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In "Der Tempel" entführt Hermynia Zur Mühlen die Leser in eine faszinierende Welt voller Spannungen zwischen Tradition und Modernität. Der Roman, reich an symbolischer Bildsprache und psychologischer Tiefe, schildert die Erlebnisse der Protagonistin, die in einem historischen Kontext nach ihrem Platz in einer sich wandelnden Gesellschaft sucht. Durch die geschickte Verwebung von realistischen und fantastischen Elementen spiegelt der Text die inneren Konflikte und äußeren Herausforderungen wider, die die Figuren durchleben, und bietet so einen kritischen Blick auf die sozialen und kulturellen Umbrüche ihrer Zeit. Hermynia Zur Mühlen, eine deutsch-österreichische Schriftstellerin des frühen 20. Jahrhunderts, war bekannt für ihren scharfen Blick auf soziale Themen und ihre Fähigkeit, komplexe Charaktere zu entwickeln. Ihre Erfahrungen als Frau in einer männerdominierten Gesellschaft und ihre politischen Überzeugungen flossen maßgeblich in ihre Werke ein. "Der Tempel" entstand in einer Zeit, in der viele Frauen begann, ihre Stimme zu erheben und ist daher auch ein Manifest für weibliche Identität und Selbstbestimmung. Leserinnen und Leser, die sich für tiefgründige, literarisch anspruchsvolle Werke interessieren, werden in "Der Tempel" eine packende Auseinandersetzung mit der Suche nach individueller und kollektiver Identität finden. Dieses Buch ist nicht nur ein literarisches Erlebnis, sondern auch ein wichtiger Beitrag zur feministischen Literaturgeschichte, der zum Nachdenken anregt und Perspektiven eröffnet. In dieser bereicherten Ausgabe haben wir mit großer Sorgfalt zusätzlichen Mehrwert für Ihr Leseerlebnis geschaffen: - Sorgfältig ausgewählte unvergessliche Zitate heben Momente literarischer Brillanz hervor. - Interaktive Fußnoten erklären ungewöhnliche Referenzen, historische Anspielungen und veraltete Ausdrücke für eine mühelose, besser informierte Lektüre.
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Veröffentlichungsjahr: 2022
Blaßblauer Himmel spiegelt sich in den Pfützen. Auf dem großen Fluß treiben Eisstücke gleich funkelnden Glasscherben dahin. Birken werfen violette Schatten auf den rasch schmelzenden Schnee. Schwerer Duft der fruchtbaren Erde steigt sonnengewärmt empor. Stille Verheißung, Friede, hoffnungsfreudige Liebe überfluten mild die wintergefolterte Erde.
In den engen, dunklen Gassen des Judenviertels merkte man wenig von der Vorfrühlingspracht. Der schmelzende Schnee bedeutete Kot und Gestank; begrabener Schmutz wurde frei, dampfte im Sonnenschein, warf übelriechende Dunstwolken gegen die baufälligen Häuser. Auf den Gesichtern lag schwer die Sorge, erschreckte Augen blickten scheu die Straßen entlang, eine unbestimmte Angst schien hastende Füße in die Häuser zu treiben, ängstliche Mütter hielten die Kinder daheim und seufzten erleichtert auf, wenn der Mann abends heil die Stube betrat. Unausgesprochen, heimlich von bebenden Herzen geflüstert, lastete ein Wort auf der Stadt, rot wie Flammen und Blut, schwärzer als Winternacht. Unausgesprochen durchbrüllte es in greller Angst die Straßen, winselte in allen Ecken: Pogrom!
Wer hat es ausgesprochen? Welcher zitternden Lippe hat es sich entrungen, welch grimmer Zorn, welche boshafte Schadenfreude hat damit gedroht? Keiner weiß es; wie ein Ungeheuer hat es sich plötzlich erhoben, wächst an, streckt tausend Arme aus, wartet zusammengekauert auf den Augenblick des Sprungs.
»Wenn doch Ostern vorbei wäre,« flüsterten blasse Frauen und zählten furchtsam die Tage. Mittwoch, Donnerstag waren vorbei, noch zwei gefährliche Tage, Karfreitag, Karsamstag kamen heran. Wenn die Rechtgläubigen nicht mehr fasten mußten, wenn Eier und Schinken ihre Bäuche füllten, entspannten sich die Nerven; der Satte wurde sanft und träge. Noch ein Tag war zu fürchten.
