uns fuhren die Schreie noch immer nieder wie Hammerschläge.

2

WIR HABEN TATORTE nicht gleich zu Anfang für uns allein. Sie sind selbst für uns tabu, bis die Spurensicherung sie freigibt. Bis dahin sind ohnehin allerhand andere Dinge zu tun – Zeugen befragen, Angehörige verständigen –, und du erledigst das alles, guckst alle dreißig Sekunden auf die Uhr und zwingst dich, den heftigen Sog zu ignorieren, der dich hinter das Absperrband ziehen will. Diesmal war das anders. Die Streifenkollegen und die Rettungssanitäter waren sowieso schon auf jedem Quadratzentimeter im Haus der Spains herumgetrampelt. Richie und ich würden nichts verschlimmern, wenn wir einen raschen Blick riskierten.

Es war praktisch – falls Richie die richtig üblen Sachen nicht verkraften könnte, wäre es gut, das ohne Publikum rauszufinden –, aber das war nicht alles. Wenn sich dir die Chance bietet, einen Tatort so zu sehen, ergreifst du sie. Was dich da erwartet, ist das Verbrechen selbst, jede wahnwitzige Sekunde davon, für dich wie in Bernstein eingeschlossen und bewahrt. Es spielt keine Rolle, ob jemand saubergemacht, Beweismittel versteckt oder versucht hat, einen Selbstmord vorzutäuschen: Der Bernstein bewahrt auch das alles. Sobald die Untersuchung losgeht, ist es für immer verschwunden. Dann sind bloß noch deine eigenen Leute da, die am Tatort rumwimmeln, ihn eifrig auseinandernehmen, Abdruck für Abdruck und Faser für Faser. Die Chance hier kam mir vor wie ein Geschenk, gerade in diesem Fall, wo ich es am meisten gebrauchen konnte. Wie ein gutes Omen. Ich schaltete mein Handy auf stumm. In der nächsten Zeit würden mich jede Menge Leute erreichen wollen. Die konnten alle warten, bis ich meinen Tatort inspiziert hatte.

Die Haustür stand einen Spaltbreit offen, schwang leicht hin und her, wenn der Wind sie erfasste. Als sie noch ganz gewesen war, hatte sie wie massive Eiche ausgesehen, doch an der Stelle, wo die Streifenkollegen das Schloss herausgebrochen hatten, kam der pulverisierte Pressspanmist zum Vorschein. Wahrscheinlich hatte ein einziger Tritt genügt. Durch den Spalt: ein schwarz-weißer Läufer mit geometrischem Muster, trendig und wahrscheinlich entsprechend teuer.

Ich sagte zu Richie: »Wir machen bloß eine vorläufige Begehung. Alles andere kann warten, bis die Jungs von der Spusi mit dem Tatort fertig sind. Wir fassen erst mal nichts an, wir treten und atmen möglichst nirgendwo drauf, wir verschaffen uns ein Grundgefühl, womit wir’s hier zu tun haben, und verschwinden wieder nach draußen. Können wir?«

Er nickte. Ich drückte die Tür mit einer Fingerspitze an der gesplitterten Kante auf.

Mein erster Gedanke war, dass Garda Soundso, wenn er das hier als Unordnung empfand, unter einer Zwangsstörung leiden musste. Die Diele war halbdunkel und tadellos: glänzender Spiegel, ordentliche Garderobe, Geruch nach Raumspray mit Zitronenduft. Die Wände waren sauber. An einer hing ein Aquarell, irgendwas Grünes und Friedliches mit Kühen.

Mein zweiter Gedanke: Die Spains hatten eine Alarmanlage. Das Bedienfeld war so ein schickes modernes Teil, diskret hinter der Tür versteckt. Das AUS-Lämpchen leuchtete ununterbrochen gelb.

Dann sah ich das Loch in der Wand. Irgendwer hatte den Telefontisch davorgestellt, doch es war so groß, dass trotzdem ein gezackter Halbmond hervorlugte. Genau in dem Moment spürte ich sie: die haarfeine Schwingung, die in meinen Schläfen anfing und über die Knochen in die Trommelfelle wanderte. Manche Detectives spüren sie im Nacken, manche in den Haaren auf den Armen – ich kenne einen armen Hund, dem es auf die Blase schlägt, was unangenehm werden kann –, aber die guten spüren es alle irgendwo. Mich erwischt es in den Schädelknochen. Nennen Sie es, wie Sie wollen: soziale Anomalie, psychische Störung, das Tier in mir, das Böse, wenn Sie an so was glauben: Es ist das, wonach wir unser Leben lang jagen. Keine Ausbildung der Welt kann dich dafür sensibilisieren, wenn es dir nahe kommt. Entweder du spürst es oder nicht.

