Der süße Himmel der Schwestern Lindholm - Andrea Russo - E-Book
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Der süße Himmel der Schwestern Lindholm E-Book

Andrea Russo

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Beschreibung

Als Anne Barns schreibt Andrea Russo Bestseller wie «Apfelkuchen am Meer» und «Kirschkuchen am Meer». Nun entführt die Bestsellerautorin die Leser:innen in ein idyllisches und köstliches Gartencafé an der Küste Schwedens: Willkommen im Café der Schwestern Lindholm! Schweden, 1936: eine kleine Bäckerei am Rand des Kullabergs. Dort sind die fünf jungen Lindholm-Schwestern zu Hause. Seit Jahrzehnten backt die Familie an der Skåne-Küste Brot und andere Leckereien. Wirtschaftlich sind die Zeiten auch in Schweden schwer. Da kommen Ingrid, Hannah und Matilda auf die Idee, die Bäckerei um ein Gartencafé zu erweitern und die Gäste mit Vanilleherzen und anderen Familienrezepten zu verwöhnen. «Söta Himlen» wird es heißen. Schnell entwickelt sich der «Süße Himmel» zum beliebten Ausflugsziel. Doch dann beginnt ein neuer Krieg in Europa. Plötzlich droht die Weltgeschichte die engen Bande zwischen den Schwestern zu zerreißen – und mit ihnen den «Süßen Himmel».

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Seitenzahl: 520

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Andrea Russo

Der süße Himmel der Schwestern Lindholm

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Der Duft von Zimt, das Meer, die Liebe und bewegte Zeiten:

Willkommen im Café der Schwestern Lindholm

 

Schweden im Sommer 1936: Eine kleine Bäckerei mit Meerblick am Rand des Kullabergs. Dort wachsen die fünf Lindholm-Schwestern auf. Seit Jahrzehnten backt die Familie an der Skåne-Küste Brot und andere Leckereien. Wirtschaftlich sind die Zeiten jedoch auch in Schweden schwer. Da kommen die fünf jungen Frauen auf eine Idee: Was wäre, wenn sie, die Schwestern, die Bäckerei um ein Gartencafé erweitern und die Gäste mit Vanilleherzen und anderen Familienrezepten verwöhnen? «Söta Himlen» soll es heißen. Doch die älteste Schwester Hannah hat sich ausgerechnet in einen Deutschen verliebt, und Karl möchte, dass sie mit ihm geht. Kann der «Süße Himmel» ohne Hannah und in einer Welt, die auf einen Krieg zusteuert, Bestand haben?

 

Chokladbollar

(Schoko-Kaffee-Kugeln)

 

150 g Butter, Zimmertemperatur

200 g Puderzucker

30 g Backkakao

150 g Haferflocken, zart

4 EL Espresso oder starker Kaffee

100 g Kokosflocken

 

Alle Zutaten, bis auf die Kokosflocken, in einem Mixer oder mit den Händen gut verkneten.

Eine halbe Stunde in den Kühlschrank stellen. Kugeln formen und in Kokosflocken wälzen.

Schmecken herrlich schokoladig und leicht herb.

Statt des Kaffees kann man auch Alkohol, zum Beispiel einen rauchigen Whisky, zur Masse geben.

Für Kinder einfach heißes Wasser dazugeben.

Vita

Andrea Russo, geboren 1968 in Hanau, hat bereits zahlreiche Romane veröffentlicht. Unter dem Pseudonym Anne Barns erscheinen Bestseller wie «Apfelkuchen am Meer» und «Drei Schwestern am Meer». Andrea Russo lebt in Oberhausen, wenn sie sich nicht gerade frische Meeresluft an den Schauplätzen ihrer Romane um die Nase wehen lässt. Ihre Geschichten haben alle eins gemeinsam: Sie lassen die Leser:innen mit einem wohligen Gefühl zurück.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Januar 2022

Copyright © 2022 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung Cordula Schmidt Design, Hamburg

Coverabbildung Design Cuts Ltd; Cordula Schmidt

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-00749-9

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Die schwedischen Gebäckspezialitäten im «Süßen Himmel der Schwestern Lindholm»:

Vaniljhjärtan:

Zartes Mürbeteiggebäck in Herzform mit einer Füllung aus Vanillecreme.

 

Wienerbröd:

Fluffiges Plundergebäck aus Hefeteig, das mit viel Butter gebacken wird. In die Mitte gehört ein Klecks Vanillepudding und darauf nach Belieben Früchte.

 

Kardemummabullar:

Hefeteig, zu einem Knoten geflochten, mit einer Füllung aus Kardamom, Zucker und Butter.

 

Kanelbullar:

Hefeteig, zur Schnecke gerollt, mit einer Füllung aus Zucker, Zimt und Butter.

Zimt war früher sehr teuer, die Schnecken aus Hefeteig gab es aber schon in den 30er Jahren. Richtig beliebt wurden sie in den 50er Jahren, als Zimt nicht mehr unerschwinglich war.

 

Chokladbollar:

Kleine Kugeln aus Haferflocken, Kakao, Butter und Espresso, die in Kokosflocken gerollt werden. In Schweden gibt es sie in fast jedem Café.

 

Mazariner:

Kleine Törtchen in Muffingröße in einer Hülle aus Mürbeteig und einer buttrig-cremigen Mandelfüllung.

 

Kladdkaka:

Ein Schokoladenkuchen mit viel Kakao, der nicht zu lang gebacken werden darf, damit er schön klebrig bleibt.

 

Dammsugare:

Kleine süße Nascherei aus Kuchen oder Keksresten, die mit Butter und Alkohol zu kleinen Punsch-röllchen geformt und mit grün gefärbtem Marzipan überzogen werden.

 

Semlor:

Süße Hefebrötchen, die mit einer Marzipan-Creme gefüllt werden. In Schweden wurden sie ursprünglich vor der Fastenzeit gegessen.

 

Kronans Kaka:

Ein Kuchen, der aus gekochten Kartoffeln und Mehl besteht. Man hat ihn in schlechten Zeiten gebacken, als Mehl sehr teuer war.

 

Lussekatter:

Hefegebäck in der Form eines liegenden S, mit Safran und Rosinen. Es wird traditionell zum Luciafest gebacken.

1Britt

Juni 2020

Der herbe Duft von frischem Brot hing in der Backstube. Er vermischte sich mit dem der traditionellen schwedischen Vaniljhjärtan, die eine der Konditorinnen in diesem Moment auf dem Blech aus dem Ofen zog. Britt warf einen kurzen Blick auf die Vanilleherzen und nickte zufrieden. Die Teigdeckel der mürben Gebäckstücke hatten sich in der Mitte leicht nach oben gewölbt und waren nur an den Rändern gebräunt, die Herzen sahen perfekt aus. Nun mussten sie einen Moment abkühlen, bevor sie vorsichtig aus den Förmchen gelöst und mit Puderzucker bestäubt werden konnten. Kurz darauf würden sie schon verkauft sein. Sie war sich sicher, dass am Ende des Tages keines mehr in der Auslage der Verkaufstheke liegen würde.

Die kleinen Gebäckteilchen mit der aromatischen Cremefüllung gehörten zu den absoluten Lieblingen der Gäste. Seit über achtzig Jahren wurden sie nach demselben Rezept gebacken, das eine besondere Bedeutung für die Familie hatte. Die süßen Herzen waren die Lieblingsleckerei ihrer Oma Ingrid gewesen, die sich stets wie im Himmel fühlte, wenn sie eins der Herzen auf der Zunge zergehen ließ. So war das Café damals zu seinem Namen gekommen: Söta Himlen – Süßer Himmel.

Britt hingegen mochte es auch mal herzhaft und freute sich auf die Scheibe Roggenbrot, großzügig mit Butter bestrichen und mit einer Prise Meersalz bestreut. Heute war so viel zu tun gewesen, dass sie ihre Pause ausfallen lassen und bis auf das Frühstück den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte.

«Danke», sagte sie, als Camilla ihr den Teller mit dem noch lauwarmen Brot reichte. Der köstliche Duft ließ ihr das Wasser im Munde zusammenlaufen und weckte alte Kindheitserinnerungen. «So habe ich es früher schon am liebsten gemocht.»

«Für mich konnte das Brot auch nie dick genug geschnitten sein, besonders wenn es ganz frisch gebacken war. Und so ist das auch heute noch. Wurst oder Käse brauche ich dann gar nicht dazu.» Camillas Augen strahlten, und ihre Wangen glühten von der Hitze in der Backstube. «Ich habe etwas Kümmel und Fenchelsamen mit eingebacken. Sag Bescheid, wenn dir der Geschmack zu intensiv ist.»

Britt hielt den Teller etwas höher und schnupperte daran.

«Es riecht himmlisch. Und ich bin mir sicher, dass es auch genauso schmeckt!» Nicht umsonst arbeitete Camilla nun schon seit knapp dreißig Jahren im Söta Himlen, ihre Backkünste waren einmalig. Nach der Ausbildung als Konditorin in der Backstube hatte Britts Mutter sie fest eingestellt. Seitdem war Camilla dem Café treu geblieben. Britt schätzte sie nicht nur als Konditorin. Über die Jahre hatte sich eine tiefe Freundschaft zwischen den beiden entwickelt, gemeinsam hatten sie schon den einen oder anderen Schicksalsschlag gemeistert. Sie lächelte ihre Freundin an. «Danke, Camilla. Ich werde es draußen genießen – ganz in Ruhe.»

