Der blaue Strahl - Hermynia zur Mühlen - E-Book

Der blaue Strahl E-Book

Hermynia Zur Mühlen

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Beschreibung

Cardiff lächelte, als sei er mit etwas zufrieden. Der Diener brachte den schwarzen Kaffee und das Gespräch ward ein allgemeines. Frau Wareham griff mit den zarten weißen Fingern nach der Zuckerdose, — plötzlich ging das elektrische Licht aus, und das ganze Zimmer lag in Dunkel gehüllt. Durch das schwarze Dunkel sickerte ein blasses, blaues Licht, das immer stärker wurde, bis der ganze Raum von einem kalten blauen Schimmer erfüllt war. Frau Wareham schnellte mit einem unterdrückten Schrei von ihrem Sessel. Cardiff drückte hastig auf den Knopf der elektrischen Klingel. Einen Augenblick später war das blaue Licht verschwunden, die elektrischen Lampen brannten abermals, die Insassen des Zimmers starrten einander an.

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Seitenzahl: 269

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Der blaue Strahl

 

 

Hermynia zu Mühlen

 

 

 

 

Verlag Heliakon

 

2022 © Verlag Heliakon, München

Umschlaggestaltung: Verlag Heliakon

Titelbild: Pixabay (carloyuen)

 

Herstellung: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

 

www.verlag-heliakon.de

[email protected]

 

Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verfassers unzulässig. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Inhaltsverzeichnis

Titelseite

1. Ein Diner in Briar-Manor

2. Johnson von Scotland-Yard.

3. O’Keefe vom „Stern der Freiheit“

4. Eine Begegnung mit dem geheimnisvollen Strahl

5.Die verschwundenen Papiere

6. Die von Gespenstern heimgesuchte Bibliothek

7. Eine Glasscheibe wird zerbrochen

8. Wer hat Recht?

9. Ein Turm, der in den Himmel ragt

10.Geisterbeschwörung

11. Eine Kriegserklärung

12. Die Mächte prallen gegeneinander

13.Verhängnisvolle Stunden

14. Der Mann mit dem seltsamen Stock

15. Der blaue Strahl übernimmt die Rolle der rächenden Gerechtigkeit

16. Der Phonograph spricht

17. Tote Vögel

18. Der Mann, der in seine eigene Kasse einbricht

19. Der blaue Strahl gehorcht

20. Der Herr über Leben und Tod

21. Ein Besuch im Turm der Cardiff-Werke

22. Der blaue Strahl wird enthüllt

23. Flammen

24. Epilog

1. Ein Diner in Briar-Manor

 

»Welch eine furchtbare Nacht«, sagte Herr Cardiff, indem er sich von dem großen Fenster abwandte und für die einzige Dame der Gesellschaft einen Lehnstuhl ans Feuer rückte.

Der Dezembersturm fegte heulend durch den Garten, warf sich wie ein Mauerbrecher gegen das alte graue Steinhaus. Fensterscheiben klirrten, das Holzwerk ächzte; durch die schwarze Winternacht flog der Wind, stöhnend, wie eine verlorene Seele.

Das furchtbare Unwetter verlieh dem behaglichen Salon von Briar Manor einen noch größeren, traulicheren Reiz. Herr Cardiff und seine Gäste hatten eben das Speisezimmer verlassen. Auf des ältlichen Fabrikanten schwerem, tief gefurchtem Gesicht lag ein liebenswürdiges Lächeln, derweil er sich über Frau Warehams Stuhl beugte, dem Geplauder der reizenden Frau lauschte, das anscheinend belanglos war, aber dennoch kluge Ideen und eine starke Beobachtungsgabe in sich barg. Was auch immer Marion Wareham tat, es geschah stets bewusst, berechnend, auch — dies zumindest behaupteten ihre Feinde — tat sie niemals etwas umsonst. Bargeld, Schmuck, Einladungen waren ihr gleich willkommen. Sie besaß ein kleines Einkommen und war eine der beliebtesten Damen der Londoner Gesellschaft. Ihr Gatte, ein bekannter Parlamentarier, war vor drei Jahren plötzlich gestorben, hatte Marion mit fünftausend Pfund im Jahr, den Gelüsten einer amerikanischen Milliardärin und einem gewissen Einfluss in parlamentarischen Kreisen zurückgelassen.

Seit einiger Zeit dachte die reizende Witwe ernstlich daran, die zweite Frau Cardiff zu werden, und auch jetzt, da sie ihrem Gastgeber zulächelte, spann sie diesen Gedanken aus.

Die ungeheuren Cardiff-Werke, ein Prächtiges Haus, eine entzückende Villa in Nizza waren nicht zu verachten, selbst wenn man dazu einen fünfzigjährigen, doch gutmütigen, liebenswürdigen Gatten in den Kauf nehmen musste. Gutmütig, liebenswürdig? Winifred, seine einzige Tochter, sah nicht aus, als sei ihr Heim ein glückliches. Frau Wareham hatte beim Diner bemerkt, dass des Mädchens Augen rot gerändert waren, als ob sie geweint hätte, und die Kopfschmerzen, mit denen sie nach dem Essen ihr Verlassen der Gesellschaft entschuldigte, waren eine recht durchsichtige Ausrede.

Daheim mochte der alte Mann unangenehm genug sein; Marions scharfe blaue Augen betrachteten verstohlen sein Gesicht. Ein viereckiges Kinn, ein harter, grausamer Mund. Dieser Eindruck wurde noch bestärkt durch das Lächeln, das auf Herrn Cardiffs Gesicht erschien, als sich Dr. Thornton an ihn mit der Frage wandte: »Wo ist denn unser junger Freund, der Ingenieur? Ich hatte gehofft, ihn heute Abend hier anzutreffen.«

»Sie fragen mehr, als ich beantworten kann, Doktor. Herr Cregan liebt es, auf geheimnisvolle Art zu verschwinden. Man weiß nie, wo er sich befindet. Genau, wie man auch nicht weiß, wo er herkommt«, fügte er grimmig hinzu.

