Der Tanz ums Ich - Jens Bergmann - E-Book

Der Tanz ums Ich E-Book

Jens Bergmann

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  • Herausgeber: Pantheon
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2015
Beschreibung

Die Psychologie auf der Couch

Wer bin ich? Und warum bin ich, wie ich bin? Was geht in mir vor und was in den anderen? Diese Fragen bewegen uns, weil uns unsere Mitmenschen rätselhaft erscheinen und weil es uns mit uns selbst häufig nicht anders ergeht. Aufklärung und Hilfe verspricht die Psychologie. Sie ist die Religion unserer Zeit. Wie sie es so weit bringen konnte, auf welchem Mythos sie beruht und wie das Geschäft mit ihr funktioniert, zeigt dieses Buch: Es klärt auf über die Risiken und Nebenwirkungen der populärsten aller Wissenschaften.

Psychologen fühlen sich in allen gesellschaftlichen Sphären für alles zuständig. Sie behaupten, Intelligenz messen zu können ebenso wie Persönlichkeit und Kreativität. Sie deuten Emotionen, geben Anleitungen zu glückender Kommunikation und Selbstmanagement. Sie konstruieren Tests zur angeblich optimalen Online-Partnerwahl, sagen uns, wie wir unsere Ehe führen, unsere Kinder erziehen und welche Ziele wir im (Berufs-)Leben anstreben sollen. Psychologen diagnostizieren, ob wir normal sind oder nicht, und geben unseren Leiden einen Namen: vom posttraumatischen Stress- über das Messie- bis hin zum Burnout-Syndrom. Die Psychologie spendet einerseits Trost und nimmt uns andererseits an die Kandare. Jens Bergmann schildert, was den Reiz dieser Disziplin ausmacht und mit welchen Folgen der Glaube an sie verbunden ist. Er enthüllt das Grundproblem des psychologischen Denkens: Niemand kann anderen Menschen in den Kopf schauen. Von der Legende, es doch zu können, lebt eine ganze Industrie.

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Jens Bergmann

Der Tanz ums Ich

Risiken und Nebenwirkungen der Psychologie

Pantheon

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Den Textauszug aus: Siegfried Kracauer, Werke in neun Bänden. Band 1. Soziologie als Wissenschaft. Der Detektiv-Roman. Die Angestellten drucken wir mit freundlicher Genehmigung von © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2006. Alle Rechte bei und vorbehalten durch Suhrkamp Verlag Berlin. Den Textauszug aus: Barbara Ehrenreich, Qualifiziert & arbeitslos. Eine Irrfahrt durch die Bewerbungswüste drucken wir mit freundlicher Genehmigung von © Verlag Antje Kunstmann GmbH, München 2006.
Der Pantheon Verlag ist ein Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH.
Copyright © 2015 by Pantheon Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München. Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München Satz: Ditta Ahmadi, Berlin ISBN 978-3-641-15774-6V003
www.pantheon-verlag.de

»Mutter Gottes – ist das eine Frauensache? Sie fragen mich, wie ich mich fühle. Ich sage Ihnen, wie ich mich fühle, und nun quälen Sie mich damit.«

Tony Soprano beklagt sich in der Serie Die Sopranosbei seiner Therapeutin

Inhalt

VorbemerkungDie Religion unserer Zeit

Pioniere

Ein Freigeist als Religionsstifter

Der Vermessungsingenieur

Das Berufliche wird privat

Das Geschäftsmodell

Sozialtechnik für alle und alles

Der Tanz ums Ich

Die Kunst, Krankheiten zu erfinden, die in die Zeit passen

Der blinde Fleck

Psychologie ohne Bewusstsein

Von der Ratte über den Rechner bis zur Neurowelle: Wie die Psychologie zu ihren Menschenbildern kommt

Risiken und Nebenwirkungen

Ich zeig dir meins, du zeigst mir deins: Tyrannei der Intimität

Übergriffe erster und zweiter Ordnung

Reden wird überschätzt

ResümeeSo viel Psychologie, so wenig Erkenntnis

Eine persönliche Nachbemerkung

Literatur

VorbemerkungDie Religion unserer Zeit

Wer bin ich? Und warum bin ich, wie ich bin? Was geht in mir vor? Was in den anderen Leuten? Diese Fragen bewegen uns, weil uns die Mitmenschen rätselhaft erscheinen und weil es uns mit uns selbst häufig ebenso ergeht – wir alle aber irgendwie miteinander auskommen müssen.

Aufklärung und Hilfe verspricht die Psychologie1. Dank dieser Versprechen ist sie so populär und allgegenwärtig geworden wie keine andere Disziplin. Im Laufe ihrer kurzen Geschichte hat die Seelenkunde – so die ursprüngliche Bedeutung des aus dem Griechischen stammenden Begriffs – über ihr ursprüngliches Fachgebiet hinaus weitere Sphären erobert. Sie beeinflusst heute Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft, unsere Sprache, unser Denken und Empfinden.

Psychologische Techniken haben auch die Arbeitswelt erobert; so erinnern viele Rituale in heutigen Unternehmen nicht zufällig an solche der Selbsterfahrungsgruppen aus den sechziger und siebziger Jahren, in denen Menschen ihr Innerstes nach außen kehrten. Die wichtigste Kompetenz des modernen Angestellten ist es, Offenheit darzustellen, ohne wirklich offen zu sein.

Psychologen fühlen sich überall gefragt und zuständig. Sie behaupten, (soziale/emotionale) Intelligenz ebenso messen zu können wie Persönlichkeit und Kreativität. Sie maßen sich Urteile darüber an, für welchen Beruf Menschen sich eignen und ob sie in ihrer Laufbahn zu Führungsaufgaben taugen. Sie deuten Emotionen, geben Anleitungen zu Kommunikation und Selbstmanagement. Sie konstruieren Tests zur angeblich optimalen Partnerwahl, sagen uns, wie wir unsere Ehe führen, unsere Kinder erziehen und welche Ziele wir im Leben anstreben sollen.

Psychologen und Psychiater diagnostizieren, ob wir normal sind, und sie geben unseren Leiden Namen: vom posttraumatischen Stress- über das Messie- bis hin zum Burnout-Syndrom.