Britt nahm den Seitenausgang und ging hinter den Birken neben dem Gartencafé entlang, vorbei an den Tischen, die mit hübschen rot-weiß karierten Tüchern eingedeckt waren. Obwohl sie offiziell nur noch zwanzig Minuten geöffnet hatten, war das Gartencafé noch immer sehr gut besucht, alle Plätze waren belegt. Sogar auf der Wiese vor dem neuen Anbau hatten es sich zwei junge Frauen bequem gemacht. Sie saßen im Schneidersitz im Gras, den Rücken an die rot gestrichene Holzwand gelehnt, und tranken Kaffee. Ihre Teller hatten sie auf den Beinen abgestellt. Für richtige Tische ist der schmale Streifen zu schmal, aber vielleicht sollten wir doch ein paar bequeme Sitzkissen anschaffen, überlegte Britt. Ihre Tochter Elin hatte es vorgeschlagen, weil auch schon am letzten Wochenende einige Gäste mit einem Platz auf dem Boden zufrieden gewesen waren.

Ja, das machen wir, entschied Britt. Das würde die ungezwungene Atmosphäre, für die das Café bekannt war, sogar noch unterstreichen. Sie nahm sich vor, Elin später zu bitten, sich darum zu kümmern. Jetzt aber wollte sie erst einmal ihre wohlverdiente Pause genießen.

Die Bank gleich neben dem großen Kräuterbeet gehörte zu ihren Lieblingsplätzen. Für die Gäste war das kleine Fleckchen nicht zugänglich, ein Gartenzaun aus Holz grenzte es vom Rest des Cafés ab. Ein wenig Privatsphäre musste sein.

Sie drückte das Tor auf, atmete tief den würzigen Duft von Thymian, Lavendel und Rosmarin ein, ließ ihre schmerzenden Schultern kreisen und schaute über das Meer. Von hier hatte man einen herrlichen Blick darauf. Das Licht der Abendsonne, die bald hinter dem Kullaberg untergehen würde, ließ die Oberfläche des dunklen Wassers silbrig glitzern. Nur ein paar hundert Meter hinter dem Abhang rollten die Wellen beständig auf das steinige Ufer zu. Wenn sie sich darauf konzentrierte, hörte sie sie rauschen. Heute gelang ihr das jedoch nicht. Das laute Lachen eines Mannes drang zu ihr, gefolgt vom Kichern einer Frau.

Es würde noch eine Weile dauern, bis es still wurde im Café. Seit jeher war der Süße Himmel ein Ort, an dem man sich wohlfühlte. Die Gäste kamen nicht von selbst darauf, sich auf den Weg nach Hause oder in ihre Ferienunterkunft zu begeben. Sie mussten in der Regel darauf hingewiesen werden, dass um siebzehn Uhr dreißig geschlossen wurde. Und wie jeden Abend wurde es fast sieben, bis der letzte Gast sich verabschiedete. So war es schon immer gewesen.

Britt setzte sich, legte ihr Beine auf den kleinen Hocker vor der Bank und biss in die Schnitte, auf der die Butter mittlerweile etwas zerlaufen war.

Auf Camilla war Verlass. Das Brot schmeckte, wie nicht anders erwartet, wundervoll. Es hatte eine krosse Kruste, eine weiche Krume und die perfekte Porung. Fenchel und Kümmel sorgten für etwas Würze, blieben aber dezent im Hintergrund. Sie verputzte es bis auf den letzten Krümel, stellte den Teller auf den Boden, lehnte sich zufrieden zurück und schloss die Augen. Ein paar Minuten nur für mich, dachte sie, eine kleine Auszeit für die Seele.

Doch in den Genuss kam sie nicht lang. Elin beendete ihre Pause.

«Mama! Bist du da?», rief sie.

Ihre Stimme klang etwas höher als sonst, ein unverkennbares Zeichen dafür, dass sie gereizt war.

Aus dem Café kommend, konnte man nicht sehen, ob jemand auf der Bank saß. Britt hatte als Sichtschutz eine Kirschlorbeerhecke gepflanzt, damit man darin die Arbeit für einen Moment komplett vergessen und abschalten konnte.

«Erwischt!», sagte sie laut zu sich selbst, stand auf und verfolgte lächelnd, wie Elin mit schnellen Schritten durch den Garten auf sie zulief. Sie trug, genau wie Britt und auch die anderen Mitarbeiterinnen, eine weiße Bluse, darüber eine rote mit Margeriten bestickte Weste, einen weit schwingenden Rock im gleichen Rotton und eine cremefarbene Schürze.

Vor dem Gartentor blieb Elin stehen und stützte die Hände auf die Hüften.

Obwohl sie mit ihren sechsundzwanzig Jahren längst erwachsen war, erinnerte sie Britt in diesem Moment an das kleine Mädchen, das sie früher gewesen war. Das lag daran, dass ihre Tochter voller Energie und manchmal ein wenig trotzig war – besonders wenn andere oder sie selbst ungerecht behandelt wurden. Dass irgendwas passiert war, stand Elin ins Gesicht geschrieben. Die steile Falte zwischen ihren Augen war unverkennbar.

«Was ist los?», fragte Britt.

«Mormor Astrid ist da! Und natürlich hat sie sofort die Lachs-Schnitten auf der neuen Speisekarte entdeckt», antwortete Elin. «Ich hatte einen Entwurf ausgedruckt und im Ausgabefach des Druckers vergessen. Mormor hat ihn prompt gefunden. Ich wusste nicht, dass sie heute schon wieder kommt, sonst hätte ich besser aufgepasst. Was macht sie überhaupt hier? Sie war doch gestern erst da.» Elin atmete tief ein und wieder aus. «Ist ja auch egal, jetzt ist es eh zu spät. Klärst du das vielleicht, Mama? Ich habe keine Lust, mich wieder mit ihr zu streiten.»

Britt war klar gewesen, dass ihre Mutter von der Erweiterung der Speisekarte nicht begeistert sein würde. Aber in diesem Fall war sie Elins Anregung gefolgt, weil sie es wichtig fand, dass Elin eigene Entscheidungen treffen konnte. Deswegen hatte sie vorab nicht mit der Mutter darüber gesprochen. Sie seufzte und bückte sich nach dem Teller.

«Tut mir leid, Mama, eigentlich hätte ich damit auch warten können, bis du dich etwas ausgeruht hast.» Elins Stimme klang nun weicher. «Ist wieder sehr viel los heute.»

«Alles gut», erklärte Britt. «Später habe ich noch genug Zeit, um die Beine hochzulegen. Es konnte ja niemand wissen, dass Oma heute noch kommt.»

«Als hätte sie es gerochen!» Ihre Tochter lächelte verschwörerisch. «Hat sie vielleicht auch. Das Brot riecht köstlich.»

«Sie braucht eben ihre Zeit, bis sie sich an Neues gewöhnt», sagte Britt, während sie nebeneinander auf das Haus zugingen. «Du weißt doch, wie sie ist.»

«Klar weiß ich das. Aber du hättest eben mal erleben sollen, wie sie Camilla rundgemacht hat. Das ging so was von gar nicht!» Elin schüttelte den Kopf. «Die Arme wäre bestimmt in ein metertiefes Loch gesprungen, wenn sich eins vor ihr aufgetan hätte, nur um Oma zu entkommen. Dabei kann Milla doch gar nichts dafür. Sie hat das Brot nur gebacken, weil wir ihr das gesagt haben. Das weiß Oma doch. Ich habe gerade an Tisch zwei bedient, als das Gezeter losging. Durch das geöffnete Fenster konnte man jedes Wort hören. Das war mir echt peinlich vor den Gästen. Ich bin sofort rein und habe versucht, Oma zu beruhigen, aber das hat alles nur noch schlimmer gemacht. Sie ist stinksauer.»

Britt hakte sich bei ihrer Tochter unter. «Gemeinsam werden wir den Tiger schon bändigen … obwohl Löwin es wohl besser trifft. Deine Oma hat ihre Familie immer beschützt, und da gehört das Söta Himlen nun mal dazu. Du weißt doch, was beim Brotbacken mit dem Backofen passiert ist. Damals hat sich deine Urgroßmutter vorgenommen, die Bäckerei ganz aufzugeben und sich nur noch auf die süßen Sachen zu konzentrieren …»

«Ja, natürlich, aber das ist jetzt mittlerweile achtzig Jahre her, außerdem verkaufen wir ja keine Brotlaibe, sondern bieten es als kleine herzhafte Mahlzeit an. Davon mal ganz abgesehen, leben Löwinnen mit anderen Weibchen gleichberechtigt im Rudel», entgegnete Elin. «Eine Alpha-Wölfin, das ist sie. Oma Astrid akzeptiert niemanden neben sich, hat sie doch noch nie, wenn es um das Café geht. Außerdem muss sie das Söta Himlen vor uns nicht beschützen. Es bedeutet uns doch genauso viel wie ihr.»

Das stimmte so nicht ganz. Ihre Mutter hatte seit jeher die Belange des Cafés vor die eigenen Bedürfnisse und auch vor die ihrer Familie gestellt. Bei Britt kam das Café erst an zweiter Stelle, die Familie ging vor. Aber um solche grundsätzlichen Dinge ging es im Moment nicht, sondern nur um eine kleine Änderung auf der Speisekarte. «Oma wird sich daran gewöhnen», bekräftigte Britt noch einmal. «Warte mal ab, spätestens wenn sie das Brot selbst probiert hat, wird sie wahrscheinlich sogar begeistert sein.»