»Welch ein geheimnisvoller junger Mann«, meinte Frau Wareham lächelnd. »Sie scheinen ihn nicht allzu gerne zu haben?«

»Ich kann den Kerl nicht ausstehen, doch ist er so verdammt tüchtig, dass ich ihn nicht entbehren kann. Trotzdem ich nicht sicher bin, ob er im Betrieb nicht einerseits viel Schaden anrichtet. Die unwahrscheinlichsten Unfälle ereignen sich. Seit Cregan angestellt ist, sind die Arbeiter unmöglich geworden. Ich glaube, der Kerl ist ein Sozialist. Ich wollte, ich könnte mich seiner entledigen, doch zwingt mich unser Vertrag, ihn noch ein Jahr zu behalten. Morgen soll eine Versammlung der Arbeiter stattfinden, und der junge Teufel wird reden. Dies bedeutet Streik. Ich befinde mich ihm gegenüber in einer Lage, wie einst dem Erzbischof von Canterbury gegenüber der englische König, — ich weiß nicht mehr, welcher es war, der ausrief: »Wird mich denn niemand von diesem Pfaffen befreien?«

Bildete Frau Wareham es sich bloß ein, oder ruhten Cardiffs Augen wirklich mit einem seltsamen Ausdruck auf dem Gesicht des hochgewachsenen, grauhaarigen Mannes, der auf der anderen Seite des Kamins stand?

Der grauhaarige Mann, Herr Lock, der Polizeikommissar, machte eine unruhige Bewegung, zwang ein Lächeln auf seine Lippen; dann hob er jählings den Kopf, blickte seinem Gastgeber voll ins Gesicht.

Cardiff lächelte, als sei er mit etwas zufrieden.

Der Diener brachte den schwarzen Kaffee und das Gespräch ward ein allgemeines. Frau Wareham griff mit den zarten weißen Fingern nach der Zuckerdose, — plötzlich ging das elektrische Licht aus, und das ganze Zimmer lag in Dunkel gehüllt.

Durch das schwarze Dunkel sickerte ein blasses, blaues Licht, das immer stärker wurde, bis der ganze Raum von einem kalten blauen Schimmer erfüllt war.

Frau Wareham schnellte mit einem unterdrückten Schrei von ihrem Sessel. Cardiff drückte hastig auf den Knopf der elektrischen Klingel. Einen Augenblick später war das blaue Licht verschwunden, die elektrischen Lampen brannten abermals, die Insassen des Zimmers starrten einander an.

»Ein Gewitter«, sagte Dr. Thornton beruhigend zu Frau Wareham, die totenblass geworden war und am ganzen Leib zitterte.

»Unsinn, Mensch!« Cardiff trat ans Fenster, öffnete es. Ein Windstoß trieb etliche große Schneeflocken ins Zimmer.

»In den Elektrizitätswerken muss eine Störung gewesen sein«, bemerkte Lock.

»Vielleicht. Jedenfalls ist jetzt alles wieder in Ordnung. Unterhalten sie Frau Wareham, Doktor; ich muss mit Lock etwas Geschäftliches besprechen.«

Thomton trat an den Kamin, Lock erhob sich anscheinend etwas widerstrebend, folgte Cardiff in die anstoßende Bibliothek. Auf der einen Seite mündete die Bibliothek in Cardiffs Schlafzimmer, auf der anderen in ein kleines Boudoir, von dem es nur durch einen schweren Plüschvorhang getrennt war.

Cardiff setzte sich an den Schreibtisch, wies seinem Gast einen Stuhl an, schob ihm dir Zigarrenschachtel zu und sagte:

»Sie quälen mich schon lange damit, ich solle ihnen im Aufsichtsrat einen Posten verschaffen, und ich erklärte ihnen stets, dies ginge nicht an. Nun jedoch habe ich es mir anders überlegt: sie können schon morgen im Aufsichtsrat sitzen, wenn sie bereit sind, aus allen Kräften für das Wohl des Betriebes zu arbeiten, wenn …«

Er hielt inne, seine harten Augen durchforschten des anderen Gesicht.

»Wenn sie bereit sind, mich dieses verdammten Kerls zu entledigen, dieses Cregans, von dem ich eben sprach.«

»Wenn er die öffentliche Sicherheit gefährdet, so ist es meine Pflicht, ihnen zu helfen«, erwiderte Lock sanft, mit der Miene bewusster Tugend.

»Er gefährdet sie tatsächlich. Der Mensch ist ein verdammter Roten. Er treibt die Arbeiter zum Wahnsinn. Die Streikdrohung breitet sich durch das ganze Land aus.«

»Ich werde mir die Sache überlegen und …«

»Es gibt keine Zeit zum Überlegen«, unterbrach ihn Cardiff barsch. »Vor Morgen Mittag muss gehandelt werden, sonst ist alles verloren. Lassen sie den Kerl verhaften, ins Gefängnis werfen. Ihr Leute von der Polizei findet hierzu ja stets einen Grund. Bei der nächsten Sitzung des Aufsichtsrats …«

»Ich werde ihn morgen früh verhaften lassen.«

»Ich wusste ja, dass sie vernünftig sein würden.«

»Ich muss meine Pflicht erfüllen.«

»Schon recht, wir wissen ja alle, wie gewissenhaft sie sind. Es ist also alles erledigt?«

Der andere nickte.