Die Psychologie kann einerseits Trost spenden, hält gutgläubige Menschen andererseits aber an der Kandare: Sie ist die Religion unserer Zeit. Das spiegelt sich unter anderem in einem Berg an Literatur zum Thema wider. Sie verheißt Einblicke ins Seelenleben, Hilfe bei der Selbstverwirklichung, den Weg zu glückender Kommunikation, Partnerschaft, Sexualität und vielem mehr.

Diese Probleme sind nicht Thema meines Buchs. Hier geht es um die Probleme, unter denen die Psychologie leidet. Viele der Gründe sind in der Geschichte des jungen Fachs zu finden. Charakteristische Merkmale der Psychologie – intellektuelle Genügsamkeit und Geschäftstüchtigkeit, Kontextblindheit und Übergriffigkeit – lassen sich nur aus ihrer historischen Entwicklung heraus verstehen, weshalb die Psychologiegeschichte viel Raum in diesem Buch einnimmt. Es schildert, wie die Disziplin es so weit bringen konnte. Was ihren Reiz ausmacht. Und mit welchen Folgen der Glaube an sie verbunden ist. Es klärt auf über das Grundproblem des psychologischen Denkens: Niemand kann anderen Menschen wirklich in den Kopf schauen. Von der Suggestion, das doch zu können, lebt eine ganze Industrie.

Dieses Buch ist kein Ratgeber, aber hoffentlich nützlich: durch Aufklärung über die Risiken und Nebenwirkungen der Psychologie.

1Die Psychologie ist eine Verallgemeinerung, weil das Fach in zahlreiche Teildisziplinen und Schulen zerfällt (die ihre Abneigung füreinander liebevoll pflegen). Unabhängig davon gibt es einen Mainstream psychologischen und therapeutischen Denkens und Handelns. Um ihn geht es in diesem Buch.

Pioniere

Der Siegeszug der Psychologie beruht auf zwei Ideen. Die eine lautet: Jeder Mensch hat seine eigene, persönliche Geschichte. Sie – und nicht Klasse, Schicht oder Kultur – macht uns aus. Mit dieser Denkfigur geriet das Ich in den Mittelpunkt des Interesses. Und je mehr die Leute sich mit sich selbst beschäftigten, desto deutlicher wurden ihnen ihre Defizite, die – das ist eine zentrale Botschaft der Psychologie – behoben werden können, ja, müssen. Diese Vorstellung, die vielen von uns heute ganz selbstverständlich erscheint, lässt sich als therapeutisches Denken bezeichnen. Es ist vielen Menschen in Fleisch und Blut übergegangen. Sie verspüren das Bedürfnis, an sich zu arbeiten beziehungsweise sich selbst zu verwirklichen.

Die andere Kernidee ist: Psychologen können mithilfe bestimmter Messmethoden – von Intelligenz- und Persönlichkeitstests bis hin zum Hirnscan – herausfinden, wie andere Menschen denken, empfinden, was sie bewegt und vor allem: ob sie der Norm entsprechen. All dies funktioniert, ohne dass die Probanden über die Art der Verfahren und die ihnen zugrunde liegenden Annahmen informiert werden müssten; im Gegenteil, die Unwissenheit der Versuchsobjekte ist meist Voraussetzung für diese Psychotechnik.

Die Karriere des therapeutischen Denkens und der Psychotechnik lässt sich sehr gut an der Geschichte zweier Pioniere darstellen, die diese Vorstellungen vor mehr als 100 Jahren propagiert und damit für ihre Berufsstände lukrative Geschäftsfelder erschlossen haben. Beide trieben ihr jeweiliges Projekt mit großem Eifer voran – und beide haderten mit dem, was daraus wurde.

Zwei Ehrendoktoren, die sich nicht mögen

Am 29. August 1909 treffen zwei Männer an Bord der »George Washington« in New York ein. Von dort reisen sie weiter nach Worcester, Massachusetts, wo ihnen an der Clark University die Ehrendoktorwürde verliehen wird.

Die Ideen dieser beiden Männer sind sehr mächtig, sie wirken bis heute fort. Der eine ist Sigmund Freud, Begründer der Psychoanalyse, der mit seinem 1900 erschienenen Buch Die Traumdeutung Furore gemacht und seine Zeitgenossen als Neurotiker bloßgestellt hat. Freud bahnt dem therapeutischen Denken den Weg. Der andere, heute weithin Vergessene, ist William Stern, Erfinder des Intelligenzquotienten und des ersten Ballerspiels – zum Training von Kampfpiloten im Ersten Weltkrieg. Stern hat wie kaum ein anderer die Psychotechnik populär gemacht: die Vermessung des menschlichen Innenlebens.

Die Männer sind einander in herzlicher Abneigung verbunden, ihre Vorstellungen von der menschlichen Seele unterscheiden sich diametral. Der eine behauptet, durch seine »Redekuren« mit Patienten herausgefunden zu haben, was Menschen prägt und bewegt: frühkindliche sexuelle Konflikte und das Unbewusste. Für den anderen sind das haltlose und ungesunde Spekulationen. William Stern setzt auf naturwissenschaftliche Methoden im Labor und im wirklichen Leben, »um praktische Kulturaufgaben zu lösen«:2 die »Auslese« von Menschen für Aufgaben jeglicher Art. Bei allen Unterschieden verbindet Freud und Stern doch mancherlei. Beide haben ein Händchen für Werbung in eigener Sache. Beide geben Antworten auf wichtige Fragen ihrer Zeit und weit darüber hinaus. Beide werden als Juden von den Nationalsozialisten auf dem Höhepunkt ihrer Karriere aus ihrer Heimat vertrieben. Beide haben vor allem in den USA Erfolg, klagen über die dortige Banalisierung ihrer Theorien und Methoden, können diese aber nicht aufhalten. Und beide ahnen nicht, dass die von ihnen begründeten Linien – das therapeutische Denken und die Psychotechnik – sich kreuzen werden.

Ein Freigeist als Religionsstifter

Sigmund Freud gehört neben Karl Marx und Charles Darwin zu den Denkern, die unser Weltbild verändert haben. Mit der Psychoanalyse stiftete er – wiewohl er als Agnostiker mit Religion nichts am Hut hatte – eine moderne Form der Glaubensgemeinschaft. Und obwohl als Therapeut nicht besonders erfolgreich, prägte er maßgeblich das heute allgegenwärtige therapeutische Denken.