Und dann, am Karsamstag-Abend brach der Sturm los. Erst war es ein böser Bubenstreich; Knaben kamen aus einem anderen Stadtviertel gezogen, warfen bei einem Krämer die Fenster ein: »Verfluchter Jud! Gottesmörder!« – Dies war nur erst das Signal. Schwarze Massen strömten jählings in die engen Gassen, mit Knüppeln und Revolvern bewaffnet, brüllend, tobend, alles überrennend. Sie drangen in die Häuser ein, Klagerufe, wilde Schreie stiegen auf. Stockhiebe sausten durch die Luft; weinende Kinder rannten wie toll durch die Gassen. Rohe Hände griffen nach schwarzen Frauenhaaren, Weiberkörper fielen, johlende Männer stürzten sich über sie. Der erste Tote, ein alter Mann, schien den Zorn der Angreifer bis zur Raserei zu steigern. »Erschlagt sie, die Hunde! Die grindigen Juden!« Tausend Stimmen vereinigten sich zu einem einzigen Schrei, tausend Hände zu einer mordgierigen Hand, tausend Seelen zu einem einzigen Haß. Die schwarze Flut stieg an, es gab kein Entrinnen. Wer sich zur Wehr setzte – mit der bloßen Hand, die Opfer besaßen keine Waffen–, wurde niedergeschlagen, wer um Gnade flehte, erlitt dasselbe Los. Verbissener Grimm, berechtigter Haß waren von kundiger Hand gegen Unschuldige gelenkt worden, um Schuldige zu schützen. Jahrhunderte alte Knechtung nahm Rache am Unterdrückten statt am Unterdrücker. Dunkel verwirrte Geister waren Werkzeug in unmenschlichen Händen.
Die Kosaken kamen wie immer zu spät. Ihre Pferde jagten über Leichen dahin, die Nagaika fiel auf Sterbende nieder. Die schwarze Flut wich zurück, verschwand; sie hatte ihre Arbeit getan. Tote mit zerschmettertem Schädel lagen zwischen den Trümmern ihres Heims, Verwundete stöhnten in Straßenecken; durch offene Türhöhlen gähnten schwarz verwüstete Stuben; halb wahnsinnige Menschen suchten in Schutt und Scherben nach den Ihren. Es begann zu dämmern. Aus schwarzer Angststille rang sich Weinen los, ungeheueres, verzweifeltes Weinen, und plötzlich begannen alle Glocken der Stadt zu läuten; Ostern; Christ ist erstanden!
Neugierige kamen, mitleidig die einen, voll böser Freude die anderen, alle nervengepeitscht, das Grauen genießend. Auch Nadja kam, in ihrem schönsten Sonntagsstaat, mit geschminkten Wangen, geschwärzten Augen. Sie schritt behutsam dahin, hob den Rock, trippelte mit ihren neuen Schuhen über Blut und Kot. Die Kosakenoffiziere kannten sie, nickten ihr lachend zu, wenn sie sich durch die Reihen drängte. Sie lächelte ein starres, etwas verächtliches Lächeln, schauderte bisweilen beim Anblick einer Leiche und strebte dennoch von unheiliger Neugier getrieben weiter.
Auf einer Türschwelle lag eine alte Frau mit eingeschlagenem Schädel, neben ihr hockte brüllend ein kleiner Knabe. Nadja blieb stehen. Das Kind erblickte sie und lief auf sie zu, packte sie beim Rock, barg den Kopf an ihren Knien. Unwillkürlich neigte sich Nadja zu ihm, streichelte den kleinen, schwarzen Kopf. »Warum weinst Du, mein Täubchen?«
Abgehackt, von Schluchzen zerrissen, kam die Antwort:
»Sie haben... die Großmutter... erschlagen.«
»Wo ist Dein Vater?«
»Weit fort, im kalten Land, hinter Mauern.«
»Und Deine Mutter?«
»Tot.«
»Du hast niemanden auf der Welt?«
»Nur die Großmutter.«
Nadja warf einen scheuen Blick auf die tote Frau, dann betrachtete sie das Kind. Ganz allein auf der Welt war es, ein armes, kleines Geschöpf, diesen blutgierigen Bestien ausgeliefert. Ihre Neugierde und ihr Ekel verwandelten sich allmählich in dumpfen Zorn, sie wußte nicht recht gegen wen. Das Kind hielt noch immer ihren Rock in den kleinen Händen fest. »Nimm mich mit«, bat es, »ich habe Angst, und Du bist gut.«
Nadja starrte abermals auf die tote Frau, und plötzlich stiegen ihr Tränen in die Augen. »Was soll ich mit Dir anfangen, Herzchen, Täubchen? Ich kann keinen kleinen Jungen brauchen.«
»Nimm mich mit, ich habe Angst.«
Ein Kosakenoffizier trat auf die beiden zu.