»Dann wollen wir in den Salon zurückgehen.«

Als die beiden Männer zurückkehrten, plauderten Frau Wareham und der Arzt angeregt.

»Wir redeten eben über John Hay«, bemerkte die hübsche Witwe. »Ich behaupte, er sei ein Genie, und der Doktor will es mir nicht glauben. Was ist ihre Ansicht?«

»Er ist ein geschickter Chemiker, aber ein Genie? … Diese Irländer haben keine Ausdauer.«

»Ist er Irländer?«

»Ja.«

Ein seltsames Lächeln flog über Cardiffs Züge, da er fortfuhr: »Aber es beliebt ihm, den Engländer zu spielen. Wahrscheinlich hat er dafür seine Gründe. Haben sie Lust, eine Partie Bridge zu spielen, Frau Wareham?«

»Ja, gewiss.«

Sie setzten sich an den Spieltisch, nahmen die Karten auf.

»Caro«, sagte der Arzt.

 

* * *

 

Winifred Cardiff stand im Vorzimmer, sprach ernst mit einem der Diener. Ihr Gesicht war blass, ihre Hände zitterten.

»Ich weiß, dass das Wetter furchtbar ist, James«, sagte sie, »ich bäte Sie nicht, diesen Gang für mich zu machen, handelte es sich nicht um etwas äußerst Wichtiges. Sagen Sie Herrn Cregan, er solle sofort herkommen und im Garten warten. Ich werde ihn kommen sehen.«

»Ja, Fräulein.«

Der junge Diener kämpfte heldenmütig mit einem Lächeln. Ein Stelldichein, um diese Stunde, im Garten, bei diesem Wetter!

»Und sagen Sie, es handle sich um etwas äußerst Wichtiges, James. Und … und … James .… sagen Sie meinem Vater nicht, dass ich Sie fortschickte.«

»Nein, Fräulein.«

Der Diener schloss leise hinter sich die Tür und verschwand in der Dunkelheit.

Eine halbe Stunde später huschte Winifred in den Garten. Sie trug einen Pelzmantel, hatte einen schwarzen Schleier um den Kopf geschlagen.

Sie verweilte etwa eine Viertelstunde im Garten, gelangte unbemerkt ins Haus zurück.

Gegen elf Uhr brachen die Gäste auf, bloß Doktor Thomton blieb noch, und die beiden Männer sprachen etliche Minuten ziemlich erregt miteinander. Eardiffs Augen glühten vor Zorn, er schlug mit der Faust schwer auf den Tisch nieder.

»Wofür zum Teufel geben Sie denn so viel Geld aus, Thornton?« rief er. »Ich verstehe nicht, wo es hinkommt.«

»Fragen Sie dies lieber den verdammten Alten«, entgegnete der Arzt mürrisch. »Ein Blutegel ist nichts gegen ihn. Wollen Sie seinen letzten Brief sehen? Er wird alle Tage frecher.«

Der Arzt zog ein zerknülltes Stück Papier aus der Tasche.

»Schon gut; da lässt sich nichts machen. Genügen hundert?«

»Lieber zweihundert.«

Cardiff zog seine Brieftasche heraus. »Da haben Sie.«

Der Arzt steckte die Banknoten ein.

»Und die Bestätigung?« fragte Cardiff.

»Weshalb verlangen Sie immer diese verfluchten Bestätigungen? Erblickte sie jemand, so befänden wir uns in einer schönen Lage.«

Dennoch schrieb er etliche Worte auf ein Stück Papier, reichte es Cardiff. Dann erhob er sich. »Ich muss jetzt gehen, leben Sie wohl.«

»Wo ist das verlangte …«

»Ich habe es nicht bei mir; außerdem ist die Sache zu gefährlich; ich kann es Ihnen nicht geben.«

Ein hämisches Grinsen verzerrte Eardiffs Gesicht.

»Spielen Sie doch nicht den Narren. Ich weiß ja, dass Sie es in der Tasche haben. Sie würden es nie wagen, mich herauszufordern.«

»Wagen?« der andere lächelte unangenehm. »Ein merkwürdiger Ausdruck, mein lieber Cardiff.«

»Alte Geschichten könnten ans Tageslicht gezerrt werden.«

Das dunkle Gesicht des Arztes wurde blasser, ein angstvoller Ausdruck kam in seine Augen, auch seine Stimme klang verändert, da er sprach:

»Ich sagte ja nicht, dass ich es Ihnen nicht geben werde, möchte bloß wissen, wozu Sie es branchen.«

»Stellten Sie auch das erste Mal diese Frage an mich?«

Ohne ein weiteres Wort zog der Arzt drei kleine weiße Umschläge aus der Tasche. »Lassen Sie es um Gotteswillen nirgends liegen, wo es gefunden werden könnte.«

Cardiff nahm die drei kleinen weißen Umschläge, erhob sich, schritt zu einem Bücherschrank und ließ sie zwischen die Seiten eines großen Diktionärs gleiten. Thornton beobachtete jede seiner Bewegungen. Da Cardiff sich wieder umwandte, war sein Lächeln abermals voller Liebenswürdigkeit. »Ich muss Sie nun leider fortschicken, lieber Freund, habe noch zu arbeiten. Gute Nacht, kommen Sie morgen zum Lunch.«

Langsam schritt der Arzt die breite Treppe hinab und wurde von dem Diener hinausgelassen.