Freud war einerseits ein Freigeist, der die Grenzen seines Fachs Medizin sprengte, sein eigenes Gedankengebäude stetig erweiterte – und dabei gelegentlich auch tragende Mauern versetzte. Andererseits war er ein strenger Glaubenswächter, der Abweichung von seiner Lehre als Ketzerei ansah.

Obgleich die Psychoanalyse offenkundig hochspekulativ ist, pflegte Freud zeit seines Lebens den Habitus des Naturwissenschaftlers – und verwies bezüglich der Belege lapidar auf eine vage Zukunft: »Das Lehrgebäude der Psychoanalyse, das wir geschaffen haben, ist in Wirklichkeit ein Überbau, der irgendeinmal auf sein organisches Fundament aufgesetzt werden soll; aber wir kennen dieses noch nicht.«3 Dieses Fundament fehlt nicht nur der Psychoanalyse, sondern auch der Psychologie bis heute.

Anders als die meisten Wissenschaftler verfügte Freud über einen glänzenden literarischen Stil, mit dessen Hilfe er logische Klippen in seinem Werk umschiffen und seine Lehre außerordentlich populär machen konnte. So gingen Schlüsselbegriffe und -konzepte wie der Freud’sche Versprecher, unbewusst, Trauma, Trieb, Verdrängung oder Ödipuskomplex in den Wortschatz des Bürgertums ein.

Die Macht des Königs Ödipus

Warum kam ausgerechnet er auf diese Ideen? Da gibt es verschiedene Deutungen. Manche erklären die subversive Natur der Psychoanalyse, ihr Infragestellen der herrschenden Kultur, mit der jüdischen Herkunft ihres Erfinders, dem geschärften Blick des Außenseiters auf die gesellschaftlichen Verhältnisse. Andere suchen in seiner Biografie nach Anknüpfungspunkten. Freud selbst hat diese Spur gelegt. In einem Brief an seinen Freund Wilhelm Fließ schrieb er nach einer Selbstanalyse: »Ich habe die Verliebtheit in die Mutter und die Eifersucht gegen den Vater auch bei mir gefunden und halte sie jetzt für ein allgemeines Ereignis früher Kindheit (…). Wenn das so ist, so versteht man die packende Macht des König Ödipus trotz aller Einwendungen, die der Verstand gegen die Fatumsvoraussetzung erhebt, und versteht, warum das spätere Schicksalsdrama so elend scheitern musste.«4

Interessanter als die Frage, warum ausgerechnet Freud die Psychoanalyse erfand, ist die, warum sie so einflussreich werden konnte. Die Antwort lautet frei nach Victor Hugo: Nichts ist mächtiger als eine Idee, deren Zeit gekommen ist. Das war bei der Psychoanalyse der Fall. Sie ist, wie der Historiker Eli Zaretsky schreibt, »die erste große Theorie und Praxis des persönlichen Lebens«.5 Dieses persönliche Leben, die Vorstellung von einer je eigenen Geschichte des Individuums, wird im Fin de Siècle möglich. Es ist das Zeitalter der zweiten industriellen Revolution: Die Massenproduktion hat begonnen, der Wohlstand wächst, die Wirtschaft weckt die Lust am Konsum, traditionelle Familienbande und Hierarchien lockern sich, neue Lebensmodelle werden denkbar – einige Bohemiens erproben sie sogar. Der Boden für Freuds Ideen ist bereitet.

Hirnforschung und Studien zur Wirkung von Kokain

Sigismund Schlomo Freud kommt am 6. Mai 1856 im mährischen Freiberg im heutigen Tschechien als Sohn des Tuchhändlers Jacob Freud und dessen dritter Frau Amalia zur Welt. Den ersten Vornamen ändert er im Alter von 22 Jahren in Sigmund. Die Bindung zu seiner Mutter ist eng, sie liebt ihn heiß und innig: »Sigi, mein Gold«. Nach dem Bankrott des Vaters in der großen Wirtschaftskrise von 1857 zieht die Familie mit einem kurzen Zwischenaufenthalt in Leipzig 1860 nach Wien. Dort besucht Freud das Leopoldstädter Communal-Realgymnasium. Die Eltern setzen große Hoffnung in ihn, die er erfüllt. Er ist ein hervorragender Schüler, der sein Abitur mit Auszeichnung macht und dann Medizin studiert.

Nach der Promotion im Jahr 1881 mit neurophysiologischem Thema (»Über das Rückenmark niederer Fischarten«) und der Habilitation 1885 folgt allerdings ein Karriereknick. Denn Freud – einer der Pioniere auf dem Gebiet der Hirnforschung, der als einer der Ersten die Idee hat, dass das Organ aus miteinander verknüpften Neuronen besteht – darf zwar Privatdozent sein, erhält aber zunächst keinen Lehrstuhl an der Universität, sondern nur eine Stelle am Wiener Allgemeinen Krankenhaus, wo er einige Jahre im Laboratorium für Gehirnanatomie arbeitet und unter anderem Studien über die pharmakologische Wirkung der noch wenig bekannten Substanz Kokain betreibt. Dazu zählen auch Selbstversuche. Später wird er Kokain, wie er sagt, zur Selbstmedikation verwenden. Es gibt Vermutungen, dass sein starkes Selbstbewusstsein auch damit zu tun haben könnte. Schließlich macht sich Freud nolens volens mit einer Privatpraxis für Neurologie selbstständig. Das ist für einen brillanten Kopf wie ihn keine adäquate Position, aber er ist entschlossen, etwas aus ihr zu machen.

Eine der ersten Modekrankheiten

1885 reist er zu Studienzwecken nach Paris, um an der dortigen Psychiatrischen Klinik des Hôpital de la Salpêtrière dem Star-Psychiater Jean-Martin Charcot bei der Arbeit zuzuschauen. Dessen Thema ist die damalige Modekrankheit Hysterie. Unter dieser Bezeichnung fasst man eine ganze Reihe psychischer Störungen zusammen, die zunächst auf eigentümliche Weise nur bei Frauen diagnostiziert werden (das griechische Wort Hystera bedeutet Gebärmutter), ohne ersichtliche somatische Ursache. Freud schreibt begeistert von der »rätselhaftesten aller Nervenkrankheiten, für deren Beurteilung die Ärzte noch keine tauglichen Gesichtspunkte gefunden hatten (…)«.6

Charcot führt Patientinnen bei seinen Dienstagsvorlesungen in aller Öffentlichkeit vor und löst durch Hypnose Symptome wie Schüttelkrämpfe oder Lähmungen aus. Das dramatische Spektakel – vermutlich schauspielern einige der Frauen auch, weil sie genau wissen, was von ihnen erwartet wird – zieht prominente Besucher aus ganz Europa an. Als Freud sieht, wie der große Zampano Charcot hysterische Symptome durch Hypnose hervorruft, erkennt er darin ein Indiz für die psychischen Ursachen der Hysterie.