»Jagen Sie doch den Judenbengel fort, Nadja Fedorowna.«
Etwas im Ton der harten, spöttischen Stimme reizte die Frau.
»Weshalb?«
»Was hat unsere schöne Nadja mit schmutzigen Judenkindern zu schaffen?«
»Nimm mich mit,« bettelte leise, erschreckt die Kinderstimme.
»Kann ich das Kind zu mir nehmen, Gregor Stepanowitsch?« Nadja wußte selbst kaum, was sie zu dieser Frage trieb; war es der kalte Spott in des Mannes Gesicht, war es die bebende Angst, die ihre Knie umklammerte?
»Selbstverständlich, aber... Ich verstehe nicht...«
»Sie verstehen gar vieles nicht.« Weshalb fühlte sie, die rechtgläubige Russin, sich plötzlich eins mit diesem Kind eines verachteten Volkes? Weshalb sah sie in dem Manne vor sich den Feind, den hochmütigen, frechen Unterdrücker? Längst vergessene Bilder wirbelten in tollem Tanz durch ihr Gehirn; ein enger, übelriechender Kellerraum, ein kleines Mädchen mit langem, verrauftem Haar, ein blonder Knabe, der ihm Äpfel schenkte, eine kalte Winternacht, der blonde Knabe in Studentenuniform gefesselt zwischen Kosaken.
»Leb' wohl, kleine Nadja!« Die Kosaken reißen ihn fort, die Kosaken...
»Sie verstehen gar vieles nicht,« wiederholte sie schroff und griff nach der Hand des Kindes. »Komm, mein Täubchen, ich will Dich mitnehmen.«
Das Kind an der Hand, bahnt sie sich ihren Weg; hochmütig, herausfordernd. Der kleine Knabe hat zu weinen aufgehört, er hält ihre Hand fest, starrt scheu und dennoch vertrauensvoll zu ihr auf. An einer Straßenecke wartet Nadjas Droschke; des Kindes Augen leuchten, es ist noch nie in einer Droschke gefahren. Unbeholfen klettert es auf den Schoß der Frau und schlingt die Arme um ihren Hals.
»Wie heißt Du eigentlich?« fragt Nadja.
»Moische.«
Sie schüttelt sich. »Das geht nicht, alle würden mich auslachen. Von nun ab heißt Du Ivan, verstehst Du?«
Das Kind nickt erschrocken.
Die Nacht sinkt auf die Stadt nieder. Im Judenviertel schleichen verängstigte Gestalten aus Schlupfwinkeln und tragen ihre Toten fort. Halblautes unterdrücktes Jammern murmelt durch die Straßen. In der Ferne läuten die Osterglocken.
»Christ ist erstanden!« Der dicke Kaufmann aus Nischni Nowgorod küßt Nadja auf die Stirn, und sie entgegnet gläubig: »Er ist wahrhaft erstanden« und fügt hinzu: »Was haben Sie mir mitgebracht, Michail Michailowitsch?«
Er lacht und zieht ungelenk den schweren Pelz aus. »Herrliche Dinge, mein Täubchen, einen Ring mit einer schwarzen Perle und eine alte Uhr. Der Händler sagt, sie habe dem ersten Kaiser der Franzosen gehört.« Er wirft sich in einen bequemen Lehnstuhl, keucht und betrachtet Nadja mit vergnügtem Grinsen.
Nadja dehnt sich auf der Chaiselongue, bläst blaue Rauchwolken in die Luft, spielt mit einer Perlenkette, die ihren Hals schmückt. Sie lächelt ein wenig verlegen. »Michail...«
»Ja, Teuerste?«
»Es hat bei uns ein Pogrom gegeben.«
»So...«
»Ich glaube, es sind an die dreihundert Juden erschlagen worden.«
»Schadet nichts, es gibt ihrer immer noch zu viel.«
Nadja wirft einen hastigen Blick nach dem schweren seidenen Fenstervorhang, hinter dem sich etwas regt.