Cardiff verfügte sich in die Bibliothek und bemerkte mit Erstaunen, dass seine Tochter in einem Lehnstuhl am Kamin saß. Ein ärgerlicher Ausdruck verdüsterte sein Gesicht, er fragte barsch: »Was in aller Welt treibst du hier, Winifred? Ich glaubte, du seist schon längst zu Bett.«

»Ich muss mit dir sprechen, Vater.«

»Hättest du nicht bis morgen warten können?«

»Nein.«

Die Stimme des Mädchens klang ebenso hart wie die des Mannes, ihr blasses Gesicht verriet heftige Erregung.

»Ich saß im Boudoir, Vater, während du mit Lock in der Bibliothek sprachst. Hörte jedes Wort. Wie kannst du derart gegen Herrn Cregan handeln? Wie dich mit jenem Schurken Lock verbünden, der bereit ist, seine Seele um schmutziges Geld zu verkaufen? Oh, ich kenne ihn und kenne auch dich. Ich weiß auch, wie du diesen unglückseligen John Hay behandelst. Ich weiß nicht, welche Gewalt du über ihn hast, doch scheint er dein Sklave zu sein; alle seine Erfindungen nützen bloß dir, alle …«

»Schweig!« Cardiffs Gesicht rötete sich vor Zorn. »Schweig, sonst könntest du es bedauern. Es ist gefährlich, mit mir zu streiten, mein Kind. Ich …«

»Du würdest mich behandeln, wie du meine arme Mutter behandelt hast, mich zu Tode quälen. Auch ich würde vielleicht eines Tages tot im Bett gefunden werden, wie sie …«

»Wie wagst du …!«

Cardiff hob die Hand, als wolle er das Mädchen schlagen. Sie trat zurück, stieß gegen einen kleinen Tisch, auf dem eine Whiskyflasche und Sodawasser standen. Der Tisch fiel um, Cardiffs Zorn wuchs an. »Kannst du denn nicht aufpassen, dumme Gans!« schrie er. Dann öffnete er die Tür, rief hinaus: »French, French!« Der Kammerdiener erschien.

»Bringen Sie mir eine neue Flasche Whisky und Soda.«

»Ja, Herr Cardiff.«

»Oben scheint der Teufel los zu sein«, bemerkte der Kammerdiener zum zweiten Diener. »Der Alte ist rot vor Wut, und Fräulein Winifred ist weiß wie die Wand. Es sollte mich nicht wundern, wenn es zu Schlägen käme; einen Tisch haben sie schon umgeworfen. Wo zum Teufel hab ich den Kellerschlüssel hingetan?«

Er suchte eine Zeitlang nach dem Schlüssel. Angstvoll des Tadels über sein Säumen harrend, betrat er die Bibliothek. Zu seiner großen Erleichterung fand er das Zimmer leer. Cardiff war anscheinend in sein Schlafzimmer gegangen, denn die Tür stand offen. Der Kammerdiener stellte die Getränke auf den Tisch und ging.

Nach einer kurzen Weile kehrte er zurück, um Herrn Cardiff zu fragen, ob er noch etwas benötige.

Er betrat die Bibliothek, bereit, sich wegen seiner Saumseligkeit von vorhin zu entschuldigen, doch blieben ihm die Worte in der Kehle stecken.

Cardiff lag reglos auf dem Boden neben dem Schreibtisch.

Der Kammerdiener eilte zu ihm, beugte sich nieder. Das aschgraue Gesicht war im Tod erstarrt, die harten Augen stierten blicklos zur Decke auf.

Henry Cardiff, der Millionär, der Besitzer der berühmten Cardiff-Werke, war tot.

 

2. Johnson von Scotland-Yard.

 

Brian O’Keefe, der bekannte Reporter der Zeitung „Stern der Freiheit“, saß in seinem Redaktionszimmer, völlig in seine Arbeit vertieft. Von unten drang das Dröhnen und Donnern der gewaltigen Rotationsmaschine, erfüllte die Luft mit zitternden Lauten, die O’Keefes Herzen teuerer waren als die schönste Musik. Er liebte seinen Beruf, liebte das Gebrüll der Riesenmaschine, den Geruch der Druckerschwärze, die Berührung des noch feuchten Papiers. Dieser hochgewachsene, grauäugige junge Irländer war eine der bekanntesten Gestalten des journalistischen Londons; ein gebotener Kämpfer, ein Ritter der Feder, ein Rächer alles Unrechts. Seine Artikel rüttelten das Publikum auf, seine Hammerschläge, die er auf die müßigen Reichen niedersausen ließ, machten ihm viele Feinde.

Nun flog seine Feder über das Papier; wie meist, so war er auch heute überarbeitet, musste noch bis in die frühen Morgenstunden in der Redaktion bleiben. Auch der Morgen würde ihm keine Rast bringen; er hatte seinem Freund Cregan versprochen, bei dem Meeting zugegen zu sein, nachher musste er …

Das Telefon unterbrach seine Gedanken. Er griff nach dem Hörer. »Hallo! Bist du’s, Bob? Ja, O’Keefe. Wie? Ein Mord? Wer wurde ermordet? Cardiff? Unmöglich. Da muss ein Irrtum vorliegen. Die Leiche? Vor einer halben Stunde? Der Totenbeschauer ist im Hause? Gut, ich komme sofort.«

Er zog seinen Pelz an und eilte hinaus.

Da er in Briar-Manor anlangte, fand er dort den Totenbeschauer, einen Polizeiinspektor, zwei Polizisten, einen Arzt und Johnson, den bekannten Detektiv von Scotland-Yard. O’Keefe kannte Doktor Lord, und dieser berichtete ihm die Einzelheiten des Falles.