Zurück in Wien geht er dem Thema mit seinem Kollegen und Mentor Josef Breuer weiter nach. Beide zweifeln an den gängigen Theorien, die die verbreiteten »nervösen Leiden« – damals so populär wie heute das Burnout-Syndrom – durch Verletzungen des Nervensystems erklären, und an dem üblichen Behandlungsrepertoire wie Elektrotherapie und Liegekuren. Bei Breuer lernt Freud den »kathartischen Prozess« kennen. Durch Hypnose und Suggestion wird der »innere Zensor« überwunden: Die Patientinnen, allesamt Frauen aus bürgerlichen Kreisen, sprechen über damals Unaussprechliches, über Dinge, die sie anstandshalber eigentlich beschweigen müssten – und aufgestaute Gefühle wie Zorn, Angst, Wut brechen sich Bahn.

Später distanziert sich Freud von der Methode der Hypnose, auch weil er die Erfahrung macht, dass die Patientinnen sich dabei in den Therapeuten verlieben, was dem im privaten Umgang eher prüden Arzt – anders als so manchem Kollegen – unangenehm ist. Stattdessen setzt er auf Gespräche in entspannter Atmosphäre, in denen frei assoziiert wird und Träume gedeutet werden, der Patient auf der Couch liegend, der Therapeut in distanzierter Haltung am Kopfende auf einem Sessel sitzend.

Einmal Verführungstheorie und retour

Die Erkenntnisse, die er bei der Untersuchung von zunächst 18 Frauen gewinnt, veröffentlicht Freud 1896 unter dem Titel »Zur Ätiologie der Hysterie« und berichtet vor der Fachöffentlichkeit im Wiener Verein für Psychiatrie und Neurologie über seine schockierenden Erkenntnisse. Alle von ihm untersuchten Frauen und Mädchen seien, so Freud, in ihrer Kindheit von Verwandten oder Dienstboten missbraucht worden, hätten dies verdrängt und deshalb Symptome wie Lähmungen oder Sprachstörungen entwickelt. »Die Kindertraumen, welche die Analyse für diese schweren Fälle aufdeckte, mussten sämtlich als schwere sexuelle Schädigungen bezeichnet werden; gelegentlich waren es geradezu abscheuliche Dinge.«7 Diese Aussagen finden, wie er im Rückblick über sein akademisches Publikum klagt, »bei den Eseln eine eisige Aufnahme«.8 Die Kollegen, darunter der berühmte Sexualwissenschaftler Richard von Krafft-Ebing, glauben ihm kein Wort.

Freud selbst revidiert seine sogenannte Verführungstheorie anderthalb Jahre später. Er habe erkennen müssen, schreibt er, »diese Verführungsszenen seien niemals vorgefallen, seien nur Phantasien, die meine Patienten erdichtet, die ich ihnen vielleicht aufgedrängt hatte«.9 Nun stellt er frühkindliche Fantasien und Ängste in den Mittelpunkt seiner Überlegungen: die Kastrationsfurcht der Jungen, den Penisneid der Mädchen sowie den Ödipuskomplex der Söhne, die ihre Mütter begehren und ihre Väter am liebsten aus dem Weg räumen würden. All diese Impulse würden verdrängt und könnten durch Psychoanalyse ins Bewusstsein gehoben werden.

Etwa 100 Jahre später werden Analytiker wie Jeffrey Masson und Alice Miller Freuds Kehrtwende kritisch unter die Lupe nehmen und eine Verschwörungstheorie daraus konstruieren. Der Vater der Psychoanalyse habe seine Erkenntnisse aus Angst vor seinen Kollegen verdrängt, so die Dissidenten – nicht die Sexualität kleiner Kinder, sondern ihr Missbrauch sei die Ursache allen seelischen Leids.

Allerdings lässt sich gegen Freuds Beweisführung durch Fallgeschichten generell einwenden, dass sich seine Theorien auf diese Weise weder beweisen noch widerlegen lassen. Das gilt für seine frühe Verführungshypothese ebenso wie für alle weiteren. Freud deutet, was seine Patienten ihm erzählen, sehr frei; Überzeugungen leiten seine Beobachtungen, man könnte auch sagen: Der von sich überzeugte Forscher sieht das, was er sehen will. Joseph Worthy, ein amerikanischer Psychiater, der sich in den dreißiger Jahren einer Lehr-Analyse durch Freud unterzogen hatte, urteilte, dass der »wie ein Detektiv auf der Lauer lag, bis er auf eine Assoziation stieß, die in sein Interpretationsschema passte«.10

Freuds Vorstellungen kommen allerdings nicht von ungefähr – er knüpft an Vordenker an. »Es gab zum Beispiel«, schreibt der Erziehungswissenschaftler Michael Dieterich, »verblüffende Parallelen zu Schopenhauer, der unter anderem vom Primat des Willens sprach, vom Unterbewusstsein und der Sexualität, von Verdrängung, Sublimierung, Rationalisierung, Affekten, Träumen und der freien Assoziation. Freud verstand es, viele Linien zusammenzuführen (…).«11

Wie das Unbewusste das Ich austrickst

Am 4. November 1899 veröffentlicht Freud mit der Traumdeutung ein frühes Hauptwerk – das zu Werbezwecken auf 1900 vordatiert wird. Darin stellt er unser nächtliches Kopfkino vor allem als erotisch motiviert dar; so sei zum Beispiel die Treppe ein »sicheres Koitussymbol«. Träumen bedeute Arbeit, die darin bestehe, peinliche Themen so umzuformen – etwa den Geschlechtsverkehr in das Besteigen einer Treppe –, dass sie den Zensor des Bewusstseins passieren könnten.