Ich warf Richie einen raschen Blick zu: Er verzog das Gesicht und leckte sich die Lippen, wie ein Tier, das etwas Verwestes gekostet hat. Er spürte es im Mund, was zu verbergen er noch würde lernen müssen, aber immerhin spürte er es.

Links von uns stand eine Tür halb offen: Wohnzimmer. Geradeaus: Treppe und Küche.

Mit dem Wohnzimmer hatte sich jemand mächtig Mühe gegeben. Braune Ledersofas, eleganter Couchtisch aus Chrom und Glas, eine Wand buttergelb gestrichen, aus Gründen, die nur Frauen und Inneneinrichter verstehen. Für den bewohnten Look sorgten ein anständig großer Fernseher, eine Wii, allerlei glänzende Geräte, ein kleines Regal mit Taschenbüchern und ein weiteres mit DVDs und Spielen, außerdem Kerzen und heitere Fotos auf dem Sims des Gaskamins. Es hätte gemütlich wirken sollen, aber Feuchtigkeit hatte den Bodenbelag gewölbt und zog sich fleckig eine Wand hoch. Die niedrige Decke und die nicht ganz stimmigen Proportionen drängten sich in den Vordergrund. Sie erdrückten all die liebevollen Absichten und verwandelten das Wohnzimmer in einen beengten und düsteren Raum, in dem sich niemand lange wohlfühlen konnte.

Die Vorhänge fast zugezogen, bis auf den Spalt, durch den die Jungs von der Streife geschaut hatten. Stehlampen an. Was immer passiert war, es war in der Nacht passiert, oder jemand wollte, dass ich das glaubte.

Über dem Gaskamin war ein weiteres Loch in der Wand, etwa so groß wie ein Essteller. Ein größeres klaffte neben dem Sofa. Im dunklen Inneren waren undeutlich Rohre und Kabelgewirr zu erkennen.

Neben mir versuchte Richie, seine Unruhe auf ein Minimum zu beschränken, doch ich konnte deutlich ein zitterndes Knie spüren. Er wollte die schlimmen Momente hinter sich bringen. Ich sagte: »Küche.«

Es war schwer vorstellbar, dass dieselbe Person, die das Wohnzimmer entworfen hatte, sich auch das hier hatte einfallen lassen. Der Raum war Küche und Ess- und Spielzimmer zugleich, zog sich über die ganze Rückseite des Hauses und bestand überwiegend aus Glas. Draußen war der Tag noch immer grau, aber das Licht in dem Raum war so blendend hell, dass du blinzeln musstest, und es hatte eine so luftige Klarheit, dass die Nähe des Meeres spürbar war. Ich habe nie begriffen, warum es von Vorteil sein soll, wenn deine Nachbarn sehen können, was du dir zum Frühstück machst – ich bin ein Freund von Gardinen als Sichtschutz, ob das nun angesagt ist oder nicht –, aber bei dem Licht konnte ich es fast verstehen.

Hinter dem gepflegten kleinen Garten drängten sich zwei weitere Reihen halbfertige Häuser, hoben sich kantig und hässlich vor dem Himmel ab. Eine lange Plastikplane flatterte heftig an einem nackten Balken. Dahinter verlief die Siedlungsmauer, und dort, wo sich das Gelände senkte, war er endlich, lugte durch die harten Winkel aus Holz und Beton: der Anblick, auf den ich den ganzen Tag gewartet hatte, seit ich mich Broken Harbour hatte sagen hören. Der runde Bogen der Bucht, geschwungen wie eine gewölbte Hand; die niedrigen Hügel, die sie an beiden Enden flankierten; der weiche graue Sand, das Schilfgras, das sich im sauberen Wind neigte, die kleinen Vögel hier und da an der Wasserlinie. Und die See, die heute hoch war, hob sich mir grün und muskulös entgegen. Das Gewicht dessen, das da mit uns in der Küche war, neigte die Welt, ließ das Wasser nach oben schwappen, als würde es jeden Moment durch das viele klare Glas krachen.