»Natürlich sieht es nach Mord aus«, meinte der Arzt. »Ein gesunder, kräftiger, fünfzigjähriger Mann stirbt nicht ohne vorhergehende Krankheit. Aber die Leiche weist keine Wunde auf, kein Zeichen der Gewalttätigkeit, von etlichen winzigen blauen Flecken abgesehen, die völlig belanglos sind. Kommen Sie mit ins andere Zimmer, dort werden die Diener verhört.«

Sie begaben sich ins Speisezimmer, wo der Kammerdiener eben verhört wurde.

»Um wieviel Uhr verließen die Gäste das Haus?«

»Gegen Elf. Herr Thornton blieb etwas länger, ich weiß nicht genau, um wieviel Uhr ich ihm die Tür öffnete.«

»Herr Thornton ist hier, wurde telefonisch gerufen«, bemerkte Johnson. »Wir können ihn später befragen.«

»Was geschah, nachdem die Gäste gegangen waren?«

»Herr Cardiff begab sich in die Bibliothek. Ich hörte ihn mit Fräulein Winifred sprechen. Beide schienen äußerst erregt. Herr Cardiff verlangte von mir Whisky und Soda, ich sah ihn und Fräulein Winifred in der Bibliothek; ich glaube, sie hatten eben gestritten. Ich konnte den Kellerschlüssel nicht finden, musste etwa zehn Minuten suchen. Als ich den Whisky brachte, hatte Fräulein Winifred das Zimmer verlassen, Herr Cardiff war im Nebenzimmer, die Tür stand offen. Ich stellte die Getränke nieder, ging. Sieben Minuten später kam ich zurück, um Herrn Cardiff zu fragen, ob er noch etwas benötige, und fand ihn tot auf dem Boden liegend.«

»Wieso wissen Sie, dass Sie genau nach sieben Minuten wiederkamen?«

»Ich schaute zufällig auf die Uhr.«

»Ich möchte einige Fragen stellen«, warf Johnson ein.

Der Polizeiinspektor nickte.

»Wie lange dienen Sie in diesem Hause, French?«

»Fast zwei Jahre.«

»Ist Ihnen je aufgefallen, dass sich Fräulein Winifred und ihr Vater nicht gut vertrugen?«

»Zuerst nicht. Frau Cardiff war eben gestorben, da ich herkam, und Fräulein Winifred war sehr traurig und still. Sie schien sich vor Herrn Cardiff zu fürchten. Seit einem Jahr jedoch, seit Herr Cregan in den Werken angestellt ist, schienen sich Herr Cardiff und Fräulein Winifred nicht zu vertragen. Sie stritten häufig und ich muss sagen, Herr Cardiff behandelte seine Tochter nicht gut.«

»Hatten die beiden auch gestern gezankt, ich meine vor dem Streit in der Bibliothek?«

»Ich weiß es nicht, bemerkte bloß, dass Fräulein Winifred beim Diner nichts aß und sich gleich nachher zurückzog.«

»Das genügt. Danke.«

Nun kam die Reihe an den zweiten Diener. Nachdem an ihn die üblichen Fragen gestellt worden waren, fuhr der Polizeiinspektor fort:

»Ereignete sich heute Abend hier im Hause etwas Außergewöhnliches?«

»Nein.«

»Kam jemand ins Haus.«

»Nein, Herr Inspektor, das heißt, nicht ins Haus, bloß in den Garten.«

»Wer?«

»Herr Cregan. Kurz nach dem Diner rief mich Fräulein Winifred, befahl mir, Herrn Cregan zu rufen. Ich sollte ausrichten, es handle sich um etwas äußerst Wichtiges. Herr Cregan kam mit mir, traf Fräulein Winifred im Garten.«

»Wie lange blieben die beiden dort?«

»Ich weiß es nicht, hörte Fräulein Winifred nicht heimkommen.«

»Ist Herr Cregan ein häufiger Gast dieses Hauses?«

»Nein; früher kam er ziemlich oft, aber in den letzten Monaten ließ er sich nicht mehr blicken.«

»Wo wohnt Herr Cregan?«

Der Diener nannte die Adresse, und der Polizeiinspektor flüsterte einem der Polizisten etwas zu, worauf dieser das Zimmer verließ.

»Wir werden auch Fräulein Cardiff verhören müssen«, bemerkte der Polizeiinspektor. »Das Mädchen tut mir leid, doch ist es nicht zu vermeiden. Wollen Sie, bitte, Fräulein Cardiff rufen.«

Winifred betrat das Zimmer; sie war sehr blass, ihre Augen waren rot Verschwollen. Sie zitterte am ganzen Körper, versuchte aber trotzdem ihre Fassung zu bewahren.

»Ich bedaure es sehr, Sie in Ihrem Schmerz belästigen zu müssen, Fräulein Cardiff«, begann der Inspektor freundlich.

»Wir werden Sie nicht mit vielen Fragen quälen, bitten Sie bloß um einige Einzelheiten.«

»Ja«, entgegnete das Mädchen tonlos, mühsam das Schluchzen beherrschend.

»Hatte Herr Cardiff ein Herzleiden?«

»Nein, mein Vater war vollkommen gesund.«

»Klagte er nie über Schmerzen, Unwohlsein?«

»Nein, im Gegenteil, erst gestern sagte er, er habe sich seit langer Zeit nicht so wohl gefühlt.«

»Als Sie ihn heute Abend verließen, bemerkten Sie an ihm etwas Außergewöhnliches?«

»Nein, er war etwas nervös, das war alles.«

Johnson warf dem Polizeiinspektor einen Blick zu und letzterer nickte. Der Detektiv wandte sich an Winifred:

»Weshalb schickten Sie heute Abend nach Herrn Cregan?«

Das Mädchen errötete, ihre Hände begannen zu zittern. Sie schien unfähig zu sprechen, stieß schließlich hervor: »Ich … ich … hatte mit ihm zu sprechen!«

»Kam er, da Sie nach ihm sandten.«

Winifred zögerte einen Augenblick, etwas in Johnsons Gesicht ließ sie eine Gefahr für Cregan ahnen. »Nein.« Ihre Stimme klang gepresst.