Dieser Umgang mit innerem Widerstand ist auch der Kerngedanke weiterer Schriften wie Zur Psychopathologie des Alltagslebens (1904) sowie Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten (1905). Alltägliche Lapsi wie zum Beispiel der berühmte Freud’sche Versprecher beweisen demnach, dass das Unbewusste seinen Aufpasser – das Ich – immer mal wieder austrickst. Die Freude an saftigen oder bösartigen Witzen erklärt sich aus dem »Lustgewinn«, den sie verschaffen, weil Erzähler und Zuhörer sich »Hemmungs- und Unterdrückungsaufwand« sparen. Im selben Jahr veröffentlicht Freud auch seine Sexualtheorie mit dem Phasenmodell der Lust: von der oralen über die anal-sadistische, phallisch-ödipale und Latenzperiode – in der das Kind lernt, seine sexuellen Energien anders zu kanalisieren, was die Grundlage für »alle kulturellen Leistungen« sei – bis hin zur genitalen Phase.

Die Psychoanalyse ist einerseits eine Provokation, weil Freud mächtige Institutionen und tradierte Überzeugungen infrage stellte. Zum Beispiel die, dass es eine scharfe Grenze zwischen Normalität und Abweichung gebe, zwischen »natürlichem« Sex und Perversionen, zwischen Hetero- und Homosexualität. Freud stellt aber nicht nur das medizinisch-naturwissenschaftliche Weltbild der Ärzteschaft zur Disposition. Er macht mit seiner Redekur auch dem Klerus auf dem Markt fürs Seelenheil Konkurrenz, mit einer nicht moralisierenden, sondern eben analytischen Haltung. Und er irritiert seine Zeitgenossen mit der Botschaft, dass sie nicht mehr Herr ihres eigenen Oberstübchens seien, sondern Gefangene frühkindlicher Triebe.

Das psychoanalytische Credo lautet: Tief in unserem Innern tobt ein Kampf. Das, was wir eigentlich wollen, dürfen wir nicht. Die Folge ist permanente Unzufriedenheit, ein Neurotizismus, der nicht heilbar ist, allenfalls domestizierbar, etwa durch Triebsublimierung in Form von Arbeit. Die Verwandlung von »hysterischem Elend in gemeines Unglück« ist laut Freud das höchste zu erreichende Ziel. Dieses pessimistische Weltbild wird er mit dem Titel seines Spätwerks Das Unbehagen in der Kultur auf den Begriff bringen.

Freud stößt sein Publikum also einerseits vor den Kopf, macht ihm andererseits aber auch ein attraktives Angebot, die sich verändernde Welt nach der Jahrhundertwende mit anderen Augen zu sehen. Es ist eine Epoche der Umbrüche: Wissenschaft, Technik und Industrie entwickeln sich in Mitteleuropa, Großbritannien und den USA rasant. Großbanken und Konzerne entstehen, erstmals in der Menschheitsgeschichte wird ein Überschuss in nennenswerter Größe produziert. Die Beziehungen zwischen den Geschlechtern in bürgerlichen Kreisen ändern sich, sie werden zunehmend romantisiert. Junge Leute und Frauen sehnen sich nach größeren Freiheiten, eine privilegierte Avantgarde probiert neue Lebensformen aus. Viele Menschen sind einerseits gespannt darauf, was die neue Zeit ihnen bringen wird, aber auch verunsichert.

Es herrscht sowohl Fortschrittseuphorie als auch -furcht. Der charismatische Freud lockt sein meist städtisches intellektuelles Publikum in diesen aufregenden Zeiten mit einer faszinierenden Botschaft, die Eli Zaretsky so analysiert: »Wie die Elektrizität, der Film und das Automobil – die charakteristischen Neuerungen der zweiten industriellen Revolution – symbolisiert das Freud’sche Unbewusste die Freiheit des Individuums von räumlichen und zeitlichen Begrenzungen.«12

In uns allen schlummern pikante Geheimnisse

Vor allem deutet Freud die Familie neu und bereichert sie um eine spannende Story. Während Marx Wirtschaft und Politik als Kampfzone identifiziert, ist es für Freud das ganz und gar nicht traute Heim mit all den dort unter der Oberfläche brodelnden sexuellen Energien. Diese Vorstellung erscheint vielen unerhört, verleiht dem Alltagsleben aber auch unerwartete Brisanz. Freud lädt das Private enorm mit Bedeutung auf. Seither wird die Seele des Menschen, werden seine Befindlichkeiten, Schwächen, Macken, Störungen, Leiden und Konflikte pausenlos untersucht, behandelt beschrieben und bis zum Überdruss öffentlich ausgebreitet. Man denke nur an all die berühmten und weniger berühmten Leute, die, wie unter Geständniszwang, Intimes von sich preisgeben, nicht auf der Couch des Therapeuten, sondern alltäglich im Fernsehen und in der Annahme, dass sich das Publikum für ihre Bekenntnisse interessiere.

Freuds großes Thema, die Sexualität, liegt nahe und ist noch aus anderem Grund für den Forscher dankbar. Zum einen, schreibt der Sozialphilosoph Karl Reitter, habe es sich um ein Tabuthema gehandelt, »das mit Lügen und Ängsten, mit Unwissenheit und Körperfeindlichkeit, mit Doppelmoral und Entsagung (es gab keine Verhütungsmittel) und oft mit Frigidität und Potenzproblemen gekoppelt war. Vor diesem Hintergrund drängte sich sexuelle Aufklärung als Therapie geradezu auf. Zum anderen füllte die Sexualität theoriestrategisch eine klaffende Lücke. Sie bot sich an als die ideale Brücke (…) zwischen Körper und Seele, die zum naturwissenschaftlich-biologischen Fundament wurde. In der Libido waren Körper und Seele, Energien (Abfuhr) sowie Entwicklungen im Unbewussten und Bewussten (Lust) involviert. Es schien sich eine Lösung abzuzeichnen, Leib und Seele monokausal und physikalisch erklären zu können.«13

Hollywood ist verrückt nach Freud

Allerdings ist es nicht in erster Linie die therapeutische Theorie oder Praxis, der die Psychoanalyse ihren Siegeszug verdankt, sondern die Kulturindustrie. Für sie erweist sich das detektivische Herangehen Freuds, seine Suche nach verborgenen Ursachen für Konflikte, als »ausgesprochen produktiv, da alles und jedes bedeutungsvoll werden konnte«, so die Soziologin Eva Illouz. »Weil ein Gefühl eine wichtige Rolle im eigenen Seelenleben spielen konnte, ohne dass man sich dessen bewusst sein musste, eröffneten sich nahezu grenzenlose Möglichkeiten der Interpretation des Selbst (und der Interpretation anderer).«14