Aber das überzeugte Elin nicht. «Sie ist einundachtzig – ich verstehe ja, dass sie am Café hängt, und finde es schön, wenn sie hin und wieder vorbeikommt. Aber ihre generalstabsmäßigen Kontrollen, die müssen aufhören. Und sie sollte endlich einsehen, dass wir beide sehr wohl in der Lage sind, das Café ohne sie zu führen. Weißt du noch, was sie für einen Aufstand gemacht hat, als wir die Kardemummabullar neu auf der Karte hatten? Die wollte sie anfangs auch nicht. Dabei kommen sie bei unseren Gästen so gut an.» Sie schnaufte. «Und mittlerweile tut sie so, als wäre das ihre Idee gewesen.»

Britt musste lachen und blieb stehen. «Ach, Elin …»

Die hübschen grünen Augen ihrer Tochter funkelten. «Was? Lustig finde ich das nicht!»

Den Gedanken, dass ihre Mutter und ihre Tochter sich ungemein ähnlich waren, behielt Britt für sich. Stattdessen sagte sie: «Ich freue mich einfach darüber, mit welchem Eifer du dich für das Café einsetzt.»

Doch Elin hatte sie durchschaut. Skeptisch zog sie die Augenbrauen hoch. «Das sagst du über Oma auch immer. Vergiss es, Mama, ich bin nicht wie sie. Ich lasse andere Meinungen gelten.» Sie deutete mit dem Kopf zum alten Kastanienbaum, unter dem der größte der Tische im Gartencafé stand. Dort konnten zehn Personen sitzen. Er war für kleinere Gesellschaften oder Feiern gedacht, aber wenn es keine gab, fanden sich dort Gäste zusammen, die sich vorher noch nie gesehen hatten. Wenn sie das Café verließen, waren sie sich nicht mehr fremd. Über die süßen Köstlichkeiten auf ihren Tellern kamen sie immer ins Gespräch.

Britt erspähte ihre Mutter sofort. Ihr immer noch volles, schneeweiße Haar, das sie zu einem losen Dutt hochgesteckt hatte, fiel sofort auf. Sie stand am Tisch bei einigen Gästen. Obwohl sie in den letzten Jahren um ganze drei Zentimeter geschrumpft war, wie sie gern betonte, war sie immer noch einen Meter siebzig groß und hatte eine erstaunlich aufrechte Haltung.

«Sie unterhält sich», stellte Britt fest. «Das kann dauern, lass uns später mit ihr reden.»

«Uns?» Elin schüttelte den Kopf. «Mach du das lieber.»

«Wie du meinst, aber vorher schau ich noch mal kurz nach Camilla. Kommst du so lang allein klar?»

«Klar.» Elin sah auf ihre Armbanduhr. «Gleich halb. Ich bereite die Gäste langsam darauf vor, dass wir demnächst schließen, und nehme die letzten Bestellungen auf.»

Britt sah ihrer Tochter nach. Ein «Langsam» existierte für Elin nicht – auch da war sie ganz wie ihre Oma Astrid. Elin ging nicht, sie flitzte, und Britt wollte nicht wissen, wie viele Kilometer ihre Tochter am Ende jeden Tages zurückgelegt hatte. Sie beobachtete, wie Elin an einem der Tische stehen blieb. Obwohl ihre Tochter ihr nun leicht den Rücken zugedreht hatte, wusste Britt, dass sie lächelte, denn Groll, egal, woher er kam, hatte bei den Gästen nichts verloren. Ihr Haar hatte Elin heute im Nacken zu einem Zopf gebunden. Der warme goldene Schimmer erinnerte Britt an Honig. Den Farbton hatte ihre Tochter von der Oma geerbt.

Als Britt auf dem Weg zurück zum Haus in einigem Abstand an ihrer Mutter vorbeiging, konnte sie ihren Blick förmlich spüren. Sie winkte ihr, und eine plötzliche Dankbarkeit erfasste sie – dafür, dass ihre Mutter noch gesund war und sich in all den Jahren nicht hatte unterkriegen lassen. Sie war gewiss kein einfacher Mensch, aber sie hatte es auch nicht leicht gehabt. Und obwohl Britt sich manchmal gewünscht hatte, ihre Mutter hätte sich hin und wieder mehr Zeit für die Familie genommen, so wusste sie doch, dass es den Süßen Himmel dann längst nicht mehr geben würde.

 

Britt betrat die Backstube. Die Öfen liefen immer noch auf Hochtouren. Einige Kuchen für den nächsten Tag wurden schon gebacken, Tortenböden vorbereitet, sodass sie nach Bedarf nur noch gefüllt oder belegt werden mussten. Die letzten Bestellungen zum Mitnehmen wurden verpackt, während eine der Mitarbeiterinnen bereits die Backutensilien säuberte, die heute nicht mehr benötigt wurden.

Kurz vor Feierabend war im Café erfahrungsgemäß am meisten zu tun. Ihre Mutter hätte sich keinen schlechteren Zeitpunkt für ihre Stippvisite aussuchen können, und das wusste sie auch, schließlich hatte sie fast ihr ganzes Leben hier gearbeitet. Britt runzelte die Stirn. Ungewöhnlich, dass Mama ausgerechnet um diese Uhrzeit hier aufgetaucht ist, dachte sie, das machte sie doch aus genau diesem Grund sonst nicht. Sie schaute zu ihrer Freundin, die mit einem Teigklumpen in den Händen durch die Backstube auf sie zukam. «War meine Mutter sehr schlimm?»

Camilla ließ den Teig in die Schüssel plumpsen, die direkt neben Britt auf dem Tisch stand, stäubte etwas Mehl darüber und lächelte breit. «Ja. Aber deine Tochter hat mich verteidigt wie eine Löwin ihr Junges.»

Den Vergleich hatten wir heute schon mal, dachte Britt. «Die beiden sind sich sehr ähnlich.»

«Das stimmt, Elin steht deiner Mutter in nichts nach. Aber ich finde das gut. Sie kann sich behaupten. Du hast sie zu einer sehr selbstbewussten jungen Frau erzogen, die weiß, was sie will. Du kennst mich ja. Es ist nicht so, als würde ich mich nicht selbst wehren, wenn es darauf ankommt – normalerweise. Aber deine Mutter hat irgendwas an sich, dass ich automatisch ein schlechtes Gewissen bekomme, sobald sie den Raum betritt, auch wenn ich gar nichts angestellt habe. Und wenn sie dann tatsächlich loslegt, fühle ich mich wie ein kleines Kind, das auf frischer Tat ertappt wurde – obwohl ich mittlerweile fünfzig bin.» Sie schob eine ihrer braunen kurzen Locken, die sich gelöst hatte, unter die weiße Backmütze. «Es war doch klar, dass sie erst einmal skeptisch sein würde, wie bei allem Neuen. So ist deine Mutter eben. Sie wird sich schon daran gewöhnen.»

«Das denke ich auch. Lass sie das Brot erst einmal probieren, dann wird sie ihre Meinung ändern. Es schmeckt köstlich. Wenn es nach mir ginge, würde ich es auch ohne Belag anbieten: eine Scheibe frisch gebackenes Brot, Butter, Salz.»

«Mach doch.»

Britt nickte. «Ich sage Elin, sie soll es mit auf die Karte setzen.»

«Das finde ich gut.» Ein kleines Lächeln umspielte Camillas Lippen. «Wir wissen doch beide, dass es deiner Mutter nicht um das Brot geht. Es spricht nichts dagegen, unseren Gästen auch ein paar herzhafte Kleinigkeiten anzubieten. Sie braucht einfach das Gefühl, hier immer noch die Entscheidungen zu treffen.»

«Für Elin ist es allerdings wichtig, sie nicht immer fragen zu müssen, wenn sie etwas ändern möchte. Mir macht es nichts aus, meine Mutter mit einzubeziehen. Das liegt wahrscheinlich daran, dass es mein ganzes Leben lang schon so war», erwiderte Britt. «Aber ich bin froh, dass Elin sich letztes Jahr dazu entschieden hat, das Café mit mir gemeinsam zu führen. Sie bringt jede Menge frischen Wind rein, und ich werde sie bestimmt nicht bremsen.» Sie sah aus dem Fenster. Ihre Mutter stand noch immer unter der Kastanie und unterhielt sich mit den Gästen. «Es wird Zeit, das ein für alle Mal zu klären.»

Camilla deutete mit dem Kopf hinter sich. «Das Brot liegt auf dem großen Holzbrett, die Feigensoße und ein paar gekochte Eier findest du daneben. Der Lachs ist im Kühlschrank. Viel Glück!»

Ein paar Minuten später verließ Britt mit einem appetitlich angerichteten Teller die Backstube. Der Fisch stammte vom Fischhändler Itzigehl in Höganäs, der eine eigene Räucherei betrieb. Von dort würden sie auch die Krabben für das Räksmörgås beziehen. Krabbenbrot, Lachsbrot und Butterbrot, die drei kleinen herzhaften Gerichte würden die Speisekarte aufwerten, da war Britt sich sicher. Ganz bewusst hatten sie auch hierbei nur regionale Produkte ausgewählt. Der Käse, den sie mit auf die Karte setzen wollten, wurde in einer Hofmolkerei in der Nähe produziert. Von dort bezogen sie auch Milch, Sahne und andere Molkereiprodukte, die sie brauchten.