Der Detektiv und der Polizeiinspektor wechselten einen raschen Blick.

»Standen Herr Cardiff und Herr Cregan gut miteinander?«

Das Mädchen schien noch nervöser zu werden; sie verkrampfte die Finger ineinander.

»Ist … das heißt, nein. Sie waren häufig anderer Ansicht.

»Und trotzdem behielt Ihr Vater ihn im Werk?«

»Herr Cregan ist ein außerordentlich geschickter Ingenieur. Mein Vater sagte stets, er sei in den Werken unentbehrlich.«

»Wissen Sie, aus welchen Gründen die beiden einander nicht verstanden?«

»Nein, ich glaube, es waren zum Teil politische Differenzen, doch bin ich dessen nicht gewiss.«

»Und Sie selbst, — Sie müssen verzeihen, wenn ich indiskret erscheine — waren Sie mit Herrn Cregan befreundet?«

Winifred errötete, dann warf sie den Kopf zurück, sagte fest: »Wir sind verlobt.«

»War Herr Cardiff mit dieser Verlobung einverstanden?«

»Nein.«

»Hatte Ihr heutiger Streit mit Herrn Cardiff etwas mit Ihrer Verlobung zu tun?«

»Nicht direkt.«

»Weshalb sandten Sie um Herrn Cregan?«

»Ich möchte den Grund lieber nicht sagen.«

Johnson und der Polizeiinspektor redeten leise miteinander, das Wort Gegenüberstellung wurde hörbar.

»Einen Augenblick, Fräulein Cardiff.«

Der zweite Diener trat ein, der Polizeiinspektor wandte sich ihm zu.

»Sie sagten, Herr Cregan sei mit Ihnen zurückgekommen.«

» Ja.«

Der Polizeiinspektor blickte das Mädchen an.

»Was haben Sie hierauf zu sagen, Fräulein Cardiff?«

»Er … er … ja, er kam, blieb aber bloß zehn Minuten, kam gar nicht herein, entfernte sich lange, bevor unsere Gäste gingen.«

»Sahen Sie Herrn Cregan nachher noch einmal?«

»Ja«, erwiderte der zweite Diener. »Ich verließ das Haus gegen dreiviertel Elf, um einen Brief aufzugeben, und sah Herrn Cregan durch das kleine Gartentor kommen.«

»Und als Sie zurückkamen?«

»Ich sah ihn nicht mehr, doch war die Nacht sehr dunkel, ich konnte kaum meinen Weg durch den Garten finden.«

»Wäre es möglich, dass Herr Cregan im Garten versteckt war?«

»Ja.«

Winifried wurde plötzlich totenblass; blindlings streckte sie die Hand aus, um sich festzuhalten. Ein furchtbarer Gedanke durchzuckte sie, eine Idee, die sie nicht zu Ende zu denken wagte. Herr Thomton war der letzte, der verhört wurde. Er erklärte, seiner Ansicht nach sei der Tod durch einen Herzschlag hervorgerufen worden, es sei lächerlich von einem Mord zu reden, oder eine Obduktion zu verlangen.

»Wir wollen uns noch einmal die Bibliothek ansehen«, meinte Johnson. »Es wäre gut, wenn Fräulein Cardiff mitkäme.«

Die Leiche war mit einem Tuch zugedeckt, alles im Zimmer war unverändert geblieben. Der Polizeiinspektor trat an den Schreibtisch, durchsuchte die Laden. O’Keefe, der bisher stumm die Vorgänge beobachtet hatte, sah, wie Thornton unruhig im Zimmer auf und ab schritt, schließlich vor einem Bücherschrank stehen blieb. Er nahm einen Diktionär heraus, blätterte darin. »Gute Nerven«, dachte der Reporter. »Sein Freund ist soeben ermordet worden, und er sucht nach einem Wort.« Er beobachtete scharf den Arzt, sah, wie dieser dem Buch etwas entnahm, in die Tasche gleiten ließ. Doch schien er noch nicht zufriedengestellt, blätterte noch immer im Diktionär.

»Bitte, kommen Sie hierher, Herr Doktor«, sagte der Polizeiinspektor. »Wir haben etwas gefunden, das Sie uns vielleicht erklären könnten.«

Der Arzt stellte hastig das Buch zurück, etwas Kleines, Weißes fiel heraus, flatterte auf den Fußboden.

Winifred hatte regungslos in der Nähe des Schreibtisches verharrt. Nun schien sie plötzlich ihre Kraft zu verlassen; sie wankte zur Chaiselongue neben dem Bücherschrank, sank darauf nieder. Das Taschentuch, das sie in der Hand gehalten hatte, entglitt ihr, fiel zu Boden, bedeckte das kleine, weiße Etwas, das aus dem Buch gefallen war.

Der Polizeiinspektor reichte Thornton ein Stück Papier, das mit seltsamen Zeichen bedeckt war, fragte gleichzeitig: »Können Sie mir vielleicht sagen, was dies ist, Fräulein Cardiff?«

Winifred erhob sich, schlich langsam zum Schreibtisch.

O’Keefe eilte durch das Zimmer, bückte sich, hob das spitzenbesetzte Taschentuch auf. Er fühlte darunter etwas Hartes. Den anderen den Rücken drehend, zog er unter dem Taschentuch einen kleinen weißen Unischlag hervor, der ein Pulver zu enthalten schien. Weshalb hatte das Mädchen versucht, diesen Umschlag unter ihrem Taschentuch zu verbergen?