Zur Popularisierung des therapeutischen Denkens tragen wesentlich Künstler, Theater- und Werbeleute, Schriftsteller und Filmemacher in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg bei. Mit Geheimnisse einer Seele wird von Georg Wilhelm Pabst 1926 der erste abendfüllende psychoanalytische Film in Berlin uraufgeführt. Es ist der Auftakt für viele weitere freudianisch inspirierte Produktionen der Unterhaltungsbranche – von Thrillern des Großmeisters Alfred Hitchcock wie Vertigo (1958), Psycho (1960) und Marnie (1964) bis hin zu David Chases postmoderner TV-Serie Die Sopranos um Tony Soprano, den Mafia-Boss, der unter Panikattacken und seiner bösartigen Mutter leidet (1999–2007).

Freuds 1923 erstmals vorgestelltes Strukturmodell der Psyche – mit dem Es, das für die Triebwelt steht, dem Über-Ich als Gewissensinstanz und dem Ich, das diese widerstreitenden Kräfte integrieren soll – ist auf unterschiedliche Weise interpretierbar und regt viele Denker an. Wenn man von der Vorstellung des übermächtigen Eros einmal absieht, hat Freud ein starkes Bild für die inneren Kämpfe des Menschen in für ihn unerfreulichen Verhältnissen gezeichnet. Manche Psychoanalytiker wie Erich Fromm und Wilhelm Reich – später auch die Philosophen und Soziologen Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, die am Frankfurter Institut für Sozialforschung die kritische Theorie begründen – versuchen eine Verbindung zum Marxismus herzustellen. Freud selbst hat dafür kein Verständnis: Sein Kosmos ist durch und durch bürgerlich.

Allerdings hat er mit der Erfindung des therapeutischen Diskurses, ohne dies zu ahnen und zu beabsichtigen, einen nicht unerheblichen Beitrag zur Emanzipation der Frauen geleistet – dieser Ansicht ist jedenfalls Eva Illouz. »Die Psychologie«, schreibt sie, »privilegierte mit ihrer Betonung des Sprechens und der Gefühle auf natürliche Weise Fähigkeiten, die gesellschaftlich als typisch weiblich definiert waren, wie beispielsweise die Fähigkeit zur emotionalen Selbstbeobachtung und zur Verbalisierung von Gefühlen; und sie privilegierte ebenso die zentrale Stellung, die Frauen der Sprache in intimen Beziehungen zuerkannten.«15 Freud ist seiner Zeit in vielerlei Hinsicht voraus. So setzt er auf die heute im Wirtschaftsleben gern bemühten Soft Skills, lange bevor man sie so nannte.

Von der Weltformel zu profaner Lebenshilfe

Der Erfinder der Psychoanalyse hat auch einen Sinn für etwas, das man heute Markenführung nennt: Er schart einen Kreis von Anhängern um sich, die seine Ideen verbreiten – aber ja nicht von ihnen abweichen dürfen. Ab 1902 trifft sich wöchentlich in Freuds Wohnung in der Berggasse 19 im neunten Wiener Bezirk die psychologische Mittwochsgesellschaft, Keimzelle der Bewegung, die bald weltweit Aufmerksamkeit findet. Freud agiert wie ein Glaubenswächter; er duldet keine anderen Propheten neben sich. Die Idee seines Schülers Alfred Adler, das Triebkonzept um soziale Aspekte zu ergänzen, bezeichnet er als »Ketzerei«. Adler gründet mit der Individualpsychologie seine eigene Schule.

Auch der in Zürich praktizierende und lehrende Psychiater Carl Gustav Jung, der aus der sexuellen Energie der Libido Seelenenergie machen möchte, kündigt Freud schon bald die Freundschaft. »Ich erinnere mich noch lebhaft, wie Freud zu mir sagte: ›Mein lieber Jung, versprechen Sie mir, nie die Sexualtheorie aufzugeben. Das ist das Allerwesentlichste. Sehen Sie, wir müssen daraus ein Dogma machen, ein unerschütterliches Bollwerk.‹ Das sagte er zu mir voll Leidenschaft und in einem Ton, als sagte ein Vater: ›Und versprich mir eines, mein lieber Sohn: geh jeden Sonntag in die Kirche!‹«16

Doch dieser Appell fruchtet weder bei Jung, der mit der Analytischen Psychologie seinen eigenen Weg geht, noch bei vielen anderen Vertretern des therapeutischen Denkens – vor allem in den USA. Dort erreicht Freud zwar seine größte Wirksamkeit, die Verwandlung seiner Welterklärungstheorie in profane Lebenshilfe aber kränkt ihn. Dabei ist er maßgeblich an der Trivialisierung beteiligt. Freud reist 1909 auf Einladung der Clark University in Worcester, Massachusetts, zu einer Psychologie-Konferenz, bei der er geehrt wird und einige Vorträge hält. Es ist sein erster und zugleich letzter Besuch der USA. Unter den mitreisenden Wissenschaftlern sind viele, die in der akademischen Welt Rang und Namen haben, eben auch William Stern, den die New York Times, anders als Freud, in ihren Meldungen über die Ankunft prominenter Passagiere aus Übersee erwähnt.

Freud nutzt seine Chance in der Neuen Welt – passt seine Vorlesungen zu diesem Zweck allerdings »stellenweise bis an die Grenze zur Karikatur« (Eli Zaretsky) dem amerikanischen Geschmack an.17 So betont er unter anderem den angeblichen Optimismus und die leichte Handhabbarkeit der Psychoanalyse. Sein Auftritt kommt in den USA nicht nur deshalb gut an, sondern auch weil es dort bereits Psychotherapie gibt: in Form einer medizinisch-spirituellen Laienbewegung, die »durch den Geist heilen will«. Auch ist die amerikanische Ärzteschaft offen gegenüber der neuen Methode aus Europa. Sie sieht in ihr nämlich die Chance, den Laien das Geschäft abzugraben.