»Kleine Kinder haben dabei alle ihre Angehörigen verloren.«
»Man muß sich in Gottes Willen fügen.«
Nadjas schlanke Finger trommeln ungeduldig auf der Tischplatte.
»Ganz kleine Kinder, Michail Michailowitsch.«
Der dicke Kaufmann rückt unruhig auf seinem Sessel hin und her. Nadja betrachtet ihn von der Seite.
»Dauern Sie die kleinen Kinder nicht?«
Ein merkwürdiger Ausdruck huscht über des dicken Kaufmanns Gesicht, eine Art erschrockener Grimm, doch entgegnet er gleichmütig: »Alle Menschen verlieren früher oder später ihre Eltern.«
Nadja setzt sich mit einem plötzlichen Ruck auf.
»Wissen Sie, Michail Michailowitsch, was Gregor Stepanowitsch neulich über Sie gesagt hat?«
»Was denn?«
»Sie seien gar kein Russe, seien ein getaufter Jude!«
Des dicken Kaufmanns Gesicht erglüht plötzlich dunkelrot, er schnauft vor Wut, wendet die Augen von Nadja ab: »Der verfluchte Hund! So zu lügen! Ich, ein Jude! Es ist...«
Nadja lacht laut auf, ein listiger Zug legt sich um ihren kleinen Mund. »Komm heraus, Ivan!« ruft sie unvermittelt.
Der Vorhang wird zurückgeschlagen, das Kind tritt ins Zimmer, nicht mehr der kleine Moische, schmutzig, ungepflegt, mit zerrissenen Kleidern, nein, Ivan, in schwarzem Sammetanzug mit großem Spitzenkragen, gekämmtem Haar, sauberem Gesicht. Die großen schwarzen Augen blicken zwar noch immer schreckhaft, doch eilt das Kind voll Vertrauen zu Nadja hin.
»Was ist das?« Michail Michailowitsch starrt verblüfft auf den kleinen Eindringling.
»Das ist ein Judenkind.« Nadja betont jedes Wort, »dem sie die einzig lebende Anverwandte erschlagen haben. Ich habe es zu mir genommen. Sind Sie mir böse, Michail?«
Fragend, bereit beim geringsten Widerspruch in Zorn auszubrechen, blickt sie den dicken Kaufmann an. Der aber scheint seine ganze Umgebung vergessen zu haben. Starr hängen seine Augen an dem blassen Kindergesicht, bohren sich in die zarten Züge, die trotz ihrer Unreife bereits die Rasse verraten. Seine fetten, mit Diamantringen geschmückten Hände zittern, er schluckt hörbar.
»Nun?« Nadjas Stimme klingt ungeduldig.
Der dicke Kaufmann zieht sein Taschentuch hervor und schneuzt sich heftig. Dann murmelt er halb zu sich: »Ein Judenkind! Eine Waise!« Und plötzlich mit verbissenem Zorn: »Möge Gott sie strafen!«
Nadja lächelt befriedigt. »Sie sind also nicht böse, Michail?«
Echtes Gefühl verleiht dem gedunsenen, roten Gesicht plötzliche Würde. »Gott wird es Ihnen lohnen, mein Täubchen. Und... falls Sie einen Wunsch haben...«
So blieb denn der kleine Ivan bei Nadja, schlief in einem weichen Bett, aß sich täglich satt, erhielt von Nadjas Freunden die herrlichsten Spielzeuge und wurde allmählich ein verwöhnter kleiner Herr.
Die ersten Wochen lastete das Erlebte noch schwer auf ihm. Er schrak zusammen, wenn er laute Stimmen hörte, wollte nicht auf die Straße gehen, fuhr des Nachts schreiend aus dem Schlaf. Auch um die Großmutter weinte er, um die treue, nimmermüde Liebe, die seine Kindheit schützend umhüllt hatte. Nadja war zu ihm gut und zärtlich, doch fand sie nie Zeit, sich mit ihm zu beschäftigen. Das Kind verbrachte seine Tage einsam in dem schönen, hellen Zimmer, das die Frau für den Knaben eingerichtet hatte.