Der zweite Polizist erschien, meldete, Herr Cregan sei nicht daheim gewesen, doch habe er dessen Hauswirtin, Frau Smith, mitgebracht, für den Fall, dass ihre Aussage vonnöten wäre.

Der Inspektor kehrte ins Speisezimmer zurück und ließ Frau Smith eintreten.

»Wie lange wohnt Herr Cregan bei Ihnen?«

»Seit etwa acht Monaten.«

»Können Sie mir etwas Näheres über ihn sagen?«

»Er ist ein netter, stiller, junger Herr, äußerst fleißig. Wenn ihm aber etwas nicht passt, kann er furchtbar zornig werden.«

»Wann kam er heute Nacht heim?«

»Gegen Mitternacht. Die Kirchenuhr hatte bereits Zwölf geschlagen, als ich ihn kommen hörte.«

»Was tat er, nachdem er heimgekommen war?«

»Ich hörte ihn in seinem Zimmer umhergehen, dann kam er auf den Korridor. Ich öffnete die Tür ein wenig, spähte hinaus und sah, dass er seinen großen Pelz anhabe und eine Reisetasche in der Hand trage. Er schien äußerst erregt, versuchte sich eine Zigarette anzuzünden, doch zitterten seine Hände derart, dass er kaum das Streichholz halten konnte.«

»Wissen Sie etwas über seine Verwandten?«

»Nein.«

»Erhielt er viele Briefe?« »

»Ja, doch pflegte er sie stets sorgsam einzuschließen.«

»Das genügt. Danke.«

Frau Smith zog sich zurück, Die Männer starrten einander an.

»Ich sage Ihnen doch, es ist ein Fall von plötzlicher Herzschwäche," bemerkte Thornton ungeduldig.

»Und ich sage Ihnen, es ist ein Mord!" erwiderte Johnson schroff. »Mehr noch, ich kann Ihnen auch den Täter nennen.«

»Wen meinen Sie?« fragte der Polizeiinspektor.

»Cregan, den Ingenieur.«

O’Keefe schnellte auf. »Sie sind verrückt, Mensch! Cregan ist mein Freund, ein prächtiger Kerl, jeder gemeinen Handlung unfähig. Überdies, weshalb in aller Welt sollte er seinen Chef ermorden?«

Johnson runzelte ärgerlich die Stirne. »Der Fall ist doch vollkommen klar. Der junge Mann will die Tochter heiraten, — wahrscheinlich waren ihm die Cardiff-Millionen auch nicht gerade ein Dorn im Auge — Cardiff ist gegen diese Heirat, behandelt seine Tochter schlecht. Cregan ist ein impulsiver junger Mann, Sie hörten, was seine Hauswirtin über ihn aussagte? Das Mädchen schickt nach ihm, beklagt sich bitter, der junge Mann wird wütend, in einem Zornanfall ermordet er den Mann, der seine Braut unglücklich macht. Wenn er nichts zu verbergen hat, womit erklären Sie dann seine plötzliche Abreise? Wollen Sie mir dies vielleicht sagen, Herr O’Keefe?«

»Er kann persönliche Gründe gehabt haben.«

»Sollte er nicht morgen auf einer Versammlung sprechen?«

»Ja.«

»Nahm er seine Pflichten als Führer ernst?«

»Ja.«

»Und dennoch verschwindet er in einem solchen Augenblick! Nein, glauben Sie mir, Cregan ist der Mörder; ich werde es beweisen.«

»Und ich werde seine Unschuld beweisen.«

Die beiden Männer blickten einander zornig an. Thornton trat vor. »Sie werden den Mörder nicht finden können, Herr Johnson, aus dem einfachen Grund, weil hier kein Mord vorliegt.«

»Vielleicht werde ich statt eines Mörders zwei finden.«

Der andere starrte den Detektiv an. Ein kalter Schauer überlief O’Keefe. »Was wollen Sie damit sagen?« fragte er nervös.

»Weshalb hat das Mädchen gelogen, als es über Cregans Kommen befragt wurde? Weshalb wollte sie nicht sagen, worüber sie mit ihm gesprochen hatte? Glauben Sie, was Sie wollen, jedenfalls sieht es sehr nach …«

»Sie sind ganz verrückt!" unterbrach ihn O’Keefe. Doch fiel ihm bereits während dieser Worte die kleine Episode mit dem Taschentuch ein. Natürlich war Cregan unschuldig, darüber bestand kein Zweifel; aber das Mädchen … Unmöglich! Er dachte an Winifreds feines, liebliches Gesicht, ihre sanfte Art, ihren offensichtlichen Kummer über den Tod des Vaters.

»Vor der Obduktion kann nichts festgestellt werden.« Thomtons tiefe leise Stimme durchbrach O’Kcefes Gedankengang.

»Das stimmt. Wir wollen gehen, meine Herren. Ich werde einen Polizisten hier lassen.«

Eine halbe Stunde später lag Briar-Manor still und dunkel da. Bloß zwei Zimmer waren erleuchtet. In dem einen lag ein toter Mann, in dem anderen kämpfte ein Mädchen gegen einen furchtbaren Verdacht, der ihr das Blut in den Adern erstarren ließ und ihr das Herz zusammenpresste.

 

3. O’Keefe vom „Stern der Freiheit“

 

Herr Cardiffs plötzlicher geheimnisvoller Tod war eine Wohltat für die Zeitungen. Es gab politisch augenblicklich nichts Interessantes, außerdem waren die meisten Leute der ewigen Politik überdrüssig, auch an aufregenden Scheidungsprozessen war ein Mangel. »All dies mir zum Trotz«, meinte Mac Craven, der Redakteur des »Briton«, Johnsons Freund. Verzweifelte Journalisten durchrasten das Land nach aufregenden Vorfällen und kehrten mit leeren Händen heim. Und nun, da gerade die süßliche Sentimentalität der Weihnachtszeit sich in die Spalten der Zeitungen einzuschleichen begann, brachte der 12. Dezember eine reiche Ernte sensationeller Nachrichten und noch sensationellerer Folgerungen.