Als wichtiger früher Multiplikator fungiert Abraham Brill, der Freuds Werk übersetzt und die Psychoanalyse unermüdlich in Fach- und Publikumszeitschriften bewirbt. Bereits 1911 wird die Amerikanische Psychoanalytische Vereinigung gegründet, die sich zu einer einflussreichen Organisation entwickelt. Analytiker machen vor allem als Psychiater Karriere und verändern das Berufsbild. Vor Freud waren sie hauptsächlich in Nervenheilanstalten für sehr kranke Patienten zuständig. Nun kehren sie den »Irrenhäusern« den Rücken und lassen sich mit eigenen Praxen nieder, um weniger kranke Patienten ambulant zu behandeln. In den fünfziger Jahren beherrschen Analytiker das Geschäft mit Psychotherapie in den USA uneingeschränkt. Voraussetzung für die Tätigkeit ist in aller Regel ein abgeschlossenes Medizinstudium.

Geburtshilfe für den psychologischen Menschen

Allerdings entwickeln sich therapeutische Theorie und Praxis in den USA rasch in eine Richtung, die Freud bei aller Geschmeidigkeit missfällt. Er hält es »nämlich gar nicht für wünschenswert, dass die Psychoanalyse von der Medizin geschluckt werde und dann ihre endgültige Ablagerung im Lehrbuch der Psychiatrie finde (…). Sie verdient ein besseres Schicksal und wird es hoffentlich haben. Als ›Tiefenpsychologie‹, Lehre vom seelisch Unbewussten, kann sie all den Wissenschaften unentbehrlich werden, die sich mit der Entstehungsgeschichte der menschlichen Kultur und ihrer großen Institutionen wie Kunst, Religion und Gesellschaftsordnung beschäftigen.«18

Psychotherapie allein ist Freud zu wenig, er will mehr, will, wie Marx, den Weltenlauf erklären. Doch in den Vereinigten Staaten herrschen Puritanismus, Pragmatismus und das schon in der Unabhängigkeitserklärung formulierte Versprechen, dass jeder seines eigenen Glückes Schmied sei. Das verträgt sich nicht mit Freuds pessimistischer Weltanschauung und seiner Betonung des Sexuellen. Gegen seinen Willen entsteht eine amerikanische, konservative, medizinisch geprägte Psychoanalyse mit dem Ziel, Symptome zu kurieren und das Individuum an die jeweiligen Verhältnisse anzupassen.

Freud beklagt sich bitter darüber am 7. August 1928 in einem Brief an seinen Weggefährten und Biografen Fritz Wittels: »Diese Wilden haben für Wissenschaft, die sich nicht unmittelbar in Praxis umsetzen lässt, wenig übrig. Das Ärgste an der amerikanischen Art ist ihre sogenannte Broadmindedness, bei der sie sich noch großherzig und uns engherzigen Europäern überlegen vorkommen, in Wirklichkeit nur eine bequeme Verschleierung ihrer vollkommenen Urteilslosigkeit.«19

Der Erfinder der Psychoanalyse stirbt am 23. September 1939 im Londoner Exil, wohin er nach der Besetzung Österreichs durch Nazi-Deutschland ausgereist war. Freud hat selbst prophezeit, dass die von ihm begründete Bewegung nach seinem Ableben eines langsamen Todes sterben werde, er hat sich darin nicht geirrt. In gewisser Weise wird sein Werk – wie so manches in Europa erfunden, in Amerika verändert und dann in die alte Heimat reimportiert – erst so richtig erfolgreich, seit es nach Belieben ausgebeutet, angepasst und instrumentalisiert wird. Denn die entschärfte Form der Analyse, die, wie Freud befürchtet hatte, von der Medizin geschluckt wurde, bekommt bald Konkurrenz von noch viel leichter handhabbaren und inhaltlich anspruchsloseren therapeutischen Schulen wie etwa der auf dem Behaviorismus beruhenden Verhaltenstherapie oder der von Carl Rogers aus dem positiven Denken20 abgeleiteten Gesprächspsychotherapie. Unter den Psychiatern gewinnen – nicht zuletzt als Folge massiver Beeinflussung durch die Pharmaindustrie – diejenigen die Überhand, die seelische Krankheiten biologisch deuten und mit Medikamenten zu kurieren suchen.

Auch kulturell verliert das psychoanalytische Establishment den Anschluss. Es steht den Protesten der Studenten in den sechziger Jahren – die Freuds Schriften wiederentdecken – verständnislos gegenüber. Der in dieser Zeit einsetzende Psychoboom geht an den Analytikern im Wesentlichen vorbei. Auch ihrem Versuch, an den Universitäten Fuß zu fassen, ist kein Erfolg beschieden.

Die akademische Psychologie – die sich als streng wissenschaftlich missversteht (siehe dazu Kapitel 3) – grenzt sich seit je streng von Freud ab. So mancher Psychologiestudent wundert sich, dass Psychoanalyse an den meisten Fakultäten nicht einmal auf dem Lehrplan steht. Das ist nicht nur borniert, sondern auch unfair, denn es war Freud, der wesentlich dazu beigetragen hat, die Psychologie »zur populärsten aller Sozial- und Naturwissenschaften« (Illouz) zu machen.21 Er war der Geburtshelfer des von dem Soziologen Philip Rieff so genannten und heute in den westlichen Gesellschaften dominierenden »psychologischen Menschen«, der im Wesentlichen nicht mehr durch seine sozialen Beziehungen definiert ist. Dieser Mensch ist ständig – und vergeblich – auf der Suche nach sich und dem persönlichen Glück. Seine Religion ist die Psychologie.

Der Vermessungsingenieur

William Stern ist einer der großen Vergessenen der Wissenschaftsgeschichte. Er gehörte zu jener Generation Forscher, die, aus der Philosophie kommend, sich dem jungen Fach Psychologie in universitären Laboren zuwandten und es etablierten. Stern verließ den Elfenbeinturm immer wieder, weil ihn die Lösung praktischer Probleme reizte. Er war der Begründer der differenziellen Psychologie, die Unterschiede zwischen Menschen untersucht. Und er war maßgeblich an der Entwicklung von Methoden beteiligt, die versprachen, verschiedene Fähigkeiten zu erfassen, auch die allgemeinste: Intelligenz.