Nach einigen Monaten war das Vergessen wie ein schwarzer Schleier auf Ivans Denken gefallen. Er kannte kein anderes Leben, als die behagliche Üppigkeit in dem schönen Hause; wußte nicht mehr, daß er gehungert und gefroren hatte, daß ihm auf der Straße große böse Buben »grindiger Judenbengel« nachgeschrien und ihn mit Steinen beworfen hatten.
In Nadjas duftendem, prunkendem Schlafzimmer hing in der einen Ecke ein Muttergottesbild, vor dem Tag und Nacht ein rotes Lämplein brannte. Nadja lehrte das Kind, sich vor dem Bild verneigen und ein Kreuz schlagen.
»Wer ist die Frau mit dem Kind?« fragte Ivan.
»Die Muttergottes.«
»Und wer ist die Muttergottes?«
Nadja lächelte verlegen: »Die Mutter des Heilands. Wenn Du brav und fromm bist, wird sie Dich immer beschützen.«
»Beschützt sie Dich?«
»Sie wird sich meiner erbarmen.«
»Bist Du brav und fromm?«
Das schöne Gesicht drückte sich gegen den lockigen Kinderkopf und ward dunkelrot. »Nein, mein kleiner Ivan; deshalb mußt Du, wenn Du vor der Muttergottes das Kreuz schlägst, immer sagen: »Heilige Jungfrau, bete für Nadja, die arme Sünderin.«
Zwei Jahre waren verflossen, Ivan zählte nun bereits sechs Jahre. Er war zu einem schmächtigen Knaben mit blassem Gesicht und leuchtenden schwarzen Augen herangewachsen. Die Zeit war ihm vergangen wie ein Traum. Zwei herrliche Sommer in Peterhof, wo er am Meer spielen und baden durfte, zwei Winter in der Stadt. Nun kam der dritte Frühling, den er mit Nadja verlebte. Doch schien, er wußte nicht warum, nun plötzlich alles anders zu werden. Die vielen Besuche, die lachend in den Salons saßen und Champagner tranken, blieben aus; Nadja selbst, die sonst nie daheim war, wenn es keine Gesellschaft gab, saß tagelang allein in ihrem Schlafzimmer, lag müde und verdrossen auf dem Bett, starrte in den Spiegel und weinte bisweilen, was Ivan stets sehr erschreckte. Sie hustete, war mager geworden und wurde oft von jäher Ungeduld erfaßt, die auch den Knaben nicht verschonte.
Einmal fand er sie vor dem Spiegel sitzend und ihre Wangen mit einer roten Puderquaste betupfend. Die eine Wange war weiß, während die andere rosig schimmerte. Dies deuchte dem Kinde äußerst drollig und es lachte. Da warf Nadja die Puderquaste auf den Boden, vergrub das Gesicht in den Händen und begann zu schluchzen. »Du siehst es auch schon, Du!... Wie eine alte Hexe sehe ich aus, Nikolai Tichonowitsch sagte gestern zu mir: »Sie müssen sich erholen, Nadja.« Ich weiß, was das heißt. Keiner will mich mehr. Und früher, auf den Knien haben sie vor mir gelegen, die Hunde! Und Du lachst, herzloses Kind. Du wirst nicht lachen, wenn wir verhungern, in einer Dachkammer verrecken.« Sie sprang auf, trat vor den Spiegel und riß mit zitternden Händen den Schlafrock herunter. »Da, schau das an, diese Knochen, diese eingefallenen Brüste. Aus ist es mit mir, aus. Wir können betteln gehen. Und Du lachst!«
Das erschrockene Kind begann zu weinen; Nadja kniete sich neben es hin. »Weine nicht, mein Täubchen, mein Seelchen. Ich werde Dich nicht verlassen. Die Muttergottes wird mich gesund machen, und ich werde an Michail Michailowitsch nach Nischni Nowgorod schreiben, der soll uns nach dem Süden schicken. Und wenn ich dann zurückkomme, gesund und schön, dann werde ich es den Hunden schon zeigen. Weine nicht, mein kleiner Ivan.«
Der Brief ging ab, doch kam nicht die Antwort von Michail Michailowitschs klobiger Hand geschrieben, eine feine spitze Frauenschrift teilte »Fräulein Nadja Sklowski« mit, sie habe den ihr unverständlichen Brief erhalten und glaube, es müsse sich um ein Mißverständnis handeln, ihr verstorbener Gatte habe sich nie im Leben, bestimmt aber nicht seit seiner Verehelichung, mit leichtfertigen Personen abgegeben.