Dieselbe Sorgfalt, mit der das Wohnzimmer schick gestaltet worden war, hatte diesen Raum heiter und wohnlich gemacht. Langer Tisch aus hellem Holz, sonnenblumengelbe Stühle; ein Computer auf einem im passenden Gelbton gestrichenen Holzschreibtisch; bunter Plastikkinderkram, Sitzsäcke, eine Kreidetafel. An den Wänden hingen gerahmte Buntstiftzeichnungen. Der Raum war ordentlich, erst recht für ein Zimmer, in dem Kinder spielten. Irgendwer hatte aufgeräumt, während die vier sich auf den äußersten Rand ihres letzten Tages zubewegten. Bis hierher waren sie gekommen.

Der Raum war der Traum eines jeden Immobilienmaklers, nur dass man sich unmöglich vorstellen konnte, dass hier je wieder jemand wohnen würde. Irgendein wilder Kampf hatte den Tisch umgeworfen, ihn mit einer Ecke in ein Fenster krachen lassen und die Scheibe mit einem großen Stern aus Rissen überzogen. Noch mehr Löcher in den Wänden: eines hoch über dem Tisch, ein großes hinter einer umgekippten Legoburg. Ein Sitzsack war aufgeplatzt und hatte winzige weiße Kügelchen überallhin gespien; eine Spur Kochbücher ergoss sich über den Fußboden, Glasscherben glitzerten, wo ein Bilderrahmen zerbrochen war. Das Blut war überall: fächerförmige Spritzer bis hoch an die Wände, irrwitzige Spuren aus Tropfen und Fußabdrücken kreuz und quer auf dem Fliesenboden, breitverschmierte Streifen an den Fenstern, dicke Klumpen, die den gelben Stoff der Stühle durchtränkt hatten. Einige Zentimeter von meinen Füßen entfernt lag eine abgerissene Hälfte einer Körpergrößenmesslatte, große Bohnenstangenblätter und eine kletternde Zeichentrickfigur, Emma 17.06.09 fast unlesbar unter halbgeronnenem Rot.

Patrick Spain lag am hinteren Ende des Raumes, in dem Bereich, wo die Kinder gespielt hatten, zwischen Sitzsäcken und Buntstiften und Bilderbüchern. Er trug seinen Pyjama – marineblaues Oberteil, marineblau-weiß gestreifte Hose, mit dunklen Krusten befleckt. Er lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden, einen Arm unter sich gekrümmt, den anderen über den Kopf ausgestreckt, als hätte er bis zur letzten Sekunde versucht, zu kriechen. Sein Kopf zeigte zu uns: Vielleicht hatte er zu seinen Kindern gewollt, aus welchem Grund auch immer. Er war blond, ein großer Mann mit breiten Schultern; von der Statur her hatte er möglicherweise mal Rugby gespielt, vor langer Zeit, und war etwas außer Form geraten. Um sich mit ihm anzulegen, hätte man schon ziemlich stark, ziemlich wütend oder ziemlich verrückt sein müssen. Blut, das unter seiner Brust hervorgequollen war, hatte eine klebrige dunkle Pfütze gebildet. Es war überall verschmiert, ein grässliches Durcheinander von Verwischungen, Handabdrücken, Schleifspuren; aus dem Chaos kam ein Gewirr von gemischten Fußabdrücken über die Fliesen auf uns zu, verblassten auf halbem Weg zu nichts, als hätten die blutbesudelten Geher sich in Luft aufgelöst.

Zu seiner Linken wurde die Blutlache breiter, dicker, hatte einen satten Glanz. Wir würden bei den Streifenkollegen nachfragen müssen, aber höchstwahrscheinlich hatten sie dort Jennifer Spain gefunden. Entweder hatte sie sich dahin geschleppt, um an ihren Mann geschmiegt zu sterben, oder er war bei ihr geblieben, nachdem er mit ihr fertig war, oder jemand hatte ihnen diesen letzten gemeinsamen Augenblick gegönnt.

Ich blieb länger an der Tür stehen, als ich musste. Beim ersten Mal brauchst du eine Weile, um so einen Anblick zu verarbeiten. Deine innere Welt reißt sich von der äußeren los, um dich zu schützen: Deine Augen sind weit offen, doch alles, was deinen Verstand erreicht, sind rote Streifen und eine Fehlermeldung. Niemand beobachtete uns; Richie konnte sich so viel Zeit lassen, wie er brauchte. Ich sah ihn bewusst nicht an.