Ihre Mutter war mittlerweile ein paar Tische weitergewandert. Wenn sie im Café war, ließ sie es sich nicht nehmen, mit möglichst vielen Gästen zu plauschen. Dabei verstand sie es wie niemand sonst, ihnen das Gefühl zu geben, willkommen zu sein. Doch eigentlich tat sie das für sich selbst. Camilla hat recht, schoss es Britt durch den Kopf, der Gedanke, die Zügel immer noch in der Hand zu halten und nicht auf dem Abstellgleis gelandet zu sein, hält Mama jung. Ihr stolzes Alter sah man ihr nicht an. Erst auf den zweiten Blick entdeckte man die vielen kleinen Falten, die ihr Gesicht zierten und an das anstrengende, aber schöne Leben erinnerten, das sie geführt hatte, wie sie selbst immer gern betonte. Wenn man mit ihr sprach, wurde man sofort von ihren wachen strahlend blauen Augen in den Bann gezogen. Trug sie, so wie heute, enge schwarze Capri-Hosen, dazu ein schlichtes schwarzes Shirt mit U-Boot-Ausschnitt und ihre überdimensional große Stoffschultertasche in der Farbe ihrer Augen, ging sie glatt für zehn Jahre jünger durch.

Britt setze sich an einen frei gewordenen Tisch und wartete.

«Hallo Schatz.» Ihre Mutter drückte ihr einen leichten Kuss auf die Wange. Wie immer stieg Britt dabei der Duft ihres angenehm blumigen Parfums in die Nase.

«Hallo Mama.» Sie fackelte nicht lang, schaute sie fest an und schob ihr den Teller hin. «Koste.»

Doch überraschenderweise sagte die Mutter: «Elins Idee, nehme ich an. Du musst mich nicht davon überzeugen, dass es schmeckt. Ich bin sicher, dass es lecker ist. Wenn Camilla eins kann, dann backen. Ich verstehe nur nicht, warum im Vorfeld niemand mit mir darüber gesprochen hat und ich immer vor vollendete Tatsachen gestellt werde. Aber lassen wir das jetzt …» Sie schwieg einen Moment, bevor sie erklärte: «Wir haben andere Probleme.»

Die kleine bedeutungsvolle Pause und der etwas leisere Tonfall, den die Mutter anschlug, bedeuteten nichts Gutes. «Was ist passiert?»

Die Mutter griff in ihre Tasche und legte einen Briefumschlag im DIN-A4-Format auf den Tisch. «Der kam heute bei mir an. Von einer Julia Spielberg – aus Deutschland.» Sie schloss für einen kurzen Moment die Augen und atmete tief durch. «Die Frau behauptet, die Enkeltochter einer Lindholm zu sein.»

«Einer Lindholm? Von wem?» Im Kopf ging Britt flugs alle Verwandten der Familie durch. Den Namen Julia hatte Britt allerdings noch nie gehört. Auch der Familienname sagte ihr nichts.

«Sie ist fünfzig Jahre alt, also deine Generation», erklärte die Mutter und schob Britt den Brief zu. «Sieh ihn dir an.»

Britt zog mehrere Seiten aus dem Umschlag. Gleich obenauf lag eine, die sie sofort erkannte. Großmutter Ingrids Schrift mit den etwas übergroßen Wortanfängen und den betonten Oberlängen war unverwechselbar. «Das ist ja das Rezept von unseren Vaniljhjärtan.» Sie blätterte weiter. «Kladdkaka, Chokladbollar, Dammsugare … Das gibt es ja nicht!»

«Die letzte Seite ist am interessantesten», erwiderte die Mutter.

«Du machst es aber spannend.» Britt nahm das Blatt heraus und schaute auf das darauf abgedruckte Foto einer Frau mit kurzem braunem Haar und einem sympathischen Lächeln. Sie hielt ein schwarzes Notizbuch in die Kamera. Auf dem großen weißen Beschriftungsfeld stand: «Systrarna Lindholms Receptsamling». Ihr fehlten die Worte. Schließlich räusperte sie sich und fragte: «Ist das etwa das Originalrezeptbuch der Lindholm-Schwestern?»

«Es sieht ganz danach aus.» Die Mutter seufzte und schüttelte den Kopf, so als würde sie es selbst nicht wahrhaben wollen. «Diese Julia sieht unzweifelhaft aus wie eine Lindholm.» Sie schob das Blatt mit dem Foto über den Tisch zu Britt: «Schau sie dir noch mal genau an. An wen erinnert sie dich?»

Diesmal konzentrierte Britt sich auf die Frau, nicht das Rezeptbuch. «An dich! Sie hat deine Augen, Mama», stellte sie überrascht fest. «Das gleiche strahlend helle Blau.»

«Das stimmt, aber damit bin ich nicht die Einzige in der Familie.» Ihre Mutter runzelte die Stirn. «Sie sagt, sie habe das Buch von ihrer Mutter Greta erhalten. Wenn es die Greta ist, die im Jahr 1938 geboren wurde, ist es tatsächlich eine Lindholm. Es wundert mich nur, woher der Brief kommt. Es scheint so, als würden die Wege in unserer Familie immer wieder nach Deutschland führen.»

2Hannah

Juni 1936

Laute Vogelstimmen drangen durch das offenstehende Fenster. Hannah hielt ihre Augen geschlossen und lauschte dem fröhlichen Gezwitscher, das von lauten Atemgeräuschen ihrer Schwestern begleitet wurde. Wenn Ingrid, so wie jetzt gerade, auf dem Rücken schlief, hörte sie sich an wie eine Dampflok, die stoßweise Luft auspustet. Normalerweise störte Hannah sich daran nicht, sie war an die Schlafgeräusche gewöhnt, aber gestern Nacht hatten sich in regelmäßigen Abständen auch laute Schnarchphasen dazugesellt. Das lag daran, dass ihre Schwester auf der Geburtstagsfeier ihrer Freundin Alkohol getrunken hatte – etwas zu viel, wie Ingrid selbst gesagt hatte, bevor sie wie ein schwerer Sack ins Bett gefallen und kurz darauf eingeschlafen war.

«Wir sollten ihr verbieten, Punsch zu trinken, wenn wir selbst nicht dabei sind, oder wir binden sie im Bett fest, damit sie auf der Seite liegen bleibt», war da plötzlich eine leise Stimme zu hören – und danach ein Seufzen. «Das geht schon die ganze Nacht so.»

Hannah drehte sich zur anderen Seite und öffnete die Augen.

Ihre Schwester Matilda saß im Schneidersitz auf dem Bett, in den Händen hielt sie ein Buch, das sie nun zuklappte. «Ingrid kann froh sein, dass dein Bett zwischen unseren steht», sagte sie. «Sonst hätte ich sie bestimmt ein paarmal geschüttelt.»

«Ich habe sie mit dem Fuß angestupst», gestand Hannah. «Aber es hat nicht geholfen, oder zumindest nur für ein paar Sekunden. Danach ging es sofort wieder los.» Sie schmunzelte. «Immerhin scheint sie Spaß gehabt zu haben. Allerdings war der Punsch wohl zu stark. Sie haben eine ganze Flasche Arrak in die Schüssel geschüttet, hat sie mir erzählt. Und weil der Punsch ihnen so nicht geschmeckt hat, haben sie ihn verdünnt – mit Wein.»

Matilda schüttelte den Kopf. «Wie man das Zeug kalt trinken kann, habe ich noch nie verstanden. Mir schmeckt Punsch nur heiß und auch nur im Winter.»

«Ich habe alles gehört!», meldete sich nun Ingrid mit kratziger Stimme zu Wort. «Du hast mich getreten, Hannah, wie nett.»

«Nur ganz leicht», erklärte Hannah. Ingrids Bett stand fast genau eine Beinlänge von ihrem entfernt, sodass sie ihre Schwester gerade so mit dem Fuß erwischte, aber dabei nicht viel Kraft ausüben konnte. Sie setzte sich auf. «Guten Morgen übrigens.»

«Morgen», brummte Ingrid, versuchte sich ebenfalls zu setzen, ließ sich aber sofort wieder zurücksinken. «Mir ist ein wenig schlecht.»

«Am besten isst du gleich ein trockenes Brötchen», schlug Matilda vor. «Das hilft.»

Ingrid seufzte wehleidig. «An Essen mag ich jetzt gar nicht denken.»

«Ist es so schlimm?», fragte Hannah.

Ingrid rollte sich zur Seite. «Ja.»

«Meinst du denn, du kannst Großmutter später beim Backen helfen? Wir hatten doch ausgemacht, dass du …» Hannah spürte, wie eine gewisse Hitze in ihr hochkroch, das geschah immer, wenn sie zu intensiv an Karl dachte. «Dass du für mich übernimmst, damit ich mich mit Karl treffen kann.»

Ingrid antwortete nicht, das übernahm Matilda für sie. «Wer feiert, kann auch arbeiten. Im Meer baden hilft auch, Ingrid. Das Wasser ist schön kalt, das weckt die Lebensgeister und hilft gegen jeden Kater.»

«Du musst es ja wissen», maulte Ingrid, fügte aber im nächsten Moment hinzu: «Natürlich übernehme ich deinen Dienst heute, Hannah. Das würde ich auch machen, wenn ich nicht verloren hätte.» Sie gähnte herzhaft «Wie spät ist es, habe ich noch etwas Zeit, um zu schlafen?»

«Halb acht», antwortet Matilda.

«So früh? Wir haben Sonntag!» Sie kuschelte sich in ihre Decke. «Gute Nacht!»