Der Sommer kam, drückende, luftlose Hitze lag über der Stadt, die Sonne brannte auf das Pflaster nieder, die Straßen wurden öder und menschenleerer, Nadja weinte immer öfter, häufig kamen Männer, die lange Bogen Papier vorlegten und etwas zu verlangen schienen, und dann widerhallten die schönen Räume von groben Worten und Beschimpfungen. Ivan flüchtete erschrocken in eine Ecke und kam erst wieder zum Vorschein, wenn die Männer abgezogen waren.
Eines Tages begann Nadja zu packen. Ivan freute sich, als er inmitten des Schlafzimmers den großen Koffer erblickte. »Gehen wir ans Meer?« fragte er freudig.
Nadja lachte böse auf. »Ans Meer! Ja, ich habe einen Palast am Meer gemietet; wir sind ja so vornehme Herrschaften. Weißt Du, wo wir hingehen? Dorthin, woher wir beide kommen, in den Schmutz, in den Rinnstein.«
Und dann weinte sie wieder und hustete und warf Kleider und Wäsche und Schuhe kunterbunt in den Koffer.
Ein schäbiger Einspänner brachte Nadja und den Knaben in ihr neues Heim. Keiner der Diener, keines der Mädchen begleitete sie. In einer engen, übelriechenden dunklen Gasse machte der Wagen Halt. Der Kutscher trug den Koffer unzählige schmutzige Treppen hinauf und schob ihn in eine kleine Stube, die er fast ausfüllte. Dann brummte er über das geringe Trinkgeld und stampfte schwerfällig die Stufen hinab; der Klang seiner Schritte hallte dumpf gegen die schwarzen Mauern.
Ivan sah sich im Zimmer um, ein Bett, ein Waschtisch, zwei Stühle und ein kleiner wackeliger Tisch. An den schmierigen Wänden hatte die Feuchtigkeit seltsame Muster gezeichnet, die Decke war rauchgeschwärzt. Die schwere Luft roch nach Kohl und Spülwasser. Eine beklemmende Angst erfaßte den Knaben, all dies hatte er schon einmal gesehen, doch gehörte zu diesem Bilde noch etwas anderes. Warum glaubte er, gleich würde die Tür aufgehen, böse Menschen würden eintreten, brüllen, fluchen, Drohungen ausstoßen? Jählings fühlte er sich ganz klein, ganz verlassen. Er schmiegte sich an die Frau, wollte bei ihr Schutz suchen. Nadja jedoch stand reglos in der Mitte der Stube, die verkrampften Hände hingen schlaff herab. Ihre Augen starrten vor sich hin, ein leises Keuchen drang aus ihrer Kehle. Wie unheimlich war diese Stille, wenn sie doch sprechen wollte, nur ein einziges Wort!
»Mütterchen,« er zupfte sie am Rock.
Sie schien es nicht zu bemerken, starrte mit geweiteten, verzweifelten Augen die Wand an.
»Mütterchen, wo werde ich schlafen?«
Sie lachte heiser. »Ja, mein Prinzlein, wo wirst Du schlafen? Auf dem Stuhl, auf dem Tisch, auf dem Boden vor meinem Bett?« Sie hustete heftig, dann sich jäh einer anderen Stimmung hingebend. »Sei nicht traurig, Ivan, es wird schon wieder besser werden. Und dann kaufen wir uns ein großes Haus und leben schöner als zuvor.«
Sie trat an den Koffer, warf Kleider und Wäsche achtlos auf den schmutzigen Boden und wühlte unter den Gegenständen etwas hervor. Es war das Muttergottesbild. Sie fand einen Haken an der Wand, befestigte das Bildnis und lachte plötzlich vergnügt wie ein Kind. »Es wird uns Glück bringen, Ivan, ich fühle mich schon besser. Mach aber das Fenster auf, hier ist es zum Ersticken.«
Sie schwankte, tastete sich an den Möbeln bis zum Bett und fiel bewußtlos auf die rauhe, schmierige Decke.