Sterns Psychotechnik ist eine Art Gegenprogramm zur Psychoanalyse: Über die menschliche Seele soll nicht spekuliert, sie soll vermessen werden. Der Forscher ist auf den ersten Blick eine weniger schillernde Persönlichkeit als Freud, seine Ideen erscheinen weniger spektakulär – aber sie bestimmen die heutige Gesellschaft mindestens ebenso stark wie der therapeutische Diskurs.

William Stern ließ sich mitreißen von dem Aufbruchsgeist, der um 1900 in Deutschland herrschte. Als liberaler Jude und deutscher Patriot glaubte er an den wissenschaftlich-technischen Fortschritt. Er war ungemein produktiv und erfindungsreich und erschloss mit psychologischen Tests ein bis heute lukratives Geschäftsfeld. »Ein Macher, ein eminent praktischer Mann, einer, der zupackte und die Dinge regelte« – so bezeichnet ihn Martin Tschechne in seiner biografischen Studie.22 Stern selbst verkündete sein Programm überschwänglich in Form einer Zeitdiagnose: Das Neue an dieser Ära sei »eine weitgehende Psychologisierung des gesamten menschlichen Lebens. Die nichtpsychologischen Unterscheidungsmerkmale zwischen Mensch und Mensch, die früher ganz überwiegend alles Lebensschicksal bestimmten: die Verschiedenheit des Besitzes und der Herkunft treten zurück; an ihrer Stelle sollen die psychischen Fähigkeiten in früher unbekannter Weise entscheidend wirken.«23

Er entwarf also einerseits ein optimistisches Programm für die Zukunft, in der die Menschen aufgrund wissenschaftlicher Vernunft regiert werden sollten. Andererseits war Stern von Skrupeln geplagt, weil er erkannte, dass psychologische Messmethoden dem Individuum nicht gerecht werden können. Er verstand sich zeit seines Lebens auch als Philosoph und war damit einer der letzten Psychologen dieser Art. Stern gehörte zu den Vertretern des Personalismus, einer philosophischen Denkrichtung, die die Entscheidungsfreiheit des Einzelnen betont – während die Experimentelle Psychologie nur »Versuchspersonen« kennt, die auf von außen kontrollierte Reize reagieren sollen. Ein eigentlich unlösbarer Widerspruch, der Stern allerdings nicht von der Psychotechnik abhielt; er warnte nur immer wieder davor, dass sie Selbstzweck werden könnte. Genau das trat ein. So wurde er sehenden Auges zu einem der Väter eines bürokratischen Psychologismus, der mit seinen Testbatterien, Selektions- und Überwachungstechniken Schulen, Universitäten und Unternehmen erobert hat.

Ein Musterknabe macht Karriere

Louis William Stern wird 1871 als einziges Kind des erfolglosen Unternehmers Sigismund Stern und dessen Frau Rosa in Berlin geboren. Ebenso wie in der Familie seines Widerparts Freud ist das Geld bei den Sterns knapp, Bildung aber teuer. William hat ein enges Verhältnis zur Mutter (auch dies eine Parallele zu Freud) und orientiert sich stark am verstorbenen Großvater Sigismund Stern (1812–1867), einem Reformpädagogen und Vordenker der jüdischen Reformgemeinde in Berlin. Dieser bedeutende Mann scheint William Stern eher ein Vorbild als der glücklose Vater gewesen zu sein. Die Schule meistert er mit Bravour, man würde ihn heute wohl als hochbegabt bezeichnen. In der Rückschau auf seine Jugend wird er sich selbst als »altklug« und als »Musterknabe« charakterisieren.

Stern studiert in seiner Heimatstadt Philologie, Philosophie und Psychologie und promoviert 1893 über ein kulturwissenschaftliches Thema: »Die Analogie im volkstümlichen Denken«. Danach wendet er sich den damals sehr beliebten psychologischen Experimenten zu und wechselt an die Universität Breslau, wo er ab 1907 als außerordentlicher Professor lehrt und vom Hörergeld lebt, das die Besucher seiner Vorlesungen zahlen müssen. Um einen Lehrstuhl zu erhalten, hätte er sich taufen lassen müssen, was er ablehnt. In diesem Punkt ist er konsequent.

Es ist die Zeit, in der sich die junge Wissenschaft Psychologie von ihrer Mutter, der Philosophie, emanzipiert. Die akademischen Psychologen setzen auf Methoden aus der Naturwissenschaft: Sie suchen im Labor nach kausalen Ursachen für das, was Menschen ausmacht. Dazu werden vor allem Wahrnehmungsexperimente angestellt. Sterns Habilitationsschrift behandelt das Thema Veränderungsauffassung und untersucht beispielsweise, ab wann Probanden die Verdunkelung eines bestimmten, zu fixierenden Objekts registrieren.

Das ehrgeizige Ziel solcher Experimenten ist, die letzten Elemente zu identifizieren, aus denen die psychische Lebenstätigkeit besteht. Viele der gewonnenen Ergebnisse lassen sich allerdings nicht mit der Vorstellung einer »schablonisierten Menschenseele« (Stern) vereinbaren; sie weisen auf die Unterschiede zwischen Individuen hin.24 Diese Unterschiede macht er zu seinem Thema.

Im Jahr 1900, kurz nach Freuds Traumdeutung, erscheint seine Schrift Über die Psychologie der individuellen Differenzen, eine Art Grundlegung des neuen Fachs, die Stern bekannt macht und die in ihrer überarbeiteten Form 1911 zum Standardwerk wird. Sein Thema passt ebenso wie das von Freud in die Zeit der beginnenden Individualisierung. Die Wirtschaft braucht qualifizierte Arbeitskräfte, Bildung bekommt einen höheren Stellenwert, und die Psychotechnik liefert scheinbar exakte Methoden, mit deren Hilfe sich herausfinden lässt, welche Fähigkeiten in Menschen schlummern, für welche Aufgaben sie sich eignen – und für welche nicht.

Stern hat den Anspruch, das mit Respekt vor dem komplexen Gegenstand zu tun. In seinen Büchern und Aufsätzen ist viel von »Selbstbesinnung« des Forschers die Rede; er warnt davor, den Menschen als Untersuchungsgegenstand zu unterschätzen. Später wird er zu der Erkenntnis kommen: »(…) die eigentliche ›Individualität‹, deren Erfassung ich doch als das Endziel hingestellt hatte, ist auf dem differentiell-psychologischen Wege nicht erfassbar.«25