Hannah hatte mit Ingrid gewettet, wie lange es dauern würde, bis Matildas neuer Kollege sich in Matilda verlieben würde. Er arbeitete seit ein paar Wochen als Rezeptionist in dem Hotel, in dem Matilda als Servierkraft tätig war. Gestern hatte sie ihnen erzählt, dass er sie gefragt hatte, ob er mit ihr ausgehen würde. Es hatte also nicht lang gedauert, bis Matilda Oskar den Kopf verdreht hatte, Hannah hatte recht behalten. Matilda hatte etwas an sich, das Männerherzen höherschlagen ließ. Das lag an ihrem Charme, den sie eindeutig vom Vater geerbt hatte. Wenn der einen Raum betrat, zog er sofort die ganze Aufmerksamkeit auf sich. Bei Matilda verhielt sich das ähnlich. Hannah selbst war das noch nie passiert – bis sie vor knapp drei Wochen Karl kennengelernt hatte, der von Anfang an nur Augen für sie gehabt hatte.

«Wo trefft ihr euch?», fragte Matilda.

«In Skäret», antwortete Hannah. «Ich fahre mit dem Fahrrad hin, Karl kommt mit dem Automobil. Sein Onkel aus Stockholm ist gestern gekommen. Er leiht ihm das Automobil.»

«In Skäret? Passt bloß auf, dass euch niemand sieht», sagte Ingrid, plötzlich wieder hellwach.

«Wir fahren von dort aus weiter, wohin, weiß ich aber noch nicht», erklärte Hannah und seufzte. «Mit Gunnar treffe ich mich später auch noch. Ich werde ihm sagen, dass ich nicht mehr mit ihm zusammen sein kann.»

Matilda schüttelte den Kopf. «Überleg dir das gut, Hannah, nicht, dass du es hinterher bereust. Karl macht Urlaub hier. In zwei Tagen fährt er zurück nach Deutschland, dann hat er dich bestimmt ganz schnell wieder vergessen. Versteh mich nicht falsch, das liegt nicht an dir, aber so sind Männer eben, besonders die, die zur Sommerfrische hier erscheinen, dazu noch in Mölle! Wo alle Badegäste sowieso nur auf ihr Vergnügen aus sind.»

«Karl ist anders», entgegnete Hannah. «Davon mal ganz abgesehen, klingst du gerade wie Großmutter. Wenn die rumzetert, weil sie Mölle immer noch als Sündenpfuhl sieht, passt dir das gar nicht. Dann sagst du, dass die Zeiten sich geändert haben und moderner geworden sind.» Sie setzte sich etwas aufrechter und straffte die Schultern. «Außerdem badet Karl nicht nackt, er trägt Hosen, wenn er ins Wasser geht.»

Der Großmutter war es gar nicht recht, dass Matilda in Mölle arbeitete. Sie war überzeugt davon, dass in dem Badeort die schwedische Sünde erfunden wurde. Die Walross-Schnauzer, wie die Großmutter die manchmal sehr fülligen Urlauber gern nannte, hatten sich dort regelmäßig mit ihren Damen zum gemeinsamen Baden verabredet. Nachdem sogar König Oscar und sein Sohn Eugen gegen Ende des letzten Jahrhunderts dort in die Fluten gestiegen waren, war das gemeinsame Planschen von Männern und Frauen schnell hoffähig geworden. 1907 hatte sogar der deutsche Kaiser Wilhelm II. den Ort besucht. Das hatte der Gegend jede Menge Badegäste aus Deutschland beschert – und eine direkte Bahnlinie, die von Berlin bis nach Mölle führte. Gegen das gemeinsame Baden hatte die Großmutter heute nichts mehr einzuwenden. Aber dafür, dass manche der Gäste nach deutschem Vorbild seit den Zwanzigern sogar nackt ins Wasser hüpften, hatte sie kein Verständnis, das gehörte sich einfach nicht. Und zumindest in der Angelegenheit hatte Hannah die gleiche Meinung.

«Darum geht es doch gar nicht, Hannah», entgegnete Matilda. «Karl ist Deutscher, wie stellst du dir das denn vor? Willst du auf lange Sicht etwa mit ihm nach Deutschland gehen? Das ist sehr weit weg. Außerdem weißt du doch, was da gerade los ist. Abgesehen von dem, was sie im Radio sagen, habe ich gestern eine Unterhaltung zwischen zwei Gästen mitbekommen. Glaub mir, dieser Hitler ist gefährlich. Großvater denkt das auch. Er hat letztens erst wieder gesagt, er befürchtet, das Land würde auf einen Krieg zusteuern.»

Karl sah das ganz anders als der Großvater, aber darüber wollte Hannah jetzt nicht mit ihrer Schwester diskutieren. Doch in einer Sache konnte sie sie beruhigen. «Natürlich will ich nicht nach Deutschland gehen.» Sie legte eine kleine bedeutungsvolle Pause ein. «Karl hat erzählt, dass er vielleicht im nächsten Jahr nach Stockholm kommt, um in der Firma seines Onkels zu arbeiten. Deswegen ist der Onkel nach Mölle gekommen, um mit ihm darüber zu sprechen. Wenn die beiden sich einig werden, lebt Karl bald in Schweden. Und dann …»

Hannah dachte daran, wie Karl sie plötzlich sehr ernst angesehen hatte, nachdem er ihr von seinen Plänen erzählt hatte. «Am Ende mache ich es vielleicht wie mein Onkel», hatte er gesagt und ihr tief dabei in die Augen geschaut. «Ich heirate eine Schwedin und lebe glücklich mit ihr in Stockholm.»

«Mich?», hatte Hannah mit zittriger Stimme gefragt.

Geantwortet hatte Karl auf ihre Frage nicht. Aber er hatte sie eng an sich rangezogen, seinen Körper fest gegen ihren gepresst und sie dabei leidenschaftlich geküsst. Bei dem Gedanken an die kribbelnden Gefühle, die Karls Nähe in ihr auslösten, klopfte Hannahs Herz ein paar Takte schneller.

«Stockholm ist aber auch ganz schön weit weg von Arild», gab Ingrid da zu bedenken.

«Noch steht ja nichts fest», lenkte Hannah ein. «Karl weiß noch nicht, ob das was wird.» Außerdem hatte er sich bisher nicht konkret geäußert, wie es nach seiner Abreise, die schon in zwei Tagen sein würde, mit ihnen weitergehen sollte.

«Trotzdem, ich sehe das wie Matilda, Hannah, überleg dir das gut», sagte Ingrid. «Nicht nur, weil Karl Deutscher ist, sondern auch, weil Gunnar wirklich nett ist.»

Hannah strich sich unruhig durchs Haar. «Das ist ja mein Problem. Gunnar ist ein guter Mann, er hat es verdient, dass ich ehrlich zu ihm bin, und ich liebe ihn nun mal nicht, das habe ich jetzt gemerkt. Wie hätte ich mich sonst in Karl verlieben können?»

«Aber Gunnar ist …», begann Ingrid zu erklären, doch Matilda unterbrach sie.

«Vergiss es», sagte sie. «Hannah hat es eben doch schon selbst gesagt, sie ist verliebt, da kannst du alle vernünftigen Argumente vergessen. Wahrscheinlich machen wir es nur noch schlimmer, wenn wir uns gegen Karl aussprechen.»

«Stimmt!» Hannah lächelte glücklich. «In Karls Nähe fühle ich mich einfach wie … wie …» Sie suchte nach den richtigen Worten. «Wie eine Frau eben.» Während Gunnar in ihr wahrscheinlich immer noch die gute Freundin sah, die sie seit der Kindheit für ihn war. Zumindest fühlte sie sich so, obwohl sie nun schon seit über einem Jahr ein Paar waren. Natürlich hatte Gunnar sie schon geküsst, und das hatte sie auch gemocht. Aber wenn Karls Lippen auf ihre trafen, fühlte es sich einfach besser an, aufregender – und nach mehr.

«Hast du schon mit Karl geschlafen?», fragte Matilda da prompt in ihrer direkten Art. Sie war mit ihren neunzehn Jahren zwar die Jüngste im Dreierbunde, Ingrid war einundzwanzig und Hannah schon dreiundzwanzig, aber Matilda war wesentlich offener, was solche Dinge betraf. Das lag mit Sicherheit an ihrem Arbeitsplatz in Mölle, insofern konnte Hannah die Skepsis der Großmutter nachvollziehen.

«Also weißt du, Tilda, sie ist doch gar nicht mit Karl verheiratet, außerdem ist sie Gunnars Freundin», warf Ingrid ein.

Hannah merkte, wie die Hitze wieder in ihr hochkroch. Dass ihr Gesicht sich rot verfärbte, bekamen auch ihre Schwestern mit.

«Hannah!» Ingrid sah sie mit weit aufgerissenen Augen an.

«Nein, habe ich natürlich nicht!», erklärte Hannah mit fester Stimme. «Aber wir haben uns geküsst. Genau deswegen möchte ich ja auch heute noch mit Gunnar sprechen.»

«Aber …», begann Ingrid.

Doch Hannah unterbrach sie. «Wir haben genug über meine Liebesangelegenheiten geredet. Ich gehe jetzt frühstücken. Was ist mit euch?»

Matilda akzeptierte Hannahs Ansage sofort. «Ich lese noch ein wenig», erklärte sie.

Ingrid seufzte, hakte aber nicht weiter nach. «Na gut, dann schlafe ich noch eine Stunde, damit ich die Arbeit mit Großmutter gleich gut überstehe. Weckst du mich um neun, Matilda, Großmutter erwartet mich um zehn in der Backstube.» Sie drehte sich um und zog die Decke über ihre Schulter.

«Mach ich», sagte Matilda. «Aber nicht wieder schnarchen!»