»Die Brüderlichkeit«, das Organ der christlichen Sozialisten, sprach von »Gottes rächendem Arm«, denn es war wohlbekannt, dass Henry Cardiff sein Vermögen erwarb, indem er etliche Dutzend Leute ruinierte und seine Arbeiter ausbeutete. Kapitalistische Zeitungen bedauerten den »plötzlichen Tod eines unserer fähigsten und klügsten Geschäftsleute«, sprachen von einem Herzschlag. Auch der „Stern der Freiheit“ hielt sich an diese Erklärung, meinte jedoch, der Fall sei nicht so einfach und klar, wie es den Anschein habe. »Etwas Geheimnisvolles … Ein Mann, wie Herr Cardiff, hat viele Feinde … Niemand vermag mit Bestimmtheit zu sagen, ob hier ein Mord vorliegt, oder ein natürlicher Todesfall …«

Der „Vriton“ war die einzige Zeitung, die laut „Mord“ in die Welt hinausschrie. Mit großen Buchstaben verkündete er: »Der Mord an einem wohlbekannten Geschäftsmann!« Auch berichtete der „Briton“ seinen Lesern, dass Herr Johnson, der berühmte Detektiv, bereits verschiedene, äußerst wichtige Spuren gefunden habe. Die Namen der Verdächtigen dürften zwar noch nicht genannt werden; geschieht dies, so wird es großes Erstaunen hervorrufen und wieder einmal beweisen, dass das Leben seltsamer ist als alle Erfindungen der Dichter.

O’Keefe verlor Schlaf und Appetit. Cregan war nicht in seine Wohnung zurückgekehrt, hatte auch niemandem geschrieben. Was in aller Welt hatte ihn veranlasst, gerade jetzt zu verschwinden? Natürlich hatte Johnson bis zu einem gewissen Grad recht, die Sache sah verdächtig aus. Freilich wusste er, O’Keefe, sein Freund sei unschuldig, aber das Mädchen? Ihr Verhalten war merkwürdig gewesen, äußerst merkwürdig, und dann, die kleine Episode mit dem Taschentuch …

O’Keefe hatte das Pulver analysieren lass en, und es hatte sich herausgestellt, dieses sei ein starkes, in England unbekanntes, indisches Gift.

Ein unklarer Gedanke durchzuckte den Kopf des Reporters, — Thornton? Was hatte der Arzt im Diktionär gesucht, im Diktionär, aus dem das Gift gefallen war? Andrerseits war Thornton ein Freund des Verstorbenen gewesen, hatte durch seinen Tod nichts zu gewinnen.

O’Keefe nahm den „Scheinwerfer“ zur Hand, ein Revolverblatt, und suchte darin Einzelheiten über den »geheimnisvollsten Fall des ganzen Jahres«. Er fand bloß die alten Folgerungen, ausgedrückt in einem unmöglichen Englisch. Schon wollte er die Zeitung ungeduldig fortlegen, als ein Satz seine Aufmerksamkeit fesselte-: »Ein tragisches Schicksal scheint diese Familie zu verfolgen. Vor zwei Jahren wurde Frau Cardiff tot im Bett gefunden, ohne dass sie vorher an einer Krankheit gelitten hätte. Heute ereilt das gleiche Los ihren Gatten.«

O’Keefe runzelte die Stirn; bestand zwischen den beiden Todesfällen ein Zusammenhang? War es möglich, dass …

Tommy, der Laufbursche, steckte den verrauften Kopf zur Tür herein, meldete einen Besuch. Reizend, frisch, einen Strauß Veilchen an der Zobeljacke festgesteckt, erschien Marion Wareham.

»Ich kam eben vorüber«, erklärte sie, »wollte sehen, was Sie treiben.«

»Das ist lieb von Ihnen, ich sah Sie seit einer Ewigkeit nicht. Wie geht’s? Sie scheinen nicht besonders erschüttert?«

»Erschüttert? Weshalb sollte ich erschüttert sein?« Die schönen Augen blickten ihn verwundert an.

»Wie herzlos ihr Frauen seid! Einer Ihrer Freunde stirbt auf geheimnisvolle Art, gleich nachdem Sie mit ihm zusammen den Abend verbracht haben, und Sie …«

»Ach, Sie meinen den armen Cardiff«, erwiderte sie lässig. »Ja, es ist sehr traurig. Doch wollte ich von etwas anderem reden. Sie baten mich doch, genauere Informationen über Harware, den großen Ausbeuter im Ostend, einzuholen. Nun, ich ließ mich von ihm in sein Haus einladen.«

»Sie sind wirklich geschickt; mir gelang es nie, dem Kerl in die Nähe zu kommen. Der „Stern“ wird nicht vergessen, was er Ihnen schuldet.«

Sie berichtete Einzelheiten, die er in ein Notizbuch schrieb. Dann klagte sie über das Wetter. England sei im Winter unmöglich, man müsste in den Süden reisen, aber die Unkosten …

Einer jähen Regung folgend, fragte O’Keefe unvermittelt : »Sind Sie mit Thornton befreundet?«

Marion wurde dunkelrot, ihre blauen Augen senkten sich vor seinem Blick, die kleinen behandschuhten Hände zerrten nervös an der goldenen Muffkette.

»Nein, weshalb fragen Sie?«