Ein Windstoß rauschte von hinten gegen das Haus und fegte geradewegs durch irgendeine Ritze, umflutete uns wie kaltes Wasser. »Mein Gott«, sagte Richie. Die Böe hatte ihn zusammenzucken lassen, und er war eine Spur blasser als sonst, aber seine Stimme klang einigermaßen fest. Er hielt sich gut, bisher. »Guck dir das an. Woraus ist die Hütte hier gebaut? Klopapier?«

»Hoffentlich. Je dünner die Wände, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass die Nachbarn was gehört haben.«

»Falls es Nachbarn gibt.«

»Drücken wir die Daumen. Können wir weiter?«

Er nickte. Wir ließen Patrick Spain in seiner hellen Küche, wo ihn schmale Windströme umwirbelten, und gingen nach oben.

Die obere Etage war dunkel. Ich klappte meine Aktentasche auf und holte meine Taschenlampe raus – die Jungs von der Streife hatten wahrscheinlich alles mit ihren fettigen Pfoten betatscht, aber trotzdem, du berührst niemals einen Lichtschalter: Könnte schließlich sein, dass jemand anders das Licht aus oder an haben wollte. Ich machte die Taschenlampe an und drückte die erstbeste Tür mit einer Schuhspitze auf.

Die Meldung an uns war wohl irgendwo unterwegs durcheinandergeraten, denn Jack Spain war nicht erstochen worden. Nach der halbgeronnenen roten Schweinerei da unten wirkte der Raum nahezu friedlich. Nichts war blutig; nichts war zerbrochen oder umgekippt. Jack Spain hatte eine Stupsnase und blondes Haar, so lang, dass es sich lockte. Er lag auf dem Rücken, die Arme über den Kopf geworfen, das Gesicht zur Zimmerdecke gewandt, als wäre er nach einem langen Tag mit Fußball spielen auf der Stelle eingeschlafen. Du hättest fast auf sein Atmen gelauscht, wäre da nicht etwas Verräterisches in seinem Gesicht gewesen. Er hatte diese unheimliche Ruhe, die nur tote Kinder haben, papierdünne Augenlider, fest verschlossen wie die von ungeborenen Babys, als würden sie sich, wenn die Welt mörderisch wird, nach innen und rückwärts wenden, zurück zu jenem ersten sicheren Ort.

Richie gab einen kleinen Laut von sich, wie eine würgende Katze. Ich schwenkte die Taschenlampe durch das Zimmer, um ihm Zeit zu lassen, sich wieder einzukriegen. In den Wänden waren einige Risse, aber keine Löcher, es sei denn, sie waren von den Postern verdeckt – Jack war Fan von Manchester United gewesen. »Hast du Kinder?«, fragte ich.

»Nein. Noch nicht.«

Er sprach leise, als könnte er Jack Spain noch immer aufwecken oder böse Träume bei ihm auslösen. Ich sagte: »Ich auch nicht. An Tagen wie diesem ist das was Gutes. Kinder machen dich soft. Ein Detective kann knallhart sein, kann bei einer Obduktion zuschauen und sich anschließend zum Mittagessen ein blutiges Steak bestellen, aber kaum hat seine Frau ein Kind rausgepresst, tickt er aus, wenn ein Opfer unter achtzehn ist. Ich hab das schon zig Mal erlebt. Und jedes Mal danke ich Gott für Verhütungsmittel.«

Ich richtete die Taschenlampe wieder aufs Bett. Meine Schwester Geri hat Kinder, und ich sehe sie oft genug, dass ich Jack Spains Alter ungefähr schätzen konnte: etwa vier, vielleicht drei, wenn er eher groß geraten war. Die Bettdecke war ein Stück heruntergezogen, weil der Streifenkollege seine zwecklosen Wiederbelebungsversuche unternommen hatte: rotes Pyjamaoberteil hochgeschoben, zarter Brustkorb entblößt. Ich konnte sogar die Delle erkennen, wo bei der Herzmassage – zumindest hoffte ich, dass es dabei passiert war –, eine oder zwei Rippen gebrochen waren.

Um die Lippen herum waren blaue Verfärbungen. Richie sagte: »Erstickt?«

Er hatte große Mühe, seine Stimme unter Kontrolle zu halten. Ich sagte: »Das wird die Obduktion klären, aber durchaus möglich. Falls ja, deutet das auf die Eltern. Die entscheiden sich oft für etwas Sanftes. Falls das das richtige Wort ist.«

Ich sah ihn noch immer nicht an, aber ich spürte, wie er erstarrte, um nicht zusammenzuzucken. Ich sagte: »Komm, sehen wir uns die Tochter an.«