Hannah stand auf. In der Tür blieb sie noch einmal stehen und sah sich um. Ihr gefiel das Reich unter dem Dach, das sie sich mit ihren Schwestern teilte. Der Raum war recht groß. Jede von ihnen hatte ein eigenes Bett. Sie standen nebeneinander an der Wand, mit Blick zum Fenster, durch das sie in der Ferne das Meer sehen konnten. Außerdem hatten sie alle einen Schrank und ein kleines Nachttischchen. Den Schreibtisch und den Frisiertisch mussten sie sich teilen. Aber sich darum streiten, das gab es bei ihnen nie. Meistens war es Hannah, die am Schreibtisch saß und die Rechnungen über das ausgelieferte Gebäck schrieb, während Matilda sich vor dem Spiegel hübsch machte.

Ich bin dreiundzwanzig, dachte Hannah. So schön es hier auch ist, früher oder später werde ich das Haus verlassen, und vielleicht sogar Arild. Sie brannte darauf zu erfahren, was das Gespräch zwischen Karl und seinem Onkel ergeben hatte. Ob er tatsächlich nach Stockholm kommen würde?

 

In der Küche saß die Mutter am großen Holztisch und pellte Kartoffeln. Wie immer hatte sie das blonde Haar zu Zöpfen geflochten und am Hinterkopf zu einer Schnecke gebunden. Sie war so versunken in ihre Arbeit, dass sie Hannah nicht sofort zu hören schien, als diese den Raum betrat.

«Guten Morgen, Mor.»

Die Mutter sah auf. «Du bist schon wach, guten Morgen.»

Hannah schnupperte. «Es riecht nach Kaffee.» Sie sah sich um und entdeckte die Porzellankanne auf der Ablage neben dem Ofen.

«Er ist noch warm, ich habe ihn gerade erst gekocht», erklärte die Mutter. «Schenk mir bitte auch noch ein Tässchen ein.»

«Mach ich.» Seitdem der Vater vor fünf Jahren seine Arbeitsstelle verloren hatte und es auch in der Bäckerei nicht mehr so gut lief, wurde an allen Ecken und Kanten gespart, aber nicht an Kaffee.

Die Wirtschaftskrise hatte auch vor Skåne nicht haltgemacht. Der Tourismus im Seebad Mölle lief zwar auf Hochtouren, und auch ihr kleiner Fischerort Arild mit seinen knapp einhundertfünfzig Einwohnern hatte sich zum Badeort gemausert – es tummelten sich mittlerweile immer mehr Urlauber hier –, doch seitdem eine große Bäckerei die Belieferung fast aller Hotels übernommen hatte, kämpften die Lindholms um den Erhalt des Geschäfts. Von ihren größeren Kunden war nur einer übrig geblieben. Johannes, dem das Jönssons Hotel in Arild gehörte, ließ sich noch von ihnen beliefern. Jeden Morgen brachten sie ihm frisch gebackene Brötchen für seine Gäste, und hin und wieder bestellte er für eine Feierlichkeit ein Kuchenbuffet. Aber das kam nur noch selten vor, seitdem er einen Koch eingestellt hatte, der selbst gern backte. Der Kuchen war zwar bei weitem nicht so gut wie der der Lindholms, wie Johannes unumwunden zugab, aber eben günstiger, und die Gäste beschwerten sich nicht. Auch verirrte sich leider viel zu selten ein Badegast in ihre Bäckerei, denn sie lag außerhalb von Arild und einfach zu versteckt hinter dem kleinen Kiefernwäldchen. Nur die Einheimischen blieben ihnen treue Kunden. Aber mit den Einnahmen kamen sie nicht weit.

«Morgens brauche ich einen guten Kaffee, und zu einer vernünftigen Fika gehört er auch», hatte der Vater gesagt. «Bevor wir darauf verzichten und Malzkaffee trinken müssen, arbeite ich lieber im Erzbergwerk und sehe zu, dass Geld nach Hause kommt.» Ein paar Monate später hatte er tatsächlich seine Koffer gepackt.

Seit nunmehr drei Jahren schuftete er sich im zweitausend Kilometer entfernten Kiruna den Rücken für die Familie krumm. Er war hoch im Norden aufgewachsen und nun zurück in das elterliche Haus gezogen, in dem auch sein Bruder mit seiner Frau und den drei Kindern lebte. Aufgrund der Entfernung sahen sie den Vater nur noch selten. In den Sommermonaten kam er zu besonderen Anlässen zu Besuch, und er blieb meistens nur wenige Tage. Dafür verbrachte er im Winter eine Woche am Stück bei ihnen, wenn es in Kiruna besonders kalt und dunkel war. Aber die zwei Wochen Jahresurlaub waren viel zu kurz, sie sahen sich viel zu selten!

«Was ist mit Ingrid und Matilda?», fragte die Mutter, als Hannah sich zu ihr setzte.

«Die eine liest, die andere …» Sie grinste. «… braucht wohl noch eine Weile, bis sie wieder voll ansprechbar ist.»

«Ich habe mitbekommen, dass ihre Freundinnen sie gestern Abend nach Hause gebracht haben. Sie waren nicht zu überhören.»

«Ja», stimmte Hannah zu. «Sie waren ganz schön laut, hatten aber jede Menge Spaß.»

«Das ist schön.» Ihre Mutter legte eine warme gepellte Kartoffel in die Schüssel, die vor ihr auf dem Tisch stand, und blickte zu ihr auf. «Ich war in deinem Alter, als ich dich auf die Welt gebracht habe. Wie die Zeit vergeht, du bist jetzt auch schon dreiundzwanzig.»

«Du bist sechsundvierzig, und wenn wir beide zusammen irgendwo gesehen werden, denken viele, dass du meine Schwester bist», sagte Hannah schnell, um das Gespräch in eine unverfängliche Richtung zu lenken. Sonst würde ihre Mutter gleich wieder darauf hinweisen, dass sie noch immer auf Hannahs Hochzeit und das erste Enkelkind wartete. «So wie der Badegast, der letzte Woche die Torte für den Geburtstag seiner Tochter bei uns in der Bäckerei bestellt hat.»

«Ach, der!» Die Mutter wischte mit der Hand durch die Luft. «Das hat er nicht ernst gemeint, er wollte nur mit mir anbandeln.»

«Weil du wunderschön bist», sagte Hannah, während sie hinter die Mutter trat. Das war nicht geflunkert, sie meinte es ernst, auch wenn ihre Mutter in den letzten Monaten für ihren Geschmack viel zu schmal geworden war. Ihre Mutter stach hervor. Mit ihren einen Meter sechsundsiebzig war sie recht hochgewachsen, und mit der aufrechten und stolzen Haltung, die Hannah immer schon an ihr bewundert hatte, wirkte sie noch etwas größer. Sie besaß sanfte Augen, eine hübsche kleine Nase und einen schön geschwungenen Mund mit vollen Lippen, den perfekten Kussmund, wie der Vater immer wieder gern betonte.

«Danke, Schatz.» Die Mutter lächelte, was sie in der letzten Zeit viel zu selten tat, wie Hannah neulich erst wieder aufgefallen war. «Gut, dass wir beide uns so ähnlich sehen – das sagte der Badegast doch, oder?»

«Stimmt.» Hannah ließ den Kopf auf die Schulter der Mutter sinken.

«Dann sind wir wohl beide wunderschön.» Die Mutter sagte es mit dieser feinen Spur Ironie, die sie immer dann benutzte, wenn es um Selbstlob ging.

Und noch vor zwei Wochen hätte Hannah selbst diese scherzhafte Aussage, dass auch sie schön war, weit von sich gewiesen. Da hätte sie entgegnet, dass sie ganze vier Zentimeter kleiner, ihre Haltung schlecht und ihr Mund bei weitem nicht so wundervoll geschwungen war wie der der Mutter. Doch das hatte sich wohl geändert, wie sie nun bemerkte, seitdem sie Karl kennengelernt hatte. Denn er gab ihr das Gefühl, besonders zu sein. Nun vermochte sie das Kompliment der Mutter anzunehmen.

Hannah genoss den stillen einvernehmlichen Moment der Nähe, den es so nicht mehr sehr häufig gab. Aber sie konnte sich nicht beschweren. Als sie noch ein Kind war, gab es genügend solcher Augenblicke. Sowohl die Mutter als auch der Vater hatten sie, und auch ihre Geschwister, immer sehr liebevoll behandelt – es sei denn, sie hatten etwas ausgefressen, da konnte insbesondere die Mutter sehr streng sein.

Ein Poltern und kurz darauf lautes Lachen beendeten den schönen Moment. Die Zwillinge waren im Anmarsch. Ihre vierzehnjährigen Schwestern waren die Nesthäkchen der Familie und viel zu verwöhnt, wie Hannah fand. Aber dafür hatten sie immer gute Laune und sorgten überall für fröhliche Stimmung, wie auch jetzt, als sie die Küche betraten und sich kichernd zu den beiden an den Tisch setzten.

«Guten Morgen», sagte die Mutter. «Erzählt ihr uns, worüber ihr euch so freut?»

«Ach, nichts Besonderes», antwortete Ulla, und Ebba nickte grinsend. Doch lang hielten sie es nicht aus. «Wir haben Ingrid gerade im Badezimmer gesehen. Sie hat ihren Schädel in kaltes Wasser getaucht», erklärte Ulla und gab ihrer Stimme einen unschuldigen Klang. «Anscheinend hat sie Kopfschmerzen.»

Die Mutter ließ sich nichts anmerken und erwiderte im gleichen Tonfall: «Ist sie krank, die Arme? Dann könntet ihr so nett sein und ihre Aufgabe übernehmen. So wie ich das mitbekommen habe, soll Ingrid eurer Großmutter beim Backen helfen. Aber wenn es eurer Schwester schlechtgeht, ist das natürlich nicht möglich.»

«Heute ist doch Hannah dran», warf Ebba ein.

«Die hat was vor», erklärte die Mutter.

«So, was denn?», fragte Ulla.

Hannah griff schnell zur Kaffeetasse und versteckte ihr Gesicht dahinter. Sie hatte die Mutter angelogen und ihr erzählt, sie würde sich mit einer Freundin treffen. Aber es war schon zu spät, Hannah merkte, wie sie schon wieder rot anlief, eine sehr unliebsame Angewohnheit, die sie zu gern ablegen würde. Zum Glück betrat in diesem Augenblick Ingrid den Raum, um das nasse Haar ein Handtuch gewickelt. Sie sieht wirklich blass aus, dachte Hannah.

«Bist du so krank, dass du Großmutter Ida heute nicht beim Backen helfen kannst?», fragte Ulla, noch bevor Ingrid einen guten Morgen wünschen konnte.

«Ich bin nicht krank, das wisst ihr ganz genau», erwiderte sie. «Agnetha ist gestern zwanzig geworden, da ist es normal, dass man mal etwas zu viel feiert. Aber um eure eigentliche Frage zu beantworten: Ihr könnt euch einen faulen Tag machen. Natürlich helfe ich Großmutter, das hatte ich mit Hannah so abgemacht, ich halte meine Versprechen.» Sie nahm die Kaffeekanne hoch. «Genau das brauche ich jetzt!»

«Dazu ein trockenes Brötchen», ertönte es aus dem Flur, und kurz darauf betrat Matilda den Raum.

«Dann sind ja jetzt alle beisammen», stellte die Mutter fest, «und wir können frühstücken.» Sie sah zu den Zwillingen. «Deckt ihr bitte den Tisch?»

Sofort sprangen Ulla und Ebba von ihren Stühlen auf. Sie drückten sich zwar gern vor der Arbeit, wenn sich die Möglichkeit dazu ergab, würden aber niemals murren oder gar der Mutter widersprechen, wenn ihre Schwestern anwesend waren.

Die Mutter zeigte auf die Schüssel mit den Kartoffeln. «Nach dem Frühstück bereiten wir den Heringssalat für heute Mittag vor. Ich werde nicht da sein, ich bin mit meiner Freundin Tuva verabredet.» Sie streckte sich und verkündete entschlossen: «Heute genehmige ich mir ausnahmsweise einen freien Tag, wir gehen baden!»

«Oh, das ist ja eine schöne Idee, wo denn, Mor?», fragte Matilda.

Hannah war sich sicher, dass ihre Schwester nur gefragt hatte, um zu erfahren, wo Karl und Hannah heute nicht hinfahren durften, und sah sie dankbar an.

«Wir fahren nach Mölle!», sagte die Mutter da.

«An den Ort, an dem die schwedische Sünde erfunden wurde», bemerkte Ingrid trocken.

Hannah biss sich auf die Lippe, um nicht loszulachen.

Aber da sagte Ulla: «Du hörst dich schon an wie Großmutter, Ingrid, so was von altmodisch. Lass Mutter doch auch mal ihren Spaß.»

Matilda prustete los, und steckte die anderen an, auch die Mutter.

«Das hat Ingrid nicht ernst gemeint, Ulla», erklärte die Mutter den beiden kurz darauf. «Das war Ironie.»

Die Mutter ahnte nicht, dass da noch mehr dahintersteckte. Und Hannah war froh, nun zu wissen, wohin ihre Mutter unterwegs war. Mit Karl würde sie genau in die andere Richtung fahren.

3Ingrid

Verstohlen schielte Ingrid zu ihrer Großmutter hinüber.Bei ihr sah alles so spielend leicht aus. Das Holz rollte wie von selbst über den Teig, der immer dünner wurde. Ihre Großmutter musste Ingrids Blick bemerkt haben, denn sie sagte: «Du musst mit sanftem Druck arbeiten. Nicht zu fest, sonst reißt der Teig.»

«Wie macht ihr das nur, Hannah und du?» Sie schüttelte den Kopf. «Sosehr ich mich auch anstrenge, meiner wird nie so gleichmäßig wie eurer.»

«Deine Schwester und ich sind Perfektionistinnen», erklärte die Großmutter. «Wir wiegen grammgenau ab und arbeiten stets mit der gleichen Routine. Für uns gibt es nichts Schöneres als zwölf exakt gleiche Plunder auf dem Blech. Dir ist das zu langweilig. Du hast als Kind schon lieber kleine Kunstwerke aus dem Teig geformt, und wenn es nach dir ginge, dürfte jedes Gebäckstück anders aussehen und schmecken.» Sie sah zu Ingrid und zog tadelnd gleich beide Brauen nach oben. «Außerdem bist du ungeduldig, das war schon immer dein Problem. Wienerbröd braucht Zeit. Das Ziehfett muss gründlich in die Schichten eingearbeitet werden, und die dürfen nicht zu dick sein, sonst geht das Gebäck nicht gleichmäßig auf, und die Butter läuft heraus.»

«Das weiß ich doch, Mormor.» Schließlich war auch Ingrid bei der Großmutter in die Lehre gegangen. Und trotzdem hatte sie beim Backen nicht das gleiche geschickte Händchen wie ihre zwei Jahre ältere Schwester Hannah.

Die Großmutter schnalzte mit der Zunge. «Na, wo ist dann das Problem?»

«Du hast recht, wahrscheinlich bin ich zu ungeduldig», gestand Ingrid. Außerdem habe ich gestern zu viel Punsch getrunken und wäre jetzt viel lieber im Garten, fügte sie in Gedanken hinzu und sah aus dem Fenster. Die Kastanie blühte spät in diesem Jahr. Die letzten Monate waren recht kühl gewesen, nun war Mitte Juni, und die Sonne holte nach, was sie bisher versäumt hatte. Die Natur zeigte sich in ihren schönsten Farben. Der Salbei mit seinen tiefvioletten Blütenähren setzte hübsche Akzente in dem Meer aus weißen Margeriten. Die Pfingstrosen leuchteten in einem kräftigen Rosaton. Aber am besten gefielen ihr immer noch die zarten weißen Blüten der Moltebeeren, die sie unter den Rhododendren gepflanzt hatte. Im Herbst hatte der Vater in Kiruna mit dem Spaten Teilstücke am Waldrand ausgestochen, und Ingrid hatte sie hier im Garten wieder in den Boden gesetzt. Sie hatte selbst nicht daran geglaubt, dass ihr die Anzucht gelingen würde. Aber nun würde sie sich ab Juli über die wohlschmeckenden goldgelben Früchte freuen können, die wie kleine Bernsteine in der Sonne funkelten.

Gleich in der Nähe der Blumenbeete hatten ihre jüngsten Schwestern eine Decke ausgebreitet und es sich darauf gemütlich gemacht. Ebba lag auf dem Rücken und fuhr mit den Beinen Fahrrad in der Luft. Ulla lag ihr zugewandt auf der Seite, den Kopf mit der Hand abgestützt. Sie tratschten miteinander und hatten Spaß. Hätte Ingrid darauf bestanden, krank zu sein, müsste sie jetzt nicht in der Küche stehen und backen, obwohl heute Sonntag und eigentlich ihr freier Tag war. Noch einmal schielte sie zur Großmutter hinüber, die konzentriert an ihrem Wienerbröd arbeitete.

«Bist selbst daran schuld», kam es prompt von ihr. «Heute wäre Hannah mit Helfen dran gewesen.» Sie musterte Ingrid eindringlich mit ihren hellen grauen Augen, und bevor sie sichʼs versah, klatschte die Großmutter ihr mit der flachen Hand auf den Oberarm. «Sag schon, wo ist sie? Treibt sie sich wieder mit Gunnar rum?»

«Autsch!» Ingrid rieb sich über die Stelle, die sich sofort rot färbte. Ein kräftiger Schlag auf die nackte Haut oder ein fester Kniff in die Wange waren Warnsignale der Großmutter. Sie wollte damit unmissverständlich klarstellen, dass es keinen Sinn hatte, sie anzulügen. Und dass sie ein untrügliches Gespür für die Wahrheit besaß, die man gar nicht erst zu verdrehen brauchte, das hatte Ingrid schon allzu oft erlebt.

«Weiß ich nicht», flunkerte Ingrid trotzdem und trat vorsorglich einen Schritt zur Seite. «Wir haben gewettet, und ich habe verloren.»

«Ihr mit euren ständigen Wetten», schimpfte die Großmutter, hakte aber zum Glück nicht weiter nach. Ingrid hätte ihr unmöglich erzählen können, worum es in ihrer Wette gegangen war. Bei dem Gedanken schlich sich ein Lächeln in Ingrids Gesicht. Zwar hatte sie die Wette verloren und musste in der Küche helfen, aber dafür hatte sie in allen Einzelheiten Matildas ausführlichem Bericht über Oskar lauschen dürfen, nachdem Hannah heute Morgen zum Frühstück gegangen war. Die kleine Schwester war bereits häufiger geküsst worden als Hannah. Allerdings holte Hannah seit zwei Wochen gewaltig auf, wie sie vorhin zugegeben hatte. Aber davon durfte die Großmutter erst recht nichts erfahren.

«Welche Füllung nehmen wir?», fragte Ingrid, um die Aufmerksamkeit wieder auf die Arbeit zu lenken. Nicht, dass die Großmutter noch mehr fragte oder dass sie selbst sich verplapperte.

«Blaubeeren aus dem Glas», antwortete Großmutter Ida, klappte ein Drittel der Teigplatte um, das andere Drittel darüber und walzte wieder flugs mit der Rolle darüber.

Ingrid tat es ihr nach, darauf bedacht, sorgfältig zu arbeiten. Normalerweise war Hannah diejenige, die der Großmutter in der Backstube half, während Ingrid für den Verkauf zuständig war. An Sonntagen hatte die Bäckerei geschlossen. Aber wenn die Nachbarn hin und wieder Gebäck für ihre Fika am Nachmittag oder eine Feier bestellten, wurde der Ofen doch angefeuert. Das Geschäft lief seit Jahren immer schlechter, und jede zusätzliche Krone in der Kasse kam ihnen gelegen.

Vater arbeitet im Erzbergwerk, um Geld nach Hause zu schicken. Und ich jammere schon rum, weil ich am Sonntag backen muss, schalt Ingrid sich im Stillen und nahm sich vor, nicht mehr so undankbar zu sein. Es war für alle nicht leicht momentan, besonders nicht für ihre Großmutter, die den ganzen Tag den mürrischen Großvater Vilhelm ertragen musste. Er hatte, ebenso wie der Vater, seine Arbeit in der Schlosserei verloren, war aber zu dem Zeitpunkt mit seinen sechzig Jahren schon zu alt gewesen, um eine neue Beschäftigung zu finden. Seinen Unmut ertränkte er im Alkohol. Nur wenn er genügend Schnaps im Blut hatte, konnte er lustig werden und hatte wieder Freude am Leben. Auch sie hatte gestern Abend jede Menge Spaß gehabt. Dafür ging es ihr heute schlecht. Dieser Preis wäre ihr jedoch auf Dauer zu hoch. Warum der Großvater so viel trank, verstand sie einfach nicht.

«Und Matilda?», fragte die Großmutter plötzlich.

«Steckt mit der Nase in einem Buch», antwortete Ingrid. Das war nicht gelogen, auch wenn sie wusste, dass ihre kleine Schwester keinen Roman las, sondern heimlich für ein Vorsprechen probte. Aber dafür hätte die Großmutter überhaupt kein Verständnis.

«Pff!», machte sie prompt. «Euer Vater hätte ihr das Bild der Garbo nicht schenken dürfen. Matilda hat nichts als Flausen im Kopf.» Sie strich behutsam mit der Hand über den Teig. «Na, wenigstens habt ihr beiden Älteren ein ordentliches Handwerk gelernt.»

Ingrid widersprach nicht, wenngleich sie die Spitze gegen Matilda nicht verstand. Matilda verdiente ihr eigenes Geld, und zwar als Servierkraft. Schließlich waren sie fünf Schwestern und konnten nicht alle in der kleinen Bäckerei arbeiten. Sie bewunderte Matilda dafür, dass sie davon träumte, Schauspielerin zu werden. Ihre jüngere Schwester hatte ihren eigenen Kopf – und Pläne.

Ingrid faltete den Teig ein letztes Mal zusammen. «Fertig!»

Die Großmutter nickte. «Ist doch gar nicht so schlecht geworden.» Sie deutete mit dem Kopf zum Fenster. «Die Sonne scheint. Geh schon raus, den Rest schaff ich allein.»

«Danke, Mormor.»

Ingrid legte die Schürze ab, wusch sich die Hände und war schon fast zur Tür hinaus, als die Großmutter hinzufügte: «Bring mir bitte eben noch zwei Gläser Blaubeeren. Und vielleicht sammelt ihr später noch ein paar Muscheln für das Abendessen.»

Ingrid blieb stehen. «Muscheln?» Die Leibspeise des Vaters, das konnte nur bedeuten …

«Vorhin ist ein Telegramm hier angekommen. Euer Vater hat sich für heute Abend angekündigt. Er kommt mit dem Zug nach Mölle», erklärte die Großmutter da auch schon. Dabei verzog sie keine Miene.

Ingrid hätte zu gern gewusst, was zwischen den beiden vorgefallen war. Bei seinem letzten Besuch zu Ostern hatten sie sich gestritten. Was der Grund gewesen war, hatte keine von den Schwestern mitbekommen. Mutter schwieg, wenn sie sie danach fragten. Und Großmutter war seither sehr einsilbig geworden, wenn es um den Vater ging.

Anstatt der Großmutter vor Freude um den Hals zu fallen, wie sie es bei einer solchen Nachricht normalerweise getan hätte, entgegnete Ingrid nur: «Das ist ja schön. Ich sag den anderen Bescheid.»

Der Mund der Großmutter verzog sich zu einem Lächeln, aber ihre Augen blieben ausdruckslos. «Mach das. Eure Mutter weiß noch nichts davon, sie war schon weg, als das Telegramm ankam. Gegen sieben wird er wohl hier sein, hungrig. Seht zu, dass ihr die Eimer voll bekommt.»

«Machen wir!»

Kaum hatte Ingrid die Tür der Backstube hinter sich geschlossen, lief sie, so schnell sie konnte, ins Haupthaus. Es stand nur ein paar Meter entfernt von dem Bäckereiladen und der daran angeschlossenen Backstube. Ingrid hatte es zum Glück nicht weit. Wenn sie mit der Arbeit fertig war, lief sie über den Hof und war direkt zu Hause. Auch das kleine Häuschen der Großeltern stand auf dem Hof, gleich neben dem Schuppen. Es war im gleichen Rotton gestrichen wie die anderen Gebäude, hatte aber wie auch die Backstube und die Bäckerei kein zweites Stockwerk und kein spitzes Satteldach. Die Großeltern hatten sich die Altersunterkunft gebaut, nachdem die beiden Zwillinge geboren waren. Seitdem war einfach nicht mehr genügend Platz im Haupthaus für alle. Und außerdem war der Großvater froh, dass er so auch mal seine Ruhe haben konnte, wie er gern betonte. Gegessen wurde gemeinschaftlich. Dafür trafen sie sich jeden Abend in der großen Küche des Haupthauses, dort fand auch der Großteil des Familienlebens statt.

Ingrid rannte die Treppe hinauf und stürmte in das Zimmer, das sie sich mit Hannah und Matilda teilte.

«Vater kommt heute!», platzte sie heraus. «Am Abend. Großmutter sagt, wir sollen gleich noch Muscheln fürs Essen sammeln.»

Matilda lag auf ihrem Bett. Ohne eine größere Regung legte sie ihren Text für das Vorsprechen zur Seite und richtete sich auf. «Heute schon?»

«Ja, sag ich doch, hat Großmutter gerade erzählt, am Abend ist er da.»

«Na dann!», antwortete Matilda und griff wieder zu ihrem Buch.

Ingrid setze sich zu ihr auf die Bettkante. «Freust du dich gar nicht?»

Ihre Schwester zuckte mit den Schultern. «Doch, schon. Die Stimmung ist allerdings ohne ihn besser hier. Beim letzten Mal war Großmutter richtig gemein zu ihm. Und Mutters trauriger Blick deswegen war auch kaum zu ertragen. Ganz ehrlich? Wenn Großmutter meinen Mann so behandeln würde, dann würde ich ihr ein paar Takte dazu sagen. Aber sie nimmt ja immer alles einfach so hin.» Sie seufzte. «Ich hoffe, dass Mutter endlich mal Stellung bezieht. Großmutter Ida spielt sich hier auf wie meine Chefin im Grand Hotel.»

Ingrid schlüpfte aus ihren Sandalen. «Rück mal ein Stück zur Seite.»

Matilda rutschte bis zur Wand, und Ingrid legte sich zu ihr. «Was meinst du? Warum haben Vater und Großmutter Streit?», fragte sie, obwohl sie das schon etliche Male diskutiert hatten. «Ich gehe eigentlich immer noch davon aus, dass sie Unstimmigkeiten wegen des Geldes haben. Darum geht es doch meistens. Großmutter ist sehr knauserig. Und Vater hat eben gern die Spendierhosen an, wenn er uns besucht.»

Matilda grinste plötzlich. «Wir könnten ihn gleich heute Abend danach fragen. Er ist immer sehr gesprächig, wenn er genug Brännvin getrunken hat.»

Ingrid dachte einen Moment nach. «Nein, lieber nicht. Am Ende bekommt Großmutter es mit, und dann gibt es vielleicht Streit. Daran möchte ich nicht schuld sein.»

«Warten wir mal ab.» Matilda kringelte eine ihrer Haarsträhnen um ihren Zeigefinger. Sie hatte sich erst vor kurzem von einem Friseur in Mölle die Haare so schneiden lassen, wie Greta Garbo sie trug: knapp schulterlang, zur Seite frisiert und mit einer Brennschere zu einem Innenschwung onduliert. «Egal, was es ist, ich bin mir sicher, dass die finanzielle Situation es noch schlimmer macht.»

«Es ist für niemanden leicht in diesen Zeiten», sagte Ingrid. «Viele haben ihre Arbeit verloren. Wir haben wenigstens noch das Haus – und die Bäckerei, auch wenn sie nicht gut läuft. Wir können unser eigenes Brot backen, haben Gänse, Hühner – und ganz in der Nähe das Meer voller Fische, Krebse und Muscheln. Verhungern werden wir zumindest nicht.»

Matilda schnalzte mit der Zunge, so wie die Großmutter es auch gerne tat. «Ich will aber mehr vom Leben, als nicht verhungern zu müssen.» Sie sah zum Fenster. «Da draußen gibt es noch so viel mehr zu entdecken. Außerdem ist es unfair, dass ich meinen Lohn abgeben muss und nur das Trinkgeld für mich behalten darf.»